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Rn.
2
Der leidende Chriſtus.
Friedrich Wiſheſm Rrummacher,
Doctor der Theologie und Philoſophie, und Hof⸗Prediger Sr. Majeftät des Koͤniges
zu Potsdam.
Bielefeld.
Derlag von Velhagen und Klafing.
1854.
Mh SIE
a.
—AL
Ihro Majeſtät,
der Allerdurchlanchtigſten Königin
Efisabelh Louise von Preussen
tiefiter Ehrfurcht und Unterthänigteit
gewidmet.
Allerdurchlauchtigfte, Srofmägtigte Königin!
Allerguädigke Königiu und Herrin!
Euer Majeftät haben mir huldreichſt zu geſtatten geruht,
diefes ernfte Buch mit Allerhöchitdero Königlichen Namen zu
ſchmücken. Nimmer hätte id) mir diefe Gnade zu erbitten ge-
wagt, wenn mic) nicht die heilverfündende Thatſache dazu er»
muthigt hätte, daß Euer Majeftät auf der Höhe des ruhmge-
frönten Herrfcherthrond der Hohenzollern nicht allein des Kreu-
zes Jeſu Chrifti Sich nicht fchämen, fondern felbft göttlich
erfehen und berufen wurden, zur Wiedererhöhung dieſes ein-
zigen Nettungszeichens der Zeit durch das milde Licht
Allerhöchftdero eigenen Glaubensvorganges weſentlich mitzuwir⸗
fen.
Allerdurchlauchtigfte, Grofmägtigte Königin!
Allerguädigfte Königin und Herrin!
Euer Majeſtaͤt haben mir huldreichſt zu geſtatten geruht,
dieſes ernſte Buch mit Allerhöchſtdero Königlichem Namen zu
ſchmücken. Nimmer hätte ich mir dieſe Gnade zu erbitten ge—
wagt, wenn mich nicht die heilverfündende Thatſache dazu er⸗
muthigt hätte, daß Euer Majeftät auf der Höhe des ruhmge
frönten Herrfcherthrong der Hohenzollern nicht allein des Kreu-
zes Jeſu Chrifti Sich nicht fehämen, fondern felbft göttlich
erfehen und berufen wurden, zur Miedererhöhung diefed ein-
zigen Rettungszeihens der Zeit durch das milde Licht
Allerhöchitdero eigenen Glaubensvorganges weſentlich mitzuwir⸗
ken.
Als, der Legende nah, die b. Veronika einft dem goͤti⸗
lichen Dulder auf feiner Marterftraße mit zarter Hand den blu⸗
tigen Schweiß vom Angefichte trodnete, ließ Diefer der frommen
Magd zum Dank für folchen Dienft der Liebe fein Bildnig in
ihrem Tüchlein zurüde. In veränderter Folge und evangelifch
verflärter Geftalt erneuert fich diefe holde Scene fort und fort.
Der Herr malt den Empfänglichen mit den glühenden Yarben
des Geiftes fein dorngefröntes Bild ind Herz, und nun heben
fie in heiliger Xiebe an, Ihm in den geringften feiner Brüder
den Angſt- und Sorgenfchweig von der Stirn zu trocknen. —
Die manchmal hörte ich in Hütten der Armuth mit der Beto-
nung fröhlicher Zuverfiht jagen: „Wenn von feiner Seite her
und Hülfe mehr erfcheinen will, dann bleibt und die Hofburgd«
pforte der lieben Königin noch offen.’ — Köftliher Vor- -
zug, bon demjenigen, eine Königskrone von Gott zu Lehen zu
tragen, kaum überftrahlt, über den Thränennächten der Bedräng-
ten als tröftender Stern zu glänzen, und der Leidenden letzte,
aber zuverläffige menfchliche Zuflucht zu fen! — Daß Euer
Königlihe Majeftät, von den zahlreichen Schöpfungen Aller-
höchftdero Tandesmütterlich fürforgender Barmherzigkeit ald von
unvergänglichen, weil in Gott gegründeten, Denkmalen umblüht,
noch lange, lange zur Seite des gerechteften und leutfeligften der
Könige, gefegnet von Alt und Jung, jenes heiligen und holden
Derufes einer Friedensfürftin auf Erden marten mögen,
das wird nicht aufhören, mit Millionen treuer Unterthanen
heiß zu erflehen, der in tieffter Ehrfurcht erſtirbt als
Euer Königlichen Majeftät
allerunterthänigfter, treugehorfamfter
% W. Srummader.
Potsdam, im Februar 1854.
Vorwort.
Ich weiß, wie Großes ich unternahm, als ich mir die Entzif⸗
ferung der tiefften aller gefchichtlichen Geheimfchriften zur Aufgabe
ftellte; hoffe jedoch, nicht ohne allen innern Beruf diefem Deu-
tungswerke mich unterzogen zu haben. Wenigſtens bin id) mir
bewußt, daß mir das Gebet um die Erleuchtung von Oben bei
meinen Meditationen fletd zur Seite ging, und gebe mich der
Zuverfiht hin, daß die geneigten Leſer nicht alle Spuren einer
erfolgten Erhörung vermiffen werden. —
Einen Theil meiner Seele lege ich nieder in dieſes Buch;
ja, ich gebe darin das Mark meines innerften Glaubenslebeng,
und enthülle die letzten Grundfeften all’ meines Troſtes, und
meiner ganzen Hoffnung. Sch bin aber gewiß, daß Niemand,
der zu gründlicher Selbft- und Gottes=- Erfenntniß gelangte,
eine durchhaltende Beruhigung finden wird, es fei denn, daß
er mit mir den Anker feines Glaubens in die blutgenetten That-
fachen ſenke, welche die Paffionsgefchichte an und vorüberführt.
Aus diefem Grunde fchmeichle ich mir mit dem Gedanken, daß
id) der mühjeligen und beladenen Herzen recht vielen mit diefem
Buche willlommene LXootfendienfte thun, und ihnen über der Ha-
fenbucht, die fie, bewußt oder unbewußt, in Sturm und Nebel
ſuchen, die Leuchtthurmsflamme anzünden werde.
vi Vorwort.
Ich wage es aber, auch Solche um ihr Geleit auf meinen
Betrachtungsgängen anzugehen, die, entfernter vom Ziele, noch
mit dem prinzipiellen Zweifel zu ringen haben, ob man's im
Evangelio überhaupt mit einem von Gott gelegten Grunde
des Glaubens und der Hoffnung zu thun habe. Ich halte
nemlich dafür, daß ed eine fchlagendere und gewaltigere Apo—
logie des biblifchen Chriftenthums nicht gebe, als die Lei—
densgeſchichte unſres Herrn mit der Lebensfriſche ihrer in-
dividuellen, lauter Wirklichkeit und Wahrheit athinenden Züge,
und mit ihren in fo unzweideutiger Weife einen göttlichen
Heilsplan wiederfpiegelnden, und nur in einem ſolchen zu
ihrer Löſung gelangenden Näthfeln. Wie fie der wahre „Mi-
krokosmus“, die Welt in Kleinen, ift, indem in ihr faſt alle
erdenkbaren Charaktere, geiftigen Standpunkte und gemüthlichen
Zuftände der Menjchheit bis zu den feiniten Schattirungen hinab
zur Offenbarung kommen; fo ftellt fie ung zugleih, in fnapp-
ſtem Rahmen, von dem unmittelbaren Lenken, Yügen und Re—
gieren des perfönlichen Gottes auf Erden ein thatſächliches
Bild vor Augen, an welchem Alles, was an pantheiftifche,
oder gar atheijtifche Anfchauungen ftreift, wie die Melle am
Meeresfeld in Schaum und Dunft zerfahren muß. Ueberdies
deckt fie ung in demfelben Augenblide, in dem fie in die ge—
heimnißvolle Werkitatt, wo das göttliche Heilmittel für unfer
Sefchlecht bereitet wird, und einführt, das ganze unermeßliche
Heer der verzweifelt böfen Schäden auf, an denen wir ohne die
Dagzwiſchenkunft der erlöfenden Gnade umerrettbar dem ewigen
Zode entgegenfiehen würden, und erhebt fomit, während fie
und von dem Werdeprozeß der Erlöfung felbft die
Schleier Lüftet, zugleich in unwiderfprechlichfter Weife unfre Er-
löſungsbedürftigkeit über allen Zweifel
Möge mir's gelungen fein, in den vorliegenden Betrachtungen
wenigitend die Wege und Stege anzudeuten, die zu den uner-
Vorwort. vn
ſchöpflichen geiſtlichen Fundgruben der Paſſionsgeſchichte leiten!
Die unverkümmerte, bibliſche Wahrheit, wie ich fie zu verkündigen
glaube, findet wohl immer noch eine Statt auf Erden. In erfreu-
fichfter Weife habe ich bisher dies felbit erfahren dürfen. ‘Meine
Schriften — Tediglih Gott zum Preife, und meinen Sinnee-
genoffen zur Freude fei ed bemerkt! — wurden, theilweife
wenigſtens, bereitö in ſechs, mie ich höre, in fieben Sprachen
überfeßt: in's Englifche, Franzöfiiche, Holländifche, Schwediſche,
Ruſſiſche, und mie mir verfichert wird, was ich aber nicht
verbürgen fann, auch in's Dänifche; und mein „Elias“ fieht
mich fogar im hinefifchen Sprachgewande an. Was aber
höher anzufchlagen ift, als dies, ift die tröftliche Kunde, die
mir bi in die neuefte Zeit hinein in unzähligen Briefen von
fem und nah über die mannigfaltigen Segnungen zugeht,
die der Herr in großer, unverdienter Gnade an meine Zeugniffe
gefnüpft hat, und fortdauernd knüpft. Daß Er in herablaf-
fender Leutfeligkeit auch zu diefem, meinem jüngften Büchlein,
fi befennen wolle, ift um fo mehr meines Herzens Wunſch
und inbrünftiges Flehen zu Ihm, da daffelbe um den Grund»
pfeiler der ganzen Kirche, um das Kreuz ale um feinen
Mittelpunkt fich bewegt.
Die Bertheilung der Betrachtungen diefee Buche in „VBor-
hof", „Heiliges“ und „Allerheiligſtes“ will Tediglich
den Fortſchritt des blutigen Verfühnungewerfes von feinem
Beginn bie zu feiner fchlieglichen Vollendung, keines weges
aber ein geringered oder größeree Gewicht der betrachteten
Scenen bezeichnen. In letzterm Falle würde ich natürlich der
Einfegung ded heiligen Abendmahls niht im „Vor—
hof“, jonden im „Allerheiligften“ die ihr gebührende
Stelle angewiefen haben. In dem Plane diefes Buches aber
fallt fie mit in die Klaffe der TIhatfachen, welche einleitend dem
hohenpriefterlichen Werke des Mittlers unmittelbar vorangingen,
vn Borwort.
Ich ſchließe diefen kurzen Vorbericht mit einem Menfchen-
wort, und einem Wort des heiligen Geiftes. Das
erftere lautet:
„Wie durch Gewöhnung lernt das Aug’ im Dunkeln fehn,
Sp lernt man Dunkles, durch Vertiefen drein, verftehn.
Des Geiſtes Augen gehn dir auf, und wunderbar,
Was undurhdringlich fchien, feheint dir nun völlig klar!“
Das andre:
„Das Wort vom Kreuz ift eine Thorheit denen, die verloren
werden ; uns aber, die wir felig werden, ift es eine Kraft Gottes!“
Potsdam, den 30. Januar 1854.
Der Derfafler.
Inhalt.
Der Vorhof.
I. Die Ankündigung..........
II. Die eherne Schlange .
II. Der Hohepriefter
IV. Die Salbng . . . en
V. Der Einzug in Jernſalem en
VL Die Fußwaſchung
VIL Das Oſtermahl ..
VM. Die Abendmahlsſtiftung
IX. Die Einſetzungsworte
X. Die Abendmahlsichren
XI Das Abendmahl
XIL Herr, bin ich's?
XI. Judas Iſcharioth
XV. Dar Weheruf.. ..
XV. Der Gang zum Delberg
XVL Das Nachtgeſpraͤch.
Das Heilige.
XVII. Gethſemane. — Kampf und Sieg ..
XVMI. Gethſemane. — Bedeutung und Frucht
XL. Der Ueberfall en
X. Der Judaskuß
XXI. Schwert und Kelch
XXIL Gabe und Opfer
XXI. Ghriftus vor Hannas .
ZXIV. Der Gerichtöprogeß
XV. Petri Bl nn
XXVI. Das große BelenntmıiB . . 2 2 2 0.
XXVII. Betri Thränen
XXVIII.
XXIX. Chriſtus vor dem Synedrium .
Inhalt,
Weiſſage uns, Chriſte!
XXX. Des Verraͤthers Ente .
XXXL GChriftus vor Pilatus .
ZXXII.
XXXIII.
AXXV.
XZXXV.
XXXVI.
XXXVII.
XXXVIII.
XXXIX.
XL.
Die Anflagen
Chriſtus ein König
Was ift Wahrheit?
Das Gotteslamm
Chriſtus vor Herodes .
Pilatus unfer Anwalt
Das große Bild
Barabbas . .
Die Geißelung
XLI. Ecce homo! .
LVIU.
. Die Kreuzigung .
. Die Kleidertheilung
. Die Veberfchrift .
» Vater, vergib!
. Der Shädr . . . .
. Das Vermächtnig der Siehe .
. Eli, Eli, lama afabthani!
. Mich vürftet !
. Es ift vollbracht! .
. Vater, in Deine Hände! .
. Die Todesfeier .
LVII.
. Der Schluß des Brogeffes
. Die Marterftraße
. Simon von Kyrene
. Die Töchter Jeruſalems
Dad Ani
Der Langenftih .
Das Begräbniß .
Der Vorhof.
L
Die Ankündigung.
Die Paffionsgefchichte rollt ihre blutigen Geheimniffe und erſchuͤt⸗
ternden Opferfcenen vor uns auf. Das Lamm, das der Welt Sünde
trägt, fehreitet, einem vorweltlichen Friedensrathe unterthänig, zum
Brandopferaltare des richterlichen Gottes. Bande, Geißel, Kreuz und
Domenfrone daͤmmern herzbewegend in unfern Gefichtöfreis herein,
Die „fieben Worte“ hallen von ferne zu uns herüber: Klänge der
Zodtenglode für das Reich der Hölle; Signale der Freiheit und der
Freude für die fündige Menfchheit! —
„Zeuch deine Schuhe von deinen Füßen“, hieß es nach
2Mof. 3, 5 aus jenem brennenden Bufch heraus zu Mofe, „denn
der Drt, da du fteheft, ift heilig Landi" — Mit verftärktem
Nachdruck tönt jener Zuruf auch zu uns und zwar von Dort herüber,
wo das finnvolle Vorbud jener Erfcheinung Jehovas in der lodernden
Flamme, feine gegenbildliche Erfüllung findet, — D welche Wunder,
denen wir uns betrachtend nahen! Das Schauerlichfte, was die Welt
gefehen, wird zum Mutterfchooße, aus dem inmitten der Todeswelt ein
neues Paradies des Friedens. uns erblüht! — Aus der unerhörteften
Niederlage fehen wir den glorreichſten Triumph erwachjen. Dem
furchtbarften aller Tode entkeimt ein unvergängliches göttliches Leben!
Andacht, Demuth und Kindesglaube, ihr holden Fackeltraͤger aus
der Höhe, gebt und das Geleite, und Thränen Petri und Magdalenens
ihr, werdet und zu unfrer Augenfalbe! — Du aber, der die Schlüffel
Davids trägt, entfiegle uns felbft die Pforten zum Heiligthume Deis
ner Baffion, und entziffere uns in den blutigen Hieroglyphen Deiner
Schmerzen das Geheimniß unferer ewigen Erlöfung. —
4 Der Borbof.
$uca 18, 31—34.
Gr nahm aber zu fih die Zwölfe, und fprad zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf
gen Terufalem, und es wird Alles vollendet werben, dad gefchrieben ift durch bie
Bropheten von des Menſchen Sohn. Denn er wird überantwortet werben den Hei-
ben; und wird verfpottet und gefchmähet und verfpeiet werden; und fie werben ihn
geißeln und tödten; und am dritten Tage wird er wieder auferftehen. Sie aber ver-
nahmen deren feined, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das
gefagt war. —
Der Herr verfährt in unferm Texte nach feinem Wort: „Ein Knecht
weiß nicht, was fein Herr:thut; euch aber habe ich Freunde genannt;
denn Alles, was ich habe von meinem Vater gehört, thue ich euch Fund.“
— Er enthüllt den Seinen in Ankündigung feiner bevorftehenden Lei⸗
den den letzten und höchften Zweck feiner göttlichen Sendung. — Diefe
Ankindigung tft der ernfteften Betrachtung werth, weil fie zuerft des
Herrn verborgenftes Innere uns erfchließt; fodann das Ge⸗
heimniß Seiner Baffion unferm Berftändniß nahe bringt;
und endlich prophetifch unfre eigne Zukunft uns entfchleiert,
Laßt le aus diefem dreifachen Geſichtspunkte uns näher anfchauen.
Der Geift des Herrn aber ſchwebe über unferer Betrachtung!
1.
ı Der Herr ninimt feine zwölf Vertrauten bei Seite. Wichtige ‘Dinge
bat er ihnen zu 'eröffnen. Sind fie doch berufen, fünftig die Gründe
feiner Kirche zu legen, und darum darf es namentlich ihnen an ums
faffender Belanntfchaft mit dem Rathſchluſſe Gottes zur Erlöfung der
Welt nicht gebrechen. — Sie merken's bald, was er beabfichtigt, und
bangen niit fleigender Spannung an feinen Lippen. Freilich rechnen
fie auf eine Siegesbotſchaft, und erwarten die Mittheilung, daß die
triumphirende Entfaltung Seines Reiches vor der Thüre fe. — Aber
welche KRurzfichtigkeit und Einfalt Dies! — O, der Niefenkluft, die im⸗
mer noch zwifchen ihren Gedanken und den Gedanken Gottes in der
Mitte Liegt! Als ob die Wiederhringung der verloren Menfchheit auf
fo ebenem Wege zu bewerfftelligen gewefen wärel Als ob die Sünde
in dem Verhältniſſe zwifchen Gott und den Menfchen nur eine vorüber:
gehende Störung gebradht, und nicht vielmehr einen Riß verurfacht
hätte, der eben fo wenig durch eine willfürliche Gnadenerflärung aus der
Höhe, als durch ein Sündenbekenntniß Seitens der Gefallenen zu hei-
len war! — Der Herr öffnet den Mund, und es erfolgt — Dürfen
die Jünger ihren Ohren trauen? — eine beſtimmte und ungweideutige
— ⸗
Die Anfünbigung. 5
Ankindigung feiner nahen Paſſion, aber allerdings auch ſeines Sies
ges darnach. „Sehet*, fprüht er, „wir gehen hinauf gen
Serufalem, und es wird Alles vollendet werden“, und wie
es weiter heißt. Hört aus diefen Worten zuerft den Klang freudigfter
Entfäloffenheit heraus. Sein Herz, von der Liebe gedrungen, iſt feit
und unverrüdt auf die Kreuzesftraße gerichtet. Ihr erinnert euch
ja noch, mit welchem Mark ımd Bein: durchfchneidenden Ernfte Er
einft jenen Rathfehlag feines Simon, daß er fein felber fchonen ımd
nicht nad) Serufalem gehen möchte, von fich wies. „Weiche hinter
mich, Du Satan“, Iautete feine Entgegnung, „du bift mir ärgers
lih; denn du meineft nicht, was göttlih, fondern was
menſchlich iſt“. So ausgemacht war e8 Ihm, es fei die Marter,
ber er entgegen gehe, nicht etwa mur ein Ausfluß menfchlicher Bos⸗
heit, fondern zugleich der ausdrücdliche Wille und Rathſchluß Sets
nes himmliſchen Vaters, daß Er in dem abmahnenden Jünger
nichts Anderes, als ein freilih unbewußtes Werkzeug des Verſu⸗
chers aus der Hölle erkennen konnte. Kein Zufpruch der. Zärtlichkeit
hemmt Ihn mehr in feinem Gange; feine Drohung des Hafjes fchreckt
Ihn mehr zurüd. Schon ift der Blutrath zu Jeruſalem insgeheim
verfanmelt, und fehmiedet den Plan des Verrathes und des Morde,
Aber Jeſu Lofung bleibt: „Sehet, wir gehen hinauf!” — Und
brandete ein rothes Meer zu feinen Füßen, und harreten hundert Tode
fein, ftatt eines: in Seinem Herzen verlautet nur ein Klang: „Wir
gehn hinauf!“ Es ift ja feines Vaters Weifung, und die Straße zum
großen, heißerfehnten Ziele der Welterlöfung! — O diefe Hingebung
des LUinvergleichlichen aus der Höhe! Diefer Gehorfam, und diefe Sins
Derliebe, „ftärker, denn der Tod, und fefter, denn die Hölle!’ —-' Wie
ſchon der bloße Anblick fo hehrer fittlicher Erfheinung, wie bie
Des „Menfhenfohnes“, überwältigt und zum Entzücken fortreißt,
zumal in einer Zeit, da, wie in der gegenwärtigen, alles wahrhaft Ebik
und fittlich Große zu Grabe zu gehen, und die Menfchlyett, des goͤtt⸗
lichen Salzes entleert, mehr und mehr zu einem Leichnam zu werden
Drobt, der nur noch vom Gewürm der gemeinſten Regungen fleiſchlicher
Selbftfucht und des gottentfremdetften Materialismns‘ bewegt: wird!
Wie theuer muß uns Chriſtus ſchon fein als das lebendige Urbild
wahrer Menfchen-Beftimmung, und das untrügliche ſittliche Richt⸗
zeichen für das in fo namenlofes Irrſal verfchlagene Geſchlecht unſers
Jahrhunderts! Schon in diefer Eigenfchaft eines geifttgen Polarſterns
6 Der Vorhoſ.
in der materialiſtiſchen Weltverfinfterung umfrer Zage follte Jeſus den
Mittelpunkt unfrer höchiten Intereſſen bilden, und Sein Name als
Mahnruf an unfre himmlifche Berufung Tag und Rat in unferm Her
zen nicht mehr verklingen. Aber freilich tönt er auch wie Pofaunens
gefchmetter des Gerichts über der verlommenen Welt; denn wer müßte
fich nicht geftehen, daß wir Alle wie Er unfer Wefen treiben, Die
Sünde haffen, Gotte leben, umd die Brüder lieben follten; — und ach!
wo find fie, die diefer Anforderung auch einigermaßen. nur entfprächen?
— So fchreitet Er ſchon jeßt, ehe Sein großer Zag hereinbracdh, vers
mittelft des Eindruds, den ſchon feine ſtumme Erfcheinung hervorruft,
als Richter durch die Menfchenwelt hindurch, und verurtheilt diefelbe,
wie das Vollkommene das Verfümmerte, wie das Ideal das verfehlte
Afterbild verurtheilt. — Aus dieſem Grunde aber muß Er den
Gottlofen ja zumider fein; denn das Zerrbild verlangt feinen Spies
gel, fondern weicht ihm aus, oder wirft eine Dede Darüber, wo es ihm
nicht entgehen kann. Heil uns aber, daß Jeſus als eine Sonne an un
ſerm Himmel ftrahlt, die feine Verhüllung duldet, fondern durd) alle
Boltenfchleier immer wieder fiegreich durchbricht, und die da ewig Zeug-
niß gibt, daß ſchoͤn und liebenswürdig nur Die Wahrheit, das Leben
in Gott, und der Wandel nad Gottes Gebot; widerlidh aber
und unter allen Umftänden verwerflich die Lüge fei, und Die Gottents
fremdung, und das Leben nach dem Zleifch, mit einem Wort: Die
Sünde
„Sehet, wir gehen hinauf nad Jerufalem, und es wird
Alles vollendet werden, das gefchrieben ift Durch Die Pros
pheten von des Menihen Sohn!” — So der Herr. Hier wird
euch Fund, was auf Seinem Pafflonsgange Sein Stab und Steden war.
Gr fand ihn in dem „feften, prophetifchen Wort”, in welchem er von
Sich und dem Rathſchluß Gottes über Ihn gefchrieben las. Bedarf
denn Jemand unter euch noch einer enticheidenden Autorität für Die
göttliche Eingebung der heiligen Schrift, fo beut fie fich hier ihm
dar. Chriſtus, der König der Wahrheit, erkennt in der Schrift
nichts Geringeres, als die untrügliche Urkunde der Offenbarungen feines
binmmlifchen Vaters; Er trägt fie auf feinem Herzen Tag und Nacht;
nad ihren Ausfprüchen entfcheidet Er als nach dem Kanon, der allem
Hader ein Ende mache, Die Lebensfragen der Menfchheit, und wohin fie
ihn weifet, dahin lenkt Ex feine Schritte. Sie ift ifm der unfehlbare
Leitſtern feines Lebens. Ob Die Stimme des ewigen Vaters unmittelbar
—
Die Ankündigung. T
vom Himmel falle, oder ans den Buchſtaben diefer ehriwürdigen Perga⸗
mentrolle zu ihm herübertöne, das gilt ihm gleich. Hier wiegt fie ihm fo
ſchwer wie Dort, und vor Tüttel und Jota neigt er ehrfurchtsvoll ſein
Saupt. So geht er einen feften, gewiffen Bang, und die allaugenblick⸗
liche Erfahrung befiegelt's ihm, daß er wahrhaftig einem Worte Gots
te8 folge. Es wird Alles zu Weſen und That, wie es das Wort gefagt.
Der unſcheinbarſte Zug zieht Zleifch und Blut an, und wird zu Leben.
Mein Gott, welche Berblendung wird dazu erfordert, um zu verfennen,
daß alle Weiffagung der Schrift entweder fchon buchftäblich fich verwirk⸗
ficht Hat, oder in umabläffiger Verwirklichung begriffen tft! Wie viel
muthwillige Selbſtverſtockung gehört dazu, um überfehen zu fönnen, daß
die wuthichnaubenden Widerfacher des biblifchen Wortes, wie fie heut zu
Zage uns umtoben, e8 ſelbſt mit ehernen Briffeln in das Buch der Ges
fchichte fehreiben müflen, daß die heilige Schrift aus dem Geifte des All,
wiffenden geflofien fei, indem diefelbe ja aud) von ihnen gezeugt, und
ſowol ihren zeitweiligen Zriumpb, wie ihr „Ende mit Schreden
darnach“, ausdrüdlich geweiffagt hat. Als ein „Darnach“ ftand im
Buche der Weiſſagung aud) einmal die Sindfluth verzeichnet, und das
Gericht über Sodom und Gomorrha, und der Sturz Zerufalems, und
wie die Zerſtreuung Iſraels, fo der Untergang des vierten, d. t. des
römifchen WVeltreichs, und was Alles mehr noch; — umd es hat feine
diefer Kataftrophen auf ihre Erfüllung warten laffen; e8 tft Alles zu feiner
Zeit gekommen. Gewaltige Beitätigungsfiegel hangen an diefem Budhe,
und längft hat die Weltgefchichte dem Bibelworte ſtillſchweigend das
Zugeftändnig machen müffen, daß fie in ihrem Entwidlungsgange von
Schritt zu Schritt nichts Anderes fei, als eine Umſetzung der in jenem
porgezeichneten Grimdriffe in Thatfachen und in Leben. —
„Freilich“, höre ich fagen, „müßte das ja wol die Knie zur Wege⸗
fahrt ſtaͤhlen, wo man, wie Ehriftus, feinen Lebensgang nicht allein im
Allgemeinen göttlich überwacht und geordnet wüßte,. fondern denfelben
fogar im Lichte einer untrüglichen Gottesoffenbarung von Stufe zu Stufe
bis zum glorreichen Ziele überbliden könnte!” — Nun, in der That bift
auch Du in Diefem Falle, wenn du anders aufrichtig gläubig dem Herrn
dich hingegeben haft. Kann ed dann auch für dich eine Lage geben, in
der Dich das Wort mit feinem Rath im Stiche Tiefe? Steht dann nit
auch von Dir gefchrieben, „der Herr werde dir's an keinem Guten man⸗
geln laſſen?“ „Durch viele Trübfal zwar werdeft du zum Himmelreich
eingeln;“ aber „wen bu durchs Waſſer gehen werdefi, würden Dich Die
8 . der Borheſ.
Ströme nicht erfäufen, und wenn du durch's Feuer, die Flammen dich
nicht anzünden: denn der Herr fei bei Dir?” Nicht werde es zwar
fehlen, daß man dich um des Namens Ehriftt willen „fchmähen und
verfolgen werde”, aber e8 werde dir, dem treulich Aushaltenden, „reich
fi) vergolten“ werden; „das Licht Dir immer wieder aufgehn nad) der
Nacht”, nach dem Schmerz immer wieder die Freude deiner Schwelle
nahen; und „Niemand werde dich aus deines Herm Händen reißen;“
vielmehr werdeft du fchließlih, nachdem du „einen guten Kampf ges
kaͤmpft“, die „Krone der Gerechtigkeit” empfahen, „den Tod nicht fehen,
fondern vom Tode zum Leben hindurchdringen und ewig triumphiren.“
Steht nicht alles Diefes, und noch ein taufendfältig Mehreres, auch
von dir gefchrieben, und ift nicht fomit auch Dir deine Straße ges
wiefen und prophetifch vorgezeichnet? Darfft alfo nicht much du in
deinem Sinn ımd Maaße mit dem Herrn fagen: „Siehe, wir gehen
hinauf nach Serufalem, und es wird Alles vollendet werden, Das ges
fhrieben fteht Durch den Grkffel Gottes von mir, dem armen Sünder,
der aber nicht fein eigen, ſondern Chriſti Jeſu ift und bleiben
will?" O, gewiß darfft Du dies. — Wie denn, daß bet ſolchem Be
wußtſein nicht eine hohe Marſch⸗ und Pügerluft uns erfaffen, und uns
nicht zu Muthe werden follte, als fchmetterte eine himmliſche Fanfare
vor uns her auf unferm Lebenswege? — Brüder, nur feftiglich denn
bem Worte vertraut, und in feinem Lichte die fteile Bahn hinan⸗
gezogen! Nach des Wortes Weifungen, unbelümmert um der Welt
Getobe, mit feftem, ficherem Tritte vorwärts! Nicht eine Handbreit
gewichen von der vorgefhriebenen Straße! Wer und anders weifen
wollte, den treffe auch von unferer Lippe das Donnerwort: „Weiche
binter mich, Satan; denn du meineft nicht, was göttlich, fondern was
menfchlich iftl*_ Go wird der Allmächtige uns freundlich fen. So
tragen wir der Kleinode höchftes, den Frieden Gottes, in unferer
Draft; und alle Tage werden uns, gleich himmlifchen Kichtern, buch⸗
räbfiche Erfüllungen des Wortes auf die Straße fallen, das wir zu
unſern Kompaß und zur Leuchte anfer Füße uns erlaſen. —
— gen Jerufalem ſtrebt der er. Zu welchem Ende, habt ihr
eits vernommen. Leiden und ſterben will er. O, es muß mit
—* Paſſion eine große und tiefe Bewandtniß haben. Sie erſcheint
als ein unbedingt nothwendiges Moment des Werks, zu deſſen Boll
führung er aus bes Baters Schooß zur Erde herniederkam. War fie
Die Ankündigung. 9
ein ſolches nicht, fo war es, gelindeſt geurtheilt, gottwerfucherifch
vom Herm, daß er fich derfelben entgegenftürzte, nachdem er fein Lehr⸗
amt in Zerufalem vollendet hatte; ja, fo ftellte der Ewigwaltende
in der Höhe Seine Gerechtigkeit gegründeter Läfterung- blos, indem
Er einen Heiligen, der Sein Gebot erfüllte, in himmelfchreiendem
Biderfpruch mit Seiner eigenen Reichsordnung dem graufigen Gefchide
eines Sottlofen und Verworfenen preisgab. — Aber Der in der
Höhe wohnt, hatte viel eher ſchon in Seinem Rathfchluffe das Kreuz,
die Geißel und die Dornenkrone im Grundriß fertig, als die Belials⸗
totten auf der Erde daran dachten, an diefe Marterinftrumente ihre
Hand zu legen; und alle Seine Propheten fahen fich, wie fie auch
dawider fich freuben mochten, vom Geifte genöthigt, dieſe graufen
Eimbleme überall mit dem hehren Meffiasbilde, das fie zeichneten, zu
vermeben. So konnte der Herr mit tiefer Wahrheit fagen: „ES wird
Alles vollendet werden, Das gefchrieben ift Durch Die Pros
pheten von des Menfhen Sohn: denn er wird Den Heiden
überantwortet, verfpottet, gefhmäht, verfpeit, gegeißelt
und getödtet werden.” — Mit folhen Ingredienzien gefüllt,
tauchte im Spiegel der Weiſſagung fchon das Bild des Kelches
auf, den freilich der Satan, aber in Gemäßheit eined ewigen Ra⸗
thes, dem Sohne des Allerhöchften reichen ſollte. Und glaubt nur,
diefer Rath) ging weit, weit über alles das hinaus, was Märtyrers
thum genannt wird, oder gar Züchtigung, Läuterung und Prüfung
beißet. Es bedurfte der Makellofe und Gerechte für feine Perſon
der Züchtigung nicht; und war etwa auch Ihm eine Läuterung heils
fam, fo durfte dieſelbe wenigftens nicht, follte nicht ein verdimfelnder
Niefenfchatten über Gottes Gerechtigkeit ſich lagern, in der Form einer
fo ausgefuhhten Infamie, einer fo unerhörten Schmach und Ernies
drigung, einer fo beifpiellos graufamen Marter über den einzig Hei⸗
ligen auf. Erden kommen, wie Er fie erduldet hat. Nein, die Paſſion
miers Herm bat eine unendlich tiefere Bedeutung, und es bedarf nur
eines flüchtigen Blickes in unfern Tert hinein, um dieſelbe auch hier
ſchon deutlich zu erkennen, Beachtet, was der Evangelift über die Art
ud Weife und berichtet, wie die Zwölfe die Eröffnung ihres Meifters
entgegennahmen. „Sie aber”, meldet er, „vernahmen deren
feins, und die Rede war ihnen verborgen, und fie wußten
nicht, was das gefagt war.” In dreifacher Form bezeichnet Lucas
das Richtverftehen der Apoftel, Wie auffallend Dies! Wem drängt
10 Der Vorheſ.
fih hier nicht die Frage auf, was es denn geweſen fei, das fie „wicht
verfianden“? Daß der Meifter fagte, er würde zu Serufalem leiden
und fterben, das konnten fie unmöglic) überhören. Daß er mit feinem
Tode Ewa die Wahrheit feiner Lehre werde befiegeln wollen, war ein
Gedanke, der doch auch all zu nahe lag. ‘Dennoch verfichert Lucas:
„Sie vernahmen deren keins, und wußten nicht, was das gefagt
war.” Liegt's nicht auf der Hand, daß des Evangeliiten Meinung
dahin geht, daß, wer nur das Geſchichtliche der Leiden Ehrifti
fenne, und Chrifti Paffton nur als Maͤrtyrerthum, von der Blutzen⸗
genſchaft anderer Heiligen wefentlid, nicht umterfchieden, faflen wolle,
von den Leiden Chriſti, d. i. von deren wahrer Bedeutung noch nichts
verftehe? — Ganz unverkennbar haben wir hier eine Hindeutung auf
einen unendlich tiefern Grund des tragifchen Lebensausganges unfers
Meifters vor uns,
Wo aber liegt derfelbet — Hört es! — Es fingt Einer in ge
heimnißvollen Lauten:
„Mehr, als vernichten, bünfet Ihm verföhnen,
Mehr, als erichaffen, düntet Ihm erlöfen.
Zermalmen konnte Er den Baum der Sünden ;
Doch Ihm gefid, Sein Haus darauf zu gründen.“
„Was ift das?" höre ich ſagen. „Das Mingt ja wie Sibyllen⸗
ſpruchl“ — Es mag wohl fein; aber es ruht tiefe Wahrheit in Diefem
dunkeln Worte, — „Wie aber?" — „Zermalmen konnte Er den
Baum der Sünden?!" — — Mit einem Schlage konnte Er's. Er
brauchte nur das verfommene Gefchlecht, in welchem die Sünde wurs
zelte, durch ein allmächtiges „Seid geweſen!“ wieder zu vernichten,
und Er war am Ziele. Aber leben follten wir, nicht fterben;
und fo hat Er nicht allein unfre Sünde zur Folie ſich erforen, über
welcher der volle Glanz aller Seiner Tugenden, Seiner Liebe aber
zumeift, herrlicher, als felbft im Werke der Schöpfung fidh entfalte,
fondern er hat diefelbe gar Dazu fich dienen laſſen, daß er durch Hin⸗
opferung Seines Sohnes für fie eine Anftalt des Heils gründete, in
der wir nun zu einer noch viel höheren Stufe der Herrlichkeit und
Gottverwandtheit gelangen können, als wir fie in unferm Urahn einft
befaßen, oder als wir fie erreicht haben würden, wenn wir nicht ges
fallen, fjondern in der Probe beftanden wären. Unſer Fall fhuf Raum
Ihm und Gelegenheit, thatfächlich darzutbun, daß Er nicht blos im
Zermalmen der Sünde Seine Gerechtigkeit erweiſen, fondern
Die Autknbigung. 11
auch im Erlaſſen und Vergeben der Sünde unbeſchadet Seiner
Gerechtigkeit Seine Barmherzigkeit verherrlichen könne. Bir
fündigten, und waren dem Fluche verfallen. Da wurde das Wort,
das bei Gott, und felbft Gott war, Fleifh. Der ewige Sohn ward
imfer Bruder, nahm im Wege einer geheimnißvollen Zurechnung unfte
Sünde auf fi, zahlte der Majeſtät des unverbrüchlichen Geſetzes
unfre Schuld, deckte mit feiner Gerechtigkeit unfre Blöße, ftellte ung
als feine Vertretenen dem Vater unfträflich und wohlgefüllig dar, weckte
ein Jauchzen der Engel über unfere Erhöhung, erhub uns zur Ges
meinſchaft feiner eigenen Schäße, Seligkeiten, Rechte, bauete ung Fries
Dengzelte am Throne Gottes, und knüpfte und an fih mit Banden
einer ewiger- im Thaue heiliger Dankesthränen fich badenden Liebe. —
Dies ift das „Haus“, das Gott in Ehrifto auf „den Baum der
Sünden” gegründet hat; und von dem die Apoftel damals noch nicht
die entferntefte Ahnung hatten, Nachmals erkannten fie diefe Heils⸗
und Friedensgründung, und wie waren fie feitdem fo felig in dem
tündlich großen Geheimniß!“
3
Doch bliden wir noch einmal auf die Ankündigung in unferm Texte
zurück. Wer erfennt nicht mit mir darin zugleich ein prophetifches
Simbild für uns, eine Entfchleierung unferer eigenen Zukunft?
Nichts hindert uns heute, das „Sehet, wir gehen hinauf gen
Jerufalem,” und zwar in gleichem Doppelfinn, in welchem unbes
zweifelt auch der Herr es ausfprach, zu dem unfrigen zu machen.
greilich war, was dem Heiland zunächft vor Augen fehwebte, das ir⸗
diſche Jeruſalem, wo die Macht des Böfen damals ihren Zentrab
und Thronfig hatte, und eben über ihrem fchauerlichen Mordplan brüs
tete., Aber er ging nad dieſem Serufalem zugleih im Hoffnungs⸗
blide auf ein anderes, deſſen biutgeneßte Gründe er eben legen
wollte Wir dürfen auch heute wieder mit ihm fagen: „Es wird
Alles vollendet werden, was gefchrieben fteht Durch Die
Propheten von des Menfhen Sohn: Er wird überantwors
tet werden den Heiden, und wird verfpottet, gefhmähet,
verfpeiet werden; und fie werden ihn geißeln, ja, (in einem
gewiffen Sinne) tödten,” Nicht minder jedoch find wir auch berech⸗
tigt, hinzuzufügen: „Am dritten Tage aber wird er wieder
auferſtehen.“ Eine neue Paſſionszeit fteht Ihm, fteht feiner Kirche
auf Erden bevor, Ya, mehr, als dem Anfange nach, iſt fie bereits
12 Der Vorhof.
hereingebrochen. Schaut nur feharf, und es wird euch nicht entgehen
fönnen, wider wen feiner innerften Tendenz nad) der Krieg unferer
Tage entbrannt if. Auf die Vertilgung Chrifti und feines Reiches
iſtss abgefehben. Schon haben fie Ihn aus Millionen Herzen weg»
gefchafft; hinweg aus Taufenden von Häufern, und hin und wieder auch
aus dem Staate weg, der. grundfäglich Fein chriſtlicher mehr
fein fol. Sie hoffen Ihn auch wegzubringen aus dem: Unterricht
unferer Jugend, was in nur zu weiten Kreifen fchon gelungen iſt;
aus dem Bekenntniß der Kirche gar; und fo endlich felbft aus. Der
Erimmerung der Völker, aus dem Gedächtmiß der gefammten Menfch
heit. Und fie operiren mit ihren auf die Vertilgung des Glaubens am
Ehriftum und Defien Evangelium berechneten Unternehmumgen ganz
richtig umd ihrem Plan entfprechend, wenn nemlich Diefer darauf are
gelegt ift, die fittlihe Weltordnung zu flürzen, das heilige Inſtitut der
Familie aufzulöfen, die Schranken des Eigenthums zu entfernen,
und jede Pietät, jede Ehrfurcht vor Obrigkeit ımd Gefeß zu unter
graben. Denn dieſes Alles wurzelt im Chriſtenthum, und wird von
demfelben allein getragen. — Wie falfhe Rechnung machen fie fih
aber, die nach folcher Zerftörung fich ein irdiſch Himmelreich verfpre-
then. Sie felbft, welche diefes Himmelreich uns bauen wollen, ſpie⸗
geln in ihren Perfonen ſchon genugfam die unheimliche Geftalt uns
ab, in welcher jenes Reich erfcheinen würde. Was eintreten wird,
wenn jene Brut ihre Operationen gelingen fieht, will ich euch fagen:
Zuerft ein gefellfchaftliches Chaos, ein Untergang alles fittlih Edlen
und Großen; eine Barbaret und Zuchtlofigfeit, wie fie die Welt noch
nicht gefehen; eine Noth, allgemeiner und größer, als jede frühere;
ja eine Hölle auf Erden; dann aber Verzweiflung, Hülfefchret, wie
Schrei einer verfinkenden Welt; ftürmifches Fragen und Forfchen
nach Heilmitteln für die ungeheuren Schäden der Menfchheit; aber in
Folge deſſen num Die entfeßliche Entdedung, daß alle menfchlichen
Mittel erfchöpft und verbraucht find, und daß die Hoffnung, e8 werde
das Gute von felbft ſchon aus dem Menfchengefchlechte erwachfen,
wenn demfelben nur Raum gewährt würde, der allergrund» und boden,
Iofefte Wahn war, der je ein verbranntes Hirn beherrſchte. — Die
Probe, daß nur da, wo das Chriftenthum Herberge findet, Heil und
Segen fprießen, ift ſchon taufendfältig gemacht worden, Es fcheint
mit der Zeit nun au zue Gegenprobe in dem thatfächlichen Er⸗
weife kommen zu follen, daß man dem- Evangelium den Scheidebrief
—
Die. Ankündigung. 13;
nicht geben Tönne, ohne Dadurch zugleich einer Sündfluth allen ers
denkbaren Unheild und Verderbens die Bahn zu brechen. — Nachdem
die Welt auch diefen gallen-bittern Kelch bis auf die Hefen geleert
haben wird, dürfte eine Umkehr in Maffe zum Panier des Kreuzes
zu erwarten flehen. Ja, noch einmal wird Gott fein Haus auf den
„Baum der Sünden” gründen, und zwar fo, daß der Unglanbe,
für immer gewigigt, deſſen Grundveften hinfort nicht mehr erfchüttern
wird. —
Wir ziehen alſo „nah Serufalem“, im böfen wie im guten
Sinne. — Ehriftus wird leiden in feiner Kirche, und gefreuzigt wers
den; aber „auch wieder auferfiehen am dritten Tage” —
Nach den Faſten kommt uns ein Oftern. — In dem Schifflein
diefer gewiflen Zuverficht feuern wir getroft über das fturmbewegte
Meer der Gegenwart dahin. — Und erlebten wir auch das Oſtern
des großen Endfleges Chrifti hienieden nicht, num, dann ſtimmen wir
droben in das „Nun find die Reiche dieſer Welt unfres
Gottes und feines Ehriftus worden“ ein. Wir wiflen, wer -
uns, die wir glauben, mit feinem Blute erfauft und dort die Stätte
uns bereitet hat, und fingen fröhlich mit einem unfrer deutfchen Kirs
henfänger dem Herrn Jeſu zu:
Große Menge wird dir Gott
Zırr Verehrung ſchenken,
Dafür, daß du dich mit Spott
Für ums laffen fränfen.
Hilf, Herr, daß wir mehr und mehr
Auf dich fehn und hören,
Und mit Luft, zu deiner Chr’,
Unfern Glauben mehren! Amen.
— ———
14 - ver Bochoſ.
TI.
Die eherne Schlange.
„Wozu die Brüde breiter als der Fluß?
Sieh, was dir Hilft, ift nah!” — —
Ein Dichter fingt's. Man follte meinen, e8 habe das apoftoltfche
Wort Nömer 10, 6—8 ihm vorgefhwebt: „Aber Die Gerechtig⸗
‘ Teit aus dem Glauben fpricht alfo: Sprich nicht in Deinem
Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren? Das ift fo
viel, als Ehriftum herabholen. Oder wer will hinab in
die Ziefe fahren? Das heißt: Ehriftum von den Todten
holen. Aber was fagt fie? Das Wort ift dir nahe, in
deinem Munde und in deinem Herzen. Es ift das Wort
vom Glauben, das wir predigen.” — Des Suchens und Ja⸗
gens nach durchhaltender innerer Befriedigung ift in der Welt nicht
Maaß noch Ziel. Man fhöpft alle Brunnen nad) ihr aus; man ent-
faltet nach ihr alle Segel des Gedankens. Hier ſchwebt man, Das
erfehnte Kleinod zu entdecken, auf den Iuftigen Leiterfproffen der Phis
Iofophie; aber je höher man ſich verfteigt, deflo.mehr tritt das Ges
fuchte zurüd in blaue duft'ge Kernen. Dort meint man, mit glüdlicherm
Erfolge den Flügeln der Phantafie ſich anvertrauen zu können; aber
gemalte Quellen find nicht geeignet, den Durft zu Iöfchen, und Die
Dichtung fenkt, ihrer Ohnmacht inne werdend, vor dem Ernft des Lebens
ihr zauberifches Rofenfcepter. Und nicht minder erfolglos wird geftrebt,
wo man an Moſis Hand im Wege des Gefehes das Banaan des
Friedens zu erreichen hofft: denn nicht Mofes ift’s, fondern Joſua,
der in das gelobte Land geleitet; oder wo man mit Saul die unheim-
fihe Straße gen Endor einfchlägt, um den Orakeln und Sibyliens
fprüchen einer verfchleierten Natur das Geheimniß der wahren Herzens⸗
beglückung abzulauſchen. Ach, das Geheimniß liegt fo nahe und der
Weg zum Helle ift fo kurz. Wir werden heute das eine wie den
anderen fich vor uns entfchleiern fehn, und ohne Zweifel reichen Anlaß
finden, eine lange an allerlei geiftlihe Brücenbauten vergendete Zeit
und Mühe als eine verlorne fehmerzlich zu beflagen,
Die eherne Schlange. 15
Ishannes 3, 14. 15.
„Und wie Mofes in ber Wäfte eine Schlange erhöhet hat, alſo muß bed Men⸗
ſchen Sohn erhöhet werben; auf „daß Alle, die an ihn glanben, nicht verloren werben,
fondern das ewige Leben haben. *
Der Baum des Lebens, von welchem das Menſchenherz fich wahre
Befriedigung und Beglädung bricht, grünt nicht da noch dort, fondern
einzig auf dem heiligen blutgenetzten Boden, über welchem wie feier
ficher Glockenkllang das Wort ſchwebt: „Siehe, das tft Gottes Lamm,
das der Welt Sünde trägt!” Möchten wir deß Alle recht lebendig
inne werden, und hier die unvergleichliche Kunſt erlernen, die nirgends
anders zu erlernen ift: Ruhe zu haben inmitten der Unruhe, und Lieder
des Friedens zu fingen inmitten des Kampfes!
In dem verlefenen Textesworte predigt der Herr uns felbft von feiner
beuorftehenden Paſſion, und reicht uns zugleih — Danf, Dank ihm
für dieſen unſchätzbaren Dienft! — den Schlüffel zum innerftien Ges
heimniß feiner Marter dar. Er befähtgt uns mit jenem reichen und
tiefen Ausſpruch, über ein Doppeltes vollftändig in's Klare zu fommen:
über die wahre Bedeutung feiner Leiden zuerft, und dann über
die Bedingungen, anweldhe die Theilnahme an den Früchten
derfelben gefnüpft if. Möge denn Allen, die deß noch bebürftig
find, über diefe beiden hochwichtigen Momente in bleibender Weiſe
heute das Licht aufgehn, auf daß fie hinfort nicht denen mehr beiges
hören, die da „immerdar lernen und nimmer zur Erkenntniß der Wahrs
beit gelangen;“ fondern denen ſich zugefellen, die feiten Grund des
Glaubens fanden, ımd befähigt wurden, im Worte wie auf dem Wege
Gottes „gewiffe und fichere Sqhritte⸗ zu thun! —
In dem belannten Gefpräche Des Herm mit Nikodemus begegnet
uns Das heutige Zertwort. Ihr kennt den heilöbegierigen Schriftges
lehrten, der zwar, aus Furcht vor den Juden, mit feinem Bekenntniß
zu Jeſu das Tageslicht noch ſcheute, aber darum doch von dem, in
welchem er Größeres, als einen „Rabbi von Nazareth” ahnete, nicht
ferne bleiben konnte, und die fchweigende Nacht zu feinen heimlichen
Befuchen wählte. Nikodemus, ein redlicher nad) Wahrheit umd Fries
den dürftender Mann, hatte die erftere nur gefunden als eine Fadel,
bie feine Sünde und das drohende Gericht ihm beleuchtete; den
Frieden aber, je eifriger er auf dem Wege der Geſetzeswerle ihm nach⸗
16 Der Borhol.
gejagt, nur um fo ferner vor ſich entweichen fehn, und flatt feiner nur
die Unruhe erhafcht, in der hienieden fehon der „Wurm“ fich bei uns
meldet, der „nicht fterben” wird, Sept hofft er bei Zefu die uns
fehlbare Weifung und den erwünfchten Rath zu finden. Aber welche
feltfamen Dinge dringen hier zu feinem Ohr! In dem Wege, hört
er, den die Vernunft empfehle, gelange der Menfch, der nun einmal
fleifchlich fei, nimmermehr zum Ziel. Der Grundfag: „Halte Gottes
Gebote, fo wirft du felig!” helfe ihm eben fo wenig von der Stelle,
Des Menfchen Erlöfung fei durch Tauter Wunder bedingt. Er bedürfe
einer Wiedergeburt durch Gottes Geift, und dieſe habe wieder etwas
ebenfo Wunderbares und Geheimnißvolles zu ihrem Grunde. Worin
dies Letztere beftehe, bejagt der Herr in unferm Texte. Er führt den
Scriftgelehrten in's alte Zeftament zurüd. Cr redet dem Gefehess
fundigen von Mofe. Er weifet dem Meifter in Ifrael zu feiner Be
fhämung nad, wie er den Weg zur Wiedervereinigung mü Gott ſchon
aus den Andeutungen kennen gelernt haben follte, die in der Thorn,
in den mofaifchen Büchern reichlich zu finden feien, und hebt dann eine
diefer Andeutungen ausdrüdlich und zugleich mit der liebevollen Abftcht
hervor, dem Nikodemus fchon jeßt wider die ihm möglicher Weife aus
des Herm bevorftehender Marter erwachjende Verſuchung zum Irre⸗
werden an Seiner Perſon und Sache die Rüftung anzulegen. j
Der Herr erinnert den Nifodemus an das eherne Schlangenbild
in der Wüfte. Ihr wißt, welche Bewandtniß es mit dieſem Bilde hatte,
Die vierzig Jahre der Wandrung neigten ſich zum Ende, Sfrael ftand
an der Grenze des gelobten Landes, Da vertritt ihm der Gananiter
Fürſt Arad mit einem fehlagfertigen Heer den Weg. Es kommt zum
Kampf. Die Sfraeliten werden gedrängt, und verlieren mehrere Ges
fangene. Jetzt, wie in ähnlichen Fällen immer, denkt das Volk an
Zufluchtnahme zu Gott. ZThränen der Buße fließen; fromme Gelübde
und ängſtliche Hülferufe werden laut. Jehovah hört, und Arad wird
überwunden. Wie e8 nun aber nicht alfodald in das Land, wo Mich
und Honig fleußt, hineingeht, finkt das Volk in feine alte Berdroffens
heit zurüd, und die ſchon taufendmal gehörte Stimme des Unmuths
und des Murrend wider Moſes und Gott den Herrn felbft verlautet
aufs Neue Da kann es nicht anders fein, der Herr muß abermals
das Zeughaus feines Zornes aufthun; denn nimmer durfte das Bolt
vergeffen, daß Jehovah ein heiliger Gott fei, der ſich nicht fpotten
laffe, und vor welchem, wer böfe fei, „nicht bleibe.” An Authen feiner
Die cherne Schlange. 17
ſtrafenden Gerechtigkeit gebrichts ihm nicht. Diesmal find es „fertige
oder Seraphfchlangen, eine Natternart mit brennenden, Tod bringendem
Biß, der nicht felten in jener Wüfte vorkam, aber diesmal, durch einen
Wink des Allmächtigen aus allen ihren Schlupfwinteln heraufbefchworen,
ploͤtzlich in fo nie gefehener Menge das Lager Iſraels angriff. Grauens
haftes Gericht! Entjeliche Verwirrung an allen Orten und Enden!
Gellendes Nothgefchrei ertönt von Zelt zu Zelt, Verzweifelnde Männer,
bänderingende Weiber, wimmernde Kinder flürzen hervor aus ihren
Hütten. Unzähligen hängt die giftige Brut ſchon an den biutenden
Gliedern. Andern zudt fie blisfchnell und unentfliehbar auf der Ferſe
nad. Da nun wieder allgemeines Tautes Schuldbelenntniß, Angftruf
um Barmberzigleit und Gnade, Zufluchtnahme zu Mofes, und flehent-
fiches Gefchrei: „Bitte Du den Herm für ums, daß er die Schlangen
von uns nehme, und und errette!” — Und Mofes, wie immer, tritt
vermittelnd ein, erjcheint betend vor dem Angefichte Jehovas, ſchreit:
„Herr, ſchone, ſchone!“ und empfängt von dem Gotte der Erbarmung,
der abermals Gnade vor Recht ergehen läßt, die bekannte, zwar felt-
fame, aber überaus bedeutungsvolle Weiſung. Er foll aus Erz das
Bild einer Seraphfchlange fertigen, daffelbe an die Stange eines Feld⸗
paniers befeftigen, dieſe im Lager aufrichten, und dann dem Volke in
Jehovas Namen fund thun, daß, wer gebiffen fet, und dieſes Bild
anfehe, nicht fterben, fondern genefen und leben folle Und Mofes
thut, wie ihm der Herr geboten. , Da hängt denn das kupferne Schlans
gengebilde inmitten des Lagers. An einem Kreuze ſchwebt's; denn
dies war die Geftalt der Panierftange, von der, einem Querftabe ans
geheftet, die Flagge ſenkrecht herabhing. Und die Berwundeten flrömen
berzu, ein Seglicher mit feinen Lieben; die Väter mit ihren Knaben
und Maͤgdlein an der Hand, die Mütter ihre zudenden Säuglinge auf
deu Armen. Und wer da glaubt, und in diefem Glauben zu dem
Bilde aufſchaut, der ift genefen; und die Kindlein werden heil durch
den Glauben ihrer Eltern. Wer aber etwa zweifelnd dem Gedanken’
bei ſich Raum gibt: „Wie doch ſolch kupfern Bildniß Hülfe und Hei⸗
tung ſchaffen möge?” der fällt als Opfer feiner Verſtandeskritik, und
gelangt in's gelobte Land nicht mit hinein. |
hr. merkt, Geliebte, daß wir uns hier im Bereiche göttlicher Vor⸗
bilder und Typen befinden, und daß bier gefchteht, was Spr. Salomo 8
die ewige Weisheit von ſich ausfagt: „Ich fpielete auf dem Erdboden,
und meine Luft ift bei den Menfchenkindern!” Ihr merkt, Daß, wenn
2
18 | Der Berhef.
trgenbwo ein Geheinmiß verborgen Itege, es hier fein müfle; und auf
was für ein Geheimniß das ganze Bildwerk hinüberdeute, wicht wahr,
auch ohne das enträthfeinde Schlüffelhwort des Herm in unferm Texte
würdet ihe auch Dies geahnet haben? Diefes Wort aber zerftreut auch
das letzte Dunkel, das etwa noch darüber ſchweben könnte. Ob das
damalige Ifrael ſchon das Bild in feiner ganzen weiflagenden Tiefe
zu erfaffen fähig war, fteht freilich dahin. Die Erleuchteteren des
Volkes konnten allerdings von diefer Tiefe etwas almen, da fie in ihren
Dpfergebräuchen, in denen ja auch ein finnbildlich mit den Sünden
des Volkes beladenes und fo zur Sünde gemachtes Thier ald Res
timgsmittel auftrat, eine Ueberleitung zum Berftändniß jenes Bildes
fanden. Wir faffen des Bildes Sinn, und ſtutzen nicht mehr, wie
Ritodemus geftubt haben mag, wenn wir den Herm fagen hören:
„Gleich wie Mofes in der Wüfte die Schlange,” (Die, nicht
eine) „erhöhte, alfo muß des Menfhen Sohn erhöhetwerden,
auf Daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden,
fondern das ewige Leben haben.” Als Bergleihungspuntte
ergeben fich, wie handgreiflih zu Zage Itegt, folgende: Die Iſraeli⸗
ten in der von Rattern durchzifchten und mit Angft und Sammer er
füllten Wüſte repräfentiren das Menfchengefchlecht in Ddiefer Welt.
Canaan, an defien Grenzen fie Iagern, bildet die Heimath der Seligen
jenfeits des Todesthaled ab, Der Schlangenbiß, der die Wuͤſtenwan⸗
derer in &efahr bringt, diesfeits des gelobten Landes zu fterben, und
des letztern für immer verluftig zu gehen, bedeutet den Sündenfludg,
der und den Frieden raubt und den Himmel uns verfchließt. Die Erhoͤ⸗
hung der ehernen Schlange zielt, wie der Herr felbft bezeugt, auf die
Erhöhung Ehrifti. Zrat jene in Folge eines göttlichen Rathes ein,
fo diefe ebenfalls. War jene ein Anfgehenttwerden an ein Kreuz, fo
diefe nicht minder. War die erftere zugleich eine Erhöhung im Sinne
der Berberrlichung: denn das eherne Bid wurde das Heil⸗ und
Rettimgsmittel des Volles; fo gilt daS auch von diefer: denn Ehriftus
vollendete fich erft am Kreuze zum Heiland der Belt. „Aber“, fagt
ihr, „Die Schlange felbft konnte doch nicht ein Bild des Herrn Chriſti
fein?!” — Sie war e8 ebenfowol, wie das Hinauffehen zu ders
felben ein BÜd des Glaubens an Diefen, wie die durch den Ans
blick der Schlange bewirkte Heilung ein Bild der durch den Glauben
an Ihn zu erlangenden Gnade, - und endlich wie der durch das Schlan⸗
genbild für Ifmel wieder ermöglichte Einzug in's gelobte Land, ein -
⸗
Die eherne Schlange. 15
Bild der durch Ehriftum für uns Sünder wieder möglich gewordenen
Aufnahme in das Land Der Herrlichkeit if. „Aber Chriftus amd
ein Schlangenbild! — Wo ift hier Aehnlichkeit? Wo hier Bezie⸗
bung? — Gibt e8 Paradoreres und Ungereimteres, als diefe Zufams
menftellung?!” — Dem Anfcheine nach allerdings nicht. Aber diefer
Schein bat nur darin feinen Grund, daß es aud ein größeres Ges
heimniß nicht gibt, als das hier angebeutete, — „Aber Ehriftus”,
wendet ihr ein, „tft ja der Heilige, und die Schlange mit ihrem @ift
ein Bild der Sünder!” — Wohl wahr, Geltebte; aber bedenkt zu⸗
pörderft, Daß Ehriftus hier nicht einer natürlichen Schlange, fordern
nur einem ehernen Abbilde derfelben, welches das Gift der wirklichen
nicht theilt, verglichen wird. — „Aber auch ein Schlangen bild“, ents
gegnet ihr, „bleibt ein Symbol der Sünde,” — Ganz wahr, Geliebte;
aber habt ihr nie gelefen: „Gott bat den, der von keiner Sünde wußte
für uns zur Sünde gemacht?“ Nie gelefen: „Gott warf alle
unfre Sünden auf ihn“? Nie gelefen: „Chriſtus hat unfre Sünde
an feinem Leibe Hinaufgetragen auf das Holz;” und wiederum: „Er
bat uns erlöfet vom Aluche des Geſetzes, da er ward ein Fluch für
und; denn es fteht gefchrieben: Berflucht tft, wer am Holze hängt?”
— Gedenkt Doch nur an diefe Sprüche, und an fo manche andere die ſen
ähnliche, und ihr werdet jene Vergleichung fo ungereimt ſchon nicht mehr
finden. ‚Aber immer ift doch Ehriftus nicht Die Sünde! —” Freunde,
wenn Er zurechnungsweife umfre Sünde trug; wenn fih auf Ihn der
Fluch zufanımenhäufte, der der Sünde zulam; wem Er ſich flellvertres
tend um unfrer Sünde willen dem Richtfchwerte des Geſetzes unterwarf,
auf daß bei ımferer Begnadigung die Majeität des Geſetzes unverlept
amd umverdunfelt bliebe; wenn die Sünde nad) apoſtoliſchem Ausdrud
„an feinem Fleiſch“ verdammet ward, damit fle ihrer verdammenden
und verderbender Kraft für uns beraubet würde;— wenn, fage ich, diefe®
Alles, folkte er damn nicht troß aller feiner perfänlichen Heiligkeit m
einem tiefen Sinne mit gutem Grunde die Sünde heißen, und’ übers
ans paſſend und bedeutimm jenem ehernen Schlangenbilde verglichen
werden förmen? Und alles das, was ich eben nannte, ift ja wirklich
wach der Schrift gefchehen, und die Paſſtonsgeſchichte ift deſſen Erfüls
Iung. Und gefchehen mußte, mußte es, „Es muß“, hören wir
Ia ſelbſt in unferm Zerte fagen, „alſo“ (d. i. in gleicher Weile)
auch des Menſchen Sohn erhöhet werden. Ja, ein Muß ware,
deſſen Tiefen wir freilich hienieden nicht zu ergründen cn Der
20 Der Vorhof.
ganze Erloͤſungsplan ging allerdings von der Liebe und Erbarmung
Gottes aus. „Alſo hat Gott die Welt geliebt‘, beginnt das unferm
Terte folgende große Wort, „daß er feinen eingebormen Sohn dahin
gab.” Aber e8 ziemete Gott, jenen Plan in dem blutigen Vers
mittlungswege zu vollführen, den Ehriftus wandelte. Es war dies
ein Muß, welches theils in unfrer gänzlichen Unvermögenheit, uns
felbft aus unfrer fittlichen Verkommenheit wieder heraus zu helfen,
theils in dem hochheiligen Wefen und der unwandelbaren Hausordnung
unſres Gottes feinen Grund hatte Die Nothwendigfeit erheifchte
es fo, fagt uns die ganze heilige Schrift; und Lönnen wir das Warum
nicht durchſchauen, fondern höchftens nur von ferne ahnen, fo
wiffen wir, daß überhaupt noch viel daran fehlt, Daß wir die Tiefen
der Gottheit follten erforfchen können. Wer hier den etwaigen Ein-
wänden und Bedenken feiner natürlichen Vernunft vor dem Worte des
lebendigen Gottes den Vorzug geben will, der thue es auf feine Ge
fahr bin; ermäge jedoch, wie e8 den vernünftelnden Kopffchüttlern Ans
gefichts der ehernen Schlange in der Wüfte ergangen tft, Die es einzig
ihrem Hochmuthe zugufchreiben hatten, daß fle an ihren Wunden ftars
ben und verdarben, indem nun einmal wider den Schlangenbiß außer
dem einen Mittel, das ihnen Gott felbft verordnet hatte, in weiter
Welt ein andres nicht aufzutreiben war.
| 2
Sp wifjen wir denn: Das Gegenbild der ehernen Schlange ift der
für uns gekreuzigte Chriftus am Holz. Diefer fleht als das einzige
Heilspanier im Lager der durch die Sünde verwüfteten und um der
Sünde willen dem Fluch verfallenen Menfchheit aufgerichtet. Keine
Genefung, feine Gewiffensitillung, feine Erledigung von Fluch und
feine Zulaffung in das himmlifche Canaan, als durch Ihn. „Ich bin
der Weg, die Wahrheit und das Leben,” bezeugt er felbft, „Niemand
fommt zum Bater, denn durh mich!” Nun aber fragt ſich's,
wie durch ihn heil zu werden fei, nachdem er in feinem Leiden und
Sterben die letzte Obliegenheit erfülkte, durch welche er zum vollendes
ten Erlöfer wurde? Ich antworte: In ähnlicher Weife, wie in dem
Borbilde der Wüfte die durch den Schlangenbig Vergifteten gerettet
wurden, Zuerft wie dort: Empfindung ımfrer Wunde, Mares Bewußt⸗
fein um unfer Elend, Sündenfchmerz und Sündentrauer! So lange
und die Lüge gefangen hält, und der Wahn uns umftriett, als feien
wir vor dem Geſetze nicht verfchuldet, nicht fleifchlich, nicht verloren
Die eherne Schlange. 21
mit unſerm ganzen von der Liebe Gottes verlaſſenen, und vom Egois⸗
mus durchgifteten Zuſtand, und in unſrer Gottentfremdung nicht dem
Fluch und Zom verfallen, fo Iange find wir der Rettung noch nicht
fähig. Die Rettungsfähigkeit ift erft mit der Marbewußten Rettungs-
bedürftigfeit vorhanden, Wer in Iſrael nicht geglaubt hätte, von den
Nattern gebiffen zu fein, der wäre auf feinem Lager liegen geblieben
und geftorben, Brüder, es thut's noch nicht, daß ihr das Wort von
dem Gekreuzigten hört, faßt, ja gar feine Wahrheit anerkennt, und felbft
es Andern verfünden und erläutefn könnt, Nicht für das Wort bios,
fondern vor Allem für eure eigene wahre Geftalt und Rage müfen
euch die Augen aufgehn. Ihr müßt euch ſelbſt erfaffen als nad
Sinn und That von dem Leben aus Gott gewichene, in grober oder
fubtiler Weife unter die Sünde verkaufte und von dem Gefege Gottes
entſchieden verurtheilte und verdammte Uebertreter. In diefer Eigen
ſchaft, die wahrhaftig die eure tft, müßt ihr mit dDurchgreifendem Weh,
mit tiefer Herzensfümmernig, und brennend heißem Durft nad) Gnade
und Verſöhnung euch erfunden haben: dann, aber auch erft dann,
feßtet ihr den erften Fuß auf den Weg, der zur ewigen Heilung führt.
Fa, Die erfte Station auf diefer Straße ift naß von Thranen. Bor
Allem ein Zöllner erft, der an feine Bruft fchlägt; ein Simon
Petrus mit einem „Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein fündiger
Menſch“; ein verlorener Sohn, der mit dem Seufzer wiederfehrt:
Bater, ich habe gefündigt im Himmel und vor dir, und bin hinfort
nicht mehr werth, daß ich dein Kind heiße, und dann das Weitere! —
„Was aber weiter dann? —“ Es wird dies der Nothftand dei⸗
nes Herzens ſchon enthüllen. “Der dürftende Hirfch findet Teicht die
Quelle, und die vom Kluge ermüdete Taube entdedit bald den Del-
baum, auf den fie fich niederlaffe. Wohl kann es fein, daß du erft
eine Beile noch kreuz und quer umbertreibft, und bald hier, bald dort
zu entdeden hoffit, was den Sturm in dir bedräue. Was aber gilt's?
nur ausgehauene Löcherichte Brunnen findeft du, die fein Waſſer geben,
und fommft zur Ruhe nicht, bis du vor dem blutigen Paniere des
geiftfichen Iſraels, dem Gegenbilde der ehernen Schlange, Halt macht,
Hier fiehe dann auf, d. h. in der Deutung des Bildes: hier glaube,
„Auf daß Alle”, fpricht der Herr, „Die an Ihn glauben, nicht
verloren werden”. Merke jedoch wohl, daß es nicht heißt: Die
Ihm, fordern die an Ihn glauben. Diefer Ausdrud wiegt in ber
Sprache des Herrn ſchwer, und bezeichnet umendlich mehr, als 'eine
* Der Verhol.
bloße Verftandesthätigfeit, mehr, als ein Jaſagen zu irgend einem
Behrfag, mehr, als ein Fürwahrhalten und Beifallgeben Des Gedan-
tens. Kine gläubige, vertrauensvolle Hingebung gilt es an den
gefreuzigten Chriſtum, ald an den legten und einigen Heiland und
Helfer von aller Noth, von allem Verderben. Man fteht vor Ihm,
man erkennt in Ihm den Mann, der in unergründlicger Liebe fein
Alles dahin gab, aber auch dahin geben mußte, um und Unwirdige
zu retten. Eine dankbare Rührung überwältigt das Her, Man ums
faßt Ihn, nicht als den letzten Nothaufer nur, noch wie der vom Vlut⸗
rächer Verfolgte das fehükende Altarhorm erfaßt; man umarmt ihn
zugleich als unfern allertreuften Freund, und eignet ihn fih an als
den füßeften Inhalt unfers Lebens, Man wirft fi) gaͤnzlich auf ihn
bin, Man kommt in feinem Berdienft zur Ruhe. Man laͤßt Ihn
feine ganze Hoffnung, feine höcfte Wonne fein. Und Die Liebe zu
ihm, die unter Wirkung des heiligen Geiſtes in unjern Herzen fid
entzündet, wird nun zum neuen Prinzip unfers innerften Lebens, und
zur Hüterin unfers ganzen Thuns und Laſſens. Rur Ihm will man
leben hinfor. Man wandelt vor Seinen Augen auf Schritt uud
Tritt, Man berechnet zart, was Ihm mißfallen könnte und meidet
es, Und neue Winden, — denn ah, die Sünde tft nun fo wenig
ſchon völlig todt in uns, als wir Iefen, daß in dem gefchichtlichen
BVorbilde der Wüfte Die Schlangen fofort hinweggenommen worden
feien, — treiben immer aufs Neue zu ihm hin. Aufs Neue hängt
Die Thräne am Wimper, aber aufs Neue entnimmt man auch den Troft
ber Bergebung von feiner guadenreichen Kippe.
Seht, Freunde, das heißt an den gefrenzigten Chriſtus glauben.
Ber alfo an Ihn glaubt, der, — vernehmt es aus Jeſu eigenem
Munde, — wird nicht verloren gehn, fondern hat das ewige Leben.
Nichtglauben und VBerlorengehn find alfo ungertrennliche Momente.
Ber wird gegenüber einem fo unzweideutigen Zeugniß aus dem Munde
des Herm jelber, wie wird hier vernehmen, noch fernerhin dem flachen,
abgetretenen Gemeinplag huldigen können, daß bei der Frage nach der
Seligkeit der ganze Schwerpunkt in das Thuen falle, der Glaube
Dagegen „indifferent” fei, d. h. nicht in Anſchlag komme, wenig
ſtens nichts enticheide. Freilich kann nur die äußerfte Unfenntmiß von
dem Weſen des Glaubens eine fo alberne Borftellung erzeugen, Man
überfieht Dabei völlig, Daß der Here nicht fagt, wer glaube, werde
das Sehen haben, ſondern es habe das Leben ſchon. Der Gert foßt
nn \
Die eherne Schlange. B
den Glauben ſchon als Leben, ja als den Anfang und Keimanſatz des
ewigen Lebens, indem er, weit entfernt, denfelben nur in eine bes
jahende Zuftimmung des Verſtandes zu einer gewiffen Summe von
Lehrbegriffen zu feßen, denſelben vielmehr als eine lebensfräftige Ans
eignung diefer Lehren, ja als ein umbedingtes Sichſelbſtaufgeben an
den Herrn Chriftum und an feine Leitung und Bewirfung anſchaut.
Ber den Glauben in diefer feiner Eigenfchaft aus eigenem Innewer⸗
den Bennen lernte, der kann nur mitleidig über Die Afterweisheit Lächeln,
die ihn vergleichgültigen, und der Sittlichleit in ähnlicher Art eine
Ehre anthun will, wie wenn etwa Jemand Dadurch einem Bade eine
Ehre zu erweilen gedächte, Daß er, um denfelben zu einem felbft-
ſtaäͤndigen Dafein zu verhelfen, ihn von feiner Quelle trennte, Keine
Sittlileit ohne Hergensreinigfeit; und Teine Herzensreinigung ohne
Glauben, Ohne Glauben feine Liebe zu Gott; und ohne diefe Liebe
feine Zugend. Der Glaube findet aber die Einigung mit Gott allein
in Chriſto. Nur der Aufblid der Zuverficht zu dem dorngekroͤnten Ge⸗
genbilde der ehernen Schlange heilt den Inbegriff aller unfrer inneren
Schäden. Gebet bin, werdet es in eigner Erfahrung fellg inne, und
lernet einftinmen in des Dichters Worte:
Gekreuzigte, verflärte Liebe,
Du mehr, als jeder Schaf ber Welt!
Ob nichts, maß irbifch ift, mir bliebe:
Da biſt's, die mehr, ala ſchadlos hält.
Und wandelt’ ich auf bunfeln Wegen:
Du biſt's, auf die mein Herz vertrant!
Du bift des Glaubens Licht und Segen,
Bis dich mein Ang’ im Throne fhant. Amen! —
24 Der Bordef.
IH.
Der Dobepriefter.
Es ift eine fehr irrige Vorftellung, die durch Ehriftum das alte 7
flament als etwas Nichtiges abgethan umd verneint fein läffet. -
Allerdings verneinte er das alte Teftament; jedoch nicht fo, wie er zu
Beifpiel den Pharifäismus verneinte, fondern wie die Frucht Die Blütt
verneint, indem fie deren Mark und Segen in ſich aufnimmt, und dan
die Hülle abſtoͤßt. „Ihr follt nicht wähnen“, fpriht der He
Matth. 5, 17 felbft, „daß ich gefommen bin, das Geſetz ode
die Bropheten aufzuldfen. Ich bin nicht gelommen auf
zulöfen, fondern zu erfüllen.” — Ja, Lebensfülle mitzuthe
len, fowohl dem heifchenden, wie dem weiffagenden Buchſtabe
Des alten Bundes, dazu kam er. Das Geſetz, gehorchend und vol
bringend, die Prophetie, wahrmachend und verwirklichend, in fir
aufzunehmen, war feines Erſcheinens Zwed und Ziel. Das hingezeid
nete Ideal kam in Ihm zu feiner Berleiblihung Das todt
leere Bild hob, Subftanz und Zleifch geworden, in Ihm, als in fe
nem lebendigen Originale und wefenhaften Urbilde, fih auf.
Nichts ift vom alten Teftamente als eine taube Blüthe abgefalle
und verftoben., Bis zu dem geringfügigften und unfcheinbarften Zug
hinab ward felbft die Ievitifche Tempelordnung in Ihm gerettet um
in Wefen umgefeßt, Jeder gottesdienftliche Gebrauch feierte in Ihr
und Seinem Thun den Moment. feines Webergangs aus dem Be
reiche der Schatten in's Gegenbildfihe und Reale. Wie der Grunt
riß eines Baues zu dem verwirklichten Baue felbft, ähnlich verhält fic
das ganze mofaifche Geremonialgefeß zu Zefu Perfon und Werl, De
architektonische Plan zu der Bauanlage ward nicht vernichtet, fon
dern blos, bis zu den Fleinften Federftrichen hinzu realifirt, in da
Gebäude aufgehoben, und behält, ob er gleich feine Dienfte nu
gethan hat und dem Archive übergeben ift, doc immer noch de
Werth eines Maßſtabes für den Vorbedacht, die weife Berechnung
die Pünktlichkeit und Treue, womit der Baumeifter baute und fei
Werk vollführte, In ähnlicher Weife dient uns auch heute noch da
Der Hobepriefter. 25
alte Ceremonialgeſetz, indem es gleich einer heiligen Fackel die Tie⸗
fen des göttlichen Erlöfungs-Rathes ums beleuchtet, Wie wohl
thuend aber und wie erhebend ift es, den Ewigen vor Zahrtaufenden
{don mit der Zeichnung feines großen Retterplanes befchäftigt anzu-
treffen! Oder ift e8 etwas Anderes, ald Seine planzeichnende Hand,
Die in jenen Schattenriffen fih uns kundgibt? — In diefem bilder-
reichen, und fowohl perfönliche als f ählice Zeichen umfchließen-
den Borentwurfe fteht num bekanntlich als eine Hauptfigur der aro-
nitifche Priefter vor und. Wie EChriftus auch diefem bedeutungs-
vollen Schatten in Seiner Perfon zu Weſen und Verkörperung verhalf,
das werden wir heute in unfern Gefichtöfreis treten fehen.
Hebraer 7, 26.
Denn einen ſolchen Hohenprieſter mußten wir haben, der da waͤre heilig, unſchul⸗
big, unbeſſledt, von den Sündern abgeſondert, und höher, denn der Himmel iſt.
:- Ein herrlich Gebiet thut fi vor und auf. Unſer Text führt ums
zu den Grundveiten der göttlichen Erlöfungsanftalt. Wir vernehmen,
wie der Heiland, der uns Gott verfühnen follte, habe beſchaffen fein
müflen. Es bedurfte einer göttlihen Offenbarung, um uns dies
zum Begriff zu-bringen.. Ohne Aufichluß von Oben hätte fein Engel-
noch Menfchenverftand jemals das Näthfel gelöft, wie ein dem Fluche
verfallenes Gefchlecht unbefchadet der göttlichen Gerechtigkeit wieder zu
Gnaden angenommen und mit Gott neu vereinigt werden möchte. Jetzt
find uns von diefem Geheimniß die Siegel gelöft. Vernehmen wir
denn zubörderft heute, was für einen Erlöfer wir haben muß—
ten und wirklich haben; und fodann: welde Rechte aus der
Vollkommenheit diefes hohenpriefterlihen Mittlers für
die Gläubigen hervorgehn.
Schwebe der Geift des Herrn über unfrer Betrachtung und führe
und in alle Wahrheit!
1.
Der Menſch in ſeinem n natürlichen Stolze mag von einem Mittler
und Erloͤſer überhaupt nicht wiſſen. Er duͤnkt ſich Mann's genug, fich
ſelbſt zu vertreten, und verſchmäht es, ſich nach Gott zu richten, indem
Gott vielmehr nach ihm ſich richten müſſe. Er ſchreibt dem Aller⸗
hoöchſten die Bedingungen vor, unter denen derſelbe ihn gerecht erklaͤ⸗
en und feguen, und einft fogar ihn erhöhen und zu feiner Hertlich⸗
* Der Berhel.
keit erheben ſolle. Gott ſoll ſich au der Gerechtigkeit gemügen lafſen,
Die er ihm darſtellt. Welch' jaͤmmerlich Stückwerk dieſelbe immer
ſei, Gott foll fie für voll annehmen, für genügend gelten laſſen. Er
foll feine fittlihen Forderungen nach dem gegenwärtigen Zufland
des Menfchen mäßigen. Er ſoll's, oder der Menſch droht heimlich
in feinem Herzen, Ihn der Härte und Granfamkeit anzuklagen. So
fiebt der Mamsfohn zu Gott: ein frecher und zugleich unfinniger
Rebelle, der da verlangt, es folle Gott um feinets, des elenden Sün⸗
ders willen, Sein Weſen und alle Seine Bolllommenheiten verläng-
nen. So proteftirt er gegen Die Botichaft von einer göttlichen Gnaden⸗
und Heilsanftalt, weil feinem dummen Hochmuthe der Gedanke uner⸗
träglich ift, daß feine Erlöfung und Befeligung fo große Zubereitungen
der göttlichen Barmherzigkeit follte erfordert haben. Ach, ihr wißt es
ja, welche Aufnahme dem Herm Jeſus ward, als er mit der Eröff-
wung unter die Leute trat, daß er erfchienen fei, fein Leben zum Loͤſe⸗
geld für fie dahin zu geben. „Was Löfegeld!” hieß es. „Wozu ein
Löfegeld? Als ob wir banquerotte Leute und in uns felber hülflos
wären! — Gilt's Zahlung, fo ftehen wir felber unfen Mann, und
bedürfen keines Bürgen!” — Und fünsahr! hätte Gott die Grün
dung feiner Gnadenanftalt vertagen wollen, bis die Menfchen aus fich
feld Ihn darım würden angegangen fein, die Anftalt des Heils
wäre nie gegründet worden; vielmehr wäre Gejchlecht um Geſchlecht
in gräßlicher Sicherheit und Berblendung dem Abgrunde des ewigen
Berderbens zugetaumelt, und heute noch taumelte die Menſchheit hals⸗
flarrig und ohne Hülfefchrei dem Abgrund entgegen. — Aber Hei,
Heil uns! Gott rechnete diefe unfre entjegliche Blindheit mit zu dem
Elend, deß Er ſich jammern ließ; und je lauter wir in unſrer Raferei
daher fchrieen: „Wir wollen feinen Mittler] “ um defto höher ſchlug
in Seinem Herzen die Flamme des Mitleids auf, die ihn Drängte,
einen Mittler und Erretter und zu fenden. Ya, Er hat das Heil uns
aufgezwungen und wider unfern Willen in Ehrifto und erlöfet.
Aber hörte man denn nicht die Alten feufzen: „Ach, daß Du den Hüns
mel zerriffeft und führeft herab!?“ — Die Alten fchrieen fo; aber
nachdem ihnen vorab ein göttlicher Wunderakt dazu Die Zunge loͤſte.
Die menſchliche Natur als ſolche hat niemals fo gefchrieen. Sie ift
ſich felbft genug bis dieſe Stunde. Sie geht vornehm an Krippe und
Kreuz vorbei; denn „wozu dieſe Geräthe?“ denkt fie; „ich brauche
ihrer wicht" — In der That alfo bedarfſt du keines Mittlers? Du
Der Hohepziefter. 37
biſt wirklich eines MWertreters nicht bedürftig? — Allerdings, zwei
Faͤlle geſetzt, und du brauchſt einen Mittler nicht. Exiſtirt kein
Get im Himmel, nein, dann bedarfit du feinen Heiland; denn
Dann gibt's auch fein Gericht, keine Fortdauer nach dem Tode, keine
Ewigfeit. Dann bift du eine Wafferblafe auf der Strömung der Na-
tur, die bald wieder in Nichts zergehen wird. Es hat dann für des
Lebens Zukunft gar feine Bedeutung, ob Jemand ein Heiliger fei,
oder ein Sünder. Es trifft Beide nad) kurzem Dafeins-Traum das
gleiche Vernichtungsloos. Der Tod loͤſcht den Funken, „Geiſt“ ge
nannt, in ihnen aus, Sie verfchwinden aus der Reihe der Perfün-
lihleiten für immer, und „ihre Stätte iſt nicht mehr gekannt”. Was
fol dir alfo, ift Gott ein Hirngefpinnft, ein Hoherprieiter?! —
Aber „die Thoren“, ruft der heilige Sänger, „ſprechen in ihrem
Herzen: e8 ift fein Gott;“ umd fügt hinzu: „Sie taugen nidt,
und find ein Greuel mit ihrem Weſen.“ — Doch, auch wenn
ein Gott ift, wie denn fo wahrhaftig Einer lebt, als die Himmel feine
Ehre erzählen und die Befte feiner Hände Werk verfündet, fo bift du
and Dann noch eines Erlöfers nicht benöthigt, wenn jener Gott ein
Lügner ifi, wie Du, der zwar ein „Berfludt fei Jedermann,
der nicht bleibt in Allem, das gefchrieben ſteht im Buche
des Geſetzes, daß er es thue,” an die Säulen der Erde fchrieb;
aber nach diefem Wort nicht ftraft, fondern ihm zuwider handelt; oder,
wenn Er ein Unheiliger ift, wie Du, der Sünde und Miffethat nicht
anfchlägt; oder, wie du, ein Unweifer, der in feinem Regimente
plans und ordnungslos zu Werke geht. Ich fage: ift Er ein Sol⸗
her, freilih, was fol dir dann ein Heiland? — Aber wäre auch
ein folcher Bott noch Gott? Gehört es nicht wefentlich zum Begriffe
Gottes, daß er heilig fei, gerecht und wahr, und die Sünde ver-
Hude, und über der Erfüllung feines unmiderruflichen Gebotes halte,
und einem Seglichen vergelte nad) feinen Werken? Ich meine, nichts
lebe mehr außer Frage, als eben Dies, — Was aber, o Menſch, ges
büßret dir nad) deinen Werken? Dir, der Du der Grundlage aller
vor Gottes Augen geltenden Güte, nämlich der Liebe Gottes: über
Alles, und des Nächften als dich felbft, fo gänzlich banr bit? Dir,
der du von Natur als ein vollendeter Egoiſt erfunden wirſt? Dir,
dem Knechte des Fleiſches, ja dem Feinde und Widerfacher Gottes,
der du dich als folchen fo oft bethätigeft, als Gott mit Seinem
Wort, Seinem Gefeh, oder Seinen Führungen deine Wuͤnſche und
28 Der Bordof.
Geluͤſte durchkreuzet? — Wiffe, was Dir gebühret, ift der Tod
und die VBerwerfung von Gottes Angefiht, Er muß did ver-
dDammen, wo er richtend nur deine Perſon anfieht, oder. jelbft zu
Grunde gehn und aufhören, ‚Gott zu fein. Und du verlangft, Daß
er fich ſelber aufhebe, mit fich felber ſich entzweie, ja, fich felbft ver⸗
nichte, indem du begehrft, daß er did) Sünder ohne Vermittlung,
ohne Genugthuung, ohne Opfer fegne, erhöhe und in das himmlifche
Weſen verfege! — — O Zollheit, o Raſerei, o unfinniges, ja frevel-
haftes Beginnen! Was immer du nöthig haben magft, biutnöthiger
haft du nichts, als einen Mittler und Erlöfer! Frohlode drum,
und bete an am Staube, daß ein Solcher erfhien, und auch Dir
die Retterhand entgegenftredt! —
Gott mußte die abtrünnige Menfchheit ftrafen. „Das war Gottes
Recht”, fagt die Schrift. „So ziemete e8 Gott”, fagt fi. Ja, fo
entſprach e8 Seinem hochheiligen Weſen. Es Tiegt als eine Noth
wendigfeit in Gottes Natur und der Ordnung feines Haufes, Daß
der Sünde der Fluch fih an die Ferfe hänge. Damider ift nicht zu
disputiren. Das it eine ewige unbeftrittene Wahrheit. Was aber
wäre nun aus der Menfchheit geworden, hätte ihr nad ihren Werfen
vergolten werden follen? ine Beute der Hölle wäre fie, ımd das
für ewige Zeiten. Aber dahin follte es nicht fommen; und darum
trat die unergründfiche Gottesliebe mit ihrem Netterplan in's Mit-
tel. Es galt, daß Einer zu uns Sündern in das Verhaͤltniß eines
zweiten Adams eintrat, Das heißt in ähnlicher geheimnißvoller Weiſe
fih mit uns vergliederte, wie der erfte Adam mit feinem Gefchlechte
Einer war: Er unfer Vertreter, wir in Ihm aufgegangen; er das
Haupt, wir als fein Leib zu einer Perfon mit ihm verbunden; er
fomit unfrer Schulden theilhaftig, wir theilnehmend an feiner Bezah⸗
lung, gleich als wären wir Er, und als wären wir nicht etwa Viele,
fondern mit Ihm nur Einer, eingefchloffen in Ihn vor Gott, aus
Dielen in Ihm Ein Mann geworden, Natürlich mußte der Vertreter
zunädft ein Menfch fein: denn nicht die Engel, die Menfchheit
mußte zur Sühnung des unter die Füße getretenen Geſetzes die ge
techte Strafe leiden. Der Menfchheit war gefagt: „Ich will den
aus meinem Buche tilgen, der an mir fündig.“ Der Menfhheit
war das Geſetz der zehn Gebote gegeben, daß fie e8 bewahrete und
darnach lebte. Die Bedingung, an welche unfre Wiederaufnahme in
das Vaterhaus geknüpft war, war eine doppelte: zuerft die, daß wir
Der Hohepriefter. 29
Gott dargeftellt wurden als Solche, die den angedrohten Suͤndenfluch
erduldet; und dann die, daß Er als Knechte uns erfand, die den
unwiderruflich den Menjchen auferlegten Gehorſam nach allen Seis
ten bin geleiftet hatten. Daß nun der Mittler nicht bios Menſch,
fondern auch ein gerechter Menfch fein mußte, ergibt ſich fo von
felbft: denn war er felbft ein Schuldner, fo bedurfte er für feine
Berfon eines Mittlers, der für ihn bezahlte. Daß er zugleich mehr
fein mußte, als ein Menſch, Teuchtet nicht minder ein. Er mußte
Gott fein, und zwar zunachſt, Damit Er, was nur bei Gott zutrifft,
nicht unter, fondern über dem Geſetz fände, und dadurch befähigt
wäre, für Andre „unter das Geſetz“ ſich thun zu laſſen; fodann,
damit Er, durch feine unbegrenzte Herablaffung von der flrahlenden
Höhe der Gottheit in die Befchränfung der armen Menfchennatur
den Werth feines ftellvertretenden Gehorfams erft recht in's Unend⸗
fiche fteigerte, und vollendete; ferner, damit Er, wie ſich die Kirchen-
lehre ausdrüct, die „Zaft des Zornes Gottes” und alle Schauer
des übernommenen Fluches ohne Verzweiflung zu ertragen vermöchte,
und endlich, damit Er uns mit fih aufs höchſte, d. h. bis zur Herr⸗
fhaft und Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater ers
heben koͤnnte. Ach, wir lallen und ftammeln wohl davon, wie und
warum der Mittler fo und fo habe beichaffen fein müffen; aber wir
faffen von der großen Sache in unfrer menfchlichen Kurzfichtigkeit nur
äußerft wenig. Das aber fteht, weil fein untrügliches Wort es bes
zeuget, unerfchütterlich feit, daß wir „einen ſolchen Hohenpriefter haben
mußten, der da wäre nicht allein heilig, unſchuldig und unbefledt,
fondern auch von den Sundern abgeſondert“, d. h. nicht, wie fie, in
Sünden empfangen und geboren, und „höher denn der Himmel if,“
d. i. auch über die Engelwelt erhaben, oder Gott gleich, und felber
Gott, hochgelobt in Ewigkeit, Erft die Ewigkeit wird und das Ge
heinmiß ganz entflegeln, aus welchen Gründen nur ein Solcher un-
ferm Elende gewachſen war. Bis dahin Takt uns glaubend und in
Dank zerfließend vor Gott am Staube liegen, daß Er einen Hohen-
priefter uns gefandt, der allen jenen Erforderniffen in der That ent
foricht, und das große Bertreterwerk herrlich vollendet hat. Ja uns
kam ein Solcher. Durchſchreitet das Heiligthum des Evangeliums,
und Er wird euch begegnen. Pilgert gen Bethlehem, und ſchauet hier
werft den Menfchen, uns an Gebehrden gleih. Höret dam den
zum Manne binangereiften won fich zeugen: „Ich und der Vater find
Der Borhel.
; wer mich fieht, fiebet den Vater;“ und beuget dem Bott in
Pie Kniee. Gebet hinaus an den Sordan, und vernehmet ed
ans feinem eigenen Munde, daß er gefommen fei, „alle &es
rechtigfeit für ums zu erfüllen.“ Folget Dann ihm wieder amf den
Schaunplatz feines öffentliben Wirkens, und lat end) fagen von ihm,
wie e8 feine Abficht fei, „fein Leben zu geben zum Löfegeld für
Viele.” Hört über ibn das Zeugniß feines himmliſchen Vaters nie
Dertönen: „Tas ift mein lieber Sobn, an dem ih Bohlgefallen
babe!” und entnebmet daraus, daß er ein Linfträflicher war, mb
wirfiih das Geieh für uns erfüllte. Und begehrt ihr biefür au
noch ein Menſchenzeugniß, hört feinen Richter mfen: „ch finde feine
Schuld an dieiem Menſchen.“ Und nun vernebmt von feinem Freue
ber fein „Lama asaphtani!“ Hier trägt er für euch den Fluch; bier
fhmedt er für eu die Schauer der Verdammniß. Bernehmt fein
triumphirendes „Es ift vollbracht!” Run ift der große Sieg erfänmpft,
und das erlöiende Opfer durgeftellt. ‚Und dem wäre wirklich fo?“
— D, menn daran noch ein Fweifel ench befdhleicht, fo eilt hinans im
Joſephs Gurten, wo der Allmächtige ſelbſt thatfächlich es bezeugt, und
Durch Das Wunder der Auferweckung dem Werke feines Sobnes Sein
ftrablend Siegel aufdrüdt. Und dann bört den Ebor feiner feligen
geiftgefalbten Jünger: „Mit eine m Opfer hat Er in Ewigfeit vollendet
Alle, die da gebeiliget werden!” — „Ihr feid volllommen in Ihm,”
— „Chriſtus ift uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit,
zur Heiligung und zur Erlöfung.” — „Ber will beſchuldigen? Wer
will verdammen? — Hier ift Ehrifus!" —
th s
2.
D, mit welchen Worten foll ich nun felig preifen Diejenigen unter
uns, die Grund haben, jenen volllommenen Hohenpriefter den ih⸗
rigen zu nennen! — Dem wiſſet, Aller Hohberpriefter iſt er nicht;
fondern nur derjenigen, die auf dem heiligen Wege des Gnadenbes
dürfniffes als dem einigen Manne ihrer Hoffmmg und ihres Troftes
Ihm begegnet find. O ihr, die ihr durch Gottes Gnade aus Dem
Sündenſchlaf der natürlichen Sicherheit ermadhtet; ihr, die ein luftiger
Traum von einer Gerechtigkeit und Tugend nicht mehr umgaulelt und
irte führt; ihr, die ihr die Sünde im Lichte Gottes als das erlanntet,
was fie wirklich ift, und ench der ſchauerlichen Gottentfremdung, im
die ihr darch Die Sihide hineingeriethet, mit Schreden bewußt ger
—
Der Hoßepriefter. si
worden feld; ihr, die ihr, die Flüchtigkeit des zeitlichen Lebens und
die ernfte Ewigleit vor Augen, in der That nichts fehnlicher begehrt,
als daß nır Gott euch Hold und gnädig fei; ihr, Die ihr an der
Möglichkeit, in eigner Kraft dem Ewigen euch zu verfähnen, gründs
fich verzagend, ad), nur einen Stern noch fchaut, der vor der Ders
zweiflung euch bewahrt: den Stern aus Jakob; nur einen Balken
noch gewahrt, der über der Sündfluth euch oben halte: den Kreuzes⸗
balten; mur eine Hand noch kennt, von der ihr Erlöfung hofft: die
durchgrabene des Mannes in der Domenfrone; ja ihr mit dem aufs
richtigen: „Herr Jeſu, erbarme did, meiner;“ ihr, die ihr Immer wieder
Seinen Namen euch nennen, zu Seinem Kreuze aufichauen, betend
zu Seinen Füßen niederfinfen, und, wofern ihr vor Weh und Angſt
nicht vergehen wollt, euch daran erinnern müßt, daß Er ja da fei;
— ihr, die ihr es fo ermftlich meint mit euerm Sehnen nad Ihm, fo
aufrichtig mit eurem „Sohn Davids, errette mich;“ fo herzgründlich
mit eurem „Was willft du, daß ich thun ſoll?“ und fo wahr und tief
mit dem Wunfche eures Herzens, Ihm ganz zu leben, Ihm überall
zu dienen, und Allem, Allem abzufagen, was Seinen heiligen Augen
nicht gefalle; — — ja ihr, die ihr alfo euch erfindet, o zaget umd
fraget ihr nicht mehr, ob es euch geftattet fei, euch Seiner zu ges
tröften? Ja, ja, es iſts! Ahr tragt ja augenfcheinlich den Stempel
eurer Erlöfung an der Stim. Fürwahr! wenn ihr nicht befugt feln
folltet, Ihn als enren Hohenpriefter zu erheben, fo wäre es Ries
mand im Himmel ımd auf Erden!
Steht uns aber ſolche Befugniß zu, o Brüder, welch lieblich Loos
it uns dann gefallen! Wird ſich's Doch von felbft verftehen, daß ein
fo vollkommener Mittler auch eine vollkommene Eriöfung ımd Ges
rechtigkeit zu Wege bringen mußte Die Rechte, die aus Seinem
Berle für uns hervorgehn, find unermeßlich und unvergleichlih. Wir
dürfen binfort uns „Dafür halten,” daß wir der Sünde geftorben find,
und nichts Verdammliches mehr an uns fei: denn wären wir noch
unter dem Fluche, wie reimte fi damit das Wort: „Er hat und er
löfet vom Fluche des Geſetzes, da Er ward ein Fluch für uns?” Wir
dürfen von feiner umfrer Sünden mehr beforgen, daß fle und noch
von Gott zu umfrer Berwerfung werde zugerechnet werden: dem trigen
wir noch unfre Sünden, wie könnte gefchrieben ſtehn, Er habe fie
alle für uns binanfgetragen auf das Holz? Es gebühret uns, uns
als Gerechte vor Bott zu wiflen: dem gölten wir noch vor Ihm ale
32 Der Vorhof.
Uebertreter, was bedeutete der Ausſpruch: „Wie durch Eines Unge⸗
horſam Viele Sünder worden find, fo werden durch Eines Gehorſam
Biele Gerechte?” Wir dürfen hinfort vor Zod und Zeufel nicht mehr
erzittern: denn unfer Borkämpfer muß ja den einen, wie den andern
für und entwaffnet haben, da uns aus göttliher Vollmacht der
Zriumph in den Mund gegeben wird: „Tod, wo tft dein Stachel?!
Hölle, wo ift dein Sieg?!” Selbſt auch die Sorge um unfer Bes
barren in der Wahrheit und auf dem Lebenswege dürfen wir fahren
laffen: denn müßten wir und noch felbft mit diefer Sorge tragen,
warum fpräche denn der Herr: „Das ift der Wille meines Vaters,
daß ich von Allem, das er mir gegeben bat, nichts verliere; und
wiederum: „Niemand wird meine Schafe aus meinen Händen reißen?“
— So find wir denn wirklich in den Stand geſetzt, ſchon hienieden im
Genuffe eines vollen und ftetigen griedens einherzugehen, Denn wären
wir das nicht, was für einen Sinn hätte der Ausfpruch des Herrn
felbit: „Meinen Frieden gebe ich euch; meinen Zrieden laffe
ich euch;“ und der Zuruf des Apoftels: „Sorget nichts;“ und
der Apoſtels Mahnung: „Alle eure Sorgen werfet auf Ihn,
denn Er forget für eu?!” — An folhen Sprüchen zerfchelle
euer letzter Zweifel!
Seht, Freunde, fo find wir geftellt! Warum aber gehen wir nicht
in dieſem Frieden? Warum koſten wir ihn mehrentheild zeitweilig,
ftundenweife und unterbrochen nur? O, die Urſachen hiervon Tiegen
nicht in Ehrifti Werk, als lange etwa das nicht hin, eine andauerndere
und volllommnere Beruhigung uns zu gewähren. Bielmehr find fie
lediglich bei uns felbft, und in verkehrten Stellungen unfres Innen
zu ſuchen. Bald mangelt's an der umfaffenden Einfiht in die ge
waltigen Grundlagen, von denen unfre Erlöfung getragen. wird, Das
Blut des Lammes und deſſen unermeßliche Kraft und Wirkung wird
nicht nach Gebühr erkannt und erkannt, Bald ift unfer Glaube
gelähmt, und die fleiſchliche Vernunft mit ihren Zweifeln und Bes
denfen hat wieder den Thron beftiegen. Bald bezaubert uns aufs
Neue die Welt mit ihrem Blend» und Gaufelwerf, und wir leben
wieder mehr in ihrem Weſen und Getreibe, in ihren Bildern nnd
Geſchäften, als in Chrifte. Bald treibt ein falfcher Syftemseifer
uns allzufehr in's Heußere, und wir fuchen in der Feithaltung und
Dertheidigung Diefes oder jenes evangelifchen Lehrpunftes mehr unfre
Ehre nor der Welt, als die Stillung unſres Seelendurftes, Bald
Der. Geßepziehtr. 83
endlich, — und das tft der Hauptgrund, warum wir meiſt fo wenig
an Ehrifto haben, — fehlt es an dem Iebendigen und durchdringen
den Sündergefühl,. Das Bewußtfein von unferm Elend ift verdunkelt.
Die Empfindung unferer Verderbtheit und Zluchwürdigfeit ermattete
und ftumpfte ab. Da liegt uns denn wenig mehr an den Waffen
der Quelle Siloah, und dem göttlichen Friedensſtrome öffnet fich fein
Kanal zu unferm Herzen. Man dringt in das Innere des Opfers
heiligthums nicht mehr hinein, weil man dort nichts mehr zu fuchen
bat, und der Balfam aus den Wunden Jeſu findet nicht mehr Raum,
feine heiligende und befeligende Kraft an uns zu erzeigen,
Darum, Geliebte, was wir thun, bitten wir den Herm täglich um
die göttliche Augenfalbe Mit der Selbſterkenntniß hält die Er⸗
kenntniß des Heils in Ehrifto gleichen Schritt, Nur ein immer frifcher
Sündenfchmerz unterhält die Verbindung mit den göttlichen Friedens
quellen. Je geiftlich ärmer, deſto näher aller Fülle; je wundenfränter,
defto fähiger der ewigen Heilung. Das Bild des großen Hohenpries
ſters in feiner Herrlichkeit fpiegelt fih am vollftändigften und reinften
im Thau der Petruss und Magdalenenthräne; und nichts hat tiefen
Grand, als das Wort unferes lieben Sängers Woltersdorf, mit dem
wir fchließen:
Erſchrick, o Menſch, und finfe His zum Staube!
Nur in zerfehlag'nen Herzen wächft der Glaube, .
Der Glaube, der die Sünde heftig fhenet,
Deweint, berenet:
So wird der Herr dir beine Schuld vergeben ;
So wirt du jandzen und im Frieden leben;
So ſieheſt du ſchon hier mit ſtillem Hoffen
Den Himmel offen. — Amen.
— 8 —
M va U
IV.
Die Salbung.
Es mill mir oft eigen friedfam, ja feierlich zu Muthe werden, werk
ih am einer Hütte worüberfchreite, von der ich weiß, daB ſie von
wahren Kindern Gottes bewohnt wird, Gern hemmte ich writunter
vor ſolcher Stätte meinen Schritt, und überfieße wich dem Juge mei
ner Empfindungen und Gedanken. Ich gedenke da an das Wort de
Herm zu dem Engel der Gemeine von Pergamus Offenbarung 2, 13:
„Ich weiß, wo du wohneft!” ımd fehe im Geifte, wie zwei fremd»
liche Himmelsfterne, Gottes Dateraugen, Tag und Nacht über folcher
Hütte offen ftehn. Ich gedenfe des Ausſpruchs unfres Sriedensfinften
%05.14,23: „Wir werden zu ihm fommen und Wohnung bei
ihm machen;“ und ein Schauer der Ehrerbiehmg ergreift mich Aw
geſichts einer Tolhen „Hütte Gottes bei den Menfhenktindern."
Als ein drittes Wort gefellt fi) jenen beiden in meiner Erinnerung
Dasjenige Des Apofteld Hebr. 1, 14 bei: „Sind fie nicht allzumal
Dienftbare Geifter, ausgefandt zum Dienft um derer willen,
die ererben follen die Seligfeit;“ und mein Glaubensauge flieht
die Salobsleiter glanzumfloffen zu ſolchem Haufe fi) herniederneigen.
Wir nähern uns heut im Geift einer Hütte jener hehren Gattung.
In dem bekannten Städtlein jenfeits des Delbergs, in Bethanien,
ragte fie einft. Es ftanden dort der Häufer wohl manche; aber wo
blieben fie? Seit Jahrhunderten tft deren Stätte nicht mehr gekannt.
Mur zweie Derfelben wurden aus der Alles verheerenden Zeitenflut
gerettet, und ftehen ungertrümmert bis diefen Tag. „Wo“? fragt ihr.
Im großen Bilderfaale der heiligen Gefchichte, und auch noch anderswo,
als da. Gewiß umfchloß Bethanien anfehnlichere Gebäude, als fie.
In dem einen derfelben wohnte ein Reicher etwa, ein Bornehmer
in einem andern, in einem dritten ein Gelehrter; doch ihrer wird
nicht mehr gedacht. Zu der Hütte Martha’s und Maria’s hins
gegen, und zu derjenigen Simons mit dem Zunamen „des Auss
ſätzigen“ bewegt ſich eine Geifterwallfahrt bis diefe Stunde. Ja auch
im Himmel find dieſe Häufer nicht vergeffen. „Die Hütten der Ges
Die Saltutz. de
reihten", ſagt ein. Schriftſpruch, „werden bleiben.“ Ob fie: vom An⸗
geſicht Der Erde auch entſchwinden; im Gedächtniß der Himmlifchen
grünen fie fort. Denn Fußſtapfen Immanuels ſtanden einft tn ihren
Gemaͤchern; DOffenbarungen, Wunder und Zeichen Ieuchteten unter ihs
- rem Dach, und Segnungen ergoſſen fich durch ihre Kammern, und flofs
fen wieder von ihren Schwellen aus, Die felbft über Das Dieffeits
bis in das ewige Leben hinüber reihen. O, wären unfer Aller
Hütten wie Maria's und Simons in Bethania! Was diefer Wunfch
bedente, wird und unfre heutige Betrachtung fagen! —
Ishaunes 12, 1—8,
Secht Tage vor den Oftern fam Iefnd gen Bethania, da Lazarus war, ber Ber:
Rorbene, weichen Jeſus auferwedet hatte von den Todten. Dafeldft machten fie ibm
ein Abendmahl, und Martha dienete; Lazarus aber war deren einer, die mit ihm zu
Tiſche faben. Da nahm Maria ein Pfund Salbe von ungefaͤlſchter könlicher Narde,
und ſalbete die Füße Iefu, und trodnete mit ihrem Haar feine Füße; dad Haus aber
ward voll vom Geruch der Salbe. Da ſprach feiner Jünger einer, Judas, Simon®
Sohn, Iſchariothes, der ihn hernach verrieth: Warum ift diefe Salbe nicht vertauft
um breihundert Grofchen, und den Armen gegeben? Das fagte er aber nicht, daß er
nach ven Armen fragte, ſondern weil er ein Dieb war, und hatte dem Beutel, und
trag, was eingelegt ward. Da ſprach Jeſus: Laflet fle mit Frieden, ſolches hat fle
zum Tage meines Begräbniffee. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch;
mich aber habt ihr nicht allezeit.
Dad verlefene Evangelium entriegelt uns gleihfam die Pforte zur
heiligen Paffionsgefchichte.. Ob es zu Anfang auch noch in ziemlich
heitern Lichtern ſtrahlt; in feinem weitern Verfolge fteigen ſchon weiters
ſchwangre Wolken auf. Es ift das Evangelium voller Sinnigfeit und
Ziefe, und. richtet fi, wenn wir's nur recht verfiehen, geradezu an
uns, und zwar mit einer Aufforderung, die uns wie immer, fo zumad
beim Beginn der heiligen Faftengeit zur guten Stunde kommt. „Zu
Jeſul“ ruſt das Evangelium. Wir aber fragen, zuerft: Zu Jeſu,
als zu Wem? Sodam: Wie doch zu Jeſu? und endlich: Bann
zu Ihm? Und auf fänmntliche Drei Fragen erhalten wir hier ebenfo
unzweideutige als beherzigenswerthe Antwort, wie wir nun, helfe Gott
unter Seinem Segen, näher vernehmen wollen,
1
Sechs Tage find es noch bie Oftern; viere bis zum großen bluti⸗
gen Freitag. Da treffen wir den Herrn in jenem wohlbelannten,
3*
86 Der Vorhol.
friedlichen Flecken, in welchem er fo gern zu weilen pflegte. In Bes
thanien begegnen wir ihm, und zwar diesmal im Haufe .eined ges
. wiffen Simon, wo feine dortigen Jünger ihm ein Xiebesmahl bereitet
Haben. In der unfcheinbaren Geftalt eines geladenen Gaftes unter
andern Gäften tritt er uns entgegen; aber ſchaut nur etwas jchärs
fer, und ihr feht ihn fchon hier, wie ihn fpäter der Seher Yohans
nes fah, in einem etwas andern Sinne nur, „unter den Leuch⸗
tern” wandeln. Zu Zefu, Brüder, ja zu Jeſu! — Aber zu Jeſu,
als zu Wem? Ahr denkt: als zu einem Weiſen erften Ranges? Ja
auch als zu einem folchen gehn wir mit euch zu Ihm hin, — „Als
zu einem Lehrer edler Sitten?” — Gewiß, wir huldigen Ihm auch
tn diefer Eigenfchaft. — „ALS zu einem Bor- und Mufterbilde jeg-
licher Tugend?” — Freunde, wir halten mit euch dafür, daß er auch
aus dieſem Gefihtspunft betrachtet nicht feines Gleichen habe. Aber
arme Chriftuserfenntniß, die über diefen Anſchauungskreis nicht bins
ausreicht; und noch ärmere Menfchheit, wenn Jeſus mehr nicht wäre,
denn das, als was die eben genannten Titel Ihn bezeichnen! Schaut
nur, fohon aus dem feinen Rahmen der erften Verſe unfrer heuti-
gen Gefchichte fieht ein ganz anderes Ehriftusbild euch an, als ihr
mit jenen armen Zügen e8 dargeftellt. Der Herr Zefus braucht nicht
erft felbft von fi zu zeugen; es zeugen von Ihm ſchon Andere
in beredtfter Weile. Seht hier zuerft Maria und die Schwefter
Martha. Ihr Fennt fi. Edle Frauen find es, bei Allen angefehn,
verftändig, finnig, Far und nüchtern Martha heiter, rührig und
gefhäftig; Maria gedanfenvoll und zur Vertiefung neigend. Beide
aber lehnen fi mit all ihrem Hoffen auf Jeſu Schulter; Beiden
tft Jeſus die Tebendige Säule, von der fie ihren Himmel getragen
ſehen; fle wiffen Beide von Ausfichten in ein feliges Jenſeits nur
durch Seine Vermittlung; und was an Frieden und an Zroft im Le
ben und im Sterben fie erquidt, fle fchöpfen’s beide aus der einen
Quelle, welde Chriftus heiße, Was muß uns nit dieſer Um⸗
ſtand ſchon für eine hohe Borftellung von dem Manne aus Nogareth
gewähren! — Aber feht euch weiter um. Da find die Jünger Petrus,
Andreas, Zohannes, Jakobus, Nathanael, Thomas, und wie fie weiter
heißen. Ihr fahet fie fchon früher wie eine Heerde zerfprengter und
Hülfe fuchender Schafe zu dem Täufer in die Wüfte firömen. Ahr
ferntet fie als Leute kennen, welche ganz etwas Andres, als bloßer
Wiffensdurft in jene fuchende Bewegung feßte. Ihr erfandet fie
—
Die Salbung. 37
als Soldye, denen ihre Sünde und der zukünftige Zorn ſchwer, ſchwer
auf's Herz gefallen, und mit deren innerer Ruhe es völlig aus war,
feitdem fie Gott gejehn im Feuerglanze feines fordernden und Fluch
umd Verdammmiß drohenden Geſetzes. Kein Menfch, kein Engel vers
mochte fie zu tröften; und fiehe, feitdem fle Jeſum fanden, Diefe,
weil grimdlich gedemüthigten, darum auch gründficher Heilung und Bes
ſchwichtigung bedürftigen Seelen, ſeitdem fand der Vogel fein Haus
und die Schwalbe ihr Net, da fie die müden Zlügel fenkten.. Ste
find über alle Sorgen jegt hinweg. Welche hellen Schlaglichter wirft
auch dieſe Thatfache auf Jeſu Perfon! Wie hoch wächft er auch durch
fie über einen bloßen Rabbi, Weifen und Lehrherrn von Nazareth
hinaus! Wen blieb nod nur ein Reſt von gefunder Sehfraft, und
erfennt das nicht? — In der Reihe der Jünger treffen wir, ach, auch
den Judas noch, den Sohn der Nadıt, das Kind des Berderbens,
Nein, der war nie ein hülfsbedürftiger Sünder; nie dürftete den
nach Gott; nıe war der fromm; nie trachtete Der nach dem, was
droben if. Was aber bewog ihn, in Die nähere Umgebung Zefu fi
hineinzudrängen? Zunächſt gewiß der unmwiderftehliche und überwälti⸗
gende Eindrud von der übermenfchlichen Größe und Hoheit des Das
vidsfohnes, und dann ımbezweifelt ein ehrgeisiges Gelüfte, in dem
neuen Reiche, zu deſſen Gründung Jener ja offenbar gekommen fet,
(denn auch Zudas las die Köntgsfignatur auf Jeſu Stirn) ſich felbft
zu irgend einer glänzenden Rolle berufen zu fehn. So muß denn auch
fogar die Ahnung des Verräthers die Perfon des Herm verflären
helfen. Die göttliche Hoheit Immanuels Teuchtete fo mächtig durch
feine Knechtögeftalt hindurch, dag ihr Strahl felbit bis in die Fin⸗
fterniß einer Sfchariothsfeele fich Die Bahn zu brechen mußte! — Aber
muftern wir den Kreis der Feftgenoffen weiter. Wer ift der Wirth?
Simon heißt er, und trägt den Zunamen des „Ausfäßigen.” Er
trägt ihn zur Ehre Jeſu; denn der Name befagt, was er war, ehe
der Herr fein allmächtiges „Set gereinigt!” über ihn ausſprach. Mit
jener fchauerlichen Krankheit war Simon einft behaftet, Die fein Arzt
auf Erden, fondern der allein, der fie verhängte, der Allmächtige tn
der Höhe, und der, der da bezeugen durfte: „Ich und der Vater
find eins,“ wieder hinwegzunehmen vermochte. Simon, tritt hervor
und zeige dich allen Zweiflern als ein lebendiges Denkmal der Gott
heitsfülle, die in Ehrifto wohnte! Ya, da fteht er fchon, und deutet
auf feine ‚reinen. Glieder. Ganz Bethanien weiß es, daß er dieſes
38 Her Barhef. ®
Set dem Herrn Jeſu nur aus Danfgefühl für die Wunderheilung
bereitete, die er durch ihn erfahren hatte; und felbit die Feinde Tonnen
ed nicht leugnen, daß Jeſus ſich eine Ehrenfänle in dieſem Manne
aufgerichtet habe, die lauter und ducchdringender rede, als irgend
Schhriftzüge und Worte es vermögen. — Doch ſchaut, wer ift der dert
in des Meifters nächfter Nähe, der Juͤngling mit dem tiefen Blid
und dem fonnenhaften Antlig, wer ift er? O kennt ihr ihn nidt
mehr? Ihr faht ihn einft im weißen Leichenfleide auf Der Bahre
liegen. Ihr wart dabei, als man im Gefolge der weinenden Schwe⸗
ſtern und vieler Trauernden feinen Sarg hinaustrug. Ihr ſchantet
in das dunkle Grab hinab, in das man ihn darauf verfenkte; aber
thr waret nicht minder Deffen Zeugen, wie vier Zage fpäter Einer
an die Gruft berantrat, fi) die Auferftehung und das Leben nannte,
Dann den Befehl ertheilte: „Hebet den Stein hinweg;“ Das arm
Wort der Martha: „Herr, er riechet ſchon,“ mit dem königlichen
„Habe ich dir nicht gefagt, fo du glauben würdeft, follteft du die Herr
lichkeit Gottes ſehn?“ zurüdwies, und dann, nachdem man den Stein
hinweggehoben, über der verwefenden Leiche den beienden Bli gen
Himmel richtete, und in die Worte ausbrady: „Vater, ich danke dir,
daß du mich erhöret haft. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hoͤrſt;
aber um des Volles willen, das umberfteht, fage ich es, auf daß
fie glauben, Du habeſt mich geſandt;“ — und nun mit lauter Stimme
befehlend, heifchend, fchaffend, in die Zodtengruft hinab rief: „Lazare,
fomm heraus!” — Und was fich ereignete, wißt ihr. — Dort figt
er num wieder, der einft todt war, und dem unzerbrechlichiten aller
Kerker entronnen iſt. Er lebt, und ift frifch und frob, und Keinen,
weder Freund noch Feind, füllt e8 ein, daran zu zweifeln, Daß Laza⸗
rus einmal als Leiche im Grabe lag, und nun durch das Allmachts⸗
wort Jeſu wieder lebe, Spuren, dab die Pharifäer über diefes Wun⸗
der außer fich waren vor Grimm und Neid, finden wir in Fülle; aber
auch nicht eine einzige, und wäre es die leiſeſte, daß irgend
Jemand im Bolfe ſich unterfangen hätte, Die Zhatjache felber zu bes
zweifeln, oder gar zu verneinen. Da figt er num wieder, und macht
die Reihe der Leuchter, unter denen Zefus wandelt, voll, Nein, fie
- bedürfen dort eines Heroldes, der von Jeſu zeuge, nicht. Der ge
waltigfte Prediger von Zefu Herrlichkeit ift Lazarus. Sie bedürfen
feines Harfenfchlägers zu Zefu Ehren; wer Lazarum anfleht, vers
winmt im Geifte einen ganzen Jubelchor: Juda, du biſts, dich werben
—
Die Salbung. 80
ine Brüder Toben!’ Gie bedürfen feines Pfalmgetönes, das Jeſum
wherrlihe; Lazarus ift fliller und Doc) Donnerlauter Lobpſalm genug
ıf den Ehrenkönig aus der Höhe. — O, zu Jeſu, lieben Brüder |
- Und fragt ihe no: „Zu Iefu, als zu wem?" — Us zu dem,
8 weldyer er in Bethanien erfcheint] in menfchlicher Lehrer, ein
wer Gejeßgeber, ein Vorbild der Tugend, was hülfe e8 uns gottent-
emdeten, zerrütteten und verfonmenen Gefeßesübertreten?! Wir
üffen einen Herm vom Himmel, einen Zürften des Lebens, einen
eberwinder des Todes haben; und ein Solcher — fhaut ihn nur in
a Lichtern an, die der in Bethanien ihn umgebende Kreis über Ihn
isſtroͤnt, — iſt Er. — Und Er iſt noch ein Weiteres! —
Zu Bethanien weilt er. Drei Jahre hat er nun gelehrt. In der
bteren Zeit hat er es mehrfach deutlich zu verftehen gegeben, daß er
in Lehramt nunmehr vollendet habe, So viel fie tragen könnten,
gte er zu ihnen, habe er ihnen geoffenbart; der Zröfter, der nad)
m kommen werde, werde fie weiter unterweifen. Nach der Anficht
iſter fogenannten „Aufgeflärten“, die nichts als einen Lehrer
‚ ihm fehn wollen, müßte er jebt fein Werk überhaupt vollens
$, und feinen ganzen Beruf erfüllet haben, Nach feiner eige—
en Anficht dagegen hat er Dies mit Nichten. Denn nicht fehen wir
m jebt in die Stille ſich zurüdziehen, nicht kehrt er num zu feinem
mmlifchen Bater wieder, ſondern fpricht vielmehr: „Ich muß mich
ſch mit einer Taufe taufen laſſen; und wie ift mir fo bange, bis fie
zogen werde.” Er weiß, daß die Hauptaufgabe, die Ihm geftellt
i, noch ihrer Löjung harre. Er befindet fih auf dem Wege nad
erufalem, mit vollem Bewußtfein von alle Dem, was Dort eben vors
ht und berathichlagt wird, Daß feine Feinde jet Ernſt machen
ollen, ihn zu greifen und ſich feiner zu entledigen; Daß die Phari-
er und Hohenpriefter fchon, wie unmittelbar vor unfrer Gefchichte
meldet wird, „ein Gebot haben ausgehn Laffen, daß, jo Jemand
üßte, wo er wäre, er es anzeigete, auf daß fie ihn griffen —,“ Er
eiß um Alles, Weit entfernt aber, der Schlinge auszumeichen, Die
e ihm gelegt, geht er ihr vielmehr gradeswegs entgegen, Er müffe
st, fagt er, den Heiden überantwortet, an's Kreuz geſchlagen, und
Mödtet werden. In unfrer Gefchichte felbit fpricht er wieder von
inem nahen Sterben und Begrabenwerden als von einem Muß,
nd freilich ja, er mußte, Es war ja das „Lamm“ no nicht ge
Hadıtet, das Der Well Sünde trägt, Sein Fort. „Ins Menſchen
46 =. Her Borhef. »
Sohn tft gelommen, nicht daß er ihm dienen laffe, fondern daß er
diene, und gebe fein Leben zum Löfegeld für Diele“, war noch
nicht in That und Leben umgefeßt. Das Blut, auf welches Das ganze
alte Zeftament ſchon hingewiefen hatte, und das er nachmals ſelbſt
bei der Einfegung des heiligen Bundesmahls als den Enwerbgrund
aller Sündenvergebung bezeichnete, röthete noch nicht Das Holz des
Fluchs, fondern ftrömte noch unvergoffen durch feine Adern. Es galt
noch die Vollziehung eines Hauptafts feines erhabenen Berufs: Die
wirkliche Darbringung des fühnenden Opfers für die Sünden der flud«
beladenen Welt. Hiezu aber ſchickt er fi in dem Momente an, in
welchem wir ihn heute in Bethanien treffen, — Zu Jeſu, lieben Brü
der, ja zu Jeſu! — Aber zu Jeſu als zu wem? O vor allen Dingen
zu Ihm als zu unferm einigen und ewigen Hohenpriefter, als zu dem
Mittler, dem Bürgen und dem Bezahler unfrer Schuld! „Ohne Blut⸗
vergießen gefchiehet feine Vergebung.” — „Das Blut Jeſu Ehrifti
macht uns rein von allen Sünden.” — Die Vollendeten droben iu
den weißen Gewändern haben „ihre Kleider gewaschen in dem Blute
des Lammes.“ O ſcheuet euch nicht, Daffelbe zu thun, wie fie
Der Zefus im Domenkranze und mit den blutigen Wunden muß det
Gegenftand eurer Liebe und der Grund eurer Hoffnung werden; oder
ihr habt an Jeſu nichts, bleibt unit dem Fluche, und feid verloren! —
Zu Zeful — Aber wie zu Mir Maria zeigt e8 und, Der Her
bat fi) eben bei der Tafel niedergelaffen, da kommt ſie, die tiefe,
innige Seele, unmusfprechlich bewegt von Dank, von Liebe und Vers
ehrung, und zugleid wohl ahnend, weldy ein Zeitpunkt jest für ihn
gelommen fei, wohin er gehe und was er wolle. Es drängt fie,
ihm noch einmal ihr tiefites Innere aufzufchließen, und ihre ganze an⸗
betungsvolle und hoffnungsreihe Anhänglichkeit ihm Fund zu thun.
Aber in welcher Weile? Das Wort däucht ihr zu arm. Gefchenfe
hat fle nicht. Was fie jedoch Köftliches noch hat, iſt ein, viel
leicht als mütterliher Nachlaß auf fle vererbtes alabafternes Gefäß
mit reinem Nardenöl, wie mans im Morgenlande hoch zu fchäken
und nur bei fonderfich feftlichen Gelegenheiten zu verwenden pflegte.
Sie hat es mitgebracht. Es foll, nicht etwa in einzelnen Tröpflein
nur, wie e8 fonft gefhah, fondern ganz zum Sinnbilde deffen werden,
was fie für dem Herm der Herrlichkeit empfindet. Mit tiefer Ehr⸗
erbietigleit nähert fie ſich dem göttlichen Freunde, zerbricht unvermerkt.
—* |
» 4
*
v Die Salbung
binter feinem Rüden das wohlverſchloſſene Gefäß, laͤßt die Narde Ihm
über Haupt und Füße ſtroͤmen, neigt fich anbetend dann zum Staube
nieder, und beginnt mit ihrem aufgelöften Haare die Füße Ihm wies
derum zu trodnen. Und Das ganze Haus duftet vom Wohlgeruch
der Salbe. Ya, diefer Duft, — glaubt es! — ftrömte bis in den
Thronſaal Gottes himiber, und wurde von den heiligen Engeln mit
Freuden eingenthmet. Denn das irdifche Salböl war nur eines ans
dern Symbol und Träger: desjenigen, das auch die „klugen
Jungfrauen“ in jenen Gefäßen bargen, mit denen fie dem Bräuti«
gam entgegen gingen. D, ein Löftliher Schatz entkleidete fih in
der zarten finnbildlichen Handlung Maria’8 feiner Hülle. Ein Leben
der Hingegebenheit an Jeſum gab fich darin fund, wie es in folcher
Fülle felten zu Tage tritt. Maria will Chrifti eigen fein in Zeit
und Ewigkeit. Maria will mit ihrem Glauben an Ihm kleben, wie
die Epheuranfe an dem Stamme, den fie unfchlungen hält. Sie will
leben in feinem Lichte, wie der dunkle Planet im Lichte der Sonne,
die ihm den Glanz leiht. Maria kennt feinen Hoffnungsanfer, feis
wen Grund des Troftes, keine Himmelsleiter außer Ihm; und denkt.
fie Ihn fich aus ihrem Leben weg, fo fühlt fie den Zahn der Ver⸗
zweiflung in ihrem Mark, und fieht fid) rettungslos der Hölle zuge
wiefen. So ift Er ihr allein noch übrig als der letzte, aber auch
überfchwenglich ausreichende Fels, von welchem fie ihr ewiges Heil
getragen ſieht. Darım läßt fie denn auch von Ihm nicht mehr, fons
dern hält Ihn umflammert, und wenn Er fie tödten wollte Er
tft darum ihre Gedanke Tag und Nacht, ihre höchſte Wonne und ihre
ganze Liebe. Dies Alles fpricht fie Durch ihre Salbung aus. O ſeht's
denn an Marien, wie’d zum Herm ſich's zu ftellen gelte. Zuerſt
aufgewacht vom Zodesichlaf des Seibftbetruges, im Lichte Gottes als
diejenigen uns erkannt, die wir wirklich find, dem göttlichen Gefeße,
das und verurtheilt, wider und Recht gegeben, und alles Blendwert
des Lügenvaters der himmlifchen Wahrheit geopfert! — Dann außer
halb und gefucht, was Gerechtigkeit, Heiligung und Stärke heißt, was
Möglichkeit des Durchlommens durch's Gericht, was Hoffnungsgrund,
was Leben, und des Köftlichen und Unentbehrlichen mehr genannt mag
werden, und diefes Alles dann entdecket, erfannt und ergriffen in dem
Einen, der da fpricht: „sch bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben ;* über dem der Bater zeuget: „Er iſt's, und Ihn, Ihn follt
ihr hoͤren;“ ia, in dem Einen, außer welchem nie eine tiefer gründende
r
42 Der Vorhoſ. »
Seele zum Frieden gelangte, und in defien Gnade, o, wie viele Tanue
fende ſchon im Hinblick auf ſich felber jubeln lernten: „Das Alte ift
vergangen, und fiehe, e8 ift Alles neu geworden!” Ya, Dies tft es,
was es gilt. Und hat man nun alſo fein Alles in Ihm gefunden,
alsdann mit ganzer Liebe Ihn umfaßt, und das ganze Nardenfläſch⸗
fein unfrer zärtlichften Hingebung über fein Haupt und feine Fuͤße
ausgegoffen! Mit dem heiligen Dele eines lebendigen Glaubens und
einer völligen Ueberlaffung an feine Gnadenführung Ihn gefalbt, auf
Seine Schultern und gelehnt, und mit der Lofung: „Mach, was du
willt, mit mir, werd’ ich nur zugerichtet zu Deinem Preis und Zier,*
unfer Leben als einen bildfamen Thon in Seine Hand gelegt! Seht,
das thut's! O, es gibt nur Eins, was das Herz erleichtert, das
Leben verflärt, und Diefem einen wahren, würdigen und wefenbafe
ten Inhalt mittheilt: Jeſus, Jeſus! An Ihm liebt man hienieden
fhon fich felig und über diefe arme Welt hinaus. An Ihm liebt man
fih fo reich, daß man feines andern Dinges mehr bedarf. Und wenn
man ſich an irgend einem Gegenftande heilig lieben kann, dann an
Ihm, der fo unendlich, gegründete Anſprüche an unſre ganze innigfte
Gegenliebe hat.
Alles in dem Kreife zu Bethanten ift von Mariens finniger Hand
lung tief ergriffen. Nur Einem tönt die füßefte Harmonie wie Miß—⸗
laut. Einer nur wendet mit Widerwillen von dem lieblichen Narden
duft fih ab. Ach, wir ahnen, wer. Judas iſt's, der Unglüdfelige,
das Kind der Finſterniß. Wohl nie bat die froftige Selbftfuht in
ſchauerlicherm Kontrafte der warmen, heiligen Xiebe gegenüber geftans
den, als bier in der kalten, wahrhaft empörenden Aeußerung: „Was
foll dieſer Unrath? Warum ift dieſe Salbe nicht um dreis
hundert Groſchen verkauft und den Armen gegeben wors
den?” — Ach, wie tief ift er ſchon gefallen, der Beklagenswerthel —
„Den Armen.” OD der Heudler! Als wenn man nicht wüßte,
warum er die Salbe lieber verkauft gefehn hätte! — „Um dreihundert
Groſchen.“ — Auf die Abſchätzung der Narde verfteht er fi, aber
die Liebe dahinter zu würdigen, mangelts ihm am Organ: deun er
liebt ja felber nicht. O, laßt euch das Erempel Judä zum ab«
jhredenden Barnungszeichen dienen, ihr, Die ihr auch fo manchmal
ſtarke Neigung verrathet, die Liebe der Marienfeelen zu Jeſu zu miß⸗
fennen, oder gar, wo fie zu Tage trüt, mit einer gewiffen umern Vers
ſtimmung, ja Erbitterung, wenn auch nicht von Unrath“ ges
Die Selbung. 48
e, fo doch von „ Schwärmeret”“, Kopfhängerei, Heuchelweſen
> dergleichen reden könnt! Wiſſet, daß dann auch über das Aut
eures innern Menfchen wenigitens ein leiſes Spiel dämonifcher
daszüge hinzuckt. Ihr Habt allen Ernftes auf eurer Hut zu fein,
was in folchen Augenblicken fich in euch regt, nicht um fich greife,
» nach und nach euch zu vollftändigen Judasbrüdern made. O
m auch euch einmal — und gebe Gott, DaB es zur rechten Stunde
b geichehe! — die Schuppen von den Augen fallen, und unter
a Donnerworte „Ewigkeit " auch eure Seele aus dem Pharifäer-
um erwachte, und ihr, verfolgt vom Fluche des Gefehes, geſchreckt
n Richterftuhl dort Oben, und gedrängt von dem Schreckenskoͤnige
d, den Allmächtigen mit lauter Stimme dafür loben und preifen
tet, daß als eine letzte Zuflucht auch euch die bfutigen Arme
u noch offen flehen: wahrlich, dann zieht ihr die Stimme nicht mehr
a8, wo eine Seele eud) begegnet, die dem Herrn Jeſu ihr ganzes
3 geichenft. Dann widert euch die Inbrunſt nicht mehr an, Die
Aſſaph ausruft: „Wenn ich nur Dich habe, o Herr, fo frage ich
#8 nah Himmel und nah Erden!” D nen, dann vergießt
wohl in der Stille heiße Reuethränen darob, daß ihr das Köfts
Re auf Erden, die Liebe Chrifti, je verfennen fonntet, und
nme wohl ein in unfern SKlaggefang: „Das ift mein Schmerz, Das
et mich, daß ich nicht genug kann lieben dich, wie ich dich lieben
bei" — Hört Freunde, wie der Herr Jeſus die That Maria's wür⸗
b Er tritt fofort gegen den Judas und die vorübergehend in
Anſchauung des finftern Geiftes mit hineingezgogenen Jünger für
ria als ein treuer Anwalt in die Schranken, und fpricht, dem Judas
eutend, daß Er die trübe Quelle feines Unmuths wohl erfchaue:
a8 befümmert ihr Dies Weib? Kaffe fie mit Frieden,
et fie nicht. Sie hat ein gutes Werk an mir gethan.
me habt ihr allezeit bei euch; mid aber habt ihr nicht
ezeit. Daß fie diefe Salbe hat auf meinen Leib ges
'fen, das bat fie gethan, mich zum Grabe zu beflatten,
ch Johannes: folches Hat fie behalten zum Zage meines Begräb«
8.) Wahrlih, ih fage euch, wo dies Evangelium ges
digt werden wird in der ganzen Welt, da wird man
h fagen zu ihrem Gedächtniß, was fie gethan hat!“ —
vernehmt es! Er, fonft jo farg in Belobigung menfchlicher Werke
guter, nennt Mariens That laut und mit befonderem Nachdrud
%
44 Der Borhef.
ein gutes Werk. Alle Welt foll es wiflen, daß er ſich einer Liebe,
wie fie Maria Ihm erweife, werth erachtet, und wie hoch Er diefe
Liebe zu ihm ftelle, die Sefustiebe, die ja der Stamm war, am Dem
die fchöne Blüthe der That Maria's fich entfaltet. Aller Welt foll
bier fund werden, daß Marien’s Herzensftellung zu Ihm keine Ber
irrung, feine Schwärmerei, fondern diejenige Stellting fet, die wirklid
und allein felig mache. Damit aber Jedermann dies wiffe, darum
hat Er die That Marien’8 wiederholt in feinem Evangelienbuche
verzeichnen laffen. Und es iſt gefchehen und gefchieht fort und fort,
wie er vorhergefagt: wo dies Evangelium gepredigt wird in der Welt,
da fagt man auch, wie heute wir, zu ihrem Gedächtniß, was fie ge
than bat.
8.
Kaum, daß der Herr feine ebenfo Tiebreich lockende, als ernſtlich
warnende Rede vollendet hat, „da”, meldet Matthäus, „ging bin
der Zwölfen einer mit Namen Judas Iſcharioth, zu den
Hohenprieſtern, und ſprach: Was wollt ihr mir geben? Ich
will ihn euch verrathen. Und ſie boten ihm dreißig Sil—
berlinge. Er aber ſuchte von dem an Gelegenheit, daß er
ihn verriethe. Gräßlih! — Wo in aller Welt findet fih ein Ge
genſatz fo grell, fo fehreiend, fo über alle Maßen furchtbar, wie er
fid) hier der zarten Liebesthat Marin’ gegenüber in dem Schauer
gange des unglücfeligeneVBerderbensfindes darſtellt? — Mein Gott|
fo weit ift es alfo ſchon mit ihm gediehen, daß ein Wort der Er-
barmung, welches ihm zum ewigen Heil hätte gereichen fünnen, wie
es in der Atmofphäre feiner gottentfremdeten Seele anlangt, in eine
tödtliche Effenz fih umfegt, und Unmuth erzeugend, und bitten Haß
ftatt Reue, den unglückſeligen Menfchen vollends vergiftet! — „Er
ging hin.“ — Entfeglicher Hingang! Seinem einzigen Retter wendet
er, weil er fich jet von ihm durchſchaut fühlt, auf immer den Rüfs
fen, Er ftürzt hinaus in die Nacht. In die Nacht gehört er, dieſer
Sohn der Finfterniß. Ja, in eine unheimlichere Nacht, als die
der Natur, ftürzt er bin, und das „Wehe Gottes tönt ihm nach auf
feinem Wege, —
Uns fchaudert, Nein, mit dief em Manne ziehen wir nicht, Wir
wenden und mit geiteigerter Innigfeit zu Jefu zurüd. AS zu wen
und wie es gelte, zu Ihm zu kommen, vernahmen wir, Benehmen
wir num auch noch aus unferm Evangelium die Antwort auf eine
Die Salbung. 48
dritte Frage, und zwar auf die des „Wann“ der Zufluchtnahme zu
Schu '
„Solches“, hören wir den Herrn fagen, „hat fie behalten zum
Tage meines Begräbniffes.” Wir verftehen Ihn. Er fieht fein
Sterben und fein Auferftehn in einem Blick. Allerdings mußte eine
Einbalfamirung bei feines Leibes Leben noh an Ihm vollzogen
werden, indem hierzu in feinem Tode nicht Zeit verblieb, Maria
ahnete Dies wohl kaum. Gewiß aber haben Borempfindungen feines
nahen Hingangs ihr Herz bewegt, und Ahnungen der heilbegründens
den Bedeutung defielben die heilige Glut ihrer Liebe vollends zu fo
heller Flamme angefacht, und zu jenem Zärtlichkeitserguffe im Haufe -
Simons fie drängen helfen. Des Meifters Liebe bis in den
Zod vollendete ihre Gegenliebe, wie ja immerdar Die Liebe der
Kinder Gottes zumeift an dem Blute Jeſu fich entzündet. Und wo
nur die Liebe Ehrifti erft Raum gefunden bat, da wird es auch
an hülfreicher Handreichung, fremder Noth gegenüber, nimmer
mangeln, „Arme“ fpricht der Herr, — und fchleudert mit dieſem
Worte einen durchbohrenden Pfeil in Judas Seele, „habt ihr alles
zeit bei euch.” „Maria“ will er fagen, „wird e8 auch jenen an
zarter Liebespflege nicht gebrechen laſſen.“ „Mich aber,” fügt er
ſchließlich Hinzu, „habt ihr nicht allezeit;“ und dieſes Wort, ihr
Freunde alle, die ihr euch feiner noch nicht getröften koͤnnt, ift auch
zu euch geredet. |
O nehmt's zu Herzen: ihr habt Ihn nicht mehr, wenn plößlich des
Todes Flügel euch umraufcht, oder in den Banden der Krankheit
die Sinne euch vergehn, und durch's Gewirre entzügelter Phantafien
die Botichaft vom Heile nicht mehr hindurchdringt. Ihr habt Ihn
nicht mehr, wenn Gott der gerechte Richter euch endlich, weil ihr
fange genug wider Seinen Bußruf euch verftodtet, in euren verkehrten
Weg dahin gibt, und den Fräftigen Irrthümern geftattet, in eurem
Him ſich ihre bleibende Statt zu wählen. Ihr habt Ihn nicht mehr,
wenn, was nad) der Signatur unfrer Tage gar bald geichehen koͤnnte,
die fette große Verfuchsftunde mit ihrem dämonifchen Blendwerk wie
mit ihren Berfolgungsfchauern über euch daher fällt, und „eure Füße”,
um mit dem Propheten zu reden, „ſich an den dunkeln Bergen fo:
Ben.” Ihr Habt Ihn nicht mehr, zieht ihr das Loos jenes im fchauers
liche Sicherheit eingewiegten Mannes im Evangelio, den auf fein
felbfigenügfames: „So iß und trink num, liebe Seele”, wie ein Blig
48 ver Verhoſ.
aus heller Luft der Mark und Bein erſchütternde Beſcheld erdite:
„Du Narr, noch diefe Nacht wird man deine Seele von dir fordern’
jenes ſchauerliche Loos, unverfehens vom breiten Wege ber dahin ent
rüdt zu werden, wo fein Gnadenruf mehr tönt, und feine Retterhaud
mehr ſich nach euch ausftredt. Was ftehet ihr darum noch lange und
fraget: „ Bann?” Heute fommt zu Jeſu! „Heute, da ihr feine
Stimme hört, verſtocket eure Herzen nicht, wie zu Meriba gefchab mb
zu Maffa in der Wüſte!“ — „Jetzt ift die amgenehme Zeit, jebt iſt
das Jahr des Heils!” Sehet zu, daß ihr die Friſt der Gnaden
nicht verfäumt. Laut ruft Er dur das Getümmel unfrer Tage no
hindurch: „Wendet euch her zu mir aller Welt Ende, und werbet
ſelig!“ — „Küffet den Sohn, daß er nicht züme, md ihr umlommt
auf dem Wege; denn fein Zorn wird bald entbrennen!“ Wohl aber
Allen, die auf Seine Stimme hören, den breiten Weg verlaflen, und
mit dem 109ten Pſalm fprechen: „Deine Gnade tft mein Troſt;
errette mich!“
3a, Jeſus nimmt die Sünder an!
Ihr Sünder, die ihr's noch Tönnt hören,
Mir bitten euch, fo hoch man fan:
Ad, laßt euch doch an Ihm beiehren!
O bleibt nicht länger hart und todt!
Erſchredt einmal vor eurer Roth;
£ernt endlich eure Schuld erfennen,
Seht endlich Iefu Liehe brennen.
O kommt doch, fommt zu ihm heran !
Heut’ nimmt er noch die Sünder an. Amen. —
— a —
V.
Der Einzug in Jeruſalem.
Kaum begegnet uns in der heil. Schrift eine befremdlichere Rede,
als diejenige, mit welcher nach Matth. 16, 23 der Herr einſt ben
Simon Petrus abwies, da diefer in ungebührlichen Andringen mit
feinem „Herr, ſchone dein felbft; Das widerfahre Dir nicht!” ihn übers
zeden wollte, feinen Borfab, nach Zerufalen, den Sammelplaß Feiner
9
Der Ginzug in: Jernſalem. 47
Feinde, zu gehen, aufzugeben. „Der Herr,” meldet das Evange⸗
um, „wandte fih um und fprad zu Petro: „„Hebe Di
hinter mid, Satan, du bift mir ärgerlih; denn Du mei—
neft nicht, was adttlih, fondern was menſchlich iſt!““ —
Ehen erft hatte derfelbe Jünger auf fein herrliches Belenntniß: „Du
bift Ehriftus, des lebendigen Gottes Sohn!” das ehrenvolle
Zeugniß überlommen: „Selig bift du, Simon, Jonas Sohn;
denn Fleiſch und Blut hat dir Das nicht geoffenbaret, fon>
dern mein Bater im Himmel!” — Und nun urplößlich dieß
vernichtende ımd wie Verwerfungsurtheil Plingende „Hinweg von
mir, du Satan!” Wie, daß die Beftürzung ihm nicht das Blut
in den Adern ftoden machte! — Wer faßt bier den Herrn? Möchte
man bier nicht, wenn auch auf Augenblide nur, an Ihn faft irre wer«
den?! Und doc braucht man der harten Rede nur ein wenig tiefer
auf den Grund zu fehen, und fie verliert nicht blos fofort jeden pas
radogen Schein, fondern gewinnt fogar namentlich für die Würdigung
der Paſſion des Herm eine Bedeutung, wie fie kaum einem andern
feiner Worte innewohnt. Der Herr erlannte hinter dem abmahnens
den Rathichlage feines Simon augenblidlich denjenigen eines Andern.
Richt, ald ob er hätte feinen Jünger einen Satan fchelten wollen,
Nein, fein „Hinweg von mir, Satan!” galt dem Lügenvater,
welcher den, in dem Artikel von des Erldfer8 Perſon zwar bereits
göttlich erleuchteten Fünger, binfichtlih des Erloͤſungswerkes no
tm fleifchlichem Wahn und arger Finfterniß gefangen hielt. Den Si⸗
mon Petrus traf das „Du Satan!” nur infofern, als er hier des
Satans Dollmetfcher und Organ war. Unbewußt war ers, jedoch
nicht umverfchuldet: denn warum beugte er ſich nicht Tängft den Er⸗
Öffnungen des Herrn über die Rothwendigfeit der auf Ihn wartenden
Marter, und warum Taufehte er nicht fehärfer den Stimmen Moſis
und der Propheten? — „Du bift mir,” will der Heiland ſagen, „ein
Anſtoß auf dem Wege, den ich wandeln fol. Du meineft nicht, mas
gösttich,” d. i. dem Rathſchluſſe and den Gedanken Gottes gemäß,
‚Äondern was menſchlich,“ d. i. was irdiſch und fleifchlich iſt.
Auf das Unzweldeutigfte erhellt alfo aus diefem Worte des Herrn
an feinen Jünger zuwörderft, Daß, was in Jerufalem feiner wartet,
vo dem Math, und ausdrüdlichen Willen feines bimmlifchen Vaters
ihn treffen werde. Alsdann erhellt Daraus mit gleicher Klarheit, daß
do des Satans und feines Weiches Sieg und Trinmph fein wihde,
48 Der Vorhof.
wenn ſich Jeſus feinen Leiden entziehen wollte. Endlich, und in Folge
deffen, ergibt fi daraus, daß das Erlöfungswerk, zu defien Vollen⸗
dung Ehriftus erfchienen war, Seine Paffion zu feiner unerläßlichen
Bedingung hatte. Die unbedingte Nothwendigleit feiner Leiden zu
unfrer Errettung fteht mithin laut feiner eignen Berficherung außer
Frage. Diefes Bewußtfein begleite uns heute auf feinem Ieten Gange
nach Jeruſalem!
Matth. 21, 1—9.
Da fie nun nahe gen Ierufalem Tamen gen Bethphage an den Delberg, ba ſandte
Jeſus feiner Jünger zween, und fprad zu ihnen: Gebet hin in ben Fleclen, ber vor
euch liegt, und bald werdet ihr eine Ejelin finden angebunden, und ein Füllen bei
ihr; Töfet fie auf und führet fie zu mir. Und fo euch Iemand etwas wird fagen, fo
fprehet: Der Herr bedarf ihrer, ſobald wird er fie euch Taffen. Das geſchah aber Al⸗
les, auf daß erfüllet würde, das gefagt ift durch den Propheten, der da ſpricht: Sa⸗
‚get der Tochter Zion, fiehe, dein König kommt zu dir fanftmüthig und reitet auf ei⸗
nem Ejel und auf einem Füllen ber laftbaren Efelin. Die Jünger gingen hin und
taten, wie ihnen Jeſus befohlen hatte. Und brachten die Efelin und das Füllen und
Tegten ihre Kleider darauf, und ſetzten ihn darauf; aber viel Volls breitete feine Klei⸗
der auf den Weg; Andre hieben Zweige von den Bäumen, und flreueten fie auf den
Meg. Das Bolt aber, dad vorging, und nachfolgete, ſchrie und ſprach: Hoflanna dem
ar Gelobt fei, der da fommt in dem Ramen bed Herrn! Hoflanna im
ber !
Da tönt e8 uns denn wieder an mit feinen hellen, feftlichen Klaͤn⸗
gen, Das Evangelium, das vor Kurzem erft den lieblidhen Advent uns
eingeläutet, und jet auch an der Schwelle der ernftern Paſſtonszeit uns
in Empfang nimmt, um in das blutgeneßte Heiligthum, wo Gott die
ewigen Gründe unfrer Erlöfung legt, uns das Geleit zu geben. Auch
an diefer Stelle heißen wir es herzlich willlommen. Freilich von
einer alten, längft vergangenen Begebenheit gibt8 uns Kunde; aber
von feiner abgefchloffenen, keiner todten, fondern von einer fortgehen
den und ewig lebendigen; und von einer folchen, die, wenn je, dann
fiher in Diefen unfern Zagen zur guten Stunde in unſern Geſichts⸗
freis tritt. Denn Zroftesgloden ſchlagen in ihr zufammen. Ermuthi⸗
gung und Glaubensftärkung reicht fie dar. Der Ermuthigung aber
werden wir, wofern uns die göttlichen Neichsangelegenheiten nur eis
nigermaßen am Herzen liegen, in dieſer bedenktichen und fturmbewegten
Zeit unfehlbar fehr bedürftig fein. Wohlan denn, geben wir dem Löft-
lichen Evangelium Raum, das an und auszurichten, wozu es uns
Überliefert worden if. Es ſtärke uns in dem zwiefachen Glauben
Der Einzug In Jernſalem 49
zuerfi an Die göttliche Meffiaswürde unferes Herrn; und
dann an die fiegreihe Zukunft feines Reichs,
Bir bitten den Geift der Wahrheit um fein Geleite!
1
„Biſt du e8, der da kommen foll, oder follen wir eines Andern
warten?” Ihr kennt dieſe Frage, Fragen, wie dieſe, liegen in uns
fen Zagen gar Manchem, der es übrigens treu und redlich meint,
ſchwer auf dem Herzen. „Iſt er der Herr? — Iſt er der König
Iſraels?“ — „Nein!“ fohreit eine von ihm abgefallene Welt; und
ach, der im Ganzen hoͤchſt Mägliche Zuftand feiner Kirche auf Er-
den fcheint nur das Siegel auf dieſes „Nein“ zu drüden. Denn
nimmt Er den Thron der Macht und Ehre ein, warum läffet er die
Voͤller toben? Sibt Er im NRegimente, warum erfiht der Satan
Sieg um Sieg? Reicht Sein Arm vom Himmel auf die Erde, war-
um verfchließt er den Xäftererhaufen nicht das Maul? Führt er den
Hammer und das Schwerdt der Allmacht, warum ftredit er nicht in
den Staub, die ihm trogen, und feinen Weinberg verwüften? Ste
ben ihm alle Kräfte zu Gebote, warum erzwingt er fich nicht durch
Wunder und Zeichen die Ehre, die ihm gebührt; und braucht er ſei⸗
nen Odem nur auszulaffen, um das Zodte zu beleben, und die Wuͤ⸗
ſten zu bauen; warum grünen nicht längft Die Steppen der Heidens
welt, .und ftehen die Einöden nicht fröhlich, wie die Lilien?! — O,
wie oft drängen fich in diefer Zeit felbft Gläubigen folche und ähn⸗
liche Fragen auf, und wie nahe legt fid) auch ihnen der Zweifel, ob
Er der auch fei, wofür Er in ihrem Kreife gehalten werde? Der Zwei⸗
fel aber ift des Friedens ärgfter Feind, und darum den Wohlmeinen-
den nichts willkommener, al8 was ihn entkräftet und vernichtet. Ueber⸗
aus willlommen darum auch eine Gefchichte, Die, wie unfre heutige,
jede Wolfe der Ungewißheit wieder zerftreuend, gleich einer göttlich
befiegelten Urkunde über das Meffiasthum und die ewige Königss
würde Ehrifti fi) vor uns aufthut, und und die gebundene Zunge
wieder Löft zum freudigften und entfchiedenften Bekenntniß: „Ja,
Ehrifte, du biſt's! Gelobet feift du, der da kommt im Namen des
Herrn! Hofianna in der Höhe!”
Daß Er es fei, und wir mit allem Grunde auf Ihn hoffen, be
fräftigt und zuerft fein eignes GSelbftbewußtfein, wie er es in
unfrer Gefchichte fund werden läflet. Bon Jericho kommt er, begriffen
auf feinem lebten, feinem eigentlichen Hohenpriefterzuge gen Jerufalem,
A
0 ger Vorho
Auf dem Oelberge angelangt, ſpricht er heiſchend und befehlend zu
zween feiner Juͤnger: „Geht in den Flecken, der vor euch Liegt,
und bald werdet ihr finden eine Eſelin angebunden, und
ein Füllen neben ihr. Löſet ſie auf und führet ſie zu
mir!“ — Merket zuvörderſt: in einer Ferne, in die ein menſchliches
Auge nicht hinüberreicht, ſieht er die begehrten Laſtthiere ſtehen. Schon
in dieſem Umſtande ſehen wir das Höhere in Jeſu, wie Die Some
das Gewöälf, die Hülle feiner Knechtsgeſtalt durchbrechen. Dam ver
fügt er über die genannten Thiere mit einer Beftimmtheit, in der nichts
Geringeres, als der Gebieter über Alles fi und verräth. Hierauf
fährt er fort: „So Jemand eud etwas fagen wird, fo fpre-
het: Der Herr bedarf ihrer! Alfobald wird er ſie eud
laſſen.“ — Habt ihr aufgehorcdht, Lieben Brüder? „Der Herr,” fügt
. er, und nicht der „Meiſter“ nur, oder „Jeſus von Razareth”,
Nein, „der Herr!” Dies ift ein Majeftätstitel, ein Ehrennane,
mit dem er fich felbft hoch über alle Kreatur hinauffegt, ja für Je⸗
hovas andres Ich erklärt, „Der Herr bedarf ihrer.” Rimmer
hätte er als bloßer Menfchenfohn fo von fi) fprechen dürfen, ofme
einer Käfterung ſich fchuldig zu machen. Aber er weiß, wer er tfl,
und wie er ſich nennen und bezeichnen darf. Und fehr feſt fpricht
er fein „Der Herr;“ fehr beitimmt und klar und ruhig ſpricht ers.
Aber wird auch fehon auf das bloße Wort der Sünger bin: „Der
Herr bedarf ihrer” der Befiker fich bewogen finden, feine Thiere
ihmen zu überlaffen? Ja, er wird es. Der Herr zweifelt Daran nicht,
fondern fpricht vielmehr die entfchiedenfte Zuverficht aus, daß es für
Ihn, den Mann von Nazareth und vom Himmel, ein fremdes Ei⸗
genthum nicht gebe; fondern daß er Macht habe über Alles, und der
ewige Vater dem Klange „der Herr” einen folhen Nachdruck im
Herzen des Eigenthümers der begehrten Thiere verleihen werde, Daß
derfelbe fie, wie er ausdrüdlich fagt: „alfobald“” verabfolgen Taffen
werde, D, erholen wir und von unfrer Glaubensfchwäche an dem
Selbftbemußtfein unfer8 Herrn, wie es hier fich offenbart, und für
feine übermenfchliche Herrlichkeit fchon unendlich mehr beweift, als alle
Einwände der Widerchriſten gegen fie.
Doch halt, der Unglaube findet auch) bier noch eine Hinterpforte,
durch welche er entichlüpfen zu fünnen meint. „Der Beſitzer der beis
den Laſtthiere,“ fagt er, „konnte ja ein Freund des Propheten ans
Rnzareih fein, und, dies vorausgeſetzt, hätte der Umſtand, daß er bie
Der Enzug In Ierufalem. 51
Gfelin willig abtrat, alle feine Bedeutung verloren.” — Nun, das
altfehbende Auge Jeſu fchlöffe fih doch darum noch nicht, und
das majeftätifhe „der Herr” biiebe gleichfalls in voller Kraft am
feiner Stelle. Aber der linglaube fpike die Ohren weiter. Es ſtel⸗
len fich noch ftärkere und unzweideutigere Zeugniffe und Beläge ein.
Das Füllen der Efelin tft ſamt Diefer herbeigeführt. Die Jünger
legen als Dede ihre Mäntel drauf, und der Herr befteigt das Thier,
um auf demfelben in Serufalem einzureiten. Ein unfcheinbarer
Zug dies, an und für fi Taum der Beachtung werth. Aber man
blicke nur tiefer, und feine Bedeutung wird fich fleigern. Ja, es
bezeugt der Herr durch diefen Alt umendlicdh Größeres noch von ſich,
als er bezeugt haben würde, wen er ſich etwa plößlich auf einen
Fürftentbron hinaufgeſchwungen, oder unter einem goldnen Baldachin
md in einem Königspurpur feinen Einzug tn die heilige Stadt ges
halten hätte. Es Tiegt am Tage, und die Gefchichte meldet's ja aus⸗
drüdlih, daß dem Herm in diefem Augenblide ein alter göttlicher
Prophetenfpruch vor Augen ſchwebte. Ahr Left denfelben bei Sas
charja 9, 8. 9. Dort fpricht Jehova verheißend für die Zukunft:
„Ich will felbft um mein Haus das Lager fein, daß es nicht bes
dürfe Stehend und Hinundwiedergehens (der Hüter und Wachen nem-
fih), daß nicht mehr über fie fahre der Treiber (Geſetz, Satan
und Tod); denn ich habe ihr Elend angefehn mit meinen Augen.” —
Nach diefer allgemeineren Hindeutung auf die zukünftige Erlöfung heißt
es dann weiter: „Du Tochter Zion, freue dich fehr, und du
Tochter Jeruſalem jauchze: denn fiehe, Dein König fommt
zu dir fanftmüthig, ein Gerechter und ein Helfer, und reis
tet auf einem Efel, und einem jungen Füllen einer Efes
lin.” — Liebliche Gottesverheißung dies, über welche die ganze Süns
derwelt laut hätte jauchzen follen! Holder Hoffnungsftern am Himmel
des alten Bundes, Jahrhunderte hindurch von den Heiligen Gottes
gegräßt mit Sehnfuchtsthränen! — Und was begibt fih nun? Mehr
als vierhundert Jahre find verfloffen, feitdem jenes Wort erflungen war,
da erfcheint auf der Höhe des Delbergd der Mann mus meh,
und gedenft an diefen Prophetenausfpruch; und im Begriffe,
Tochter Jeruſalem fih zu nähern, heißt er eine Efelin bringen
ſamt ihrem Züllen, befteigt diefer Thiere eins, und zieht auf demfels
ben oͤffentlich vor allem Volle in Serufalem ein. Was aber bezeugt
er durch dieſe ſtumme und Doch fo beredte und inhaltsreiche Hand»
As
52 | Der Borhof.
fung? Was Anderes, als: „Ienes Weiſſagungswort ift nun, und zwar
in meiner Perfon erfüllt;” was Anderes, als: „Ich bin der ver
heißene Ehrenfönig, der als der Gerechte und der Helfer den Frieden
bringen foll den Völkern; was Anderes, als: Ich bin es, deſſen Herr-
haft fid) von einem Meere zum andern, vom Waſſerſtrom bis an der
Welt Ende erftredden wird; Ich bin es; darum freue dich jeßt fehr, du
Tochter Zion, und du Tochter Serufalem jauchze?!“ Ja, dies iſts,
was Er nun dommerlaut bezeugt. Ein andrer Sinn kann jener Scene
nicht zum Grunde liegen. Wäre Jeſus dennoch der verheißene Frie⸗
denskönig vom Himmel nicht, mit welchem Namen fähe man fi Damm
gendthigt, jene feine That zu bezeichnen! Aber er wußte, was er
vornahm, und kannte das Maß feiner Berechtigung; und fo haben
wir an jenem feinem wohlbedachten und höchft bedeutungsvollen Ein
zuge in Serufalem einen neuen, gewaltigen Sach⸗ und Zhatbeweis,
daß Ehriftus der von den Propheten verkündete wahrhaftige Meſſias,
und ſomit der eingeborene Sohn vom Vater und unſer ewiger Mitt⸗
ler und Hoherprieſter ſei.
Ihr fühlt ja Alle das überaus Schlagende, das in jenem Zuge
liegt; und in der That ift unfer Evangelium aus dieſem Gefichts-
punkte noch nicht genugſam gewürdigt worden. Auch den JZüngern
des Herrn, und felbit einem großen Theil des Volkes, ftand es nad)
diefem Vorgange außer Frage, daß Er fein Anderer fei, als der
angekündigte große Friedefürft. Seht, welch” Geleite fie Ihm ge
ben. Ein mehr als königlicher Einzug wird ihm bereitet. Sie breiten
Ihm ihre leider über den Weg, beftreuen die Straße Ihm mit
Maien, fchreiten, Palmzweige in den Händen, wie in einem Triumph⸗
zuge vor Ihm ber, und des frohlodenden Lobgetönes: „Hoflunna,
d. h. Heil, Heil dem Sohne Davids! Gelobet fei der da kommt im
"Namen des Herm! Hoſianna in der Höhe!” ift fein Ende. Denkt,
folche Huldigungen dem fchlichten, von allen Töniglichen Infignien
entblößten Manne! Doc) es erklärt fih. Auch jene Huldigenden fa
ben, theilweife wenigftens, im Geifte den alten Prophetenchor wie mit
hellen Fackeln um den Reiter auf dein armen Laftthier bergefchaart;
ja, nicht fehlen konnte e8, daß namentlich der Seher Sacharja, deſſen
prophetifches Geftcht von dem nahenden EChrenkönige bier bis in die
Heinften Zügeahinein in Fleiſch und Blut gekleidet den Plan der Wirk
lichkeit befchritt, das letzte Dunkel, das noch über der Perfon Des
Einziehenden ſchwebte, völlig “or ihmen zerftreute, Was ihre Ar
Der Einzug in Jeruſalem 53
nungen aber zur vollendeten Gewißheit fteigerte, waren ihre jüngften
Erlebniffe in Bethanien, von wannen fie eben wiederkehrten. Hier
ſchauten fie des Meifterd Herrlichkeit ohne Dede, eine „Herrlichkeit
als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit,”
Zuerft zwar dunfelte ihren Augen eine offne Zodtengruft entgegen,
und fie athmeten Verwefungsduft, und vernahmen Martha's armes,
hoffnungsloſes Klagewort. Dann aber fehlug an ihr Ohr das er-
habene: „Vater, ich Dante Dir, Daß du mid erhöret haft!”
und ihm folgte hinunterdröhnend ins Grab Sein fchöpferifch heifchen-
des „Lazare, fomm herauf!” Und welch' Schaufpiel num ſich ih⸗
nen darbot, wißt ihr. Wie hätten fie nach folcher Begebenheit ſchwei⸗
gen, ja, wie nur wieder aufhören fünnen, zu jauchzen: „Hofianna,
dem Sohne Davids!” — Die Pharifäer hören den Jubel mit
verbißnem Grimm, und rufen dem Gefeierten verdroffen zu: „Meis
fter, ftrafe Die Schreier, und heiße fie verftummen!‘ Aber
warum übernahmen fie wider die frohlodende Menge nicht felbft das
Strafamt?” Warum Elagten fie Ddiefelben nicht des Irrwahns an?
Barım führten fie ihnen nicht den Beweis, es fei ein Mährlein mır,
daß Lazarıd durch ihren Rabbi vom Tode auferwect, daß ein Blind-
geborner durch ihn geheilt fei u. f. w.? O, hätten fie Dies vermocht,
fie würden es, fürwahr nicht unterlaffen haben. Aber fie vermochten’s
eben nicht. Die Thatfachen waren zu allgemein befannt und aners
kannt. Da gehen fie denn in ihrer Verzweiflung den ihnen übrigens
fo verhaßten Meifter mit der Bitte an: „Strafe fie.” O, der glau⸗
bensftärfenden Bedeutung auch die ſes Zuges! — Wie aber verhält
fih nun der Meifter? Thut er ihnen den Willen, und ftraft die Be⸗
geifterten? Im Gegentheil! Dort reitet er von dem taufendftimmigen
Hofianna umklungen hin, und läßt das alte meffianifche Bild ſich fo
recht nach allen Seiten hin in feinem Aufzug entfalten, und nimmt bie
Huldigungen als Ihm gebührend gelaffen an, und bemerkt den Phari⸗
fäern: „Ich fage euch, wo dieſe fhweigen, fo werden die
Steine fihreien!” Freunde, was wollt ihr mehr? Nichts unter
dem Himmel ift ermwiefener, als daß bier der Herr Jefus ſich felbft
als den feit Yahrtaufenden verheißenen und erwarteten Gottmenſchen
wußte. Dies fein eignes zweifellofes und entfchiedenes Selbftbewußt-
fein aber ift uns ſchon Waffe genug, um damit alle Widerfprüche,
die fih gegen unfern Glauben an Ihn erheben wollen, flegreih abs
zufchlagen und in den Staub zu ſtrecken.
54 Der Vorhof.
2.
„Aber iſt er wirklich der König aus der Höhe, warum erweiſt er
fih als ſolchen nicht mächtiger und augenfälliger auf Erden, und
büft feinem Neiche nicht rafcher zum Triumphe?“ Kragen, wie Diefe,
können uns allerdings das kaum gehobene Haupt oft ploͤtzlich wie
der finfen machen, und das ermuthigte Herz mit neuen fchweren Zwei⸗
fein erfüllen. Aber auch auf fie gibt unfer Evangelium uns tröfl-
lichen Befcheid, und zwar in zwiefacher Weife: uns beruhigend bin .
fichtlich des gegenwärtigen Ganges und Standes der Reichsangelegen-
beiten unfres Zriedensfürften; und dann unfre Hoffnung für die Zu
funft ftärkend, und entzüdende Fernficht durch die Wolken der Gegen-
wart uns eröffnend. Die ganze Scene des Einzugd Jeſu in Jeruſa⸗
lem bat auch ihre vorbildliche und prophetifhe Seite. Das
unfcheinbare Einberziehen des Herm nicht im Purpurmantel, noch auf
geſchmücktem Schlachtroß, noch im Geleite bebänderter Magnaten und
MWürdenträger, fondern im fchlichteften Gewande auf dem Füllen einer
Efelin und in der Umgebung armer Fifcher und andrer Handwerks;
leutlein, fol einen Wink uns geben, in welcher Art und Weiſe der
Ehrenkönig Chriſtus viele Jahrhunderte hindurch bis zu feiner zweiten
Zukunft auf Erden ſich werde erblicden laffen; und das ausdrücklich
angeführte und hier erfüllte Weiffagungswort des Sehers Sacharja
betätigt und beftegelt Dies, indem es fagt: „Siehe, dein König
fommt zu dir fanftmüthig.” Das Woͤrtlein „[anftmüthig“
fließt zugleih den Begriff des Niedrigen, Unfcheinbaren,
Pomp⸗ und Geräufchlofen in fih; und dies find ja die Attribute,
die Seinem Wirken und Walten bis zu diefer Stunde eignen. Kein
Getümmel auf den Gaffen, fein raufchendes Gepränge, wo Er kommt!
Dennoch kommt Er, das fteht außer Zweifel. Kein Herzuftrom der
Großen und Notabeln unter den Völkern zu Adoration und Glück⸗
wunſch. Noch immer durchreitet Er gleichſam auf dem Züllen einer
Eſelin die Welt. Uber Er durchzieht fie wirklich; und wenn nichts
Anderes dies bezeugte, jo doch fchon das Gebell der Hunde hiw
ter Ihm ber auf feinem Wege, „Uber wo ift Er denn?” — DO,
fteigt hinab in Die verborgenen Erdgefchoffe der menfchlichen Gefell-
fchaft ; laßt euch einweihen in Die innerften Erfahrungsgeheimniffe
diefer, jener Hütten; laufchet den Erzählungen der Stillen im Lande
Da und dort; leſet die verachteten Blättlein, Die gleich Noah's Tau⸗
ben mit dem grünen Dellaub erquidlicher Botichaften aus den Bes
Der Einzug in Iernfalem. 55
reichen der äußern und innern Miffton dahergeflogen kommen; laßt
ech berichten von den vielen Zaufenden, die jährlich an allen Enden
in ftiller Berborgenheit zu Jeſu Fügen von ihrem Herzensharm genes
fen, und heilsbegterig, oder ſchon getröftet in feinem Namen zum ewi⸗
gen Leben bimüberfchlummern; — thut dies, und ihr werdet nicht mehr
fragen: „Bo ift der König Chriſtus?“ Fürwahr, er ift noch mitten
unter euch; er iſts mit derfelben Gewalt, mit derfelben Liebe, mit
denjelben Gnadenwundern, daran man ihn einft erfannte. Das „Ho
flanna dem Sohne Davids!” iſt noch nicht verftummt auf Erden;
und verflummen wird es nimmer, nimmer!
Sage mir, wie fteht e8 um did) felbft? Mich dünkt, du athmeſt
ſchwerer und bedrüdter feit Kurzem, denn vormals, und fiehft fo
traurig, befiimmert und verlegen. Nicht wahr, dir ift nicht mehr, wie
einft? Deine Blumen wellten dir dahin, und deine Freudenquellen
geben fein Wafler mehr? Du felber weißt nicht, wie dir ift; Doch
Eines weißt Du: du haſt nicht Frieden. Wille, in ſolcher Gemüthss
verfaffung ſchlagen oft die erften Glocken an, die den Anzug des Fries
Densfürften fignalificen. O ficher, du wirft ſchon weiter kommen |
Es wird fich Mären über der Tiefe deines ftillen Grams. Du wirft
üme werden, in deiner Gottentfremdung liege der Grund der ges
beinuißvollen Zrauer, die über dich gekommen, Wirſt du dep inne,
fo wird das Maß deines innern Leidmuths freilich vol, und wir
betreffen dich vielleicht bald in Thränen ſchwimmend und um Gnade
ſchreiend in deinem Kämmerlein ; aber dann wiſſen wir auch, wer
ſchon zu deiner Hütte und deinem Herzen auf dem Wege ift; ja, wer
ſchon Hold, gnädig- und wunderwirkend bei Dir einzog. Und wie lange
wird es währen‘, fo weißt du es auch: denn er enthüllt fih dir; er
ruft Dir fein „Komm her, Mühfeliger und Beladener, ich erquide dich;“
er legt die durchgrabene Hand Dir fegnend auf dein Haupt; er vers
ſichert dich durch feinen heiligen Geift, daß er auch für Dich fein Lö⸗
fegeld gegeben; er macht dich gewiß, daß um feines Blutes willen
auch an Dir nichts DVerdammliches mehr fei, und eignet Die Gerech⸗
tigkeit dir zu, die vor Gott gilt. Nun aber erhebt du Dich vom
Stande, und bift ein neugeborener Menſch, und ſchmeckſt einen Fries
den, wie du ihn nie zuvor geahnt, und bift dein felbit nicht mehr,
fondern fühlt dich einem Andern angehörig, lebſt Gott in Chriſto,
böreft auf, vor Zod und Hölle zu erſchrecken, breiteft Ihm, der dich
erlöfte, deine Kleider auf den Weg, ſtreuft Ihm Palmen ber Liebe
56 Der Borhof.
und der Huldigung, und jubelft in deinem Innern dein Hoflanna und
Hallelufa. Und fiehe, da hat, ohne daß vielleicht außer Dir irgend
Jemand etwas davon erfuhr, unfer Evangelium dem Weſen nad)
wahrhaftig in deinem eignen Leben ſich erneuert. In ſolcher Weile
aber erneuert und wiederholt ſich's ohme Unterlaß. Ununterbrochen
zieht fo der Himmelskönig bald hier bald dort in Hütten und Herzen
ein. So baut und erweitert er täglich in der Stille fein felig Gna⸗
denreich, und thut große Wunder der Erbarmung fort und fort, wer
nur ein Auge für diefelben hat und ihrer achtet. In diefen Tagen
ftarb in unfrer Nachbarfchaft ein Prediger. Er wurde, nachdem ihm
bis vor Kurzem noch ein ſchwerer Weg durch's Leben befchieden war,
gerade in dem. Momente abgerufen, da er allem Anfcheine nad) num
in die fehönere, freundlichere Hälfte feines Lebens eintreten follte. Unter
dem Kreuze aber, das ihn körperlich freilid; knickte, war in der Stille
der gute Hirte zu ihm gekommen und hatte fich tief inniglich mit ihm
verbunden, Vier Monden find es bin, al8 unfer Freund in die Ge
meine einzog, in der er farb, und welche, ohne zu wiffen was fte
that, ſich Tange gegen ihn und feine Berufung fträubte. Bei dem
Einholungsmahle jedody wurden ihm Freundlichkeit und Chrerbietung
nicht verfagt, und unter Anderm auch durch ein Glied des Gemeinde
porftandes der gebräuchliche Feſt- und Willlommgruß gebracht. Es
erhob auch er fich, und erwiederte den Gruß mit diefen Worten: „Es
gibt Bäume, die, obwohl halb abgeftorben, Doch noch nicht umges
hauen werden, weil fie in einem oder zweien Aeſten nod) Leben
bergen, und an denfelben noch einige Frucht verfprehen. Man Täßt
fie ftehn, bis fie, wie man fagt, „fi todt getragen” haben. Als
einen folhen armen Baum pflanzt der liebe Gott mich heute in euren
Kirhengarten, und es ift mein herzliches und aufrichtiges Begehren,
mic) auch, wo anders Gottes Gnade mich noch einige Früchtlein treis
ben lafjen will, im Dienft der Liebe für die Gemeine todt zu tras
gen.” — Er ſprach's, und eine feierliche Stille ging durch die Bers
ſammlung, und Aller Augen wurden feucht. Und wo in einem Herzen
noch irgend etwas Feindfeliges gegen den lieben Mann verborgen ftad,
war e8 im Nu getilgt, und es flammte in Allen alfobald eine Liebe
für ihn auf, Die nicht inniger und lauterer fein fonnte, und die aud)
nicht wieder erlofchen if, Denn jenes eine in Einfalt gefprochene
Wort öffnete den Leuten einen Blick, ah, in welch ein.Herz hin⸗
ein! In ein Herz, wie eben die Herzen find, in welche der Geiſt des
Der Enzug In Ierufalem. 57
Herrn Jeſu einzog, und worin er die Obmacht zu gewinnen wußte;
und das Er mit einem Tröpflein Seiner Liebe und Seiner Treue
träntte, Nicht gamz vier Monate hindurch hat der theure Dann wirl-
lich Tiebliche Früchte in feinem Kirchengarten tragen Dürfen, da hat
der, defien Name „Wunderbar” heißet, ihn in die triumphirende
Kirche heimbefchieden. Zuvor aber hat er ihn noch eine Predigt hal-
ten laſſen, die in der Gemeine nicht wieder verhallen wird. Seine
fchönfte, feine gewaltigfte Predigt war es. Sie war fein Sterben.
Als ein Sieger über Sünde, Tod und Hölle ift er mit aufgerichtetem
Haupte in das dunkle Thal hinabgefchritten, und hat's mit feinem
Erempel beurfundet und befiegelt, daß der König Ehriftus wol noch
in der Belt ift und wol noch Thaten thut und Wunder wirkt. Mit
voller Geiftesflarheit fah unfer heimgegangener Freund den Schreckens⸗
koͤnig nahen; aber er begrüßte ihn mit dem Rufe: „Tod, wo ift dein
Stachel?! Hölle, wo ift dein Sieg?!” Und als ihm zuleßt noch das
17. Kap. des Evangeliums Johannes vorgelefen wurde, und eben die
Worte erlangen: „Vater, ich will, daß wo ich bin, auch die
bei mir feien, Die du mir gegeben haft, Daß fie meine
Herrlichkeit ſehen,“ da hat er mit feinen letzten Athemzügen ges
fagt: „Herrlichkeit —, Amen —,” und ift entfchlafen. — Das
thut der Friedensfürft, der einherreitet „arm, und fommt zu Dir
„ſanftmüthig.“ Er thut folhe Wunder zu taufenden noch alle Zage
und pflanzet und feitiget fein Reich „mitten unter feinen eins
den.” Freilich, meiit unter Schleiern thut er's; aber er thut es Doch,
Gebt darum euren Zweifeln Balet, und glaubet, glaubet! „So
wird e8 denn feinem Reiche noch wohl gerathen in der Welt?” O,
forget doch um feines Reiches Zukunft nicht! Auch für Diefe Sorge
fteht in unferm Evangelium eine mächtige Wetterfcheide aufgerichtet.
Merkt zuerft auf Das Wort, das der Herr feinen Jüngern an den
Eigenthümer der beiden Kaftthiere aufträgt. „Sagt zu ihm,” fpricht
er, „der Herr bedarf ihrer; alfobald wird er fie euch lafs
fen.” — ‚Der Herr bedarf ihrer!” Ja, ein Weiteres ift nicht noth,
Bedarf er’s, fo muß ihm Alles zu Dienften ftehn, Er heifcht, fo ges
ſchieht's; er gebeut, fo ſtehtss da. — „Der Herr bedarf ihrer!“
Herrliche Schakanweifung für die Miffton! Köftlicher Troſtſpruch für
die Kirche, wenn ihr bange werden will, wo der Herr nod) Zeugen»
kraͤfte finden werde! Unvergleichliche Verficherung, daß es Ihm zur
Verwirklichung feiner Pläne nie an Mitteln werde fehlen können! Bergt
58 Der Vorhoſ
dies Sein Wort in euer geiſtlich Schatzhaus, umd erholt euch am ihm,
fo oft der Muth euch finken will! —
Merkt weiter, wie der Herr, indem er in der ganzen Art und Weiſe
feines Einzugs in die heilige Stadt die Prophezeiung des Sacarja
9, 9. bis auf das Jota zur Erfüllung bringt, hiedurch zugleich allen
alten Prophetenfprüchen, die von Ihm handeln, den Stempel der
Bewährung aufdrüdt. Ihr wißt aber, was dieſe Sprüche Ihm in
Ausficht ftellen. Ihnen zufolge werden einft alle feine Feinde zum
Scemel feiner Füße liegen; der Welt Ende werden fein Erbtheil,
und der Herr nur Einer, und fein Name nur Einer fein. Und
Serufalem wird gerechtfertigt ftehn zu Lobe auf Erden. Und es wird
ein Hirt und eine Heerde werden; und was noch weiter vom Vater
ihm zugefchworen ward, ihr wißt es ja. Ebenſo unfehlbar, wie das
Eine zur Verwirklichung gedieh, wird auch das Andre nicht blos Bild
und Schatten bleiben. Die buchftäbliche Erfüllung des Wortes Sa
charjas: „Jauchze, du Tochter Zion, denn fiehe Dein König
fommt zu Dir fanftmüthig und reitet auf einem Efel,“
verbürgt auch in thatfächlicher Weife die einftige Verleiblihung des
Geſichtes Johannis, des Sehers: „Siehe, Einer auf einem weis
Ben Roffe, der hat einen Namen gefchrieben auf fein Ges
wand und auf feine Hüfte: König aller Könige und Herr
aller Herrn;* und ebenfo die Erfüllung jenes andern, in welchem
er am Stuhle des Lammes jene Schaar anbetender Seligen erblickte,
die Niemand zählen konnte.
Endlicd beachtet no ein Wort Immanuels, welches Lufas nach»
trägt. Als nämlich ergrimmt über den jubelnden Huldigungslärm der
Jünger und des Volkes die Pharifäer dem Herrn Jeſu ihr „Meiſter,
ftrafe fie doch!“ entgegenfchrieen, that Diefer den bedeutungsvollen
und ewig denfwürdigen Ausipruh: „Ich fage euh, wo Diefe
fhweigen, fo werden die Steine reden!” — Hört, hört, dies
Wort wiegt unausfprechlich ſchwer. Zupörderft hätte der Herr fein
Innerftes Bewußtfein von dem unendlich hohen Glüde, welches in Ihm
und feiner Sendung der Welt zu Theil geworden fei, nicht deutlicher
zu Tage geben können, als er ed in diefem Ausſpruch thut. Denn
was befagt derfelbe Anderes, als: „Ih nahe euch als ein folder Hei⸗
Iand, und bringe eine ſolche Hülfe, und biete eine ſolche Seligkeit,
daß, erhübe darob ſich in der Menfchenwelt Fein Jauchzen und Froh⸗
locken, der allmächtige Gott Die leblofe Kreatur zur Lobpreifung Sei⸗
Der Einzug in Iernfalem. 59
ner Liebe umd Erbarmung erweden würde.” Sodann aber ertheilt der
Herr uns in jenem Worte zugleich die Verficherung, es werde von
Ihm und feinem Heile nie ein Schweigen fein auf Erden: dem
ſchwiege Iſrael, ſchwiege die Ehriftenheit, fo werde er die Söhne der
Wildniß, die todte Heidenwelt, befeben, daß fie Ihm das Hoflanna
fängen.
Und er hats geihan, und thut's, und wird es ferner thun. Unſer
Evangelium rüdt uns ein propbetifches Gemälde in den Blid. Wie
dort das Bolf, fo breitet einft die ganze Bevölkerung der Erde
die Kleider ihm über den Weg und ftreut ihm Palmen. Wie Tau
fende dort, fo fchreien einft Millionen: „Hoflanna dem Sohne Das
vide, gelobet fei, der da kommt im Namen des Herm! Hofianna in
der Hoͤh'!“ D, miſchen auch wir uns in die Schaar der Huldigenden!
Beherzigen wir noch einmal des Herrn Verficherung, daß fo unents
behrlich und überfchwänglich groß Das Heil fei, welches uns Gott in
Ihm bereitet habe, Daß, wo wir jchweigen koͤnnten, die Steine fchreien
würden; und flinmen wir ein in Die betenden Worte des alten Liedes:
Schreibe, Herr, mid auch mit an
Unter deine Unterthanen;,
36 will dir, fo gut ich Tann,
In mein Herz die Weye bahnen.
Ich geielle mi im Geift,
Herr, zu jenen froben Reiben,
Die das Hoflanna fchreien.
Sohn des Hoͤchſten fei gepreift! Amen.
vi.
Die Fußwaſchung.
Geliebte in dem Herrn! Wenn der Apoftel Phi. 3, 12 ausruft:
„Richt, daß ich es ſchon ergriffen habe, oder ſchon volls
kommen fei,” fo feheint er fich mit feinem eigenen Worte V. 15:
„Wie Viele nun unfer volllommen find,” fo wie mit Dem Auss
ſpruche Hebr. 10, 14: „Mit Einem Opfer hat er in Ewigkeit
60 Ger Borhof.
vollendet (oder: „ans Ziel gebracht‘), Die da geheiliget wer-
Den,” in Widerfprud zu feßen. Aber dem ift nicht alſo. Der Apo⸗
fiel redet dort nur aus dem Bewußtfein des Unterfchiedes heraus,
der zwifchen objectiver (gegenftändficher), und fubjectiver (per
fönliher) Vollendung befteht. — Der durch den lebendigen Glau-
ben Chriſto Eingepflanzte ift in Gottes Augen allerdings voll
endet, fowol im Sinne der Rechtfertigung, indem der ganze
Gehorſam Ehrifti ihm von Gott zugerechnet wird; als auch im Sime
der Heiligung, fofern nämlich Gott das Wollen für Die That, den
Keim der Heiligung ſchon für die vollitändig entwidelte und ent⸗
faltete Pflanze nimmt. — Keinesweges ift aber der Gläubige darum
auch ſchon am Ziele der Aufgaben angelangt, die in feinem Innern
ihre Löſung fuchen. Vielmehr hat er unabläffig darnach zu ringen,
zuerft, Daß er unverrüct in der rechten Aneignung der ihm zuges
gerechneten Gerechtigkeit fich erhalte; und fodann, daß er im Kraft
derfelben feinen alten Menſchen freuzige, und mehr und mehr ein
„vollommener Dann werde, der da jet in dem Maße des vollen
Alters Chriſti.“
Wir nähern uns heute einem Evangelium, das uns in der letztern
Sphäre hriftlichen Lebens zu einem vortrefflichen Wegweifer dienen
kann. Wie wir dahin gelangen mögen, in ftets ſich verjüngender
Sugendfrifche „„aufzufahren mit Flügeln, wie die Adler, und zu laus
fen, ohne matt, zu wandeln, ohne müde zu werden,” das lehrt ung
dieſes Evangelium,
Ih. 13, 1—17.
Bor dem Feit aber der Oftern, da Jeſus wußte, daß feine Stunde gelommen war,
daß er aus diefer Welt ginge zum Bater, wie er hatte geliebet die Seinen, die in der
Melt waren, fo liebete er fie biß and Ende. Und als dad Abendeilen vorhanden war,
da ſchon der Zeufel hatte den Juda Simonid Iſcharioth in's Herz gegeben, daß er
ihn verriethe; und Jeſus wußte, daß ihm der Bater hatte Alles in feine Hände ge
geben, und daß er von Gott außgegangen war und zu Gott hinging: fland er vom
Abendmahl auf, legte feine Kleider ab, und nahm einen Schurz und umgirtete fid.
Darnach goß er Waffer in ein Beden, hob an, den Jüngern die Füße zu waſchen und
trodnete fie mit dem Schurz, damit er umgürtet war. Da lam er zu Simon Petrus;
und berfelbige fprach zu ihm: Herr, follteft du mir die Füße wafhen? Jeſus antwors
tete und ſprach zu ihm: Was ich thue, das weißt du jegt nicht; du wirft ed aber her
nad erfahren. Sprit Petrus zu ihm: Nimmermehr ſollſt du mir die Füße wachen.
Jeſus antwortete ihm: Werde ich dich nicht waſchen, ſo haſt du kein Theil mit
mir. Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Fuͤße allein, fondern andy die
Die Fußwaſchung. 61
Hände umd dad Haupt. Spricht Jeſns zu ihm: Wer gewafchen ift, ber bebarf nicht,
denn die Füße zu waſchen, fondern er ift ganz rein. Und ihr feid rein. Aber nicht
alle. Denn er wußte feinen Berräther wol; darum ſprach er: Ihr feid nicht alle
rein. Da er nun ihre Füße gewaſchen und feine Kleider genommen hatte, febte er
ſich wieder nieder und ſprach zu ihnen: Wiſſet ihr, mas ich euch gethan habe? Ihr
heißet mih Meifter und Herr, und fager recht daran, denn ic) bin ed auf. So nun
ich, euer Herr und Meifter, euch die Füße gewafchen habe: fo follt ihr auch einander
bie Füße waſchen. Ein Beifpiel habe ich euch gegeben, auf daß ihr thut, wie ich euch
getban habe. Wahrlich, wahrlih, ich fage euch: Der Knecht ift nicht größer, denn
fein Herr, noch der Apoftel größer, denn der ihn gefandt hat. So ihr ſolches wiſſet,
felig feid ihr, fo ihr's thut.
Sagt an, geliebte Brüder, um was geht es euh? Wollt ihr wiffen,
was einem jeglichen unter euch vor Allem noth thut? In diefem
Evangelium wird’8 eudy fund gethan. Gelüftet euch, zu erfahren, wozu
Ehriftus erfchienen fei? Hier vernehmt ihr's fo Har, wie immer mög-
lich. Sähet ihr gerne den innerften Kern des Evangeliums vor euch
enthüllt? Hier taucht er aus der Tiefe vor euch auf. Begehrt ihr
Anleitung zum Wandel auf dem Wege des Herrn? Hier empfangt ihr
fie, und empfangt nody mehr, als diefes Alles, O, der unergründ-
lich tiefen und unvergleichlihen Geſchichte, vor der wir heute ftehen!
Treten wir derfelben betrachtend näher, und richten wir unfere Blicke
zuerft auf die Liebesthat des Herrn; fodann auf den bedeu>
tungsvollen Auftritt zwifhen dem Meifter und feinem
Sünger Petrus; und endlih auf das Deutende Wort, das
der Meifter felbft als Sclüffel feiner geheimnißvollen
Handlung beifügt. |
Möge der Geift der Wahrheit auf unferm Betrachtungswege uns
begleiten, und felber uns die Hieroglyphenfchrift entziffern, mit der
Diefes Evangelium Zug für Zug durchwirkt iſt! —
1.
In eine feierlihe Stunde verfeßt uns unfre Erzählung. ‘Der Herr
Jeſus hat feinen Pilgerlauf Durch dieſe Welt vollendet, und der Vor⸗
abend feines großen blutigen Opfertages ift berbeigelommen. Noch
einmal verfammelte er die Seinen in dem trauten Gemache eines bes
freundeten Haufes zu Serufalem um fih her. Noch einmal follen fie
in's treue Mittlerherz ihm fehauen, und inne werden, was ihnen in
Ihm von Gott gefchenkt ſei. Und nie haben fie Diefes Abends mehr
vergeſſen. Nie mehr erloſch in ihrer Erinnerung das wunderhehre
BD, in welchem fie den Mann ihrer Liebe da gefehen. O, Ddiefe
623 Der Border.
ftille Majeftät, die ihn umfloß! Diefe wunderbare Inmigkeit, die ſich
in jedem feiner Blicke, feiner Worte, fund gab! Diefer übertrdifche
Friede, der über feiner ganzen Erfcheinung ausgegoffen lag! Diefe
findlich heitere Ergebenheit in Gottes Nath und Willen, und dieſe
leutfeligfte Herablaffung bei aller feiner Hoheit! Und ach, dies goͤtt⸗
lich Tiefe, Troftvolle, Gebeimnißreiche in jedem Ausfpruch feines Mun⸗
des, und in dem Ganzen feines Thund und Verhaltens! Weberwäls
figend war es, und berzerhebend, wie fie nie etwas erlebten! — Wie
in einen Vorhof des Himmels fühlte man ſich verfegt, und wäre uns
endlich feliger noch gewefen, als felbft in Tabors Klarheit einft, hätte
nicht, ach! die Vorahnung des nahen Abfchieds den Flor der Wehmuth
um die Freude hergewoben.
„Bor dem Zeit aber der Oftern,” beginnt Johannes feine Er⸗
zäblung, „da Zefus wußte, daß feine Stunde gekommen
war, Daß er aus dieſer Welt ginge zum Bater: Wie er hatte
geliebet die Seinen, die in der Welt waren, fo liebete er
fie bis an das Ende.” — Welch wunderbarer Styl dies! Hört man
nicht Das Herz Johannis deutlich durchpulficen? Gemahnt nicht feine
Redeweife an einen Bergftrom, der in regellojer Gewaltſamkeit über
Felſen duberftürzt? Iſt's nicht, als aönnte der Gefühlsdrang, der den
Evangeliſten überwältigt, feinem Griffel feine Ruhe, auf die Stellung
feiner Worte ſich zu befinnen; ja, als jchriebe der ergriffene Jünger
unter Thränen anbetenden Entzückens, und mit dem Bewußtfein gaͤnz⸗
lichen Unvermögens, Das, was wie ein Geficht aus einer andern Welt
ihm vorſchwebt, in einem auch nur einigermaßen würdig entfpredhen-
dem Bilde wiederzugeben? Was aber vor allem Andern ihn fo mädy
tig dus Herz bewegt, it der Umftand, Daß der Herr Jeſus, ob ihm
gleih Damals ſchon Kar bewußt war, daß Die Stunde feiner Rücklehr
zum Vater nabe bevorſtand, und ch er bereits im Geifte mehr ſchon
dort oben, als noch auf Erden weilte, und bereits Me Lobgefänge von
ferne rauichen hörte, unter deren Wiederball er bald den Zhron der
Majeſtät beſteigen ſollte, dennoch Der Seinen nicht vergaß, fondern
für fie, die Pilger im Todestbal, in feinem liebenden Erinnern und
Belũümmern fo viel Raum neh übrig bielt. Und welch' ein Herze⸗
feid batten ihm dieſe je zärtlich Umfangenen erit vor Kurzem noch bes
reitet Durch Den Müglichen Rangſtreit, in den fie ſich miteinander ver
widelt butten, und jonderlih durch ihr Verbalten bei der Salbung
Mariä, du fie, gleichſam als hätten fie dem Meifter foldhe Ehre nicht
Die Fußwaſchung 63
geadnnt, von der finftern Geſinnung des Verräthers angeſteckt, das
zarte Liebesopfer der begeifterten Züngerin wegwerfend einen „Unrath”
zu nennen fich nicht entblödeten, und zu der herzloſen und kaltgründigen
Bemerkung fich verleiten ließen, es habe diefe Salbe beffer verkauft,
und der Erlös dafür den Armen gegeben, als fo nutzlos vergeudet
werden mögen. Ihr erinnert euch, was der Herr ihnen Damals fo
ruhig und fo milde entgegenhielt; aber es hatte fie des Herm Wort
fo wenig gebeugt und zu Abbitte veranlaßt, daß es fie vielmehr mur
aufs tieffte gegen ihn verftimmt, ja, ihre Herzen für eine Weile ihm
verföhloffen und entfremdet hatte, Und dennoch — — o, ermeßt Diele
Treue und Erbarmung! — und dennoch; — noch jetzt möchte os
hannes darob in Thränen zerfließen; und dennoch: „Wie er hatte
geliebet die Seinen, die in der Welt waren, fo liebete er
fie bis an das Ende!“ — „Aber um defwillen,” will Johannes
fagen, „gefellte Er ſich ja auch eben den Sündern zu, daß er fie feſt
und ewig auf dem Herzen trüge. Diefe vom Vater Ihm Gegebenen
lagen ihm ja näher am Herzen, als felbit die heiligen Engel um
Gottes Thron. Und am Ende liebte er fie erft recht. O, wie liebte
er fie, da er mit ihren Sünden in's Gericht ging, und ſich für fie
binunterftürzte in das Feuer, das fie durch ihre Miffethaten ſich ans
gezündet! Wie liebte er fie, da ihm das Xöfegeld feines eignen Blutes
nicht zu theuer deuchte, um es für fle, die Mebertreter, dahinzugeben.
Durch liebte er fi) mit ihnen! Und bis heute liebt er, was fein
it, „bis an das Ende” Durchbebte den Johannes ein himmli⸗
ſches Wonnegefuͤhl bei diefem Gedanken; Brüder, fo durchgehe un»
fer Herz ein gleiches! Was da kommen, was fidh ereignen mag:
Sein Lieben Hält dur. „Es follen wol Berge weichen, und His
gel hinfallen; aber meine Gnade foll nicht von dir weichen, und der
Bund meines Friedens foll nicht hinfallen, fpricht der Herr dein Ers
barmer.” Jeſaj. 54, 10.
Bir treten in das Gemach zu Serufalem zurüd, und treffen Die
Berfammlung bereits um das Mahl gelagert. Wie es fcheint, geht's
da anfangs ftille und einfilbig ber. Aber wo der Herr fchweigt, res
det Johannes. Aufs neue das Herz des Umvergleichlichen wie ein
Allerheiligftes uns entichleiernd,, fpricht er: „Iefus wußte, Daß
ibm der Bater hatte Alles in feine Hände gegeben, und
daß er von Gott ausgegangen war und zu Gott ging.”
Welch ein Wiſſen dies! Hätte fih das in Jemandes Herz vers
66 Der Borbof.
wie etwas fo Iingeziemendes gefchehen folle. Zwiſchen dem „Du“
und „mir“ bewegt fi die ganze Herrlichkeit des Herrn md
Das ganze Nichts des Menſchen. Wie weit ſchleudert Simon mit
dem „mir“ fich felbit hinweg, und wie hoch erhebt er mit dem „Du“
feinen Herm und Meifter! „Du Heiliger,” will er jagen, ‚mir armen
Sünder? Du Sohn des Allerhöchften, mir Wurm am Stanbe? —
Nein, rede mir davon nicht mehr!“ — Gewiß, eine fchöne Enpfin
dung dies in Simons Seele; aber nichtsdeftomeniger eine arge und
fträfliche Verirrung! — O Simon, der Herr kam ja eben, Daß er
diene! ZThörichter Jünger, eben darin ftehet ja fein eigentliche® Amt,
daß er die Unreinen ſäubere, die Befleckten wafche! Verblendeter,
wo biiebft du, ließe er fich nicht bis zu folcher Tiefe zu Dir herab? —
Nicht wahr, du Ihm die Züße waſchen? — Sa, wafche fie Ihm ins
merhin mit Armenfünderthränen; aber im Uebrigen gib Ihm Raum,
daß er Dich wafche; wie willft du fonft dem Fluch entrinnen? — —
Doch Simon verfteht den Herm nicht, und hat noch feine Ahnung
davon, auf welchem Irrwege er fih befinde. — Der Herr nimmt das
Wort und fpriht — ihr kennt ihn ja, den für und Alle fo gehaltoollen
und troftreichen Ausfpruh —: „Was ich thue, weißt du jegt nicht;
wirft esaber hernach erfahren.” Sa, erwußte esjegt nicht.
Wird aber nad) diefer Bemerkung des Herm Simon ihm nicht blind⸗
fings ftille halten? — Man follte e8 denken; aber nein! Simon
glaubt für Die Aufrechthaltung der Würde feines Meifters forgen zu
müffen. „Nimmermehr!” ruft er mit größter Beſtimmtheit, „ſollſt
Du mir Die Füße waſchen!“ — — O Simon, erinnerteft du dich
doch daran, daß „Gehorſam beffer fei, denn Opfer!“ Auch heute
noch hört man nicht felten äußern: „Nein, zur Ehre Ehrifti kann ich
es nicht glauben, daß er die nadten Sünder ohne Weiteres auf⸗ und
annimmt!” — O Freunde, wollt ihr Jeſum ehren, fo thut's durch
Unterwerfung unter fein Bort: „Sch fuche Verlorene,” — „Nein,“
fagt man, „ich bilde mir's nicht ein, Daß der Majeitätifche ſich um
mein Gebet, das Gebet des Wurms, bekümmere.“ O, u
ger Eifer um die Hoheit Gottes! Gerade Dadurch will ſich Gott
von und gepriefen fehn, daß wir an Ihn als am einen Gebet-
Erhörenden glauben. „Nimmermehr,“ fpriht Simon. O Si⸗
mon, daß dir nur nicht nach deinem Worte widerfahrel Dam
vernimm, wie fagt der Herr? „Werde ich Dich nicht wafchen, *
ſpricht er, „fo haft du keinen Theil mit mir.“ Welch eine über
Die Fußwaſchung. 67
Alles beberzigenswerthe Eröffnung dies! Koͤnnte ich doch einem Jeden
dies Wort unauslöfchlich in die Seele fhreiben! Ihr merkt, wie fchon
bier der tiefere, myftifche Sinn der Handlung Jefu vor uns aufbligtz
der Sim, der aufs Blut, auf die Vergebung, auf die Rechtfertigung
und Reinigung von Sünden zielt, Es ift euch ja ſchon befannt, was
Ales in dem Ausfpruche verborgen liegt, und wie eine jede Sylbe
bier ihre tiefere Bedeutung hat. „Werde Ich dich nicht waſchen.“
Ya, Du mußt es thun, Herr Jeſu; denn wer wüfche ſich ſelbſt? —
„Werde ich dich nicht waſchen.“ — Ja, waschen mußt du ung; denn
belehren, unterweifen, Vorbild geben hilft uns nicht, — „Werde ich
dich nicht waschen.“ — Freilich, was frommt mir's, daß Petrus
gewafchen fei, oder Paulus? Sch muß Vergebung haben, und dar
um wiffen, daB fie mir geworden. Und ewig bleibt e8 wahr: Wer
nicht gewafchen wird mit Chrifti Blut, der hat nicht Theil an Ihm,
noch an den Gütern feines Reiches,
Bas aber füngt nun Simon mit jenem Worte an? Es läßt fich
fhon im Boraus denken. „Wie,* heißt es in feinem Innern, in wels
chem jenes Wort einen Sturm der Beftürzung beraufbefchworen hat,
wie er ihn nie empfunden, „feinen Theil an Jeſu; an meinem höch⸗
fien Gute Leinen Theil?“ Und wie er's denkt, fteht er auch ſchon mit
unausfprechlicher Beugumg und unbedingter Hingebung da, und fpricht,
den tieferen Sinn des Nusfpruchs feines Meifters ahnend: „OD Herr,
dann nicht die Füße allein, fondern auch die Hände und das
Haupt”, d. i. den ganzen Mann! — Ja, wenn Er Miene macht, den
Abfchied uns zu geben, dann tritt's, ob feiner auch im Zaumel des
Alltagslebens, für eine Weile einmal wieder vergeffen ward, aufs neue
an den Tag, wie tief und innig man mit Ihm verkettet if. Wenn
es den Anfchein gewinnt, als wolle er uns die eigenen Wege wieder
wandeln laſſen, dann beurkundet ſich's, wie doch Nichts in aller Welt
über Jhu uns gehe, Der bange Zweifel, ob man auch wirklich etwas
für Ihn fühle, fehwindet Hin, und das „Band der Vollkommenheit“
legt ſich wieder bloß, das unauflöslich im innerften Grunde unfers
Weſens uns mit Ihm vernüpft; und man empfindet mit erneuter Les
bendigfeit und Stärke, wie urplöglich Fluch, Tod, Teufel und Hölle
wieder über uns hereinbrechen würden, falld wir auf Ihn nicht fers
ner trauen und hoffen dürften. Und ſüß iſts, fo feines Verknuͤpft⸗
feins mit Jefn fi wieder im Wege der Erfahrung bewußt zu wer»
den, Wie trefflich kann ums dies, wenn einmal die Empfindung
|
68 Der Borbof.
wieder verfiegt, und die Gefahr, an ums irre zu werden, aufs nem
nahe tritt, zu Statten fommen! Da wird uns denn folch eine frühere
Erfahrung zum „Saitenfpiel in der Nacht“, und ermuthigt ums, wie
den König David einft in dunkler Zeit feine „vorigen Lieder“
ermuthiget haben. —
„Herr, nicht allein die Züße, fondern auch die Hände umd das
Haupt!" — Schön dies; aber wieder das rechte Gleis verfehlt! Simon
überfchreitet jet die Linie des Richtigen zur Rechten, wie er fie zw
vor zur Linken überfchritten hatte. Vorhin wies er Un entbehrliches
von fi, und jetzt verlangt er Heberflüffiges. Er flieht der ganzen
Sadje immer noch nicht auf den Grund; und wahrfcheinlich gehörte auch
das nächte Deutungswort des Herrn zu denen, deren Bollfinn dem
verbiendeten Züinger erft fpäter aufgegangen iſt. Es lautet dieſes Wort:
„Wer gewafchenift, der bedarf nicht, Denn allein die Füße
zu waſchen; fonderneriftganzrein; undihr feid rein, aber
nicht alle.” Daß er mit den lebten Worten auf den Berräther
zielt, Tiegt auf der Hand. Welches ift nun Diefer geheimnißvollen Rede
Sinn? — Ich glaube, Daß wir ihn in Folgendem für ausgedens
tet erachten dürfen. Gewafchen ift, wer als armer Sünder durch den
Glauben in die Gemeinſchaft Jefu einging. Ein Solcher ift zunächft
der Rechtfertigung nad von aller Sünde rein. Das Blut des
Zammes floß für ihn. Die Bezahlung aller feiner Schulden iſt ge
ſchehen. Ganz rein ift er vor Gott: denn das Berdienft des Buͤr⸗
gen ward ihm zugerechnet; und rein bleibt er: denn „Gott mögen
feine Gaben und Berufungen nicht gereuen.»« Täglich, ſtündlich foll
er fih feines abgewafchenen Standes freuen. Petrus ermahnt in feis
nem zweiten Briefe: „Vergeſſet nicht der Reinigung von euern vorigen
Sünden.“ Er iſt aber aud) rein der Heiligung nad), und zwar infos
fern, al8 er in Folge der Wiedergeburt aus Waſſer und Geift, die er
erfuhr, für immer mit aller und jeder Sünde brach, und vermöge feines
neuen, aber freilich von feinem Fleiſche nod immer vielfach anges
fochtenen und bedrängten Ichs, nichts Anderes will, als wis Gott
will, und Ihm mwohlgefällt. Wie pflegt e8 aber nun im Fortgange
des Glaubenslebens herzugehn? Es treten unbewachte Augenblide ein,
in denen man in der einen oder andern Weife fih neu verfündigt.
Unverfehens denkt, fpricht und thut man wieder, was nicht taugt,
und macht fih — natürlich wider Willen (denn mit Willen ſündigt
nur der Zeufel und fein Same; wer aber aus Gott geboren if, kann,
Die Fußwaſchung. | 69
wie der Apoftel Tagt, nicht fündigen), — neuer Untreuen gegen den
Herrn ſchuldig. Der Wandel ift befledt; die Füße find befu-
delt. Wie verhält man fi nun? Drei Irrwege thun ſich auf,
und nur zu häufig geichieht es, daß man nun einen derfelben eins
fhlägt. Entweder gibt man einem übergreifenden Schuldges
fühle bei fih Raum, ruft, wie weiland, wieder das „Unrein, Un⸗
rein!® eines aus der Genofienfchaft der Reinen Ausgefchloffenen
vor fi her, erachtet die Gnade für eingebüßt und verfcherzt, das
Band der Gemeinfchaft mit dem Herrn für zerriffen; und fchreit mit
Petrus: „Herr, nicht allein die Füße, fondern auch die Hände und
das Haupt] — Oder man nimmt's mit der neuen Berfündigung zu
leicht, redet fi ein, der begangene Fehler habe Feine Bedeutung,
beſchwichtigt fein Gewiffen mit dem rafch und eigenwählerifch berbeis
gerafften Gedanken, es gehöre ja auch dies Vergehen mit zu der
Sündenmenge, die in dem Blute Ehrifti gefühnt und vernichtet fet,
und wandelt fo feine Straße gemach und ohne Anftoß vorwärts. In
beiden Fällen ift man, zur Rechten dort, und hier zur Linken,
von der Fährte der Wahrheit abgekommen. Im erfteren Falle
öffnete man ohne Noth fein Herz einer das richtige Maß überfchreitents
den Borftellung von den Folgen des begangenen Fehltritts, und mißt
die ſem einen Einfluß auf das Ganze unfers Gnadenftandes bei, den
er nad Gottes Wort durchaus nicht ausübt. Die vereinzelte Ders
fündigung, zu der man hingeriffen wurde, fteht mitnichten einem Ab-
fall von dem Herrn gleich. In dem vereinzelten Siege des Fleifches
über den Geift geht fo wenig die erfahrene Wiedergeburt wiederum
verloren, als um diefer Uebertretung willen die göttliche Gnade fich
uns entzieht, und aus ihrer Hut und Pflege uns entläßt. In dem
andern Zalle fehlägt man die begangene Sünde viel zu geringe am
und vergibt vermittelft einer willfürlichen dogmatifchen Verſtandes⸗
operation diefelbige fich ſelbſt, anftatt fie fih vom Herrn verzeihn
zu lafien. Es wird aber der vorgeblich „Eleine Fehler’ dadurd,
dag wir mit jenem Namen ihn bezeichnen, nicht Heiner, als er ift,
und weicht in Folge der Selbftüberredung, daß er ja zu dem Haufen
mit gehöre, für welchen das fühnende Blut gefloffen ſei, fo wenig aus
unferm Gewiflen, daß er vielmehr als ein geheimer Bann in demfel-
ben haften bleibt, Trebsartig unfern Herzensfrieden zernagt, und und
mehr und mehr den kindlichen Zreimuth zum Hinzutritt zum Thron
der Guade raubt. — Weldyes wäre denn: in Lagen, wie die bezeich⸗
70 Der Vorhof.
nete, das dem Evangelium entſprechende Verhalten? Man häte ſich
zuerft vor der Verzweiflung, dur die man nur dem Satan ein
Feſt bereitet. Man trete nicht von dem Angeficht des Herm fern, als
wäre einem jebt Sein Herz verfchlofin. Man denke nicht, Daß wım
ein neuer Anfang mit dem Ehriftenleben zu machen ſei. Der Same
der Wiedergeburt: „bleibet bei uns“, fagt die Schrift, und das
Kind vom Haufe Gottes fteht nicht plößlich wieder als ein Knecht
und Zremdling draußen vor der Pforte. „Wer gewaſchen if,"
fpricht der Herr, „ift ganz reim Und ihr feid rein, aber nit
alle." Wer verfteht jet dieſe Rede nicht? Ihr Sinn iſt diefer:
Wer der Blut⸗ und Geiftestaufe, d. h. der Doppelgnade der Los⸗
fprehung von der Sünde Schuld, und der Wiedergeburt zum
neuen Leben theilhaft worden ift, der ift dem innerften Kerne feines
Weſens nad ein durchaus neuer Menfch, der für unmer mit der Günde
brach, und deſſen innerftes Lieben, Begehren, Dichten und Trachten
nur auf Gott und auf das Göttliche gerichtet iſt. Ein Solcher bedarf
darum, wenn er aus Schwachheit aufs neue von einem Fehl übereilt
ward, nicht wieder einer radikalen Wefensumgeftaltung, fondern einer
Säuberung nur. Ermuß fih „Die Füße wafhen* lafieen. Man
erwäge dies wohl, wo man im Stande der Gnade ſteht. Man fehe
fi) zur Wehr wider den höllifchen Verkläger, daß er uns wicht mit
maßlofen Befchuldigungen übervortheile. Man halte ihm als Schild
das Blut des Lammes vor, und laſſe ſich den Muth und Das Ver
trauen nicht erfchütten! —
Nicht minder forgfam aber umfchiffe man auch Die andere Kippe,
die hier droht, und hüte fich, die erneuerte Untreue, mit der man fldh
befledte, zu bemänteln oder zu unterſchätzen. Kein Fehltritt
ift geringfügig und unbedeutend. Man laſſe den Richter in unferer
Bruft ungehindert fein Amt verwalten, und fträube fich nicht, in ſei⸗
nen Anklagen ihm Recht zu geben. Man nahe als ein tiefbetrüßs
tes, aber darum doch nicht verzagendes Kind dem Herm, und be
fenne demfelben aufrichtig feine Schuld. Man fpreche: „Her, mein
Gott, aufs neue habe ich mich an Dir verfündigt. Es if mir leid,
Siehe, ich richte und verdamme mich felbft; aber Deine Gnade iſt
groß, und auf fie vertraue ich. Befprenge mein Gewiffen neu mit
deinem Blute, und gib mirs, auch für Diefen Fehl die Bezahlung,
die du für mich geleiftet, mir gläubig anzueignen!“ So feufze das
gebeugte, zerknirſchte Herz, und, was güts, der Here neigt ſich guds
Die Fußwaſchung. 71
Dig zu ums nieder, fpricht der Seele durch den heiligen Geiſt das
Wort der Vergebung zu, und der Herzensjabbath bleibt mit dem Kind⸗
fhaftsbewußtfein ungebrochen in Jeſu Blut, Und o, wie fühlt man
fh dem Herrn neu verbimden und neu geftärkt zum Kampfe wider
Zeufel, Belt, und eignes Fleiſch und Blut, und wie grünt neu ge
friſcht im Gemüthe die freudenreiche Zuverfiht auf, daß man in Wahr⸗
heit einen Heiland habe, nach ſolcher erneuerten Erfahrung Seiner
Treue! Man erreichte wieder ein Pniel, bei welchem man mit Jakob
jubelt: „Ich habe den Herrn von Angeficht gefehn, und meine Seele
it geneſen; und flimmt auf3 neue tief bewegt in David’ Worte
ein: „So fei nun wieder zufrieden, meine Seele; denn der Herz
thut dir Gutes!" —
Seht, Freumde, dies ift das „fih die Füßewafchenlaffen“
im Süume des Herm; und ihr merkt, es ift ein felig, erquicklich und
beiebend Ding darum, Und wer in der rechten Einfalt fteht, dem tft
diefe täglich erneuerte Buße und Darauf folgende neue Heilserfahs
zung nichts Gefehliches, fondern gerade rechtes Evangelium, ımd
wnausfprechlich füße Uebung. So wird der innerlihe Menfch tagtäglich
emeut, und erfährt eine unaufhörlihe Berjüngung. Die Blumen
der Freude, wie der Hingebung an den Herrn, geben im Herzen ims
mer wieder auf, und jeden Augenblid ift e8 drinnen wieder Frühling:
Mauche Ehriften Tennen eine andere Nahrung für ihr inneres Leben
nicht, als die fie an dem verfchimmelten Brode verjährter Erfahrungen
befigen. Dabei kommt aber ein rechter Friede nicht heraus, Es ver
haͤlt fich nicht fo mit dem innern Chriftentbume, daß, nachdem man
einmal Vergebung der Sünden empfing, man nun in gedächtnißs
mäßiger Nüderinnerung daran in todter Sicherheit dahinlebt,
Nein, wo ein wirkliches geiftliches Leben befteht, findet fi) auch forts
währende Bewegung, unabläffiger Kampf gegen die Sünde, und nad
ſtets ſich erneuernder Beugung vor Gott ftete Wiedererhebung
tm Genuſſe Seiner neu verfiegelten Gnade. Wäre ed anders,
wie hätte der Herr feinen Kindern als tägliche Bitte die Worte auf
die Lippe legen können: Vergib uns unfere Schulden?" Wer
gewafchen tft, bedarf nicht wieder, Daß er ganz, wohl aber, Daß ihm
ſtets aufs neue „Die Füße gewafchen“ werden, —
3
So hat ſich uns denn der tmmerfte Sinn der Fußwaſchumgsſeene auf⸗
geſchloſſen. 68 gehört derſelbe der Hellsordnung an, und tft feinem
72 Der Borbof.
ganzen Umfange nach dem Verfländniß der Jünger gewiß erft fpäter
aufgegangen. Was diefelben aber unfehlbar befier und alfobald ſchon
faffen mußten, war die mehr Außerliche und Erempel gebende Seite
jenes Aktes; und auf dieſe beichränft fi denn auch die Schluß⸗
Deutung unfers Herm, auf die wir nun noch unſer letztes Augen
merk zu richten haben. Nachdem der Herr fein Oberfleid wieder aw-
gelegt, und mit den Seinen aufs neue bei der Tafel fich niedergelafien
bat, öffnet er abermals den holdfeligen Mund, und fpricht zu ihnen:
„Wiſſet ihr, was ich euh gethan habe?“ Mit diefer Frage
deutet er zuvörderft noch einmal auf den tieferen Geheimfinn feiner
Handlung bin, der freilich durch feine Bemerkung: „Ihr feid reim;
aber nicht alle,* der Ahnung der Jünger nahe genug gelegt war.
Sa, e8 mußte vor diefem Worte des Herrn jeder Zweifel verſchwin⸗
den, daß es fich hier von einer geiftlichen Reinigung handle. Zugleich
aber bahnte fich der Meifter duch das „Wiffet ihr, was ih end
gethan habe“ den Weg zum Folgenden. „Ihr heißet mi Meis
fter und Herr,“ fährt er fort, und fügt, in majeftätifchen Selb
bewußtfein ihre kühnften Ahnungen von Seiner übermenfchlichen Ho⸗
heit befiegelmd, hinzu: „Und ihr fagt reht daran; denn ich bin
ed auch.” Dann fpricht er weiter: „So nun ich, euer Herr und
Meifter, euch die Füße gewaſchen habe, fo follt ihr aud
einander die Füße wafchen. Ein Beifpiel babe ih eud ge
geben, auf Daß ihr thuet, wie ich euch gethan habe, Wahr;
ih, wahrlich, ih fage euch, der Knecht ift nicht größer,
Denn fein Herr, noch der Apoftel größer, denn der ihn ge
fandt hat. So ihr Solches wiffet, felig feid ihr, fo ihr’s
thut.“ Hier ſehen wir alfo das Mufter gebende Moment der Hands
Iung Jeſu hervorgehoben, Das grumdtertliche Wort, das unfere Ue⸗
berfegung „Beifptel* wiedergibt, fchließt übrigens den doppelten
Begriff des Sinn- und VBorbildes in fih, und deutet alfo wies
der an, daß wir deſſen Gedanken nicht eben auf der Oberfläche zu
fuhen haben. Es wird eud) bekannt fein, daß Manche gemeint has
ben, e8 habe der Herr hier für feine Kirche einen Außerlichen kirch⸗
lich ſolennen Akt anordnen wollen. Aber zu diefer Annahme ift nicht
der allergeringfte Grund vorhanden. Hat fi die vom Herm ms
pfoblene Zußwafchung auch hin und wieder wirklich zu einer bloßen
Bormalität entgeiftigt, fo hat der Herr dies nicht verfhuldet. Er
empfahl in ihr nicht ein leeres Geremoniel, gefchweige einen Deds
-
Die dußwaſchung. 73
mäntel für hierarchiſchen Hochmuth, wozu fie derjenige fich dienen laͤſ⸗
fet, von welchem Jemand richtig bemerkt hat, daß er mehr zu be-
wundern fein würde, wenn er in ungefärbter Demuth einem einzigen
Könige, ald wenn er, wie jebt geſchehe, taufend Armen die Füße
wüfche; — fondern e8 empfahl der Herr durch fie den Seinen die in
wahrbaftiger Selbftwerleugnung auch zu den geringften Dienften ſich
gern herablaffende, aus Seinem, des Erlöfers, Herzen in das unfere
überfliegende Bruderliebe. Auch wir follen einander die Füße
wachen, und, wo Noth und Umftände es fordern, dies auch im buch⸗
Käblichen Sinne. Zu feiner Hülfleiftung, und wäre fie die ſchein⸗
bar erniedrigendfte, follen wir, nachdem Chriſtus uns darin mit
leuchtendftem Vorbild vorangegangen, uns zu hoch und zu vornehm
dünfen. Xiebesthätigfeit, auf wie unfcheinbarem Wege fie immer
wandfe, erniedrigt nimmer. Sie erniedrigte felbft den Herrn der
Herrlichkeit nicht; wie denn uns, feine armen Knechte? Vor⸗
nehmlich aber follen wir geiftlicherweife dem Vorbilde des Herrn
entſprechen. Bon Natur find wir fehr geneigt, einander, wie man
zu fagen pflegt, wohl „den Kopf zu wafchen“, d. h. uns wechfels
feitig unfere Fehler vorzurüden, und ihrethalben uns einander mit
Herbigfeit zu richten und zu befchämen. Der Herr aber empfiehlt eine
Waſchung der Füße, und zwar eine foldye, der die Liebesabficht zum
Grunde liege, den Bruder von der ihm noch anklebenden Sünde zu
reinigen und frei zu machen. Es kann freilich auch Dies ohne
Rambaftmachung der Sünde nicht geſchehen; aber es tft etwas gar
Anderes, wenn die Demuth, die niemals richtet, ohne zuvor fich felbft
gerichtet zu haben, Sünden vorhält, und die Barmherzigkeit, die nims
mer kraͤnken, fondern nur heilen will, Gebrechen aufdedt, als wenn
Die felbftgerechte Vornehmheit, oder der fplitterrichtende Phariſaͤismus
dem armen Sünder fein Schuldregifter vorrüdt. Wer in der Weiſe,
wie der Herr es meint, dem Bruder die Füße wäfcht, ftellt fi) Dies
fem vorab als Sünder gleich, gehet mitleidig ein in deſſen Schuld,
deckt ihm dieſelbe mit ebenfo zarter Schonung, als unverholener Of⸗
fenheit auf, fchmelzt ihn durch liebevolle Erinnerung an den Reich⸗
thum göttlicher Güte, den er mit Undanf vergolten habe, das Herz;
und nachdem er fo, zur Buße ihn flimmend, die Füße ihm gewas
ſchen, vergiffet er auch nicht, fie Dadurch auc wieder ihm zu trod-
nen, daß er ihm den Schleier vom Thron der Gnade hebt, das Kreuz
von Golgatha ihn wor Augen malt, die Gnade Defien ihm: verkündet,
714 Der Borhof.
der auch‘ Gaben empfangen habe für die Abtrünnigen, und ihm den
Balfam des Evangeliums in die Wunden tränfelt.
Freilich wafchen wir einander fo die Füße nicht, fo lange wir wicht
„wiffen, was der Herr uns gethan hat." Das Geheimnig feines
Kreuzes muß erft uns felber im Lichte des heiligen Geiftes aufge
gangen fein, ehe wir zu folcher Zußwafchung tüchtig werden. a,
wir müflen felbft erft im wefenhaften Gegenbilde das e
fahren haben, was damals im Borbilde Simon Petrus erlebte.
Ehriftus muß uns felbft erft walchen, oder wir wafchen Nieman
dem je die Züße in Seinem Sinne. Gehe denn fortan auf Schritt
und Tritt Sein Wort und nah: „Wo ich Dich nicht wafche, fo
haft du keinen Theil an mir.“ Dertreibe dafjelbe aus unfere
Seele alle falſche Sicherheit; gönne es und nicht Ruhe Tag wm)
Nacht, bis e8 zum Schemel feiner Füße uns niederwarf, und, falls &
überhaupt uns noch nicht wuſch, auch unferer Bruft den Simons
ruf entpreßte: „Herr, nicht allein die Füße, fondern auf
die Hände und das Haupt!” Sind wir aber Seiner Waſchunz
theilhaftig worden, fo fet die Sprache unfered Herzens eine andere;
und immer wieder ertöne in unferm Innern das Wort des Sängers:
Weil ih denn nın an Deinem Leibe
Ein arm, doch lebend Gliedmaß bin,
So gib, daß ſtets an Dir ich bleibe,
Und zeuch mich fündlih zn Dir hin
Laß mid nicht andre Helfer fuchen,
Wenn Dein Gefeb mi neu verflagt;
Der Sünde laß mi ewig fluchen;
Doch halt! Dein Blut mid unverzagt! Amen.
— Sf
vu.
Das Oftermahl.
An der Schwelle der Paſſionsgeſchichte fteht fo uͤberſchwaͤnglich reich
am Gehalt und Bedeutung, wie ſchlicht und unanfehnlich feiner aͤuße⸗
ven Erſcheinung nach, das Heilige Bundesmahl, und erſchließt uns
Seas Oftermahl. 75
Ueln das innerfte Geheimniß der Marter Jeſu, fondern reicht ung
h im Voraus ſchon den Inbegriff feiner Segensfrüchte zum Ges
ar. Bom Herrn felbft zur Reichs⸗ und Familientafel beftimmt, bei
e hausgenoſſenſchaftliche Einheit feiner Gläubigen nicht allein an⸗
ch dargeſtellt, fondern zugleich genährt und getragen werde, hat
in lauter Liebe getauchte, und nur auf Förderung der Liebe berech⸗
dahl in grellftem Widerſpruch mit feiner Beitimmung gerade das
Haderfeuer angezündet, ja, die Kirche zerriffen und dreifach ges
» Und wollte Gott, daß wir von einem folchen Unglüd nur als
nem vergangenen reden dürften! Aber leider! bildet felbft in-
der evangelifchen Kirche das b. Abendmahl immer noch das Me-
den Ort des Haders, wo Brüder, mit einem Blut erfauft, mit
ı Geift getränft, und an einer Heilandshruft gebettet, einan-
e Gemeinfchaft fünden, und fehmollend, oder gar fid) wechfels-
verdammend auseinandergehn. Verfchuldet dies das heil. Mahl?
ne fei es! Verſchuldet's die Schrift mit einer etwa ungenügen-
ehre von des Mahles Zwed? — Ebenſowenig. Die Schuld
Diglih) auf das Haupt der fündigen Menfchen, die, flatt in
t an der Schriftdeutung fid) genügen zu laffen, und der apo-
en Mahnung 2 Timoth. 1, 13: „ Halte an dem Vorbilde
eilfamen Worte, die du von mir gehöret haft,* nach⸗
I, mit klügelndem Borwig die Grenzen des Schhriftwortes zu
reiten wagen, und auch da den Schleier des Geheimnifjes lüf⸗
müffen meinen, wo Gottes Wort ihn ungehoben ruhen läßt.
rchliche Einigkeit würde unverfehrt geblieben fein, hätte man
der wahrhaft weifen Uebereinkunft verftanden, dasjenige als
Befentliche in der Bedeutung des heil. Abendmahles feſtzu⸗
was und das Wort unzweideutig als ſolch es bezeichnet, und
is wenigftens nicht flreiten, gefchweige fich entzweien zu wollen,
arer uns zu offenbaren der heiligen Schrift nicht gefallen bat,
enthält die Schrift überhaupt Beftimmtes und Unzweideuti⸗
er des Abendmahls Sinn, Zwed und Bedeutung?” — Unbe⸗
‚ geliebte Brüder. Mögen unfre heutige ımd die ihr folgenden
sungen uns davon überzeugen. Wir gehn auf die Einfekung
iligen Mahls zurüd, und ſchöpfen fomit unfre Anfchauung von
ben, unbefangen durch ein menfchlich gefaßtes Dogma, aus der
le |
76 Der Vorhof.
Matth. 26, 29. Marc. 14, 25. Sucas 22, 1418.
Und da die Stunde fa, fehte er fi) nieder, und bie zwölf Apofel mit if. Und
er fprach, zu ihnen: Mich hat herzlich verlanget, dies Ofterlamm mit euch zu effen,
ehe denn ich leide. Denn ich fage euch, daß ich binfort wicht mehr davon eflen werde,
bis daß erfüllet werde im Reiche Gotted. Und er nahm den Kelch, danlete und ſprach:
Nehmet denielbigen und fheifet ihm unter euch; denn ich fage euch: Ich werde von
nun an nicht mehr von diefem Gewaͤchs des MWeinftod6 trinfen, bis daß Reich Gotteß
— und bis an den Tag, da ich es neu trinken werde mit euch in meineß Vaters
Was für diesmal unfre Andacht befhäftigen wird, tft nicht ſchon
das heilige Bundesmahl felbft, fondern nur Einfeitendes und Vorbe⸗
reitendes zu deffen Stiftung, aus dem wir aber ſchon ein vorlaus
fendes Licht über die Bedeutung des Mahles felbft fich werden
ergießen fehn. Wir vernehmen heute zuerfl, was der Herr zu feis
nem Saframent verflärte, fodann, in welcher Gemüthsver-
faffung er zur Einſetzung des heiligen Mahles ſchritt; und
endlich, welhe Ausfichten er vor deffen Stiftung den Gets
nen eröffnete
Begleite und Sein Segen auf unfern Betrachtungsgangel
1,
- Der Here hat fein prophetifches Tagewerk vollendet. Der Mei⸗
fer Ifraels tritt in den Hintergrund zurüd; der Hohepriefter
Gottes befchreitet Die Opferftätte. Was er auf der Höhe des Del
bergs verordnete, ift geichehn. Petrus und Johannes find auf feinen
Befehl bingeeilt, haben den von dem Meifter aufs genauefte bezeich⸗
neten Mann mit dem Wafferkruge beim Eingang in die heil. Stadt
getroffen, dann, der Spur diefes Mannes folgend, das befreumdete
Haus erreicht, und den Haushern auf ihre Anfprache: „Der Meifter
läßt dir fagen: Wo ift die Herberge, darin ih das Ofterlamm eſſen
möge mit meinen Juͤngern?“ willfährig gefunden, ihnen zu dieſem hei⸗
ligen Zwede einen großen gepflafterten Saal in feiner Wohnung zur
Berfügung zu ftellen. Der Herr felbft folgte fpäter am Abende nad;
und in dem bezeichneten Gemache ift es, wo wir ihn heute in trau⸗
tem Kreife mit feinen Zwölfen vereinigt finden. Das Paſſah⸗ oder.
Dfterfeft bricht eben an, der Feſte Iſraels höchftes, herrlichftes und
freudenreichftes; Das eigentliche Geburtsfeft des auserwählten Bundes
volles; das Feſt, das feit fünfzehn Jahrhunderten gefeiert, alljährlich
wieder mit neuer Wonne begrüßt ward, durch fein bloßes Dafein die
Das Oflermahl. 77
ſchichtliche Wahrheit der einftmaligen Wundererrettung des Samens
rahams vom Schwerte des Rachengels durch das Blut der Lämmer
er allen Widerfpruch erhob, als Gedächtnißfeſt diefer großen Bes
benheit immer wieder zu erneuertem Dank, aber auch zu erneuerter
engung vor dem Gott der Gnade aufrief, und zugleich mit der Er:
Mengsbedürftigkeit die Hoffnung auf das dur die Erlöfung in
zypten nur vorgebildete Heild- und Nettungswunder im Blute des
theißenen großen Friedensfürften frifchte. Werfen wir zunädft
f die vorbildliche Thatfache einen flüchtigen Blick zurüd. Der
angel des richterlichen Gottes war vom Throne der ewigen Majeftät
tfendet, alle Erftgeburt in Egypten zu fchlagen umd vom Angefichte
e Erde hinweg zu mähen. Dem Samen Abrahams jedoch wurde
8 göttlichen Auftrag ein Rettungsmittel an die Hand gegeben, und
rin daſſelbe beftand, wißt ihr. Jeder einzelne Familienvater follte
n fehlerlofes Lamm männlichen Geſchlechts von feiner Heerde nehmen,
ſſſelbe fchladhten, deffen Blut an die Pfoften feiner Hausthür fprens
a, und dann mit den Seinigen fich ruhig und getroft in feiner Hütte
Iten. „Das Blut, * ſprach der Herr, „foll euer Zeichen fein an den
äufern, darin ihr wohnt, daß, wenn ich das Blut fehe, ich vor euch
ergebe, und euch nicht die Plage widerfahre, die euch verderbe,
sn ich Egypten fchlagen werde.“ Und es geſchah, wie der Herr
boten. Wer aber kann in Diefer göttlichen Anordnung die geheim»
Boolle Bilderfchrift verfennen, die fie im Schoße trug? Wer übers
et in ihr die ſymboliſche Predigt von der im Rathe Gottes den
ündern zugedachten ewigen Erlöfung? Wem bleibt e8 zweifelhaft,
8 das Lamm, an welches die Rettung genüpft ward, Ehriftum,
n einigen Heiland, bedeutete; des Lammes Schlachtung auf Ehrifti
hnendes Leiden und Sterben für Die Sünder himüberzielte; die Bes
rengung der Zhürpfoften mit der Lämmer Blut die den gläubigen
ändern widerfahrende göttliche Zurechnung der Berdienfte des gro«
n Bürgen abfchattete, und die fichere Geborgenheit der der Veran⸗
tung Gottes. in findlicher Einfalt ſich beugenden Iſraeliten nur die
Ulonmmene Begnadigung wiederfpiegeln follte, welche der Ewige fort
d fort Allen, die der Heilsorduung der Buße und des Glaubens in
enuth fich unterwerfen würden, umfonft, und lediglich im Hinblid
f Das vermittelnde Blut des Gotteslammes würde zu Theil werden
Ten? — Diefe große finnbildliche Heilsverkündigung hallte alle die
ihrhunderte ununterbrochen, und zwar dadurch in Sfrael fort, daß
78 Der Border.
in Folge gotwerordneter Stiftung das Wunder Egyptens altjährfid
am Paflahfefte dem Volke wieder lebhaft vergegenwärtigt wurde. Da
fahen fie die Lämmer, dieſe bedeutfamen Vorbilder des erhofften Get
tesfammes, wieder zur Schlachtbant führen. Da ermeuerte ſich Ange
fihts des firömenden Bluts derfelben mit dem Dank für Die erfe
Verſchonung die vorbildliche in Egypten, die freudige Hoffnung auf
die andere, die wefenhafte, der man entgegenhartte. Da rief man
fi) wieder mit verftärfter Zuverficht einander zu: „Er wird unfehlbar
kommen, der unfre Krankheit auf fich nehmen wird; denn bier haben
wir des Wahrhaftigen in der Höhe Siegel und Unterpfand.“ Und
indem man nach vollgogener Opferceremonie das Oſterlamm im feſt⸗
fichen Familienkreis verzehrte, freute man fich, ſelbſt auch auf dem ver
fchleierten Grunde diefes unfcheinbaren häuslichen und finnlichen Altes
wieder einen göttlichen Gedanken, und zwar den anzutreffen, Daß eine
gläubige Aneignung und Hinnahme deffen, was Gott den Sünden ia
Chrifti Blut bereiten werde, die einzige Bedingung bilden folle, an
welche die Betheiligung an dem großen bis in die Ewigkeit hinũuber⸗
reihenden Gnadenſchatz genüpft fein werde.
Brüder, wir haben das Moment entdeckt, an welches Ehriftus feine
Abendmahlsftiftung anſchloß. Das Oftermahl iſt's. Das Wörklein:
„anſchloß“ befagt hier jedoch zu wenig. Wir bezeichnen Die Sache
richtiger, wenn wir fagen, Chriftus habe das moſaiſche Paſſah⸗ oder
Erlöfungs Mahl zu feinem Saframente verflärt. Eine fehr irrige
Anfchauung liegt der Nedeweife zum Grunde, welche das alte Teſta⸗
ment durch das neue „abgefchafft” oder „befeitigt“ nennt, Ads
geſchafft ift aud nicht der unfcheinbarfte Theil des mofaifchen Ritus
und Geremonials, fondern Alles vielmehr nur aus dem Zuftande des
Schattenhaften und Borbildenden in's wirflihe Sein md
Weſen aufgehoben, Dies ift der Sinn des Ausfpruchs Chriftt: „Ihr
folt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, Das Geſetz oder die Bros
pheten aufzulöfen. Ich bin nicht gelommen, aufzulöfen, fondern zu
erfüllen. Denn wahrlich, ich fage euch: bis daß Himmel und Erde
zergehe, wird nicht zergehn der Meinfte Buchſtabe, noch ein Strichleln
vom Geſetz, bis daß es Alles geichehe.” So wie die Blüthe am
Baum feine Vernichtung erfährt, fondern welfend nur in die Frucht
fich aufhebt, und in diefer ein wefenhafteres Leben fortlebt; in glei⸗
cher Weife hatte Alles, was im alten Bunde al8 Schatten und Typus
auftrat, Die göttliche Beftimmung, im neuen Realität anzuziehn und
Das Oftermahl. 79
ch zu verkörpern, Die altteftamentliche Priefterfigur z. B. wurde
a Ehrifto wirklich; wirklich wurde in Ehrifti Tod das Sühn-
pfer der alten Hütte; es fand fein wejenhaftes Gegenbild das ganze
witiſche Beiprengungs-, Waſchungs⸗ und Reinigungsritual in der Reis
kung durch Chriſti Wort, Blut und Geift. Ja, nicht das Geringfte
m mofaifchen Schattenwerk ſank als taube Blüthe hin oder blieb
serer Schattenrig und umerfülltes Bild. Es verleiblichte fih Als
es. Das Puppengefpinnft zerriß; der Zwiefalter ftieg daraus empor.
Fin merfwürdiger und glaubensftärtender Umftand dies! Das ganze
Frlöfungswert Chriſti erfcheint fomit Akt für Akt nur als die lebens,
olle Ausführung und Verwirklichung eines fchon Tänger als taufend
Jahre zuvor dem Volke Ifrael, und in diefem der ganzen Welt, vor
(ngen geftellten Modells und Bilderchklus. Kann dies Zufall fein
der auch nur Einfädelung menfchlich Eluger Berechnung? Unmöglich!
Zier waltet der lebendige und perfönlihe Gott! Hier if Sein
Plan, Sein Bert, Sein Thun. Wer dies bezweifelt, bezweifelt
rei hellem Tage das Dafein der Sonne. Gott begegnet uns verhüllt
we in der Natur; im Zufammenbange feiner Offenbarung das
jegen aller Schleier und Deden baar und ledig. Schließt für eine
Zeitlang nur einmal in den Bibelbau euch ein, und ſchickt wiederholt
yerzinnige Seufzer um göttliche Erleuchtung hinauf zur Höhe: und ohne
Unterlaß werdet ihr in dem heiligen Bibel »Zempel von dem: „Hie
yin Ich, hie bin Ich,“ euch umklungen hören, und des Entdedens
seuer Wunder und Herrlichkeiten wird für euch fein Ende fein,
2
Bie nun die Rettungsgefchichte in Egypten an dem blutigen Vers
ſoöhnungswerke felbft, fo fand das. göttlich verordnete Oftermahl
m dem beil. Abendmahle fein erfülltes und wefenhaftes Gegen⸗
id. — Kommt nun, und fehet! Der Tifch zu Jeruſalem ift bereitet,
und Alles, was das Feftmahl erfordert, aufgetragen. So eben kam
der geheimnißvolle Alt der Fußwaſchung zu feinem Schluß, und nun
Darf Das Brod gebrochen, die Speife genommen werden. Die Jüns
ger find tief bewegt. Der Meifter, der feinen Brüdern „in Allem
sleich ward, ausgenommen die Sünde, * und in deffen Bruft ein menſch⸗
lich, tiefinnig mit uns armen Adamskindern ſympathiſirend Herz fchlug,
iſt es nicht minder. Er fieht das Paflahlamım vor fich ftehn, und in
demſelben — fein eigen Bild. Er tft „das Lamm Gottes, das
der Belt Sünde trägt", wie er als foldyes gleich zu Anfang ſchon
80 Der Vorhof.
durch feinen Vorläufer fich hatte ankündigen Iaffen. Zum erneuerten
Zeugniß, daß Er es fei, hatte er an demfelben Tage, ar welchem
die Ofterlämmer in die heilige Stadt eingeführt zu werden pflegten,
auch feinen Einzug in diefelbe gehalten. — Nachdem man ſich dem
wieder an der feftlichen Tafel niedergelaffen, beginnt er mit der Stimme
inniger Zärtlichkeit: „Mich hat herzlich verlangt, Dies Dfter
Nlamm mit eud) zu effen, ehe denn ich leide.“ O, beachtets,
welch' einen Blick Er uns bier in das Heiligthum feines Innern thm
läßt. Ihn hat „herzlich verlangt,“ mit ihnen noch dies Mahl zu
halten. Aus welchem Grunde doch? — Allerdings wollte Ihm auf)
das ſchon lieblich und füß erfcheinen, die legten Stunden feines Les
bens in der Sneditsgeftalt, von den Miptönen des Unglaubens ent
fernt, und dem Getümmel der verneinenden Welt entnommen, im fried®
lichen Kreife feiner Einverftandenen , Diefer feimenden Saat feine
Kirche, verbringen zu können, Auch das fehon hatte ihn lockend und
tröftlich gedeucht, den Schluß feines nunmehr vollendeten Laufes im
Scoße der Liebe, in der Gemeinfchaft feiner Vertrauten feiern, und
Dann in ungeftörter, feftlicher Weife mit denfelben feinen Abfchied ma
chen zu dürfen. Aber denkt nicht, hierin den Grund feines Berlaw
gens ſchon erfchöpft zu haben. Hütet euch überhaupt, dem Herm ir
gend etwas von jenem kränkelnden Wefen zuzufchreiben, was wir Sew
timentalität oder Empfindfamfeit zu nennen pflegen. Wie in Ihm
Alles gefund, und voller Kern und Energie war, fo war Ihm auf
unfre fehwächliche Gefühligkeit, unfer egoiftiiches Selbftergößen in weis
chen, träumerifchen Empfindungen etwas völlig Fremdes. Was fo hery
lich Ihn nach diefem legten Oſtermahl verlangen gemacht, war alles
dings die Liebe, aber nicht Die Liebe, die genießen will; fondern
diejenige, die wohlzuthun, zu erfreuen und zu fegnen brennet.
Sein auf dies letzte Oſtermahl gerichtetes Verlangen entftieg vor
nehmlich feinem fehnlichen Begehren, daß die Stunde gelommen fein
möchte, da er unferm Zluchitande ein Ende machen, und die Hands
fohrift, Die wider uns war, an's Holz nageln könnte; und fodann freute
Er ſich Tängft fo herzinnig auf dieſen ftillen Abend als auf Den Zeit
punkt, da es Ihm vergönnt fein werde, in der beabfichtigten, geheim⸗
nißpollen Stiftung zu Gunften feiner Lieben gleichfam fein Teftament
zu machen, und unter Zuftimmung feines himmlifchen Vaters auf fie
die Früchte feines verföhnenden Lebens, Leidens und Sterbens zu vers
erben. Mit einem Worte: um des alsdann einzufegenden Abends
Das Oftermahl. 8
mahls willen hatte er ſich fo lebhaft und herzlich nad) dem Eintritt
dieſer letzten Pafjahfeier gefehnt. Als Iodendes Denkbild ftand diefe
Gründung feiner Liebe feit Jahren fehon vor feiner Seele. Ermeſſet
bienach die hohe Bedeutung, die diefer heiligen Stiftung zu Grunde
fiegen muß. Nein, ein Aft, in dem es nur auf Anordnung einer wies
derlehrenden freundichaftlichen Erinnerungsfeier abgefehn geweien wäre,
hätte für das Herz des Sohnes Gottes nimmermehr der Gegen
fland eines fo tiefen, heißen und durchhaltenden Verlangens werden
föunen. Das „mich bat herzlich verlangt * reicht allein fchon
bin, wicht blos die rationaliftifche, fondern auch des fonft fo theuer⸗
werthen Zürcherifchen Reformators Anficht vom beil. Abendmahle zu
widerlegen. Das „mich hat herzlich verlangt“ drüdt an und für
fh ſchon dem heil. Mahle den Stempel eines göttlichen Geheim⸗
niffes, eines Sakramentes auf, — D Du, mein Herr und Hel-
land, fo innig alfo fehnte Dein Herz fid) nach dem Momente, da Du
dieſes Bermächtniß Deiner LZeutfeligfeit uns Sündern überweifen könn⸗
tet? Selbit die graufige Todesnacht, die bald damad) Dich umſchat⸗
ten follte, ließ diefer Gedanke der Erbarmıng Dich überfehen?! — —
Ad, wie Du uns geliebt haft; geliebet „bis an das Ende!” — Und
wer liebt Dich wieder, und fchäßt das Gefchen? Deiner Gnade nad
Gebühr, ımd dankt Dir, wie ſich's ziemte, für das uns zugedachte
sehe Erbefl — — O Herr, wie tief find wir entartet, verkommen
und verloren! Erbarme Dich unfer, o Zefu, und fchaffe ein „Neues“
in uns nad) Deiner Berheigung! —
3
An das Wort: „Mid hat herzlich verlangt," nüpft der Hat
nun zunächit ein anderes, und zwar ein Wort von prophetifcher Na-
tur, dem er bald darauf ein zweites gleicher Gattung folgen läßt.
„Denn ich fage euch,* fpricht er: „daß ich hinfort nicht mehr
Davon effen werde, bis daß erfüllet werde im Reihe Gots
tes." — „Wir ſcheiden,“ will er fagen. „Unſer Verhälniß zu ein-
ander wird fortan ein anderes, ein neues. Aber wir werden uns wies
derfehn, und dann auch wieder zufanmen zu Zifche fien.* „Wann ?*
fragen wir wißbegierig und gefpannt; und fragen weiter: „Was iſt's,
Das dem Herm, über den ZTrennungsfchmerz Ihn erhebend, bier vor
Dem Geiftesauge fchwebt ?! — In ein fern Zulünftiges ſchaut fein
Did hinaus. Hört ihn: „Ich werde hinfort nicht mehr: das
von effen, bis daß erfülllet werde (mas? Natürlich Das Paflah)
6
82 Der Vorhoſ.
„im Reiche Gottes.“ — Der Herr weiß, was er fagt, und fickt,
auf was er zielt, mit frohlodendem Geifte Har und in beftimmtien
Umriffen vor fih. Uns dämmert etwas nur davon fernher entgegen;
aber auch ſchon das reicht hin, um von des Herrn Freude einen
Wiederſchein auch in unfer Herz hinein zu leiten, Das Paffahmakl
des alten Teftamentes hat, nachdem es zum Abendmahle fich verklärt,
feine fhlieglihe Erfüllung noch nicht gefimden. Es weift yes
phetifch noch auf ein Weiteres, und fogar Größeres und Herriis
heres hinüber. Es fteht in Zukunft ein Felt der Verſöhnten und
Griöfeten bevor, zu welchem auch unfre gegenwärtige Communion
wieder nur wie Abbild zum Wefen, oder doch wie Borfhmad
zum Bollgenuß ſich verhält. Wenn dieſes Feſt gefeiert werden wird,
wird der Glaube dem Schauen, das Stüdwer? dem Vollkommenen,
der Sünderftand der vollendeten Heiligung, und der Kampf und Streit
dem andauernden Triumph gewichen fein. Diefes durch nichts meh
unterbrochene Jubelfeſt füllt mit der Fertigung und Vollendung des
Neiches Gottes, fo wie mit der Verklärung der Natur, in einen
Moment zufummen, An die Stelle unfres Abendmahls tritt dann &
was Neues. Worin daffelbe beftehen werde, darnach fragt mich nicht.
Gewiß aber ift, daß der Herr mit dem „Ich eſſe binfort nicht mer
mit euch von diefem Paſſah, bis e8 erfüllet werde“, nicht blos fagen .
will: „Bis wir miteinander der vollendeten Herrlichkeit meines Reicht
und feiner Genoffenfchaft uns frenen werden.” Zur Auflöfung feines
Ausſpruchs in eine ſolche Allgemeinheit find wir nicht befugt. Die Au
drucksweiſe, deren er ſich bedient, leidet ſchon Diefe Deutung auf ein
unbejtimmtes Geiftige nicht; und vollends widerftrebt derfelben der
Zufag, mit weldyem der Herr fpäter jenes Wort ergänzt. Zum Ritual
des Oſtermahls gehörte es, daß bei Demfelben vier Becher herumge⸗
reicht wurden, welche ſich auf die vier verheißungsreichen Worte in
der göttlichen Ankündigung des Rettungswunders in Egypten begiehen
follten; auf die Worte nämlich: „Ich, Schova, will euch ausfühs
ten, — erretten, — erlöfen, — und eudh annehmen zum
Volk als euer Gott!" — Nah Darreihung eines diefer Becher
bei dem trauten Mable zu Jeruſalem, wahrfcheinlich des erften der
viere, der mit dem Abendmahlsbecdher, deffen im zwanzigften Verſe
unfered Zertcapiteld erſt Erwähnung geichieht, nicht zu verwechfeln
it, fprady der Herr: „Sch fage euch aber: ich werde von un
an nicht mehr von Diefem Gewächs bes Weinftods trinken,
Das Oftermahl. :83
bis an jenen Zag, da ich ed neu mit euch trinken werde in
meines Vaters Reich. — Was bedeutet diefer geheimnißvolle Aus:
ſpruch? DBefagt er nur: „Ofterwein trinke ich nicht mehr mit euch; ich
werde aber einft in meiner triumphirenden Kirche dasjenige, was der
Bein bedeutet, die Himmelsfreude, im volliten Maße mit euch ges
nießen? — Unmöglic kann der Herr gewollt haben, daß wir den Sinn
feines fo eigenthümlichen, und mit dem feierlichen: „Ich fage euch“
eingeleiteten Berheißungsworted alfo verallgemeinerten und verflüchtig-
ten. — „Aber follte denn im vollendeten Chriftusreiche auf Erden
einft wieder etwas Aehnliches, wie unfer Abendmahl, für und bereitet
fein, wobei, etwa wie weiland vom Baum des Lebens im Paradiefe,
aufs neue gegeffen, und, wie aus den Quellen Edens, aufs neue
getrunken würde?” — In der That fcheint der Herr hier auf der Art
Etwas hinzudenten, wenn auch das Was, Wie und Wozu Ddiefer
zufünftigen wunderbaren Speijung und Tränfung, zu der die vers
Härte Schöpfung die Elemente hergeben wird, uns einflweilen ein
verfiegeltes Myfterium bleibt.
Genug, der Heiland bezeichnet hier unzweifelhaft das Paſſahmahl
des neuen Bundes, in welches er eben das vorbildliche des
alten verklärend aufhebt, wieder als Vorfeier eines großen Fries
dens⸗ und Jubelfeſtes, das feiner Gläubigen in der Zuhunft des Rei⸗
ches Gottes harre. Was unfer Mahl zu einer folhen Vorfeier er⸗
bebe, wird ſich im Berfolge unfrer fernern Betrachtungen über daſſelbe
berausftellen. DO, daß es in jener Eigenfchaft der Erfahrung Aller,
Die ihm nahen, fid) fund thun, und namentlich auch euch, die ihr noch
in Diefer Morgenftunde ihm zu nahen euch anfchidt, zu dem Rufe
des Entzückens veranlaffen möchte: „Hier ift nichts Anderes, denn
Gottes Haus; hier ift Die Pforte ded Himmels!” Sicher gefchähe dies,
wo ihr nur recht hungernd, duͤrſtend und kindlich gläubig kaͤmet. Ein
einziger Gang zur heiligen Communion lehrete von deren Weſen
uud Beſtinmnung alsdann euch mehr, als hundert theologiſche Lehr⸗
vortraͤge. Auch ihr verließet die heilige Stätte mit dem Jubelllang
des 23ften Pfalms im Herzen: „Du bereiteft vor mir einen
Tifch Angefichts meiner Feinde; Du falbeft mein Haupt
mit Del, und ſchenkeſt mir voll einz“ und machtet die Worte
des Dichterd zu den euern:
3% kann fhom hier empfinden
Des Himmel Wonn und Erend.
84 _ Der Borbef.
Einft wirft Du mid) entbinden
Bon aller Eitelfeit.
Laß mid) dad Ziel erlangen,
Da, Jeſu, ih und Du
Auf ewig und umfangen
In ſel'ger Herzensruh'. — Amen.
VIII.
Die Abendmahlsſtiftung.
Als eine der geheimnißvollſten Geſtalten der Urgeſchichte des Re
ches Gottes begegnet und, dem Monde vergleichbar, der durch Wollen
bricht, (1 Mof. 14, 18) Melchiſedek. Prieſter und König in einer
PBerfon, Herr über Salem, die „Stadt des Friedens“, vaterlos, mutter
108 und ohne Gefchlecht (d. h. des für den Aaronitifchen ‘Priefter ument-
behrlichen Nachweifes feiner Abftamnumg, in der biblifchen Urkunde wes
nigftend, ermangelnd), ohne Anfang der Tage und ohne Ende Des Lebens
(fofern nemlich weder des einen noch des andern in der mofaifchen Er⸗
zählung gedacht wird), fteht er da ald der merkwürdigften und hervorra⸗
gendften Typen des zukünftigen Meſſias einer. Schon der 110. Pfalm
fchaut ihn aus diefem Gefichtspunfte an; und welch’ ein helles Licht
der Hebräerbrief im Tten Kapitel über jene „dem Sohne Gottes vers
glichene” hieroglyphiſche Erfcheinung und verbreitet, muß euch ja bes
kannt fein. Das Vorbildliche in der Berfon Melchiſe deks befchränft
fid) aber nicht blos auf die eben angegebenen Züge, fondern dehnt
fih bis auf das Verhältniß aus, in welches wir ihn zu dem aus dem
Kampfe mit Kedor Laomer und deſſen Bundesgenoffen fiegreich wieders
Tehrenden Abraham fich ftellen fehn, Er tritt dem Vater aller Gläus
bigen im Weichbilde Salems huldvoll entgegen, ertheilt, als der Groͤ⸗
Bere, denn Abraham, Diefem, und in ihm deffen Samen, feinen
priefterlihen Segen, reicht ihm Brod und Wein zur Stärkung und
Erquicung dar, und Abraham entrichtet ihm den Zehnten von aller
feiner Beute, Wie beziehungsreich ift diefes Alles! Wie bedeutſam
fehen namentlich Die jedenfalls als Symbole aufzufaffenden Elemente
des Brodes und des Weines in der Hand des Priefterföniges uns
%
Die Abendmahlmiftung. > 5
an! Ihrem nächften Sinne nach bedeuten diefelben allerdings nur im
Allgemeinen die Schaͤtze des Friedens und der Freude, weldye der
vahre Melchiſedek der Menfchheit bringen werde. In ihrem tie
eren Gehalte aber jehen wir fie bis auf das Opfer des Leibes und
Blutes Chrifti, und ſchließlich gar bis auf das heilige Abendmahl,
m welchem dem geiftlichen Abrahamsfamen der gefreuzigte Leib und
das vergofiene Blut des wahren Hohenpriefterd als Speife und Trant
des ewigen Lebens dargereicht werden follte, hinüberztelen. Alfo ſchon
an der Schwelle der göttlichen Reichsgeſchichte ein Vorbild unferes
Sakraments! Wie hoch heißt fchon dieſer Umftand von des Sa⸗
kramentes Beitimmmg, Sinn und Zwed und halten!
Matthãus 26, 26 u. 27. Marcus 14, 22—24. Sucas 22, 19 u. 20.
Da fie aber aßen, nahm Iefus dad Brod, danfete, und brach es, und gab es ben
Jängern, und ſprach: Nehmet, effet, das ift mein Leib, ber für euch gebrochen und
gegeben wird; dad thut zu meinem Gedäaͤchtniß; deſſelbigen gleichen nahm er auch
ven Kelch nach dem Abendmahl, und danfete, und gab ihnen den, und ſprach:
Arinfet alle daran, |
So thut fih denn das Heiligthum felbft vor ums auf, auf def-
fen Borftufen wir mit unferer Teßten Betrachtung ftehn blieben. Die
Schuhe von den Füßen! Der Drt, den wir betreten, ift heilig Land!
— Ber, wen er’s nicht ſchon wüßte, follte glauben, daß Die eben vers
fefenen, einfachen und unfcheinbaren Worte, in einem noch unfcheins
bareren abendlichen Freundeskreiſe gefprochen, die Stiftungsurkunde
einer Feier enthielten, welche, von Sahrhundert zu Jahrhundert fich
vererbend, ganze Völker und Reiche mit deren fcheinbar für die Ewig⸗
keit gegründeten Staatsordnungen und Religions » Berfaffungen übers
danern, und bis an’s Ende der Tage in zufehends ſich erweiternden
Kreifen erhalten würde? Und doch hat fih’s fo. Wer kann darum
noch zweifeln, daß wir es hier mit göttlich gebieterifchen, ja, mit
ſchoͤpfimgskraͤftigen Worten des Königes aller Könige zu thun haben?
Jene Worte felbft, und noch nicht der durch fie in's Leben gern⸗
fenen Stiftung Weſen und Sinn, mögen unfrer heutigen Betrachtung
zum Grunde liegen. Wir verweilen mit unfrer Erwägung guerft bei
ihrer Form; und fchauen dann die Handlungen an, die der Herr
mit jenen Worten begleitete.
Führe und der Geift des Heren in alle Wahrheit, und entfiegle € er
ums ſelbſt Das erhabene Geheimniß, vor dem wir flehn!
86 . Der Borhel.
1.
Das Dftermahl in dem trauten Freundeshanfe zu Jeruſalem iſt a
nau nach ifraelitifhem Brauch gehalten, dad Lamm mit
Gemüth von den Güften verzehrt, und der Feitbecher nach herkoönn⸗
licher Sitte zu verfchiedenen Malen herumgereicht. So wäre num be
Moment gefommen, da unter Anftinmung des großen „Hillel”, ode
Pſalmlobgeſanges die Tafel aufgehoben, und den Gäften hiedurch dab
Zeichen zum Aufbruch und Heimzug ertheilt werden müßte. Was abe
ereignet fich ftatt deſſen? Der Meifter, auf dem Aller Blicke gerichtet
find, erhebt fich allerdings von feinem Sitze, aber nicht, wie man
bald bemerkt, um den Saal zu verlaffen, fondern um einen nenen,
noch feierlicheren Akt, als das Paffahmahl, einzuleiten. Er nimmt
bausväterlich aufs neue dad Brod, bricht's, gibt's nad) vorbergegans
gener Dankfagung feinen Jüngern, und ihr kennt die Worte, mit des
nen er diefe Handlung begleitete. Dann reicht er ihnen ebenfo den
Kelch, gebeut Allen, daraus zu trinken; und was er bei Diefem Alte
fprach, wißt ihr gleichfalls. Die Apoftel werden und im Himmel einſt
Davon erzählen, wie in dieſen Augenbliden feine ganze Haltung eine
feierlichere geworden fei, feine Stimme fi) wunderbar gehoben, und
fein Auge in hellerm Glanz geleuchtet habe, denn zuvor. Zugleich
aber werden die Verflärten Dann auch den befriedigendften Auffchluß
Darüber ung ertheilen, aus welchem Grunde fie und die Einſetzungs⸗
worte ihres Meifters nicht in vollftändig übereinftimmender Form und
Fafſung überliefert haben. — „Das hätten fie wirklich nicht?” Nein,
Freunde. Bei Matthäus und Marcus fpricht der Herr beim Brechen
des Brodes: „Nehmet, efjet, das ift mein Leib, der für euch gege⸗
ben wird, das thut zu meinem Gedächtnig. — Nach Paulus 1 Cor. 11
fprady er Daffelbe; bediente fi) jedody ftatt des „der für euch gege-
ben,* des Ausdruds: „der für euch gebrochen iſt.“ Bei Matthäus
fpricht er bei Darreichung des Keldhes: „Zrinfet Alle Daraus; demn
Das ift mein Blut, das des neuen Zeftaments, welches vergoffen wird
für Viele zur Vergebung der Sünden.” — Bei Marcus fehlt fowol
Das „Trinket Alle daraus,“ als das „zur Bergebung der Süns
Den." — Lucas läßt den Herrn fagen: „Diefer Kelch ift das neue
Teftament in meinem Blute, das für euch vergoffen wird.” Paulus
zwar ebenfo; Doch läßt er den Herm hinzufügen: „Soldyes thut, fo
oft ihr's trinket, zu meinem Gedächtniß.“ — Dffenbare Verſchie⸗
Denheiten alſo, wenn auch nichts weniger, als Gegenfäge und
Die Abenpmahlsfiftung. 87
Bideriprüde Wie hat man fid) aber diefes Variiren der vier Ber
richterftatter zu erklären? Es find darüber, wie ihr denken könnt, feit
achtzehn Jahrhunderten der Bermuthungen nicht wenige aufgetaucht.
Gegen die, unbegreiflicherweife fugar von manchen Gläubigen getheilte,
Annahme, als habe der eine und andere der vier Berichterftatter fich
verthan, und nicht mehr mit vollitändigfter Genauigkeit auf den Wort-
laut der Rede Jeſu fich befinnen können, muß ich als wider eine Er-
findung des Unglaubens, oder doch der Glaubensſchwäche pro-
teftiren. Die Apoftel wurden bei Abfaffung ihrer heiligen Schriften
vor jedem Irrthum bewahrt. Hatte ihnen doch ihr Herr und Meifter
die ausdrüdliche Verheißung gegeben, daß der Tröfter, der heil. Geift,
fie in alle Wahrheit leiten, und alles deffen fle erinnern werde, das.
er zu ihnen geredet habe, Und diefer Geift follte bei einer fo gewicht:
vollen Sache, wie die Anordnung unferes Saframentes, jenes feines
Amtes gefehlt, und nicht vielmehr deffelben grade hier aufs pünkt-
fichfte gewartet haben? Glaube dies, wer da wolle, ich werde es nim⸗
mer glauben. „Aber die Abweichungen,” wendet ihr ein, „find num
doch einmal vorhanden; und wie willft du ihre Ausgleihung erzielen?”
Brüder, nicht einen Augenblid ift mir's zweifelhaft, daß der Herr die
Horte, welche die vier Berichterftatter ihm in den Mund legen, auch
ſaͤmmtlich gefprochen babe, und daß die vier Zeugen ſich in ihren
Darftellungen uur wechfelweife ergänzen. — Aber wie fprad) denn
nun der Herr? Sagte Er: „Dies ift mein Leib, für euch gegeben,
oder für uch gebrochen?" Sagte Er: „Diefer Kelch ift das Blut
Des neuen Zeflaments;” oder: „Diefer Kelch ift Das neue Te⸗
flament in meinem Blute?“ Sprach Er: „Das Blut, das für
euch;“ oder „das für Viele vergofien wird?" — Ich lebe der lie
berzeugung, daß er bei Austheilung des Brods und Darreichung des
Kelchs mehrmals Die Einfegungsworte wiederholte, und fie bald in
diefer, bald in jener Faſſung ausſprach. — Freilich war es nicht
gleichgültig, daß wir in diefer Sache unfern Fuß auf ficheren Bo⸗
den ſetzen, und mit vollfter Beitimmtheit jagen fomıten: „Dies
ſind die urfundlichen Stiftungsworte des Herrn in ihrer authentifchen,
d. i. rechtögültigen, weil vom Herm felbft herrührenden, Zufammen-
faffung! Dies ift ihre wefentliche Grundſubſtanz; dies Die heilige
Formel, die für alle Zukunft nad) dem Willen unſres Meiſters ſelbſt
die ſtehende bleiben, und bei der Feier des heil. Abendmahls immer
wieder verlauten fol" — Um mm aber ſolchem Beduͤrfniſſe feiner
88 Der Borhof.
Kirche auf Erden wirklich zu entfprechen, hat der Herr nachmals bie
große Gnade gehabt, in einer unmittelbaren Offenbarung feinem Apoftel
Paulus eine unzweideutige Eröffnung über die Einfeßungsformel ſei⸗
nes Saframents zu ertheilen. Hört den Apoftel 1 Corinth. 11: „Ih
habe es,“ fpricht er, „von dem Herm empfangen, das ich euch tiber
liefert habe; nemlich diefes: „daß in der Nacht, Da er verrathen
ward, nahm er das Brod, dankete,“ — — und wie es weiter heikt,
Ganz unverkennbar bezeugt hier der Apoftel, daß er nicht etwa aus
Mittheilung anderer Jünger, fondern direkt und umvermittelt von dem
Herrn feine Belehrung über die Einfegung des heil, Abendmahls er
halten habe. Das Wefen der Einfegungsworte findet denmach ſei⸗
. nen Ausdrud beim Brode in der Formel: „Das ift mein Leib, der
für eud gebrochen wird; Solches thut zu meinem Gedädt:
niß;“ — und beim Kelche in diefer: „Diefer Kelch ift Das nene
Teftament in meinem Blut; Solches thut, fo oftihrs trin-
tet, zu meinem Gedächtniß.“
2,
Dies über die Form der heil. Einfeßungsworte. Werfen wir nun
einen Blick auf Die Handlungen, die der Herr mit jenen Worten bes
gleitete, Zuerft Iefen wir: „Der Herr nahm das Brod.“ Merkt,
Brod nahm er, und nicht etwa Fleiſch vom Oſterlamme. Letzteres
ſchon darum nicht, damit er feinerlei roh-finnlichen Vorftellungen vom
heil. Abendmahle, wie dergleichen 3. B. ſchon in Capernaum aufs
tauchen wollten, irgendwie Vorſchub Teiftete, und von vornherein dem
Irrthume begegnete, als bleibe auch im neuen Teftamente noch Raum
für das Opferwefen der alten Hütte, welches ja in Ihm als ein kraft⸗
Iofes Schattenwerf zu feiner vollen Endfchaft gediehen war. Das
Brod, das er nahm, war das ungefäuerte Ofterbrod; in welchem
Umftande jedoch ficher nicht ein Winf für die fpätere Wahl des ſa⸗
Iramentlichen Elementes Tiegen follte, Die erften Ehriften, Die Apos
ftel an ihrer Spitze, bedienten fich bei ihrer Communion, welche fie faft
täglih am Schluffe ihrer gemeinfamen Liebesmahle zu feiern pflegten,
des gewöhnlichen, das heißt des Brodes, das fie über Zifche
aßen, alfo des gefänerten. Brod nahm der Herr, diefes und un⸗
entbehrlichfte aller Nahrungs und Erhaltungsmittel; diefes durch die
gewaltfamen Prozeſſe des Drefchens, Mahlens, Knetens und Backens
aus ber Foftbarften Frucht der Erde gewonnene PBrodult, welches ein
Die Abendmahldſtiftung. 89
fo überaus treffendes Bild Desjenigen abgibt, ohne Den wir
fein Leben haben nach dem Geift, fondern dem ewigen Tode ver-
fallen find, — „Aber das Brod nur ein Emblem, ein Bild —
Nun, werdet ihr in Abrede ftellen wollen, daß wir die Elemente des
Abendmahls zunächft als Zeichen, Symbol und Bild zu faſſen
Haben? Wolltet ihr’s, fo müßtet ihr das Wort des Herm Joh. 6
überhören: „Ich bin das wahrhaftige Brod vom Himmel gekommen,
und gebe der Welt das Leben,“ und wie mandye feiner Worte fonft.
Ja wohl, jenes „Waizenkorn“ Gottes, das, Damit e8 nicht alleine
bliebe, fondern viel Frucht brächte, in die Erde fiel, und durch Die
Gethfemanesglut und das Kreuzesfeuer zur Seelenfyeife der armen
Sünder bereitet ward, fpiegelt fich, wie die Sonne in einem Thaues-
tropfen, in dem Nachtmahl sbrode, und wird durch daffelbe zunächt
uns vor Augen gemalt und repräfentirt. — Nachdem der Herr das
Brod genommen, hob er feine Augen gen Himmel, und „dankete,“
d. h. ergoß fich in lauter Lobpreiſung feines himmlifchen Vaters. Für
was dankte er? O Brüder, für was Anderes doch, als für den Rath⸗
fhluß der göttlichen Erbarmung, für unfre, der armen Sünder, Erloͤ⸗
fung, die er im Geifte fchon in feinem Blute vollendet fah, und für
der fluchmwürdigen Adamsfinder Errettung aus des Teufels Gewalt
wnd aus der Hölle Rachen? Waren wir c8 doch, wir fluchwürdi-
gen Nebellen, auch du und ich, die Ihm Tag und Nacht auf dem
Herzen lagen, um deren Wiederbringung all fein Sorgen und Beküm⸗
mern fi) bewegte, und deren Erhöhung und Befeligung fein höchftes
Intereſſe und füßeftes Hoffen war. Er „dankete.“ O, mit welder
anbetungsvollen Wonne werden die heiligen Engel diefen föftlichen
Weihrauch in ihre güldenen Schalen gefaßt und zu Gott emporgetra-
gen haben! — Er „dankete.“ — Wir follten danken. Aber wohl
ums, daß er auch in dieſem Stüde, wie in Allem, uns vertritt, und
anfre Schulden mit feinem Gehorfam deckt, unfern Mangel mit feiner
Fälle erftattet! — Uebrigens dankte er nicht blos, fondern fegnete
zugleich) nad) Matthäi Ausdrud, Freilich bedeutet das Wort „ Eus
fogein“ bei dieſem Evangeliften ebenfowol danken und lobpreis
fen, wie das Wort „Euchariftein” bei Lucas und Paulus; und e8
würde nicht eben ein großer Nachdruck darauf zu legen fein, daß es
auch den Begriff des Segnens in fich fchließe, wenn nicht Paulus
1 &or. 10, 16 defielben Wortes ſich bedienend, den Kelch den „ge⸗
ſegneten“ oder den „Kelch der Segnung“ nennete. Richt aber
90 | Der Borhof,
über den Kelch nur, fondern auch über das Brod ſprach der Helland
feinen Segen. Und wozu? Etwa um die Elemente von dem gewoͤhn⸗
lichen und profanen Gebrauche zu einem höheren, geiftigen und heili⸗
gen auszufondern? Unzweifelhaft bezwedte er auch Dies. Aber wo
der Hohepriefter Jeſus fegnet, da mögen wir nur gleich an Weſent⸗
ficheres gedenken, als an eine bloße Bezeichnung und Zwectbeftimmung
eben gedachter Gattung. Wirkung gibt es da, und e8 bleibt Re
les zurüd, Und o, wie überfchwänglich Reiches und Großes if
bei dem Brod und Wein der Communion von jenem Segensfprude
des Herrn zurüdgeblieben! Wie vielen Zaufenden ward, feit jenem
feftlichen Abende zu Zerufalem, durch Vermittlung diefer unfcheinbaren
Elemente himmlische Erquidung, Stärkung und Ermuthigung darge
reicht! Wie Manchen ift im Laufe der achtzehn Jahrhunderte durch
fie das wunde Herz geheilt, der matte Geift belebt, und namentlich
der Bang durch's dunkle Sterbethal erhellt, erleichtert umd verſüßet
worden! Und wie Unzählige werden in Zukunft noch, bis an das
Ende der Tage, dep Alles fich zu erfreuen haben! Seht, Dies ift des
Sriedensfürften Segen. Der Segen Immannels reiht „Dis zu der
Wonne der ewigen Hügel, *
Nach gejchehener Dankfagung und Segnung „brach“ der Herr daß
Brod. Auch dies, wie er gleich darauf in den Worten: „Das if
mein Leib, für euch gebrochen,“ felbft erklärt, nicht ohne Abficht, nicht
ohne tieferen Sim. Es haben deßhalb auch fänmtliche apoſtoliſche
Berichterftatter nicht unterlaffen, diefes Brechen des Brodes ausdrüds
lich zu melden. Jeſus brach's zum ſymboliſchen Zeugniffe von Dem,
was bald mit feinem eigenen Leibe gefchehn, und wodurch er erft zum
Sühnopfer und zum Lebensbrod und werden würde. Sein Sterben
malt er mit dem Brodbrechen feinen Jüngern vor Augen; und die
erhabene, bewunderungswürdige Ruhe, womit er dies thut, zeuget um
wieder von der unendlichen Sünderliebe, die Sein Herz für. Diejent-
gen durchglühte, Denen das große Opfer gelten follte. In der erſten
Kirche vergaß man bei der Beier des heil. Mahles nie nach Chriſti
Borgang das Brod, ehe man ſich's reichte, zu brechen; und wem
fpäter dieſer Gebrauch abhanden, und ftatt des Brodes die fogenannte
Hoftie auflan, fo ift dies, wenn es auch für etwas Erhebliches und
Wefentliches grade nicht zu erachten ift, Doch eine mit nichts zu rechte
fertigende Abweichung von der urfprünglichen Site, Luther behielt
die Weife der römischen Kirche bei. Wenn dagegen wir den ur⸗
Die Aben mahltfiftung. 91
ſpruͤnglichen Gebrauch wieder herzuftellen uns bewogen fanden, fo
verführen wir hierin nur bibliſch, und darum mit voller DBerechti-
gung. Gottes Wort ſteht uns allevege über aller Menfchen-
fagung, und dürfte Diefe aud fi) rühmen, die theuern Reforma⸗
toren zu ihren Urhebern zu haben. Haben Doch diefe Gottesmänner
ſelbſt ausdruͤcklich von uns gefordert, daß wir, wo es nöthig erfchiene,
ihr Berl nad) der einzig unträglichen Richtſchnur der h. Schrift ver-
vollftändigen und verbeffern möchten. — Das gebrochene Brod reicht
der Herr feinen Jüngern dar; und hier erbliden wir Ihn fo recht
in feinem Amt und Lieblingsberufe. Geben, Darreidhen, Mit-
theilen ift feine Luft, Wie damals, fo ift feine Hand bei feinem
Liebesmahle auch heute noch ausgeftredt, wenn auch jebt verhültt
in die Hand feines menfchlichen Botfchafters und Dieners. Wir,
feine armen Knechte, treten bei der Verwaltung der Communion für
unfre Perſonen ganz zurüd, Nichts find wir da, als feine Werk:
zeuge und Organe. Er ift immer wieder felbft der fpendende Wirth,
Der darreichende Geber. Deßhalb ertönen beim heil. Mahle auch nur
feine Worte, und andre Worte, wie fhön und glaubensftarf fie klin⸗
gen möchten, follen und dürfen Dabei nicht verlauten,
Bei der Keldhftiftung wiederholte fich, was bei der Weihung des
Brodes geſchah. Nach erneuerter Dankfagung und Segnung reicht der
Herr denjelben feinen Jüngern, und fordert fie auf, alle daraus zu
trinten. Er nennt den Bein fein „Blut“, wie er das Brod feinen
„geib * nannte; und beide Elemente vereint bezeichnen und vertreten
fomit den ganzen Ehriftus, jofern derfelbe fein Leben, das „un
Binte* ift, für uns zum Schuld⸗ und Sühnopfer in den Zod gab.
Das der Herr nicht etwa Waffer, fondern Wein zum Symbol fei-
nes vergoffenen Bluts fich erſah, geſchah aus tiefen Gründen, umd
erweitert und vermannigfaltigt nur den Gedankfeninhalt des gewählten
Sildes. Ehriftus ift der wahrhaftige „Weinftod*, und wir haben
nur ein göttliches Leben in uns, fofern wir, den Neben vergleichbar,
mit Ihm verwuchſen, und mit Seinen Kräften getränkt und durch⸗
deumgen wurden. Der Wein erinnert überdies an Die Angſt⸗ und
Moxterkelter, in der der Sohn Gottes erft zu unferm Heiland und
Mittler zubereitet ward; und deutet Daun auf die Fülle himmlifcher
Ermuthigungen, Freuden und Wonnen hin, welche Chriftus
gleichſam als Zuthat und Ueberfhwang feinen Gläubigen dar⸗
wicht, während das Brod mehr Das zu ihrer Rettung und Geligfeit
92 Der Bnıhel.
Nothdürftige und ſchlechthin Unentbehrliche veranſchaulicht, wel⸗
ches fie an feiner Erföfung und Vertretung befigen,
Wir fchliegen. Wenn wir das Ziel des Verftändniffes unferes Sa⸗
framents noch nicht erreichten, fo find wir demfelben doch wieder um
eine bedeutende Strede näher gefommen. Helfe der Herr uns weiter,
und ftelle er auch in der Abendmahlslehre unfre Füße auf einen
feften und gewiffen Grumd, auf daß auch wir in tiefer Wahrheit fpre
hen koͤnnen:
Mic) ftört fein Schuigezänfe mehr,
Noch fahr’ ich zweifelnd mehr umber,
Seitdem Du felber mir gedeutet,
Was Du in Deinem Bundesmahl
An Gnaden fonder Maß und Zahl
Mir armem Sünder haft bereitet.
Ich folge ftill der Biene Spur
Auf Deiner Heilögedantenflur. — Amen.
— 4000 OO ůüüç—
IX.
Die Einſetzungsworte.
Der Prophet Amos redet im 7ten Verſe des 5ten Kapitels ſeiner
Weiſſagungen von Leuten, die „das Recht in Wermuth verkeh⸗
ren.” Er hätte für „Recht“ auch Heil fagen koͤnnen; und es würs
den feine Worte auch in dieſer Faflung in unzähligen Lebensbildern
der Menfchheit bis zur heutigen Stunde ihre traurige Betätigung ge
funden haben. So iſt's unter Anderm ein ſchreckliches Zeichen des Bers
falls unfrer menfchlichen Natur, daß das heil. Abendmahl, welches un
zu Frieden und Seligkeit gefeßt ward, allem Anfcheine nach viel Meh⸗
teren zum Unheil, als zum Heil gereicht. Nicht allein, daß daffelbe
-Zaufende, weil fe es ihr Lebenlang verachten und mit dem Nüden
anfehn, ftatt ihnen Die Abfolution zu verfiegeln, vor dem Richterfhihle
Gottes nur verflagen wird; nicht allein, daß andere Taufende, die
der heiligen Stiftung wenigftens äußerlich noch einige Ehrfurcht bes
zeugen, von dem Schreckensworte getroffen werden: „Wer unwürdig
u %
Die Einfekungbworte, 93
iſſet und trinket von diefem Brod und Wein, der iffet und trinket fich
ſelber das Gericht”; — felbft unter den Gläubigen gereicht es Vielen
inſofern nur zum Berderben, als fie von ihm, — denkt, von dem Mahl
der Liebe, — in beflagenswerthefter Weife Anlaß nehmen zu Haß,
Berkeperung, ja Berfluhung wahrer und lebendiger Glieder am
Leibe des Herrn, die nur aus triftigen bibliſchen Gründen nicht vers
mögen, ihren Lehr- und Schulformeln von der Bedeutung des Sa⸗
framentes in Allem bis auf's Jota beizuſtimmen.
D Her! Was zum Auferſtehn gefeßt ward, wird den Menfchen
durch ihre DVerdrehtheit zu Aergerniß und Zalll Was ihnen zum Les
ben dienen follte, gereicht ihnen zu Tod und Untergang! Ach, daß
Solches nur nicht auch uns widerfahre! — Eine gründliche Vertie⸗
fung in das, was die Schrift vom Abendmahle und deſſen Zweck
und Bedeutung uns lehrt, wird uns dagegen ficherftellen helfen. Wir
baben mit folcher Vertiefung den Anfang gemacht, und gedenken, ge
liebt’ 8 Gott, unter Seinem Segen heute damit fortzufahren,
Matth. 26, 26—28. Marcus 14, 22—24. Suras 22, 19 u. 20.
1 Eorinth, 11, 24 u. 25.
Und Jeſus ſprach: Nehmet, effet, dad ift mein Leib, der für euch gebrochen und
gegeben wird, ſolches thut zu meinem Gedädhtniß. — Diefer Kelch if dad neue Te⸗
kament in meinem Blute, das für euch und für Biele vergoffen wird zur Bergebung
der Sünden. Solches fhut, fo oft ihr es trinfet, zu meinem Gedächtniß.
Die Einfeßungsworte des heil. Abendmahls find es, welche heute
unfre Andacht in Anſpruch nehmen. Ih fage mit Nachdrud „unire
Andacht”; denn es find Worte, die geheimnißvollften langes aus
dem innerſten Heiligthume unfres Gottes uns entgegentönen, Lehre
der Herr uns ihre Tiefen verfichen! Wir betrachten zuerft Diejenis
gen Borte, welche die Darreihung des Brods, und dann
Diejenigen, welche die Kelchftiftung begleiteten.
1
Der Herr reicht den Seinen das gebrochene Brod und beginnt:
„NRehmet, effet!” Beachtet zunächft, Daß er hier felbit weder mit
iffet, noch mit trinfet, Es würde ungeeignet gewefen fein, daß
er von den Wahrzeichen feines eignen Leibes und Blutes gegeffen
und getrunfen hätte, — „Nehmet, effet!" fpricht er. In diefen
Worten verlmitet ein Einladungsruf der freien Gnade; ja, es tönt
9 Det Berk
durch fie ein Wiederhall der prophetifchen Aufforderung bei Jeſaias 55
hindurch: „Wohlen Alle, die ihr durftig feid, kommet her und Taufet
ohne Geld und umfonft beide Wein md Milch.“ — „Umfonf,
umfonft!* Dies ift, Gott ſeis gedankt, die Infchrift aller Güter
des neuen Zeftamentes. Es hindert Dies aber nicht, daß man derfel-
ben doch nur in einer beftimmten Ordnung theilbaftig wird. 6
hat das „Nehmet, effet* auch feinen tiefern myſtiſchen Sinn
In dem „Nehmet“ Tiegt ein Aufruf; in dem „effet“ zugleich eine
Berheißung Das „Nehmet“ wendet fich nicht blos an Die Hand,
fondern viel mehr noch an das Herz. Es fordert
Hunger und Durft, und Aneignung im lebendigen Glauben. „Ein
Menſch kann nichts nehmen“, fagt Johannes der Täufer, „es werde
ihm denn gegeben vom Himmel.” — Sehr wahr! — Aber nicht min⸗
der wahr ift die jenen Worten Seitens eines Auslegers beigefügte
Bemerkung: „Richts kann vom Himmel gegeben werden, es fei Dem,
daß der Menfch es nehme‘. — Wo es an Empfänglichkeit mund
Glauben beim heil. Abendmahle gebricht, gefchieht auch keine innerliche
Speifung und Tränkung mit dem Leibe und Blute des Herm. Schon
durch die Stellung der Worte wird Dies angedeutet, indem das „Neh⸗
met, effet“ dem „Das ift mein Leib“ vorangeht. Hieße es in
umgefehrter Ordnung: „Das ift mein Leib; nehmet, eſſet,“ fo könnte
auch Einer gut römifch denken, es fei auch vor dem Nehmen und
Eſſen das Brod ſchon der Leib des Herm, und es emipfange den letz⸗
teren auch derjenige, der ohne Bedürfniß und Glauben das Brod ges
nieße. Wäre aber dies der Fall, fo würde folgen, daß auch Gottlofe
und Heuchler durd) den bloßen Abendmahlsgenuß dem Gerichte ent»
rinnen und die Seligfeit erraffen könnten: denn Joh. 6 fagt der Herr
ausdrücklich und beftinmt: „Ber mein Zleiſch iffet und trintet
mein Blut, der hat das ewige Leben!” Jener Anficht tft aber,
wie gefagt, ſchon dur die Form der Einfeßungsworte vorgebeugt.
D, es ift in der Ausdrudisweife des Herm Alles bis auf Sylbe md
Strichlein gar fein und tief berechnet. Wir werden fpäter noch öfter
Anlaß finden, dies zu bemerfen.
Das „Nehmet“ heißt mithin: „Begegnet dem dargebotenen Gut
mit bungerndem und Durftiendem Herzen, und gebt ihm in heils⸗
bedürftiger und empfänglicher Seele Raum.” Das „Effet* iſt wie
das nachfolgende „Zrinket“ Zufage, und verheißt die himmliſche
Sättigung und Erquicdung, Borin aber die Speife beftehe, fragt ie}
—N——
Die Einfehungbworte, 9%
Hört: „Dies iſt mein Leib“, fährt der Heiland fort. Diefe Worte
bilden den Schwers und Angelpunft der ganzen heiligen Stiftung, und
fehren darum auch gleichlautend bei fämmtlichen vier bibliſchen Bericht⸗
erftattern wieder. In ihnen thut fi) die Pforte des Allerheiligften
vor uns auf. Sie ftellen uns unmittelbar vor das große Geheimniß.
Jede Sylbe fordert bier ihre genaufte Erwägung. Merkwürdig iſt
zuerſt das Wörtlein „Dies“. Es fteht nämlich im griechifchen Grund⸗
tert als Reutrum, oder in der fächlichen Gefchlechtsform, während
das Brod (Artos) im Griehifhen Maskulinum, oder maͤnn⸗
lichen Geſchlechtes if. Der Herr fagt alfo, die Sache genau genoms
men, gewiß in bewußter, weifer Abficht, nicht „Diefes Brod iſt mein
Leib." Solche Redeweife hätte groben Mißverftand veranfaffen müffen,
und namentlih den römifchen Verwandlungswahn begünftigt. “Der
Herr fagt vielmehr: „Dies“ nämlih was ich euch, (freilich mit‘dem
Brode,) nehmen heiße, ift mein Leib; und nun gewinnt das Iutherifche
„in, mit und unter“ in der That eine Berechtigung, während
nicht blos Rom, fondern in einem mäßigeren Grade auch den ehr⸗
würdigen Zwingli der Vorwurf trifft, nicht ſcharf genug gelefen
zu haben. — Aber jebt das Wörtfein „ift*. — Wenn das erzählen
tönnte, durch welch’ ein Feuermeer von Zank und Eifer es hindurch
gegangen feil Wer ſieht's dem Wörtlein an, welch’ wüfter Kriegsbrand
dasfelbe Jahrhunderte hindurch umlodert hat? Ach, welche fchäumens
den Brandungen hundertfach geftalteter Sünde haben dieſes Wort bes
fpült! Keine Burg und Veſte in der Welt fah ein wüthigere® Ge⸗
tämmel um fich ber, als diefe Sylbe. An keiner Stelle der Erde
ift greller zu Tage getreten, daß auch die größten Heiligen unter dem
Himmel Kinder des Todes ımd der Verdammniß wären, wenn nicht
freie Gnade herrfchte, ald an dieſer. Aus dieſem „ift” hat fich,
wie eine Kröte aus einer edlen Blume Gift, eine ſtolze Priefterfchaft
unerfättlichen Hadergeift getrunken. Bei diefem „tft * brach) die evans
gelifche Kirche für Zahrhunderte in zwei Städe auseinander; und heute
noch gibt es Leute, die diefem „ift“ nicht nahen können, ohne daß
ihnen die Augen in einem Feuer zu funkeln beginnen, welches wahrlich -
anderswoher, als vom Himmel ftammt; ja, die, fo oft dies „tft“ fie
antönt, nur Schlachtdrommeten fchmettern zu hören glauben, und zum
unglüdfeligften Bruderkriege ſich rüften. OD, begnadige uns Gott mit
der Kindes-Einfalt, welche um dieſes „iſt“ nur den Himmel offen
fieht, und darin die ganze Güterfülle des nenen Zeftaments, ja, Den
3 Der Vechel
Sam Ehriitum ſelbſt mit allen feinen Gaben und Guaden findet;
und ichenfe Er uns den Glaubensfinn, der um dus „ift“ nur wie ein
harmlos⸗ frõöhliches Kind um den jtrahlenden Baum am Weihnachts
abend in Zreudeniprüngen jeinen Reigen führt. — Was bejagt aber des
Wörtlein „iit*? — Daß daſſelbe in der Schrift jehr häufig für „be
deutet” steht, leidet feinen Zweifel. In der Erklärung des Gleich⸗
nifjes von dem Unkraut unter dem Waizen ſpricht z. B. der He:
„Der Ader ijt Die Welt; der gute Same jind die Kinder des Reiche;
das Unkraut jind die Kinder der Bosheit; die Emdte ift das Ende
der Belt.“ Im allen diejen Sägen hat dus Zeitwort „fein“ vers
gleihenden Zinn, und bezeichnet daſſelbe, was Das Wort „bedens
ten“. Ebenſo bat ſichſs mit dem Wortlein „iit“ in der beim alt
teitamentlichen Sitermahl gebräuchlichen, und vor dem Efien vom Hans
vater auögeiprochenen Zormel: „Dies ift das Pafijah“, oder „der
Leib des Paſſah!“ Tasjenige, auf was der Sprechende hinwies, war
nicht das egyptiſche Diterlamm felbft, durch deſſen Blut die Sfrueliten
aus dem Dienitbaufe gerettet wurden, jondern nur ein Abbild des⸗
jelben, welches Das wunderwirkende lediglich wiederfpiegelte aber
bedeutete. — So wäre denn in der That der Sinn des WBörtleins
„ist“ in dem Begriffe des Bedeutens vollitändig erfhöpft? — Das
fei ferne! lieben Brüder. — Ic, meinestheils kann nit Zwingli’s
Anficht theilen; aber, wie ſich von felbit vwerfteht, viel weniger bie
Anficht derer, die Das „iſt“, Jofern es auf das Brod und den Wein
bezogen wird, im buchſtäblich ſten Sinne verftanden wiffen wollen.
Ich müßte dann ja auf Die Ceite der Papiſten treten, welche Ichwen,
Daß das Brod wirklich nicht mehr Brod, und der Wein nicht mehr
Wein, jondern jenes durch die Conſecration des Prieſters in Fleiſch,
und dieſer in Blut verwandelt je. — , Was uber“, fragt ihr, „wiegt
Dir denn das Wörtlein „iſt“?“ Ihr follt es fpüter hören, wenn wir
die Bedeutung des heil, Abendmahls erforfchen werden. Einſtwei⸗
len aber mögt ihr wiffen, daß auch ich für die buchſtäbliche Auffaſſung
des Wörtleind mich entjcheide, wenn nümlih das, was wir vorhin
über die neutrale, oder ſächliche Form des Wortes „Dies“ ber
merkten, der gehörige Accent gelegt wird. Bejchränfen wir und indeß
für heute auf die Borterflärung der einzelnen Ausdrücke in Der
heil. Einjeßungsformel, ohne noch auf ihre fahramentliche Währung
einzugehn, und achten wir jeßt auf das, was der Here dem „Dies
iſt“ unmittelbar folgen läßt.
Die Einfekungbworte, 97
es iſt mein Leib”, fpricht er. Hier nennt er alfo den Gegen
‚ der genommen und gegefien werden fol. Nicht fein Geift,
fein Leib iſt's. Diefer, deutet er an, werde hinfort die Stelle
affahlanımes vertreten. Es haben Munde die Worte fo gedeutet:
der Gottmenſch, bin in Zukunft euer Brod, euer Manna, eure
njpeije”. Aber das ijt eine willfürliche Umſtellung feiner Worte,
Herr ſagt ausdrücklich: „Was ich euch mit dem Brode gebe, ift
Leib“. Was wir aber hier unter dem Leibe zu verftehen haben,
mmen wir fpäter. — Nach Nennung feines Leibes fährt der
fort: „Der für euch gegeben wird“. Er meint: Gegeben
en Tod, wie Died der andere von dem Herm gebrauchte Auss
„Der für euch gebrochen wird,“ außer Zweifel ſtellt. Diefes
rgleichenden Blick auf das gebrochene Brod ausgefprochene Wort
at die bevorftehende Aufldfung feiner menſchlichen Leiblichkeit
den Gterbeprogeß. Der Herr predigt hier alfo wieder felbft die
Wahrheit, Daß er ſich als Sühnopfer für unfre Siinden werde
ven laſſen. Ya, Diefe Thatfache bleibt der eigentliche Kern» und
puntt feiner eriöjenden Thätigkeit, und macht erft Das Werk des
zu einem Heilswerl. Streicht diefes blutige Faltum aus dem
des Herrn weg, und Jeſus Chriftus ift uns nicht mehr, was
Bet. Es bleibt uns dann in Seiner Perfon nur noch ein Ges
s und Sittenlehrer. Gebieter aber hatten wir an Mofe und
wopheten fchon genug. Was wir bedurften, war ein Mittler,
an koͤnntet ihr einwenden, daß der Herr Damals den Jüngern
Leib als einen für fie Dahingegebenen und gebrochenen, und
ds fchon als einen auferftandenen und verflärten, zum
fe noch nicht habe darreichen Fünnen; und diefer Einwurf ift
n98 ebenſowol gegründet, als es mit Der Daraus hergeleiteten
mg feine Nichtigkeit hat, daß die Yünger in jener Nacht den
n Segen des Abendmahls noch nicht empfangen haben. Bers
3 fie doch damals noch nicht einmal den Zwed und die Bes
ıng des Opfers, auf das die heil. Communion fie hinwies;
t doch ihr ganzes Verhalten während der Paffton ihres Meifters
glich Zeuge, dab ſich ihnen von den Kräften des Saframents
ft wenig mitgetheilt hatte. Ferne fei e8 von mir, zu leugnen,
gend ein theilweifer und eingewidelter Segen des Saframents
ängern auch fchon damals zu Theil geworden fei. Im Grunde
mırde das Mahl in jener Abendflunde erſt für die Zukunft
7
98 .. Der Borkef.
geftiftet, und gelangte per Ausübung feiner garigen Heilswitkung nich T
eher, als bis der Leib des Herrn thatfächlich dabingegeben und fein
Blut wirklich vergoſſen wur. Erweiſt ſich doch auch. jebt noch dem
Segen der Communion als ein reicherer oder geringerer, je nad) bemam
dieſelbe wit mehr oder weniger Empfänglichkeit und Grleuchtung ge⸗
feiert wird. Die Römifchen, welche lehren, dus Brod werde im Abend
mahl der wirkliche Leib Chriſti, weßhalb fie auch die Hoftie geradezaz
„Gott“ zu nennen fein Bedenken tragen, können der ungeheuerlidiern
Folgerung aus ihrer eigenen Lehre ſich kaum entziehen, daß nun im
erften Abendmahle ein doppelter Chriftus habe gegenwärtig fein
müffen, und zwar ein todter, nämlich der im Brode neu erfchaffene
und ein lebendiger, der Spender des Brodes ſelbſt. Ein folche
Schluß drängt ſich ihnen mit Nothwendigfeit auf; und den noch be
harten fie, großentheils wider befferes Wiffen und Gewiſſen, bei
ihrem Wahn. —
„Solches thut!“ Vernehmet hier die Stiftungsformel. &
ift ein majeftätifches, Tönigliches Wort. Gebot iſt's, Weiſſagung md
Verheißung zugleich. Wer hätte denken follen, daß es in jener ſtillen
abendlichen Abfchiedsftunde, in dem Heinen, unjcheinbaren und ringeum
von Widerſachern bedrohten Kreife zu Jerufalem, um eine Gründung
für Jahrtaufende fih Handle?! “Der Herr der Herrlichkeit aber war
fich feiner Sache gewiß. In göttlicher Vollmacht fprach er fein „Sols
bes thut”; und ihr wißt, fein Wort bat fich durch Gebirge von
Hemmmnifjen und Widerftänden fiegreich hindurch geichlagen. Und wie die
Sriedenstafel, die er bereitete, bis zur Stunde millionenfach auf Erden
fteht, jo wird man fie ftehen fehen biß an das Ende der Tage. —
Dem „Solches thut“ folgt nun das „zu meinem Gedächtniß“.
Merkt wohl; der Herr fagt nicht: Thuts in Erinnerung an mid,
fonden „zu” (das Wörtlein bezeichnet den Bielpunft, mıf den das
Eſſen und Trinken berechnet ift,) „meinem Gedaͤchtniß“. Allerdings
enthält diefer Ausdrud eine Aufforderung; aber zugleich wieder eine
Zufage, eine Berheißung. Er ift nicht Bitte blos des fcheidenden
Freundes: „Gedenket mein”; fondern ebenfowol Eönigliches Verſpre⸗
hen: „Ihr werdet am mich gedenken“; d. h.: „ich werde Sorge tra
gen durch die Gnade, die ich euch erweifen werde, daß ihr meiner
nicht vergeſſen follt”. Es hat ſich Damit, wie wenn ein weltlicher Macht
baber feiner Günſtlinge einen mit einen Fürſtenthum belehnte, md
zu ihm fpräche: „Herrſche du hinfort darüber, und genieße biefes Lam
I
Die Einfegmghworte. 9
des Brühte zu meinem Gedaͤchtniß“. Chriſtus ſetzt in dem heil,
Abendmahle Rh ſelbſt ein Monument, dauernder als Erz und Mars
mor. Bo Er „das Gedächtnig Seiner Wunder” ftiftet, da will Er
‚a und kommen und uns ſegnen“; und diefer Sein Segen foll das
Andenken an Ihn frifch und lebendig in uns erhalten,
2.
„Deffelbigen gleihen“, fährt unfere Berichterftattung fort,
„nahm er auch den Kelch“. Er nahm ihn, dankte und ſegnete,
wie beim Brod, und reichte ihn feinen fänmtlichen Gäften, daraus
za trinfen. Unter beiderlei Geftalt bekamen das Abendmahl Alle;
und als eine unverantwörtliche Willkür erfcheint es, Daß Rom deu
Kelch allein den Dienern der Kirche vorbehalten wiffen will. Spricht
der, Herr doch ausdrüdiih: „Trinket Alle daraus“. In der neu⸗
teftamentlichen Kirche befteht Fein Unterichied mehr des Nähers
oder Zernergeftelltfeins zum Herrn zwifchen fogenannten Geiſt⸗
lichen und Laien; und Alle, die wieder darüber aus find, irgend eine
Art Mittlerthum des Paftorenftandes aufzurichten, verleugnen Damit
nicht allein den Proteftantismus, fonden das Evangelium
felbſt. — Rach Matthäus und Marcus fpricht der Herr nun weiter:
„Das ift mein Blut, Das des neuen Teſtaments“. Nah
Lucas ımd Baulus ſpricht er: „Diefer Kelch ift Das neue Zeftas
ment in meinem Blut”. Der Wein alfo bezeichnet und repräfen-
tirt das Blut des Herrn. „Im Blute ift Das Leben.” Dur
feines Blutes Dergießung erfüllte Ehriftus verwirkflichend das prophes
tifch vorbüldende Schattenwerk der altteftamentlichen Opfer, und ftiftete
dadurch, der göttlichen Gerechtigkeit genugthuend, den neuen Bund,
in welchem ſich Gott als verjöhnter Vater und entbeut, und wir als
freie Kinder vor Ihm leben, und in Kraft der Liebe Ihm ums zu
Dienft ergeben. Alles, was in diefem neuen Bunde uns zu The
wird: Vergebung, Rechtfertigung, Kindesrecht und ewiges Leben, macht
das unvergleichliche Erbtheil aus, das der Mittler fterbend uns hinter
ließ. So ift der griechifche Ausdruck „Diatheke“, welchen Luther
Teſtament überfegt, überaus finnig gewählt, weil er Beides, fowol
Bund als Bermächtniß bedeutet. Wenn es nun heißt: „Das ifl
mein Blut, das des neuen Teſtaments“, fo ift das erftere „das“ wies
der ebenfo zu verftehn, wie beim Brode. Der Herr will naͤmlich fagen:
„Das, was ich hiemit euch gebe, ift mein Blut“. Wenn der Here
aber fpricht: „Diefer Kelch”, ftatt: „Diefer Wein ift das neue Zeflas
7*
100 Der Borhef.
ment”, fo verfteht er. natürlich unter dem Kelche des Kelches Inhalt,
den Trank. Der Herr fährt fort: „Welches vergoffen wird für
Biele zur Bergebung der Sünden“, ımd macht hier das Haupts
gut des neuen Zeitamentes namhaft. Es ift die göttliche Abſolu⸗
tion, der Erlaß aller Miffetbaten. Die Worte „für Viele“
ftatt „für Alle” bedürfen feiner Erklärung. Es ift ja feider! wahr,
daß nicht Alle die Krafts und Heilswirkung des Blutes an ſich erfah-
ren. Das Blut reichte feinem Vermögen nah hin, die ganze
Menfchheit zu reinigen und zu verföhnen; aber nur Wenige laflen
die Wirkung deffelben an fi) Eommen. Der Zufab des Herm kei
Paulus: „Solches thut, To oft ihr's trinket, zumeinem Ges
dächtniß“, hat ſchon in dem früher von uns Bemerlten feine Deus
tung gefunden. In dem „ſo oft‘ Tiegt wieder die göttliche Beſtin⸗
mung ausgefprochen, daß das heilige Abendmahl fortdauernd in der
Gemeine Ehrifti auf Erden gefeiert werden ſolle. — Es gebeut diefe
fortgefeßte Feier; aber zugleih verbürgt und trägt es fie.
Eo viel denn zur nächften, ich möchte fagen, grammatifchen Er
Märung der Einjegungsworte. Des Abendmahls Bedeutung md
Zwed ſchimmern uns hoͤchſtens nur erft jchwebend und dämmernd
aus diefer Wortentzüfferung entgegen. Unſre nächtten Betrachtungen fol
len, geliebt's Gott, diefelbe uns vollitändig in's Klare ftellen. Wer wird
aber überhaupt das große Geheimniß faſſen? Nur der Heile-, Els⸗
fungs- und BVerföhnungsbedürftige. Gehet darum mittlerweile in ener
Herz, befchanet euch im Spiegel des Geſetzes, und prüfet euer imeres
und Außeres Leben ftill vor Gott. Ind kommt ihr dann als arme,
zerfhlagene und guadenhungrige Sünder wieder, jo werdet ihr Dinge
verfündigen hören, die auch euch den Husruf des 87. Pfalms: „Herr⸗
liche Dinge werden in dir geprediget, du Stadt Gottes!” auf bie
Lippe drängen, und im Blick auf das heilige Mahl euch) zu dem Be
lenntniß nöthigen werden:
Hier ift der Herr zugegen,
Hier if des Himmels Pfort'!
Es iſt mit Gnad' und Segen
Der Heir an dieſem Ort.
Hier finden ganz gewiß
Die wahren Glanbensſtreiter
Die Himmeld-Thär und Leiter,
Trotz Satans Hinderniß. — Amen.
ut
Die Abendmapislchren. 101
X.
Die Abendmahlslehren.
So weit unſer Blick in die Kirche Chriſti zuruͤckreicht, begegnet
uns das unfcheinbare aber bedeutungsvolle Denkmal, das wir „den
Tiſch des Herrn’ nennen, und erinnert an das Wort Jehovas
2 Mof. 20, 24: „Wo ih das Gedächtniß meines Namens
fiften werde, da will ich zu dir fommen, und dich ſegnen.“
As keine Gotteshäuſer noch fich wölbten, um diefes heilige Monu-
ment in ihre feierlichen Räume aufzunehmen, ſtand's prunklos in den
Hütten und Kämmerlein der Gläubigen, und ftille Bruderfreife, in
Friede und Freude geeint, und den Preis des Lammes im bewegten
Herzen, reibten fich um daffelbe ber. Und als auch dort die Hand
des Feindes die geheimnißvolle Tafel umgeftürzt, fehen wir fle in eins
fame Wälder ımd entlegene Wüſten hinausgeflüchtet; und ein nackter
Fels, ein bemoofter Baumftamm wird mit dem weißen Tuche über-
breitet, und beut, wenn auch auf irdener Schüffel und in höfzernem
Kelche, den FZeiernden himmlifches Manna und Trank des ewigen Le
bens. Und mur zu wahr iſt's, was ein Alter fagte: „So lange die
Abendmahlsgefäße hoͤlzern waren, war die Kirche golden, und als
jene golden wurden, ward dieſe hölzern.“ Doch wie dem auch
fei, feine Macht der Verfolgung, feine antichriftifch -vandalifche Zer⸗
Hörungsmwuth, fein Siroccofturm falſcher, Chriſti Blut verhöhnender
Lehre vermochte jenen Zifch aus der Welt zu bannen. Als ein laut
redendes Zeugniß von dem Kreuze Jeſu Ehrifti und dem auf dafjelbe
gegründeten göttlichen Gnadenthrone hat der heilige Tifch „Angefichts
der Feinde“, wie es gemweiffagt ward, jederzeit auf Erden Dageftanden;
und, ob in feiner urfprüngfichen, fchlichten Geftalt, oder ob in fremd⸗
artigen Pomp und Prunf verhüllt, fteht er, wo irgend ein Chriſten⸗
haͤuflein fi findet, bis diefe Stunde aufrecht, und wird bis an das
Ende der Tage. von der Erde nicht mehr verfchwinden. — Greift ſich's
nicht mit Händen, daß ein allmächtiger Schub über dieſem Tifche wal⸗
ten müfle; ja, daß er unter den befchirmenden Flügeln des Iebendigen
Gottes geborgen ruhe? Mit einem einfachen Worte, mit dem Worte:
„Sp oft ihr folches hut“, verbürgte der Hett aller Herren feinem
102 Der Borhol.
Liebesmahle die ewige Dauer. Wie deutlich legt ſich's bier ſchon zu
Tage, daß man von dem Werth und der Bedeutung diefes Mah—⸗
les gewiß nicht hoch genug werde halten können! —
Welches ift denn feine Bedeutung? Diefe Frage wird in unfern
nächſten Betrachtungen uns befchäftigen. Helfe der Herr, daß wir die
rechte Antwort finden! Doc, wir werden fle finden; dem Sein
Wort ift „unfres Fußes Leuchte”. —
1 Corinther 10, 16—21.
Der KAb der Seguung, welchen wir feguen, iR er nicht eine Gemeinfchaft des
Blutes Chriſti? Das Drod, welches wir bredien, it es nicht eine Gemeinfhaft bed
Leibes Chriſti? Denn Ein Brod ift es, fo find wir Biele Ein Leib; bieweil wir ale
bes Einen Brodes theilhaftig find. Sehet an den Iſrael nach dem gleich welche die
Opfer eſſen, ſind die nicht in der Gemeinſchaſt des Altars? Was will ich denn um
fagen? Will ich fagen, daß der Goͤtze etwas feit Oder daß dad Götenopfer eines
ſei? Aber ich Tage, dab Die Heiden, was fie opfern, daB opfern fie den Zeufeln, und
nit Gott. Run will ich nicht, daß ihr in der Tenfel Gemeinichaft fein folit. I
Kunt nicht zugleich trinken des Herrn Kelch, und der Teufel Kelch; ihre könnt nich
zugleich theilbaftig fein des Herrn Tifches, und der Teufel Tiſches.
So fehn wir und denn heute bei der großen Frage angelangt, waß
nad) der Xehre der heil. Schrift vom Zweck und von der Bedeutung
des heiligen Abendmahls zu halten fei. Fanden wir je Urſache, den
Herm mit der flchentlichen Bitte anzugehn, daß er uns in alle Wahr⸗
heit leiten wolle, dann bei der Erwägung, zu der wir gegemvärtig
fpreiten. In dem verlefenen Terte haben wir, geftattet den Ausdrud,
die Haffifche Stelle für die befagte Lehre vor und, Er bringt und
Worte jened Apoftels, der, wie er feierlich bezeugt, feine Anfchanms
gen von dem Saframent des Brods und Weins einer unmittelbaren
Offenbarung feines erhöhten Herrn und Meifters zu verdanken hatte,
Es ift diefen Worten fomit ein entfcheidendes Anfehen beizumeſſen.
Auffallend freilich könnte es erfcheinen, Daß Die Bekenner der entgegen»
geſetzteſten Lehrbegriffe von jener erhabenen Bundesitiftung fänmts
lich, ein jeder zu Gunſten feiner Sonderanſicht, auf dieſe Stelle fi
berufen. Aber dies verfchuldet die Stelle nicht, welche nicht Ya und
Nein, fondern unzweideutig und entfchieden Ya tft, und die, wie wir
im Fortgange unferer Betrachtung und überzeugen werden,‘ einer ges
funden, Iautern und unverfünftelten Auslegung einen einzigen Stmt
nur Darbeut, — Freilich geht des Apoftels nächfte Abſicht an unſerm
Die Abendmahltlehren. 108
Orte nicht chen dahin, Aber das h. Abendmahl und defien Beſtinmung
was Unterweifung zu ertheilen. Vielmehr gedenkt er des Abendmahls
hier nur beilaͤufig, und zwar zu dem Behufe, eine andere Wahrheit
durch daſſelbe und zu veranſchaulichen und zu erläutern. Nichttheſto⸗
weniger iſt fein Ausſpruch auch für jenes von hoͤchſtem Belange; uud
Dies ſowohl dadurch, Daß er den irrthümlichen Lehrbegriffen,
die ſich im Lauf der Zeit dem Sakramente angehängt, : ihre Bloͤßen
aufdet; als auch dadurch, daß er zum richtigen derftändniß
are uns einen hoͤchſt wefentlichen Beitrag liefert.
Wir betrachten: für heute die Paulinifchen Worte mır aus dem. a—⸗
Seren Geſichtspuntt, und beleuchten mit der Fackel, die fle hiezu in
Die Hand uns legen, zuerft die römifche, fodann die zwingliſche
amd. endlich Die lutheriſche Abendmahlslehre. Der Herr aber
fei uns nahe und fchenfe uns Kindeseinfalt ünd unbedingte Un⸗
terwürfigkeit unter fein Wort zum Geleitel
1.
Die Behre Roms trete zuerft vor die Schranken unferes . Terms.
Sie flüdet hier ihre vollfländigfte Widerlegung. Was die Römifchen
aus dem heiligen Abendmahl zu machen fich vermefien haben, ift euch
bekannt. Sie haben weder angefehen den unzweideufigen Ausſpruch
Hebraͤer 10, 14: „Mit Einem Opfer hat Chriſtus in Ewigkeit
vollendet, die x geheiliget werden“, noch den demſelben unmittel⸗
bar vorhergehenden, in welchem es heißt: die Prieſter des Tempels
hätten oftmals einerlei Opfer dargebracht, weil ihre Opfer nicht im
Stande gewefen feien, die Sünden wegzunehmen; Ehriftus. hingegen,
da er Ein Opfer (das wirklich verfühnende) dargebracht habe auf
immer, cd. t. als für die Ewigfeit geltend,) ſitze hinfort zur Rech
ten. Gottes (d. i. ruhe von aller Opferarbeit), weil ed einer ſolchen
nun nicht mehr bedürfe. Diefen entfcheidenden Zeugniſſen zum Trotz
Iehren die Rönifchen, daß jenes einmalige. Opfer Jeſu Ehrifti zur Ret⸗
tung der Sünder. mit Nichten ſtrecke, wofern es wicht in unblutiger
Weite immer. wieder erneuert werde; und fo fehen wir water ihren
Händen das h. Abendmahl zu einer neuen Opferceremonie. verzert,
md den einigen vollfommenen Hohenpriefter im himmliſchen Heilig⸗
thum in eine menfehliche Priefterkafte auf Erden fo zu fagen aufs
geloͤſt. Brod und Wein werden nach römifchem Dogma durch prie⸗
ſterliche Eonfecration in den wahren Leib und das fuhftantielle Blut’
des Herm verwandelt, und duͤrfen nach Geftalt,. Geruch umb Ges
104 Der Verheſ
ſchmack nicht mehr beuriheilt werden, fondern haben, ob ihmen gleich
Die zufälligen Eigenfchaften des Brods und Weins geblichen find
nichtödeftoweniger aufgehört, Bein und Brod zu fein, tuden fie nach
Subftanz und Weſen wirklih Zleifh und Blut Jeſu Chriſti gewer
den find, welches der Prieſter aufs neue zur Berfühnung Gottes opfert.
Es muß zugeftanden werden, daß dieſe Lehrbildung auf Hebmig des
Anfchens der Kirche und ihred Elerus gar wohl berechnet war. Man
denfe nur: welch' eine Kirche, in deren Schooße fortwährend ei fo
wnerhörtes Wunder ſich ereignet, wie jene Wandlung; uud weldy eine
Prieiterfchaft, die über Kelch und Putene wur ihren Segensfprud zu
murmeln braucht, um daflelbe Object bervorzubringen, welches ef
fchöpferifch der „heil. Geiſt“ und die „Kraft des Höchften* im Schose
Maria's in's Dafein rief. — „Aber die Glieder der Kirche ‚glauben
Das?“ fragt ihr befremdet. D Freunde, es. glaubt der Menſch fchen
leicht, was ihm zum Pflafter auf die Wunden feines Gewiffens dienen
fann. Und glauben auch Taufende der römifchen Ehriften das Ver⸗
wandlungswunder im inmerften Grunde ihres Herzens nicht, fo bin
dert das nicht, Daß fie dennoch durch die das vorgeblide Wunder
begleitende, finnlich beraufchende, und dem Herzen eine momentane
Beſchwichtigung gewährende Feier zauberiſch angezogen und gefeffelt
werden. Sch füge: „zauberijch”. Unſre heutige Zerteöftelle gedenft
unheimficher Kräfte und Cinflüffe, denen fie anderwärts, als in de
Welt der Sterblichen, ihren Quells und Ausgangspunkt auweifl. A
der That wird man vwerfucht, dieſe Potenzen zu Hälfe zu nehmen, um
fih das Räthſel zu deuten, wie Angefichtö der heiligen Schrift ein
vorgebliches Mirafel, wie das der fogenanntn Zransfubftantiatien,
bei einem großen Theile der Ehriftenheit fich Jahrhunderte hindurch
Das Anfehn einer wirklichen Thatſache wahren konnte. Wir wider
fireben diefer Verſuchung; Doch räumen wir ein: wenn man von
irgend Etwas fagen möchte, Daß es mit natürlichen Dingen nicht zu
gehe, Dunn in der That von diefem unerbörten Umſtand.
Freilich will Rom davon nicht wiffen, daß es in feinem Meßopfer⸗
dogma einem Wahne buldige. Vielmehr beruft fid’S zu Gauſten
feiner Lehre ebenfowol, wie wir zu Gunften der ımjrigen, auf die heil.
Schrift, und ſogar namentlih, — man denfe nur! — auf unfere
Zeztesitelle, als ob diejelbe nicht die mächtigſte Klippe wäre, an
der feine ganze Satzung jcheitern muß. Denn fürs erfte iſt in. ihr,
wie überall, von einer Berwandlung der Rachtmablöelemente mit
Die Abendmahlflehren. 105
feimer :einzigen Eylbe die Rede. Das Brod ‚heißt auch nach geſproche⸗
wer Dankſagung und Segnung nicht „Fleiſch“ oder „Leib“, ſondern
„Brod“, wie zuvor. Sodann gedenft der Apoftel allerdings einer
„Segnung“, namentlich des Kelchs; aber keiner priefterlichen im pon⸗
tificalen Siune. Er ſpricht: „der. Segenskelch, den wir ſegnen“, und
bat. bei diefem „wir“, wie am Tage liegt, nicht ausfchließfich die
Apoſtel, fondern alle gläubigen Eommunicanten im Auge; und
will nicht etwa fagen: -„der Kelch, den erft wir confecriren und
weihen“, fondern: „Den wir als einen geweihten heiligen, vom ges
wößnlicdyen Gebrauche fondern, und mit Zobpreifung zu Gott erheben.“
Und viel weniger noch, als an ein fpezififch priefterliches Segnen des
Brods und Weins, wopon uns in der apoftolifchen ‚Kirche auch nicht
die leitefte Spur mehr begegnet, denkt der Apoftel bei feinen Worten
am ein Segnen mit magijcher oder zauberifcher. Wirkung; ein
Begriff, der vollends dem Evangelium gänzlich fremd ift, und viels
mehr dem Heidentbume angehört. — Endlich, und dies ift.vor Allen
zu beachten, wird im 18ten Verſe unfre® Zextes das Abendmahl und
deſſen Feier nicht mit dem im Tempel Dargebrachten Opfer und deffen
Schlahtung felbit, fondern vielmehr mit dem dem Opferafte folgenden
ifraelitifhen Opfermahle vergleichend zuſammengeſtellt. Wie aber
dieſe Opfermahlzeit nur zu einer Gedächtnißfeier des dargebrachten
Dpfers, und nicht felbit wieder zu einer neuen Opferung verordnet
war, fo fpricht auch der Herr bei feinem heiligen Zifche nicht etwa:
„Gebet, opfert, bringet dar”, fondern „nehmet, effet, trinket,
was ich für euch geben und vergießen werde." Das ifraelitifche Opfer:
Isahl follte nur die nothwendige Aneignung der Frucht und Wir⸗
fung des dargebrachten Opfers veranfchaulichen und vermitteln, und
nicht eine neue Opfergabe fein. Wie kann alfo Rom e8 wagen, zu
Gunſten feiner Meßopferfagung auf dieſe unfre Zertesftelle fich zu bes
rufen? Rom vergreift darin fich fchwer, und febt feine Lehre, ſtatt,
wie es vermeint, auf einen Felſen, auf eine Mine, die ſie in einer
Gxplofion in die Lüfte ſprengt.
Den ſtaͤrkſten Gegenſatz zum eönifen Abendmahlsdogma bildet Das
reformirte, und zwar der zwinglifchen (nicht der caloinifchen)
Formulirung. In dem zwinglifchen Lehrbegriffe ift allerdings die finn-
bildlich erinnernde und veranſchaulichende Bedeutung des
Abendmahls wenigfiens die vorhertſchende. Es wird hier in den
106 Der Borhef.
Einfegungsworten des Herrn vor Allem das „Solches thut zu mei⸗
nem Gedächtniß“ ſtark befont; und allerdings müßte derfenige ge
waltſam Ohr und Auge fchließen, der es vertenuen wollte, Daß das
Abendmahl nad) der Beſtimmung des Herm auch als Gedaͤchtnißfeier
aufzufaſſen ſei. ine verkörperte Predigt iſte von dem, was bie
Hauptfache im Evangelium bleibt; eine Aufforderung au die Verſöhn⸗
ten, „den Tod des Herrn zu verlündigen, bis daß er kLommt.“ Unzwei⸗
felhaft erfcheint fchon, auch nur nach Diefer Seite hin erſt angeiche,
Das Abendmahl als ein theuerwerthes Vermächtniß des Herm. Es
erfrifcht in uns das Bewußtſein, daß wir mit Chriſti Bliut von allen
Sünden rein gewafchen find. Da der Herr Anders nichts im. Abend
mahl abbildend dargeftellt, als dies, fo befeſtigts ums aufs neue in
der Ueberzeugung, daß die vollendete Berföhnung durch fein am Krenze
dargebrachtes Opfer den eigentlichen Kern: und Mittelpunkt des gu
zen Ehriftenthumes bilde. Es läutet uns immer wieder ein Öffentliches,
olaubenftärfendes Dauk⸗ und Yubelfeft ob folcher großen Gnade ein,
und bringt e8 und zu emeuerter Anfchauung und Empfindung, dab
wir Alle, die wir glauben, einem großen Bruders und Familtenbumde
in Ehrifto angehören, ja, binfort Alle nur Einer find in Chriſte.
Aber wie ſchon das Wort des Herm: „Mich hat herzlich verlangt, dies
Dfterlanm mit euch zu efien“, es außer Zweifel ftellt, es müſſe das
Abendmahl doch mehr noch in fich halten, als ein veranfchauftchen
des Bild und eine bloße Erinnerungsceremonie; wie ſodam
in Diefer Anficht die hohe Zeierlichkeit des Einfekimgsaftes, und na
mentlich das öfter wiederkehrende Wörtlein „ift” uns nur beftärtt;
wie ferner der gewaltige Ernft, womit Paulus vom unwürdigen Ge
nuß des Mahles abmahnt, unfre Borftellung von der Bedeutung des
letzteren nothwendig aufs höchſte fleigern muß: fo kann die zwings
liſche Lehre in ihrer Einjeitigkeit vollends vor unferm heutigen
Texte nicht einen Augenblick beſtehn. An diefer unfrer Stelle heißt
es nicht: „Das Brod, oder der Kelch der Dankfagung ift ein Ge;
dächtnißzeichen“; fondern: „it eine Gemeinfchaft des Leibes ımd
Blutes Chriſti.“ Hier wird gefagt: „Wie das Opfermahl den Iſrael
nad) dem Fleiſch in die Gemeinfchaft des Altars, wie das Göhenopfer
den Heiden in die Gemeinfchaft der Teufel verjege, fo bringe dab
Abendmahl den gläubig Genießenden in die Gemeinſchaft Ehrifti.“
Offenbar erfchließt fich hier aljo ein ungleich tieferer Sinn der body
heiligen Stiftung; ein Sinn, nach welchen bei ber Ruchtmahlsfeier
Die Uendmahltlehren. 107
wicht der Menſch bios ſich thaͤtig erweiſt, indem er fih erinnert,
dankt und Gottes Gnade preifet; fondern zugleich eine gött-
liche Thaͤtigkeit von Oben vn um entgegenkommt.
„Ja wohl”, ruft der Lutheraner; „ihr Reformirten faßtet die Sache
zu ſeicht, zu verſtändig, zu rationaliſtiſch. Zwiſchen eurer glaubens⸗
armen und der aberglaͤubiſchen Lehre Roms Tiegt die Wahrheit in
der Mitte.” — „Und“, fragen wir, „Ddiefe Wahrheit wäre?" — „Brod
und Bein“, lehrt Die Iutherifche Kirche, „bleiben ihrer Natur nach, was
fie find, und werden nicht verwandelt. Nachdem aber dieſe Elemente
tut Abendmahl durch den verordneten Diener der Kirche gefegnet wors
den, empfängt jeder. Communicant, der gottlofe, wie der fromme,
in, mit und unter dem Brode und dem Bein, aus Kraft des mit
dem Salramente gehenden Gottesworts, den wirklichen, jet verflär-
ten Leib, und Das wirkliche, nımmehr verflärte Blut des zur Rech
ten des Vaters im Himmel erhöhten, aber au leiblich noch auf
Erden gegenwärtigen Chriſtus; und mit dem Teiblihen Wunde em⸗
pfängt er's, nur, daß es der Ungläubige zu feiner VBerdammniß,
der Gläubige hingegen zn Heil und Segen empfängt.”
Dies die Intherifche Lehre. Ob, und in wiefern dieſelbe in der
Schrift gegründet fei, werden wir fpäter ſehn; geftehen ihr jedoch von
vorn herein ſchon unmeigerlic den Vorzug der größeren Tiefe ımd des
reicheren Inhalts vor der zwingfifchereformirten zu. Nichtsdeſtoweniger
aber vermögen wir auch das Iutherifhe Dogma von allen Spuren
menſchlicher Schwachheit und Kurzfichtigkeit nicht freisufprechen. Die
Bloͤßen deffelben dürften namentlich in Folgenden zu fuchen fein. Zus
vör derſt laͤßt es dem göttlichen Einfeungswort: „Solches thut
zu meinem Gedächtniß“, zu wenig Ehre widerfahren, während die
zwinglifhe LZehre, die den ganzen Schwerpunkt des Saframents in
daſſelbe fallen Täßt, dem Worte, wenn id) fo fagen mag, der Ehre zu
viel erweift, Die Bedeutung der Nachtmahlsfeier Tediglich in der
jenigen eines feterlichen Gedächtniß-Aftes aufgehn zu laſſen, iſt ein
Mißgriff; aber mit diefem Namen muß nicht minder au Das Ver⸗
fahren bezeichnet werden, in welchem man fich zu jener Bedeutung
ausſchließend ſtatt einfchließend verhält. — Zweitens überfieht
Das lutheriſche Dogma, daß das griechifche Wort „koinonia« im 16ten
Berfe unſres Textes nicht blos eine Gemeinſchaft mit, ſondern
mich eine: Betheiligung an eimem Gegenſtande bezeichnet; wie denn
108 Der Borhef.
3; 3. Paulus 2 Corintber 8, A die Gemeinden in Maredowien wegen
ihrer „koinonia«, d. i, ihrer Theilnabme an der Sammlung ber
Liebesſteuer für die Heiligen lobt und rübmt. Ya, es erhellt aus
Rom. 15, 26, daß daß Wort „koinoniae auch eine Mittheilung
bedeutet; denn Paulus jchreibt an der beiagten Stelle: „Deuen in
Macedonien und Adhaja but e8 gefallen, eine „koinonie®, (d. i.
Epende oder Steuer) zu machen für Die Armen; und fomit darf der
Ueberiegung des 16ten Deries unſres Zegtes in ein „der Segensldd
und das gebrocene Brod tbeilen mit dus bergofiene Blut und den
gebrochenen Leib des Herm;” oder: „Sie vermitteln eine
fie gewäbren einen Antbeil an denjelben, d. 5. au deren Früchten,”
wenn fie auch nicht Die allein zulaͤſſige üt, Doch keinesweges alle Be
recbtigung neben derjenigen abgeſprochen werden, die bier eine dur
das Saframent vermittelte Einigung des Gommmunicanten weit dem
verflärten Leib und Blute Ebrijti verbeißen finde. — Drittens
läßt das lutheriſche Dogma unenrogen, daß, wo die Schrift ſchlecht⸗
hin vom Leibe und vom Blute Cbrifti redet, fie itets feinen für m
gefreuzigten Leib, und fein für die Eunden der Belt vergoffenes
Blut darunter veritebt, und eines verflärten Blutes Chriſti foger
nirgends gedenft; und Daß fie, wo fie von jenem himmliſchen
Leibe redet, Dies ausdrüdlich, wie Phi. 3, 21, durch ein hinzugefügtes
Bei⸗ und Beſtimmungswort zu erfenmen gibt. Freilich will ich Feines
wegs biemit jagen, dab un Suframente für den Gedunfen an eine Ber
einigung mit Der verflärten Leiblichleit Ebrüti Fein Raum verbleibe;
ſondern will mır Die allzugroße Zuverficht rügen, womit bebauptet wird,
daß bei dem „Leib“ und „Blut“ im Abendmahle nur an Ghrifi
bimmliſchen Leib und an jein verflärtes Alut zu denken ſei. —
Viertens verfibern Die Iurberiichen Dogmatiker vielfach all zu dreifl,
Ehrifti Leib und Put würden im Abendmahle mit dem leiblichen
Munde genejien, da doch Feine Stelle der Schrift dies ausdrücklich
lehrt, ja vielmehr der Herr Die Kapernaiten, die feine Rede vom
Eſſen und Trinken jeined Fleiſches und Blutes buchitäblich und finnlich
verſtehn wollten, aufs ernſtlichſte mit Den bedeutſamen Worten zuräds
weit: „Der Geiſt iſts, der da Ichendig madt; Das Fleiſch ift fein
nüge. Die Worte, Die ich zu euch rede, Die find Geiſt ımd find Le
ben.” — Endlidy fünftens muß die Anſchauung lutberiicher Kirchen
lehrer, nad) welcher auch die ungläubigen Abendmahlsgenoſſen Chriſti
wahren Leib und wahres Blut, freilich nur zu ihrer Berdammuiß,
Die Abendmahltlehren. 109
wpfangen umd genießen, für völlig unbegründet erachtet werben; - Sie
üben zwar ihre Behauptung auf 1 Gorinth. 11, 29, wo der Anoftel
varnend fpricht: „Welcher unwürdig iffet und trinket, der iſſet und
rinket ihm felber das Gericht, damit, daß er nicht unterfcheidet
ven Leib des Herrn,“ Mit diefer Stelle aber hat fich’e, wie folgt.
Ya der Gorinthifchen Gemeine war die Unfitte aufgefommen, die Lie
besmahle, mit denen die Feier des Saframents verbunden zu werden
legte, zu gewöhnlichen finnlichen Gelagen herabzuwurdigen. Nicht
venigen dortigen Chriſten drohte die Gefahr einer allmaͤhligen
Berdunklung, ja gänzlichen Verwiſchung des Bewußtſeins von dem
Unterfchiede der Mahle der Welt und dem Herrnmahle Diele
Berirrten warnt nım der Apoftel mit großem Nachdrud, indem er fol
Nichtimterfcheiden der fahramentalifchen Speife von der alltäglichen als
inen Frevel bezeichnet, der der göttlichen Strafe nicht entgehn werde.
Allerdings nennt er das, was im Abendmahl gegeffen und getrunfen
wird, den „Leib des Herrn’; jedod nur, weil daffelbe diefen Leib
repräfentirt, und die Gemeinfchaft mit ihm vermittelt. Weit entfernt
ft er aber, biemit etwa fagen zu wollen, es feien Brod und Wein
ma Sakrament ſchon an und für fich in abfoluter Weife für Jeden
xs Herrn Leib; oder gar: es werde auch der Ungläubige und Gott-
ofe, indem er das Brod und den Wein zu fi) nehme, wahrhaft und
vefentfich mit Chrifti Leib und Blut gefpeifet und getränft. Nichts
värde der ganzen Anfchauungsweife eines Paulns entjchiedener widers
treben, als ein folcher Gedanke, Wer mit Ehrifto gefpeifet und ges
raͤnket ift, der kann unſerm Apoftel nicht mehr verloren gehn, fondern
nuB in feinen Augen geborgen fein. Paulus hält fih an das Wort
eines Meilters: „Wer mein Zleifch iffet und trinfet mein
But, der hat das ewige Leben.” Diefes Wort leidet Feinerlei
Einfchränfung, fo wie der Herr es auch in unbedingter Form und
he angehängte Klaufel ausfpricht. Paulus rechnet alfo, wie gejagt,
| Eorinth. 11, 29, den corinthifchen Chriften nur das nicht unter
Geidende Bermifchen der Abendmahlselemente mit den gewöhns
ichen Rahrımasmitteln al8 das Verbrechen an, um deß willen fie nicht
mgerichtet bleiben würden; keinesweges aber kommt ihm der ımerhörte
Bedanfe in den Sinn, dem wirklich genoſſenen Ehriftusleibe in
rgend einem Falle eine verdammende und die Seele verderbende
Birfung zuzuſchreiben.
119 Der Vechel
Nachdem wir fo des Unhaltbaren Mandherlei von der Abendmahl
lehre abgewieien, und gewilte einjeitige Auffaffungen des Saframenis
anf ihren wahren Wertb qurudgefübrt haben, ift uns jeht zu einer
richtigen Daritellung des bibliihen Lebrbegriffs der erforderliche
Raum geſchafft; und ich verbeble nicht, daß ich meines Theil mit
großer Zuverficht, und meiner Sache freudig verfichert, zu dieſem erw
quicklichen Werke ichreite. Fuͤr heute jedoch laſſe ich den . unfter
gemeinfamen Betrachnung fallen, und Dies ſchon danım, weil ich end
Zeit und Ruhe gönnen möchte, Das bisber Geſagte nochmals zu pri
fen, und ed mit der beil. Schrift, dieſer unſrer in hoͤchſter Jam
ald was das feſte propbetiiche Wert uns fund thut; aber Das wollen
wir auch ganz und feit, und iprechen Darum zum Schluffe mit dem
alten Sänger:
Rebe, Herr, dein Diener böre,
Ohr uud Herz fei anfgethan!
Bas mi deine Stimme lehre,
Nimmt mein Geil mit Frenden an.
Gib mir deinen Willen ein;
Ich will gern dein Schüler fein.
Rühre mid in deiner Lehre,
Daß ich wie ein Jünger höre. — Yen.
— —
xI.
Das Abendmahl.
As einft unfer Herr bei einem Oberften der Pbarifier zu Gaſte
war, und unter Anderm feinem Birth über Tiſch die Lehre gab, wenn
er ein Mahl madye, fo folle er die Armen, Krüppel, Lahmen und Bi
den laden; dies werde ihm vergolten werden in der Auferftehumg ber
Gerechten: da rief der Säfte einer, in freudiger Aufwallung den Her
unterbrechend: „Selig iit, der das Brod iffet im Reihe Bots
tes! ® — So lefen wir Lucas 14, 15.
Dat Abendmahl. 111
Wie herrlich und bedentſam dieſer Ausruf an: und für ſich erſchei⸗
wen. mag, fo war er doch tm Munde jenes Juden mır der Wiederhall
einer jehr eiteln Erwartimg. Er dachte an die Feſtgenüſſe eines Meſ⸗
finBreiches, wie e8 die Propheten nicht verkündet hatten; und im Blick
auf dieſe erträumte Herrlichkeit brach er aus in fein entzüdtes „Selig!
felig!* Wie es aber öfter in der evangelifchen Geſchichte vortommt,
daß auch Jrrende, ja Feinde des Xichts, ohne es zu willen und zu
wollen, gleich Bileams Efelin, Weiſſagung umd tiefe Wahrhelt reden
mũſſen, alfo auch hier. Der Jude hat mit feinem Ausfpruche Recht.
Bir rufen ihm wit verftärktem Nachdrud nah: „Selig, wer das
Brod iffet im Reiche Gottes!“
Was ift Das aber für ein Brod, das in diefem Neiche gegeffen
wird? — Fragt die Kinder des Neichs, und fie werden’s euch fagen,
was täglich fie nähre, ftärke, erquide und labe, und ihrer unfterblichen
Seele Leben und Bedeihen gebe. Das Brod ift Chriſtus. „Ich
bin das Brod des Lebens,“ fpricht er felbft; „wer zu mir kommt, den
wird nicht hungern, und wer an mid glaubet, den wird nimmermehr
dürften.” Beides tft Er: Wirth und Brod; wie er auch zugleich der
Hirt ift und die grüne Au, der Weg und des Weges Ziel. Die
fe8 Brod will gegeffen, d. h. mit dem Munde des Glaubens aufs,
an⸗ und eingenommen, dem inwendigen Menfchen einverleibt, und in-
nerlich verarbeitet und in Saft umd Blut verwandelt fein. Gefchtehet
Dies, wie gerne läßt man dann denen da draußen die Träbern der
Belt! Unſer Gefchmad ift ein anderer worden. Wir haben an
jenem Brode genug, und fprechen freudig: „Selig, wer es iffet
im Reihe Gottes!“
.In mancherlei Weife wird diefes Brod ıms aufgetragen. In der
Schäffel des Worts zumächft: in der der Vorbilder und VBerbeis
Äungen des alten, fo wie in der der Gefchichten und Lehr⸗
ſprüche des neuen Zeftaments. Hier genießen wir das Himmelbrod
vermittelft gläubiger Betrachtung und aneignender Erwägung. Biel
füßer aber noch will e8 fchmeden, wenn wirs Teibhaftig finden auf
der Tafel unfres eignen Lebens und Innewerdens. Wenn Er uns per⸗
fönlich nahe tritt, und wir Seine Zußtritte in unfern Führungen umd
Geſchicken raufchen hören, und der Hauch Seines Mundes umfüchelt
unfre Stim, und Er felbit ſpricht Grüße des Friedens in unfre Seele,
und greift uns umter die Arme, wo wir ſchwanken, und richtet uns
wieder auf, wo wir flraucheln, ımd trocknet uns das Auge von Thrä-
112 Der Vorhoſ.
nen, wo wir weinen, und beitet uns traut an Seinem Mutterherzen:
wie rufen wir da erft mit himmlifchem GEntzüden: „Selig, ſelis,
wer das Brod iſſet im Reiche Gottes!“
Run aber gibt es eine Stelle auf Erden, da lann's, wie nir⸗
gend fonft, erfahren werden, daß es „jelig, felig“ fei, Dad Brod
"zu effen im Reiche Gottes. Sicher wird uns da das Wunderbrod
zu Theil, und wir empfangen’s ganz, wie Gott es zur Rahrumg ſei⸗
ner Kinder bereitet hat; und in einer neuen, eigenthümlichen
Weiſe werden wir feiner da theilhaftig. Diefe Stelle iſt der Tiſch
des Herm. Der Bedeutung diefer hochheiligen Bundestafel Inma⸗
nuels nachzufragen, ift der Zweck unfres heutigen kirchlichen Zuſam⸗
menſeins.
1 Estinther 10, 16—21. 11, 26.
Der Kelch der Segnung, welchen wir fegnen, ik er nicht eine Gemeinſchaſt bei
Bintes Chriſti? Das Brod, welches wir brechen, ik es nicht eine Gemeinſchaft bei
Leibes Chriſti? Denn Ein Brod if es, fo find wir Viele Ein Leib; dieweil wir «ße
des Einen Brodes theilbaftig find. Sehet an den Ifrael nach dem Fleiſch: welche Die
Opfer effen, find die nicht in der Gemeinfchaft des Alters? Was will ich ben um
fagen? Bill ih fagen, daß der Göße etwas fei? oder daß daS Göbenopfer etwai fit
Aber ih fage, Daß die Heiden, was fie opfern, das opfern Re den Tenfeln und nicht
Gott. Run will ich nicht, daß ibr in der Teufel Gemeinſchaft fein follt. Ihr Einuel
nicht zugleich trinlen des Herrn Kelch und der Teufel Kelch; ihr lönnet wicht zugleich
theilbaftig fein des Herrn Tiſches, und der Teufel Tiſches — — So oft ihr von
diefem Brod effet, und von diefem Kelch trinfet, ſollt ihr des Herrn Tod vertünbigen,
bis dad er fommt.
Aus unfern bisherigen Betrachtungen über das heilige Abendmahl
wird euch Mar geworden fein, Daß daffelbe mehr ald eine Seite habe,
und daß wir deßhalb darauf verzichten müffen, feine Befimmung
mit einem Worte auszufprechen. Stand's doch von vornherein zu
erwarten, daß, wenn der Herr der Herrlichkeit eine Stiftung der Liebe
binterlaffen wollte, dieſelbe von göttlichen Gebalt und hehrer Bedeu
tung überfließen würde. Und infofern bat der Streit der Schrift
gelehrten, der fih um dieſes erhabene Inſtitut entfponnen hat, auch
fein tröftlihes Moment, als er im Grunde nur von der Tiefe des
Reichthums in dem heiligen Saframente Zeugniß gibt.
Bird Alles, mas Gottes Wort über das heil. Abendmahl enthält,
forgfältig und vorurtheilsfrei von und erwogen, fo ergibt ſich, die Bes
Das Aendmahl. 118
ſtimmung des Abendmahls fei eine dreifache. Das heil. Abendmahl
erſcheint zuerſt als Gedächtniß-, dann ale Verſiegelungs— md
endlich ald Vereinigungs mahl.
Schauen wire aus diefem dreifachen Geftchtspunfte näher an; und
gebe uns der Herr das Geleite “if unferm Betrachtungswege!
Es gehört ein hoher Grad von Berblendung oder Eigenfinn dam
um zu verlennen, daß das heil. Abendmahl wenigſtens auch die Bes
ftimmumng habe, eine Gedächtnißfeier zu fein. Spricht doch der
Herr fowol bei Anordnung des Brodbrechens, als bei der Kelchſtif⸗
tung ausdrädlich: „Solches thut zu meinem Gedächtniß“. Und
wenn er 1 Corinth. 11, 26 erklärend hinzufügt: „Denn fo oft ihr von
diefem Brode effet und von dieſem Kelche trinfet, follt ihr des
Herrn Tod verfündigen, bis daß er kommt,“ fo ift damit ders
jenigen Deutung jener Worte, die ſich fofort beim erften Anblick ders
felben jedem ımbefangenen Lefer aufdrängt, und gemäß welcher die
Nachtmahlsſtiftung zumächtt als Denkmal, die Communion als hei
figes Erinnerungsfeft des Glaubens und der Liebe ſich barftellt,
das göttlich beftätigende Siegel aufgedruͤckt.
Das heil. Abendmahl iſt ein fortgehendes Zeugniß des Herrn;
ein Zeugnig in Zeichen, ftatt in Lauten, in Bildern, ftatt in Worten.
Er entrollt in demſelben vor dem Angeficht Seiner Kirche ein erhas
benes Gemalde, zunächſt dazu beſtimmt, das Bewußtſein von dei,
was den Mittelpunkt des ganzen Ehriftentfums bilde, und das Evans
geltum erft zum Evangelium mache, in ihr lebendig umd wach zu ers
halten. Seine Baffion malt Er ihr darin vor Augen. Die geheim
nißvollen Schauer des Kalvarienberges läßt er in bedeutfamen Sym⸗
bolen an ihr vorüberziehn. Er erfcheint in dem Bilde ald Das Lamm,
das der Welt Sünde trägt; als der Bürge, der zahlend für die
igen eintritt; als der Hohepriefter, der für die Uebertreter
fein Leben zum Löfegelde gibt; als der Mann der Schmerzen,
der ein Fluch wird an ihrer Statt, auf Daß Er fie vom Fluch erlöfe:
Das Kreuz wird auf der Höhe Zions aufgepflanzt, und zwar als der’
Grandpfeiler alles Heils, als das Wunderzeichen der Welterrettung,
als der Lebensbaum, defien Früchte zur Genefung der Völker dienen;
md Er, der einft an dieſem Marterholge die Sünde gefühnt, den Tod
getödtet hat, ift es felbit, der in Seinem Sakramente jenes Panier
afwirft und erhöht, — 8 |
114 Der Barhei.
Welch’ einen hohen Werth hat aber das Keil. Abendmahl ſchon in
dieſer Gigenfchaft einer authentifchen Urkunde des Herrn Ehrifti ſelbſt
über das durdy Ihn vollbrachte Verſohnmgswerk als über das un
wandelbare und überfihwenglich genügende Fundament unferer ewigen
Scigfeit! Lind welch' einen Segen ftiftet e8 infofern bereits, als es
mit der Autorität eines untrüglichen Zeugniffes der Welt die Exrhal
tung und ununterbrochene Verkündigung des weientlichften Lehr⸗Artilels
der evangelifchen Kirche ſichert. Es bat eine Zeit gegeben, da in wei⸗
ten Strecken der Chrütenheit das Dogma von der großen Frieden
fliftung im Blut Des Lammes in der öffentlichen Predigt fo gut wie
verfhollen war. Der Born des Siündertroftes wäre damals völlig
verjhüttet geweſen, hütte das heil. Abendmahl ihn nicht noch -
und in Fluß erhalten. Es gibt noch heute ganze Landeskirchen oder
doch einzelne firchliche Sprengel, auf deren Kanzeln das Imutere Evans
gelium längft verſtummte. Verſtummte e8 aber auch auf den Ranzen,
fo doch nicht in den Gemeinden, in die, während die Schriftgelehrten
fihweigen, der Ziich des Herm nach wie vor mit flummem und Dei
fo beredten Munde daffelbe laut hineinpofaunt. Prediger gibts, die
Jahr aus Jahr ein den Namen Jeſu kaum auf ihre Lippen bringen,
geichweige die Herzen ihrer Hörer Ihm zu gewinnen fuchen. Diefel
ben Prediger fehn ſich nichtsdeftoweniger, fo oft ein Abendmahl
fonntag erfcheint, wider ihren Willen genöthigt, Chriſtum den Ge
fragigten zu verfündigen und Die Gemeinde zu Ihm einzuladen. Gie
müffen ja zu Zeiten in ihren Gotteshäufern die heilige Tafel dei
fen; und was thun fie da, als daß fie der Gemeine die verfühmende
Paffion Immanuels vor Augen malm? Sie müffen ja an die Ge
meinde die Aufforderung ergehn laſſen, zu diefem Zifch hinzuzunahn;
und zu wen laden fie fie dann, als zu dem einigen Retter armer Sim
der? Sie müffen ja den Hinzunahenden die Zeichen des Leibes und
Des Blutes zum Genuſſe reichen; und wozu rufen fie hiemit gegmans
generweife Die Leute auf, als zu gläubiger Umfaffung des in jemen
Bildern abgefchatteten Kreuzesopfers? Sie müffen ja bei der Dar
reichung des Brods und Weins die heiligen Einfekungsworte fprechen;
und was bezeugen fie damit, als daB in Eprifti Opfer der Grumd jed⸗
weden Held, ja Das ganze neue Zeftament befchlofien ruhe? — Ge
find aljo felbft die Miethlinge und falfchen Propheten in der Kirche
gegoungen, bei dieſem Tiſche wenigftens je und dann einmal ihren
Schafen die rechte Weide zu erichließen. Mit weifer Berechnung bat
Das Abendmahl. 113
der große Erzhirte dafür geforgt, daß auch da, wo geiftliche Seelen-
mörder fich in den Schafftall feiner Kirche einfchleichen möchten, dieſe
ſelbſt wenigftens dann und wann nothgedrungen als Botfchafter an
Chriſti Statt auftreten, und, ob auch mit widerftrebendem Geifte, den
Stiedern der Gemeine zurufen müffen: „Laffet euch verfühnen mit
Bott durch Das Blut des Lammes!“ — O, welche füße Beruhigung
gewährt mir diefe Betrachtung im Hinblid auf fo mandye Gegenden
md Gemeinden much unfres Baterfandes, in welchen die armen Leute
son Kindesbeinen auf bis zu ihrem Ende nie fonft ein evangelifches
Bort, und kaum eine Sylbe von Chriſti Kreuz und deffen Bedeutung
m hören befommen. Nun fteht aber much dort, al8 ein hellfcheinendes
Bahrheitszeugniß inmitten der Liigentempel, der heilige Tifch mit feis
ıer Haren, kindfaßlichen Bilderpredigt; und ich bin gewiß, daß dieſe
m unzähligen Herzen mächtiger und überzeugender reden wird, als
illes glaubensiofe Geſchwatz, das irreleitend von den Kanzeln auf fte
indringt. Wie, daß wir nicht ſchon aus Diefem Grunde die heilige
Bundestafel fegnen, und den Herrn für Seine Liebesftiftung Dank, Lob
md Anbetung bringen follten! —
Und weldy einen belebenden Einfluß übt das heil. Abendmahl fchon
n der Eigenfchaft eines bloßen Bildes und göttlichen Denkmals auch
mf den Glauben der Gläubigen aus! Wie thut e8 wohl, den Herrn
ver Herrlichkeit vermittelft jener Stiftung aufs neue gleichfam Teib-
yaftig bezeugen zu hören, daß das Opfer, mit welchem feine Ges
yelligten in Ewigkeit vollendet find, wirklich gebracht fei! Wie troft-
voll iſts, Die ganze Güterfülle, die Ehriftus uns erwarb, in die ſym⸗
oliſche Geſtalt eines Mahls gefaßt zu fehn, zu welchem es eines
mdermweitigen Einlaßbriefes nicht bedarf, al8 den Der arme Sünder
m feinem geiftigen Hunger und Durft ſchon mit fih bringt! Und wie
rquicklich, in den fügen Friedensglodenflängen: „Nehmet, effet,
rintet; für euch gebrochen, für euch vergoſſen“, Die leutſeligſte
ind verheißungsvollfte aller Einladungen verlauten zn hören! O, wie
verfüngt fi da in uns das Bewußtſein um das Tiebliche Loos, das
n Chriſto Jeſu uns gefallen ift! Wie frifeht und fleigert fich Die
Begenliebe zu dem, der alle Strahlen Seiner Erbarmung in Diefem
Saframente als in einem Brennpunkt vereinigte! Wie fühlt man
ich nen ermimtert und gedrängt, „den Tod des Herrn zu verfündigen,
#8 daB er kommt“, und es laut zu bezeugen, daß man nichts mehr
viffen wolle, als Jeſum Chriſtum, den Gekreuzigten! 0 hebt fich
116 Der Borhef.
bei diefer Tafel der Belennermuth; und wie befebt und ftärkt ſich,
gegemüber der Sünde, der Welt, dem Tode und dem Teufel, das Sie⸗
gesbemußtfein! Ich kann mir's erflären, wie felbit Solche, welche das
Saframent nur Zwinglifch anzufchauen unterwiefen waren, nichts
deftoweniger aus demfelben ſchon eine weltüberwindende Märtyrer
freudigkeit zu ſchöpfen vermochten. Nicht allein veranfchaulichte ihnen
ja das Mahl die für alle Ewigkeit gelegten Grimde ihrer göttlichen
Kindfchaft und Erlöfung; fonden als Mahl verbürgte es ihnen zw
gleich die perfönliche Gegenwart des Wirths, der die Tafel dedite,
und der, nachdem er verheißen, alle Zuge bis an das Ende de
Belt bei den Seinen zu verbleiben, fiher dort am legten fehlen
werde, wo er fo hauswäterlich traut feine Kinder zu fich zu Tiſche
lade. —
Urtheilt nun felbft, Geliebte, welchen Namen das Berfahren der
jenigen verdient, welche, in offenbarem Widerfpruch mit der ausdräd
lichen Beftimmung der göttlichen Stiftungsurfunde, von dem heiligen
Abendmahle als einem Gedächtnigmahle, nicht allein nichts wiffen
wollen, fondern fogar von Diefer Seite und Bedeutung des Salra⸗
ments geringfchäßig, ja’wegwerfend reden können. Welche die meuſch⸗
lichen Autoritäten auch immer ſeien, auf die fie ſich bei dieſem ihrem
Thun berufen: über Aller Autorität fteht der unzweideutige Buchſtabe
des göttlichen Wortes; und der uöthigt und eine andere Anfchauung
der Sache auf.
2.
So feft wir jedody auch daran halten, daß das Abendmahl nach des
Herrn Willen und Verordnung zun ächſt veranfchaulichendes Deuts
mal feiner großen Liebesthat, und Gedächtnißfeier umfrer ewigen
Erlöfung ſei; ebenfo entjchieden treten wir denen entgegen, welde
hierauf die ganze Bedeutung des Saframents befchränfen wollen.
Ihre, das heilige Vermächtniß ausleerende, Anficht fcheitert ſchon,
wie gefagt, an der ganzen feierlichen Stimmung und Haltung, wit
der wir den Herm zur Einfegung feines Mahles fchreiten fahen, md
fann vollends vor dem Wörtlein „iſt“ in der GStiftungsformel, fo
wie vor dem apoftolifchen Ausdrud: „Die Gemeinfchaft des Leibes
und ded Blutes Chrifti“, und vor den wider die unwürdig Eſſenden
und Zrinkenden ausgefprochenen fchweren Drohungen nimmermehr
beftehn. Bon vorneherein ift ja mit Zuverficht anzunehmen, daß
eine Teptwillige tefiamentarifche Beſtimmung des Königes der Könige
Das Abendmahl. 117
auf Größeres und Bedeutungsvolleres bereihnet fein mußte, als auf
Die bloße Anordnung eines ob auch noch fo Tieblichen, erquicklichen
und glaubensſtaͤrkenden Erinnerungsfeftes. Und freilich hat es
wit feiner Stiftung noch eine andere, erheblichere und ungleich tiefere
Bewandtniß.
Das thenerwertheſte und ſeligſte Gut, das ein Menſch auf Erden
befigen kann, iſt, naͤchſt der Vergebung der Sünden ſelbſt, das klare
und beftimmte Bewußtſein von dieſer ihm zu Theil gewordenen
Bergebung. An ſolchem Begnadigungsbewußtfein hat er hienieden bes
reits einen Vorſchmack der himmlischen Seligfeit. Frei von Furt
amd Sorge zieht er feinen Weg; Friede und Freude find die Engel,
die ihn geleiten, Fröhlich blickt er zu den Sternen als zu den Lich⸗
tern der Heimath auf, zu der er pilgert; und die Wetterwolfen jeder
äußeren Zrübfal lichten fi) ihm in der Beftrahlung des heitern Tas
ges, der in feinem Innern leuchtet, Zu jenem entzüdlenden Bewußt⸗
fein aber foll uns armen Sündern durch Genuß des heil, Abendmahls
verholfen werden; und dies ift der weſentlichſten Zwede einer, zu des
nen der Herr die Stiftung feiner Liebe verordnet hat. Wer es ſchon
weiß, dag ihm Erbarmung widerfahren tft, den foll das heil. Mahl
in diefem Wiſſen neu beſtärken. Wer erft ſolche Gewißheit ſucht,
fol diefelbe bei der Bundestafel finden. Wahr iſt's, daß der heil.
Geiſt auch ohne das Saframent uns „Zeugniß“ geben kann, „Daß
wir Kinder Gottes find”; aber wäre uns dieſes Zeugniß auch
fhon geworden, wo ift der Ehrift, der fagen koͤnnte, Daß er einer
weiteren Befeftigung und Belebung diefer feiner Zuverficht nicht be,
dürfe? Wer ftünde fo feft in dem Glauben an feine Kindfchaft, daß
er niemals wieder irre würde umd wankte? Wen föchte nicht zu Zeiten
wieder ein Zweifel an, ob das, was er für ein Zeugniß des heil. Geis
fies in fi halte, auch wirklich ein folches fei? Und wer, wenn er
auch feines Antheils an Ehrifto noch fo verfichert ift, wird nicht ges
ſtehen müſſen, daß feine Ueberzeugung eine noch flärkere fein würde,
wenn er den beneidenswerthen Vorzug der Zeitgenoffen Jeſu theilen
könnte, und, wie einft der Gichtbrüchige, Maria Magdalene und Ans
dere, ſinnlich hörbar aus dem Munde des Herrn felbft das füße
Bort: „Sehe hin mit Frieden; deine Sünden find dir vers
geben!” vernommen hätte? — Wiſſet aber, Geliebte, DaB uns eben
für jenen Borzug der erften Ehriften das heil. Abendmahl eine Art
Erfapes bieten, und uns möglichft vollitändig für Dasjenige ent⸗
118 Der Borhof.
ſchädigen fol, was etwa durch den Rücktritt der fihtbaren Erſchei⸗
nung Zefu von der Erde Begehrenswerihes und Köſtliches uns ent⸗
zogen wurde. Die Sichtbarkeit unferes Heilandes ift für uns gleid«
fam in die Saframente übergegangen; und indem der Her uns aufs
fordert, im heil. Abendmahle fein Gedächtniß zu feiern, „bis daß
er wiederfomme”, deutet er unverkennbar felber an, daß Das Keil,
Mahl dazu beftimmt fei, während der Zeit, die zwifchen feiner Him⸗
melfahrt und feinem fichtbaren Wiedererfcheinen in der Mitte Liegt,
die Stelle feiner leibhaftigen Gegenwart und zu vertreten.
Seht euch die heilige Tafel an. An und für fih iſt es ein Ge
ringes, was fie zum Genuffe darbeut: ein wenig Brods und Weins.
Aber beachtet wohl: ein Brod, das der König aller Könige feinen
Säften bricht und „feinen Leib“, nennt; und ein Bein, den der
Herr aller Herrn feinen Freunden einfchenkt, und als „fein Blut“
oder als das „neue Teftament in feinem Blut” bezeichnet.
„Das ift mein Leib, das ift mein Blut“, fpriht Er, der feine
Worte zu wägen und zu wählen pflegt. Und wie weit find auch wir
davon entfernt, das Wörtlein „iſt“ in diefer Rede zu uͤberſehn und
zu unterfchägen. Wir belaffen demfelben fein volles Gewicht, und
geftehen zu, daß es mehr befagt, als ein „es bedeutet.” Es vers
gleicht nicht blos; es ſtellt die Gegenftände, die es nennt, einander
gleich. Es Hat fi) damit, daß ich Niedres mit dem Erhaben⸗
ften in Parallele ftelle, wie mit dem „Dies ift“ eines menfchlichen
Fürſten, welches einem Schatzſcheine den vollen Werth derjenigen
Summe verleiht, den die einfache Erklärung des hohen Ausftellers
und Garanten ihm zuerkannt. An und für ſich ift das papierene
DBrieflein völlig werthlos; aber das königliche Wort legte ihm
eine goldgleiche Währung bei, Das Oberhaupt des Staates, deſſen
Namen die Anweifung trägt, wird die letztere nicht verleugnen, for
dern allaugenblidlich bereit fein, das an fich geringfügige Unterpfand
gegen den realen Schaß, den es repräfentirt, einzulöfen. Denkt euch
nun, es reichte der König aller Könige und irgend Etwas Dar, und
begleitete daffelbe mit den Worten: „Dies ift meines Leidens und
Sterbens Frucht: die Vergebung der Sünden, das Kindfchaftsrecht,
Das ewige Leben u. f. w.“, empfingen wir dann nicht mit dem Dave
gereichten Gegenftande, und wäre diefer auch nur ein Biffen Brodes
oder ein Tropfen Weins, zugleich dasjenige wirklich, als was Er
den Gegenftand bezeichnete; und hieße es nicht die Wahrhaftigkeit
Das Abenomahl. 119
des Darreichenden in Zweifel ziehn, wollten wir noch Bedenken ira
gen, uns fortan zu rühmen, daß es nicht blos Brod und Wein ges
wefen, defien wir theilhaftig wurden, fondern daß wir mit dem Brod
und Wein auch die genannten Güter felbft wahrhaftig und unmittel⸗
bar aus der Hand des Herrn empfangen hätten? Nun gefchieht es
aber in der That, Daß uns der Herr bei feinem Mahle ein Aeußeres
jener geringfügigen Gattung darreicht; aber dabei die Worte ſpricht:
„Dies ift mein für euch gebrochener Leib, md mein für
euch vergoffenes Blut,” oder: „Das iſt's, was ich in meinem
bintigen Opfertode euch erwarb.” Was follte nach gläubiger Hins
nahme jener Unterpfänder mid, noch hindern Lönnen, aufs zuverſicht⸗
lichſte zu jubeln: „Ich habe Theil an Der Erlöfungsgnade Jeſu Chriſtil
Mein Mund, mein Auge, ja, alle meine Sinne find Zeugen, daß er
perfönlidy einen Antheil am Ddemfelben mir zugefprocdhen. Gr ſprach
fein „Dies ift mein Leib, mein Blut” in gleichem Sinne, wie ein
Schuldner bei lieberreihung eines gerichtlich abgefaßten und unters
ſiegelten Berfchreibungsdolumentes fagen dürfte: Dies tft mein Haus,
mein Hof, mein ganzes Erbe. Chriſtus würde, um jedes Zweifels
mich zu überheben, die Frucht ſeines Todes mir, wie wir zu fagen
in natura in Mund und Hände legen, wäre jene Frucht nicht
etwas Geiftiges und Linfichtbares. Dennoch gelangt er zu demfelben
Ziele, indem er mir in dem Brod und Wein ein finnlich Faßliches
zum Genuffe darbeut, und mic, kraft göttlicher Autorität ermächtigt,
e8 als die bezeichnete Sache felber anzufehn.” —
Zu folder Sprache bin ich nad würdigem Genuß des Sakra⸗
ments nunmehr befugt. Was ift fomit das heil. Abendmahl? Eine
Stiftung der Liebe, durch welche mir der Herr, in leutfeliger Herab⸗
faffung zu meiner Schwachhett, für Seine fichtbare Gegenwart md
Seinen fimlich vernehmbaren Zuſpruch eine meinem menfchlihen Bes
bürfniß entiprechende Entſchaͤdigung bieten will Als Erjag für jeine
unmittelbare mündliche Huldverficherung überreicht er mir in den Abends
mahlselementen ein Etwas, das einer bandfaßlihen Urkunde Hber
meinen Antheil an den Gütern des neuen Zeflamentes gleich kommt.
Ich berufe mich darauf vor feinem Throne als auf eine Schuldvers
fhreibung, die Seine eigne Königshand mir ausgeftellt; und begegue
proteftirend damit allen Anklagen des Satans, als mit einem Frei⸗
briefe, vor deſſen Unterfchrift auch er verflummen muß.
Diefe Auſicht vom heil, Abenbmahle als einem Gtegelmante
129 Der Vorhel
findet ihre Stüße zubörderft in dem Woͤrtlein „iſt“, welches den fa
framentlichen Elementen die Bedeutung einer wirklichen Repräſen⸗
tatton der bildlich bezeichneten Güter mittheilt; fodann im ben
Worten: „Diefer Kelch ift Das neue Teftament in meinem Blute“,
welche zunächſt nicht fowol an das Blut Chriſti ſelbſt, als viel⸗
mehr an die Seligleiten denken heißen, welche durch Vergießung jenes
Blutes erzielt und erworben wurden; Drittens in der Analogie des
Paſſamahls, das ja gleichfalls die Stelle eines beflätigenden Siegels
zu einer göttlichen Verheißung einnahm; viertens in dem apoſto⸗
lichen Ausdruck, welcher das gebrochene Brod „eine Gemeinſchaft
des Leibes Chrifti”, d. i. dem nächften Wortfinn nad), „eine Bethei⸗
ligung an demfelben” nennt; und endlih fünftens in der Paralleke,
in welche unfer Text das heil, Abendmahl mit den jüdifchen Opfer
mablzeiten ftellt, vermittelft deren die Feiernden die Frucht der dar⸗
gebrachten Opfer fih zuzueignen umd mit Freuden durch den Glan
ben zu genießen pflegten, Ich falle nicht, wie lutheriſche Kirchenlehrer
haben behaupten wollen, daß denen, welche zu ihrem Dogma ſich zu
belennen Anftand nähmen, an Brod und Wein nichts Anderes übrig
bliebe, als bloße Symbole md Erinnerungszeihen. Hätten
fie die Bekenntnißſchriften der reformirten Kirche, namentlich die Des
Genfer Gepräges, vorurtheilsfrei durchforfcht, fie würden fich eines
Andern haben überzeugen müffen.
' 3
Nicht einen Augenblid jedoch fteht mir's in Frage, daß in demje⸗
nigen, was wir bisher als Sinn und Zwed des heil, Mahles fanden,
die Bedeutung deffelben fich noch nicht erfchöpfte. Das Mahl ik
mehr, ald Gedächtniß- und Siegelmahl. Ja, es gipfelt fich feine
Bedeutung erft in derjenigen eines Mahles der Bereinigung mit
Chriſto. Die perfönliche Gegenwart des Herm bei der Commumion
wird ſchon, wie bereitS bemerkt, durch die Form verbürgt, in welche
das Sakrament gekleidet ward. Ein Mahl iſt's, und als foldhes
fordert e8 die Anmefenheit des Wirths. Es wird dabei gegeffen und
getrunken; und Efjen und Zrinfen vermittelt eine innige Bereinigung
der genofjenen Elemente mit unfrer Natur, ja eine Einverletbung
derfelben in unfer Weſen. Daß eine ſolche auch im Sakramente fi
vollziehe, und daß das hier mit uns fich einende Objelt Chriſtus
felber fei, wird durch unfern heutigen Text über allen Widerſpruch
erhoben, „Sehet au’, fpricht Paulus, „den Iſtael nach dem Fleiſch.
Das Abendmahl. 121
Beide die Opfer efien (an den Opfermahlen ſich betheiligen), find
Die wicht in der Gemeinfchaft des Altars?“ Zunachft will der Apoftel
hiemit fagen: „Ste haben am Altar, oder an der durch den priefters
lichen Altardienft erwirkten vorbildlichen Verſoͤhnung Theil”; ſodam:
„Sie bezeugen durch ihre Theilnahme an dem Opfermahle, daß fie der.
ifraelitiſchen Glaubensgenofienfchaft beigehören”; und endlih: „Ste
ftellen fi damit in ein Verhältniß der Untergebenheit und Leident⸗
lichkeit zu Dem Gott, dem das Opfer gebracht ward, und treten dadurch
in den Sreis Seiner führenden, erziehenden und zum Himmelreich bil⸗
denden Einwirkungen ein.” — Der Apoftel gedenkt hierauf der
heidniſchen Goͤtzenopfermahle, von denen er die zum Theil einer falfchen
Breiheit fi) rühmenden Gorinther allen Ernſtes abmahnt. „Was will
ich denn nun fagen?“ beginnt er. „Bill ich fagen, daß der Göße
Etwas jei, oder Daß das Göbenopfer etwas ſei?“ — Bon vomherein
verwahrt er fich hiemit gegen die Folgerung, als erkenne er den Goͤt⸗
tern der Heiden eine reale Eriftenz, und ihren Göbenopfern eine ihnen
einwohmende Kraft und Wirkung zu. „Nein“, fagt er, „die Goͤtzen
ſind nichts, als leere Phantafiegebilde, und die Gößenopfer Fleiſch,
wie andres Fleiſch, Das an fich keinerlei zauberifchen Einfluß übt.”
„Aber“, fährt er fort, „Die Damonen haben im Gößendienft ihr
Berk, und halten durch die Opferfefte das verblendete Volk in dem
abgöttiichen Lügenweien überhaupt verftridt. Was alfo die Heiden
opfern, opfern fie (ob auch unbewußt) den Teufeln,” welche vermits
beift dieſes Opferwerks ihre Zwecke erreichen und darin ihre Triumphe
lien. — „Run aber”, fährt der Npoftel fort, — und hier liegt der
eigentliche Nero feiner ganzen Rede, — „will id) nicht, daß ihr in der
Teufel Gemeinſchaft fein ſollt.“ — „Durch eure Theilnahme an den
Bößenmahlen” (zumal den Corinthifchen, welche zur Ehre der Venus
gefeiert zu werden pflegten,) „‚gerathet ihr ſelbſt“, — Dies ift der apoftos
liſchen Worte Sinn, — „ehe ihr e8 euch verfeht, unter den Eins
fiuß der finftern Geifter, die hier ihr Wefen treiben. Das aber
ſollt ihr. nicht.” „Ihr könnt nicht zugleich trinken des Herm Kelch
und der Teufel Kelch; ihr könnt nicht zugleich theilhaftig fein des Herrn
Tiſches und der Teufel Tiſches.“ — Beachtet num mit aller Sorgfalt,
Heben Brüder, was der Apoftel in diefer Erörterung zur Beleuchtung
bes heil. Abendmahles beibringt. Indem er fagt, Das Opfermahl der
raeliten fege diefe mit dem Gott, dem der Altardienft gelte, das
Bögenmahl hingegen die. Heiden mit den Teufeln, die hier in m
124 Der Border.
baſter Bers: „Ber mein Fleifch iffet und trinket mein Blut,
der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngften
Tage auferweden”, in Beziehung zum heil. Abendmahle au
Jedenfalls würde der Herr, wenn Ihm hier nicht auch eine leib liche
Bereinigung mit Ihm vorgefchwebt hätte, ſich anders ansgedrädi,
und namentlich auch die über die „harte Rede” murrenden
mit einem andern Befcheide zurechtgewiefen haben, ald mit demjenigen,
der euch befannt ift. Genug, indem der Heiland bei feinem Sal
mente fpricht: „Dies“ — (ich erinnere hier wieder an die neutrale,
oder fächliche Form dieſes Fürworts,) „iſt mein Leib; Dies if
mein Blut,“ theilt er uns neben den geiftlichen Gütern zugleich von
feiner verflärten Leiblichkeit mit, und verfeßt uns mit feiner. gotts
menſchlichen Berfönlichkeit in die wejenhaftefte und ums
faffendfte Gemeinſchaft, eine Gemeinfchaft, deren Herrlichkeit und
fegensreiche Folgen ſich hienieden nur theilweife unferm Bewußtſein
erfchließen.
Seht, Freunde, fo legt fi) die Beſtimmung des heil. Abendmahls
in der dreifachen Bedeutung eines Gedächtniß⸗, Siegel- und Ver⸗
einigungsmahles vor uns auseinander. Wo man fih in Dies
fer Anfchauung vom Tifche des Herrn begegnet, follte man doch nicht
ferner hadern und ftreiten, fondern der Einheit des Glaubens mit
Dank zu Gott fich freuen, Was über die Grenzen jener Anſchauung
hinaus Tiegt, gehört der menfhlihen Schule und nicht mehr der
biblifchen Theologie an. Mindeftens follte Niemand ſich beis
gehen laffen, über Die Art und Weife, wie Ehriftus vermittelft des
Brodes und Weines in die Gemeinfchaft feiner Leiblichkeit uns erhebe,
eine beftimmte Satzung aufzuftellen, da die Schrift felbft Solches
zu thun nicht für gut befunden hat, Der in aller Demuth fi bes
fheidenden Ahnung und Vermuthung möge bier immerhin ein
weiter Spielraum offen bleiben. Jeder herrifchen Dogmenbildung
Dagegen ift in dDiefem Punkt durch Gottes Wort der Raum bes
nommen. Das Wie der Speifung und Tränfung mit dem verflärten
Leibe und Blute Ehrifti dürfte, fo lange wir im Dieffeits wallen, uns
ferm Begriffe ein Geheimniß bleiben; daß aber eine ſolche wirk
lich im Sakrament gefchehe, fteht, meiner Ueberzeugung nach, bibliſch
feſt, und kann mit Gründen des göttlihen Wortes nicht bes
ſtritten werden,
Das Abendmahl. 125
Id unvergleichliches Vermächtniß alfo, das uns der. Herr in
m Mahle hinterlafen hat! Welch' eine Fülle himmliſcher Seg⸗
u und Gnaden, die Er in diefe unfcheinbare Stiftung für uns
61 O, halten wir drum das Böftliche Erbe hoch in Ehren! —
u wird durch oft wiederholtes heilsbegieriges Hinzunahn zur
mng und Berflärung unfres inwendigen Menfchen aus! Erſchei⸗
sie nur im rechten Communionsſchmuck, das heißt: in Kindes»
lt und der göttlichen Geiftesarmuth; und es wird ſich bei
cklehr von der heiligen Stätte auch in unferm Herzenskirch⸗
in Wiederhall der brünftigen Worte des alten Kirchenfängers nie
fen laſſen:
Wohl mir, ich bin verfehen
Mit Himmelsfpeis und Engeltranf;
Nun will ich rüftig ſtehen,
Zu fingen Dir Lob, Chr’ und Danf.
Hinweg, du Weltgetümmel,
Du bift ein eitler Tand;
Ich ſeufze nach dem Himmel,
Dem rechten Vaterland;
Hinweg, dort werd’ ich leben
Ohn' Unglüd und Berbruß;
ein Gott, Du wirft mir geben
Der Freuden Heberfiuß! — Amen.
— —
XII. |
Herr, bin ich's?
: Geheimniffe Gottes unterfcheiden ſich von denen aller menjch-
Weisheit auch darin, daß Diefe nur dem im kühnen Auffchwunge
6ft vertrauenden Geifte, jene dagegen allein dem an aller eignen
gkeit verzagenden das Verftändniß ihrer Ziefen in Ausficht ftel-
‚Es ift mir lieb,” fpricht David Pſalm 119, 71 aus fchmerz-
figer Erfahrung heraus, „daß Du mich gedemüthiget haft,
& deine Rechte lerne!” — In dem lebendigen Innewerden,
de in uns felbft weder etwas wiflen, noch find, noch koͤnnen,
126 Der Vorhoſ.
Hegt nicht allein der Schlüffel zu allen Schaͤtzen der göttlichen Wahr
heit, fondern bahnt ſich uns zugleich der Weg zu aller erreichbaren
Herrlichfeit des Seins und des Vermögens. Wer faßt die Liebe Geb
tes, bevor er feines eignen Elends überführt, wer ermißt die Wunder
der Erlöfung, ehe er fich feiner Rettungsbedürftigkeit bewußt geworden
it? Wer nicht fich felber ftarb, fteht auch nicht in Ehrifto auf; md
in das himmliſche Wefen ftehet fih Niemand verfebt, er erlebte dem
zuvor eine Niederfahrt in die unterften Derter der geiflfichen Ar⸗
muth. — Hiervon ein Weiteres mitelnander zu reden, beut unfer hew
figes Evangelium uns Anlaß.
Matthäus 26, 21—23.
Und ba fle aßen, ſprach er: Wahrlich, ich fage euch, Ciner unter end) wirb mil
verrathen. Und fie wurden fehr betrübt, und huben an, ein Jeglicher umter ihnen
und fagten zu ihm: Herr, bin ih’8? Er antwortete und ſprach: Der bie Hand mit
mir in die Schüffel tauchet, der wird mich verrathen.
Die verlefenen Worte verfehen uns noch einmal in das Abendmahle
gemach, und zwar in die Zeit zurüd, die unmittelbar der Stiftung
des Saframents vorherging. Wir halten fomit Nachlefe auf dieſem an
Betrachtungsftoff fo reichen Gebiete, und richten für heute unfre Blicke
vorzugsweife auf Die wie in elfitimmigem Chore an den Herrn erge
hende Jüngerfrage. In Ddiefer Frage erfcheinen uns Die Elfe als
aͤngſtlich Forſchende. Beachten wir die VBeranlaffung, den Ges
genftand, das Gebiet, das Hülfsmittel und endlich den Erfolg
ihres Suchens.
Helfe der Herr, daß wir bei der Scene, die heute an uns vorüber
zieht, mehr als müßige Zufchauer feien! Verſetze er uns in eine ähn⸗
liche Bewegung, wie die Jünger, und führe er uns mit ihnen zu einem
gleichen Ziele!
1.
Unverkermbar treffen wir die Zünger in unferm evangelifchen Bilde
auf einer geiftigen Jagd begriffen. Ihre Gemüther find in lebhaftet
Aufregimg; ihre Gedanken ſtrecken fih aus zum Erfpähen und Erha⸗
fhen. Was verfeßte fie in diefe unruhbolle Bewegung? Es thats
ein andeutendes Wort des hoben Mannes in ihrer Mitte. Diefer
bezeichnete ihnen den Gegenftand, den fie fuhen, und der ihnen bei
ihrer Frage: „Herr, bin ich's?“ vor Angen ſchwebt. Seine Ber
Her, bin I’? 137
daß ein Menſch exiftire, wie der, um deſſen Entdediung es
gebt, reichte für fie hin, um fie das Daſein eines folchen
bezweifeln zu Taffen. Und in der That follte auch für ung
aus Diefes Mannes Munde, was immer es beträfe, allem
in Ende machen. Denn wer iſt's, der in Ihm die Lippen
Ein Mann, deffen Erfheinung in der Welt Sahrtaufende vor⸗
das beftimmtefte fignalifirt ward; den Engelchöre und himm⸗
efolge aus dem Jenſeits auf die Erde herabgeleiteten; dem
Stimme der hochwürdigen Majeftät in der Höhe felbft das don⸗
werfaute Zeugniß gab: „Dieſer tft es, und Ihn follt ihr hören“, und
feinen überirdifchen Hetmathsfchein nicht in wörtlichen Bezeu-
en nur, fondern zugleich im Glanze einer fonmenlichten Heiligkeit
und in fchöpferifchen Allmachtsthaten vor uns entfaltet. Ein Mann,
der zur Beurkundung feiner Dignität Verweſende ans den Todten⸗
gräften in's Leben zurüdrief, Stürme und Meereswogen gebieterifch
ia feine Zügel bannte, über Tod, Teufel und Hölle einherfihritt wie
ein Sieger über die Naden feiner Erfchlagenen, in Menfchenhers
zen Ins wie in einem offnen Buch, und die entlegenfte Zukunft mie
eime licht befonnte Landſchaft vor fih ausgebreitet fah., Ein Mann,
dem auf Schritt ımd Tritt der Name „König aller Könige” vom
Saum feines Gewandes blitzte; der, nachdem er feine große Miſſion
erfüllt, die Erde wie einen leichten Kahn unter ſich wegftieß, und, um⸗
Hungen. von dem Zujauchzen bimmlifcher Heere, fichtbar in die ewige
Gottesſtadt fi) hinüberfchwang, dann unter den Sterblichen ein Lob ſich
bereitete von feurigen Zungen, und als Denkmal feines Namens den
Tempel feiner Kirche, Diefe „Behaufung Gottes im Geift” Hinter fich
zurhdfieß. Ein folder Mann, mit taufend Gotteshriefen beglaubigt,
redete dort, und redet heute noch in der Welt; und felbft die Teufel
gauben feinen Worten, und zittern. Und ihr, Unglüdfelige unter
uns, Rachtwandelnde auf dem breiten Wege, ſaͤumt und zaudert noch,
euch zum Glauben zu bequemen? Hörtet nicht auch ihr unzählige
Male Ihn reden vom Ernfte der Ewigkeit und von der Nothwendig⸗
fett der Hausbeſtellung? Ich meine, gleich Sturmglodenkflang hätte
euch amtönen müflen, was er davon vor euch bezeugte! — Vernahmt
ihe nicht feine Ausfagen von Gottes Feuereifer wider die Miffethä-
tee, dem enticheidenden Gerichte nach dem Zode, der Seligkeit der
erprobt Befundenen, und von der ewigen Verdammniß der Unbußfer⸗
tigen? Ben mm ein Mann, wie Er, beihenert, es lodere dort eine
HE
J
128 Der Borhef.
Hölle für die Uebertreter, follten nicht die Steine zerfprüngen unter
dem Eindruc feines Wortes? und ihr vermögt die erſchutternden Aus
fprüche Diefes Untrüglichen Dahinzunehmen, als erfchöllen fie von den
Lippen eines Albernen und Zräumers, umd Lönnt darunter fchlafen,
wie unter einem Windeshauche, der nur fpielend durch Die Aeſte eines
Baumes raufcht? DO, wiffet doch: von jenen Schredniffen der Gwig
feit redet zu euch nicht ein Schwäßer, fondern der Mann, dem ſelbſt
die Hölle die Anerkennung zu zollen gezwungen war: „wir wiflen, daß
du bift Ehriftus, der Sohn Gottes!” — O, kommt ihr nur einmal
an jenem Tage, und wollt zu eurer Entfchuldigung fprechen: „Her,
wir vermutheten nicht, Daß es fo ernftlich hergehn werde; wir haben
nicht geahnet, daß ein foldher Richterftuhl uns erwarte; nicht war ung
bewußt, daß in der That des Sünders ein Feuer harre, Das nicht
erlöfche, ein Wurm, der nimmer fterbe:” fürwahr, ein lautes Hohn⸗
gelächter der Abgrundsrotten wird euch auf eurer Selbftvertheidigunge
rede zur Antwort dienen, und heißen wird es zu euch: „Wie, alle jene
Dinge blieben euch verborgen, zu denen die Wahrheit ſelbſt von
den Dächern her geredet, die ihr vor dem Lehrſtuhl des Meiſters
aller Meifter gefeffen habt, und denen der Sternenhimmel einer wier
Sahrtaufende hindurch nicht verftummenden Gottesoffenbarung über deu
Häuptern ftrahlte? Was hätte mehr doch zu eurer Warnung und
Zurechtweifung gefchehen können, als wirklich gefchehen it? Ihr aber
wolltet das Leben nicht, fondern den Tod. Wohl ber denn, md
ererbet ihn!” —
2.
Die Jünger in unfrer Scene verführen klüger. Sie dachten: „Der
Meifter ſprach's“, und hatten daran genug, um an der Wahrheit des
Vernommenen nicht einen Augenblid mehr zu zweifeln. Was hatte
ihnen aber der Herr eröffnet? Ein herzerfchütterndes Geheimnig. Er
fagte ihnen, e8 befinde fi wo ein unglückſeliger Menfch, der weder
Theil noch Anfall am Reiche Gottes haben und nimmermehr das Leben
fehen werde. Das Blut des Lammes werde ihn nicht wachen, die
Gerechtigkeit des Mittlers ihn nicht decken; vielmehr werde er bleiben,
was er fei: ein Kind des Teufels, welchem es beffer wäre, er wäre
nie geboren worden. Es werde Diefer Verworfene den einigen Grund
alles Heiles von ſich flogen und den Herm der Herrlichkeit verrathen,.
und darum unrettbar, ein Fluch» und Todeskind, der ewigen Berdanmes
niß entgegeneilen. Dies offenbarte ihnen Jefus. Und was fagen fie
Herr, bin ich 7 1%
Dazu? Gprechen fie: „Rede hin, rede her; fo ſchlimm wird's ja nicht
fein?!” — Denten fie, wie Manche unter euch gedacht haben würs
den: „Tod? — Ewige Verdammnig? — O, es gibt wol Menfchen
nicht, die Dergleichen beforgen müßten, da Gott die Liebe iſt?!“ —
Rein, fo denken fie nicht; fondern der Gedanke, der in ihrem Innern
durchſchlaͤgt und Die Oberhand behält, ift der: „Es ſprach's der Mann,
der mit Einem Blide Himmel, Erde, Gegenwart und Zufmft durch⸗
(haut, und in defien Mumde nie ein Betrug gefunden worden iſt;“
und Darum verfeßt Diefe Aeußerung ihre Seelen in ſolche Angft und
Schrecken.
Aehnliches, Bruͤder, wie dort den Jüngern, hat Er auch uns
eroͤffnet. Auch wir vernehmen mindeſtens das aus feinem Munde,
daß zu allen Zeiten zwar Viele berufen, aber aus der Gefammtheit
der Völker und Gefchlechter der Erde nur Wenige auserwählt find,
und den Weg zum Leben finden, wogegen Diele, denen es darum gleich-
fall8 befier wäre, fie wären nie geboren worden, die Straße der Ver:
danunniß wandeln und unaufhaltfam der Hölle entgegenreifen. An
Bejanmernswürdigen diefer Art wird alfo auch in gegenwärtigen Au⸗
genblid fein Mangel fein. Er ſprach's ja, der nicht fügt. — Bohlen
denn, nicht wieder den Kopf gefchüttelt, Freunde; nicht Teichtfertig an
dem Worte vorbeigehufcht; fondern zu ernftlicher Kundfchaftung euch
angefchict: „Wo find jene zur Schlachtbank Gezeichneten, und wie
heißen die Namen diefer Todeskinder?“ —
3.
Die Ruhe unfrer Juͤnger ift bin, feitdem fie durch die Eröffnung
ihres Meifters wiffen, Daß Einer vorhanden fei, Der ewig verloren
gehe. Sie müffen dahinter kommen, wer der fei. Sie können die
Sache nicht auf fi) beruhen laſſen. So geben fie fih denn an's
Nachfragen und an's Spähen. Auf welchem Gebiete aber fuchen fie
den Mann des Todes? Sie verrennen ſich nicht in's Weite, wie vers
muthlih ihr gethan haben würdet, die ihr, um den verlorenen Sohn
zu erfpüren, etwa Die Kerker und Nichtpläge durchmuftert, an die
Derter, wo die Spötter und Xäfterer fiten, angeflopft, oder gar Die
Ränberhöhlen und Mördergruben zu euerm Jagdrevier erfehen hättet,
Die Zünger bleiben in der nächften Nähe, und fuchen den Signal
firten zu Serufalem, in dem Saale, der fie vereint, an der Zafel, um
welche fle:fich reihen, alfo in ihrem eignen Kreiſe. „Und ihr wißt, fie
gingen nicht irre auf Diefem Wege. '
9
180 Der Vorhoſ.
Freunde, es ift noch Fein untrüglich Zeichen, daß man nicht felbft
das Kind des Todes fei, wenn einen die Leute für ein Kind Gottes
halten, und unfer äußerlicher Anſtrich ſolch Urtheil zu rechtfertigen
ſcheint. Menſchen, die dem Verderben entgegentaumeln, gibt's aud
unter den Ehrbaren und Unbefcholtenen, unter den Kirchlichen umd
Gottesdienftlichen, ja, unter den Abendmahlsgängern, Betern, Pfalmen-
fängern felbft. In Gemeinen, wo das Evangelium im Schwange geht,
wie bei uns, fühet Satan wol eben fo viele Beuten in den Schlin⸗
gen eines religiöfen Selbftbetrugs, als er deren an andern Orten in
den Zallgruben des Unglaubens und der Gottlofigkeit unter feine Bot
mäßigleit bringt. ft euch doch bewußt, daß unter denen, au welche
einft das Schredenswort ergehen wird: „Ich habe euch nie erkannt“,
nicht Wenige ſich finden werden, die mit gutem Grunde werden fagen
dürfen: „Herr, haben wir nicht vor Dir gegeflen und getrunken, und
in deinem Namen geweiffagt, Wunder gethan und Teufel ausgetries
ben?” — Auch den Elfen war dies nicht verborgen; und darum vers
mögen fie ſich über die Anzeige des Herrn, daß ein Dermaledeiter
unter ihnen fei, durchaus nicht Damit zu beruhigen, daß fie fih im
der nächften Umgebung Jeſu finden. Selbſt in Diefer geheiligten Tafel⸗
runde machen fie Jagd auf jenen Menfchen. Es könnte ja in ihr
ein Heuchler verborgen ftedlen, oder Einer, in welchem nur der alte
Menſch fi) befehrte, ohne daß ein neuer in's Leben trat; oder ein
Berbiendeter, dem über feinen wahren Zuftand die Augen gehalten
wären,
Freunde, nehmt euch an den Elfen ein Exempel, und fuchet auch
ihr nicht zu ferne, wenn es ausfindig zu machen gilt, welche etwa zur
Schlachtbank gezeichnet feien. Fangt mit der Erkundigung zwifchen
euern eignen Wänden an, und fchließt euch felber nicht von denen aus,
die ihr darauf anfeht, ob etwa fie die Beweinenswerthen feien. m
Gegentheil, haltet Die Leuchte zuerft über Das eigne Haupt und Her.
Gen Mitternacht wallen nicht Solche nur, die offen zur Aufruhrsfahue
der Feinde Gottes und feines Gefalbten fchwuren; es gibt auch Men
fhen, die mit der aufgefchlagenen Bibel in der Hand, mit dem Kreu⸗
zeözeichen an ihrem Halfe, und mit dem Namen Jeſu auf der Lippe
— zur Hölle fahren.
4
Um den Gegenjtand ihrer Nachforfchungen nicht zu verfehlen, nah⸗
men die Suchenden in unfrer Scene zu einem Lichte ihre Zuflucht,
Herr, bin ich87 131
md zwar zu dem hellften und Durchdringendften der Welt, welches
nimmer trügt und niemals falfchen Schein gibt. Es ift das Licht der
Augen Jeſu, der Alles ergründenden, der Herz und Nieren prüfens
den. „Herr,“ fprechen fie Einer nach dem Andern, tief geängftigt
und befimmert, „bin ich's, bin ich's?“ — Und o, wie rührend ift
Diefer Zug, wie lieblich, und wie nachahmungswürdig! —
Mit derfelben Laterne, mit welcher jene, fuchte einſt auch David.
„Erforfche mich, Gott,” ſprach er, „und erfahre mich; prüfe mein Herz
und fiehe, wie ich e8 meine!” Die Pharifäer fuchten den Mann des
Todes nimmer bei Diefem Lichte, fondern bei dem ihrer Eigen:
liebe; und darum verfehlten fie ihn ſtets, obwol fie ihn fo nahe
hatten. Bon den Unſern fuchen Viele ihn bei dem betrüglichen Scheine
falfpger Merkmale, und ertappen deßhalb ihn ebenfowenig, wie
ihn jene fanden. O du durchdringendes Augenlicht des großen Got
tes! Möchte doch ein Jeder am dich fich wenden, daß du ihm helfen
wolleft den Sünder entdeden! Wie bald wäre derjelbe in feinen vers
borgenften Verſtecken aufgefpürt, und wie viel näher träfe zu feiner
Ueberrafhung ein Jeder, als er e8 je vermuthet hättel —
5.
Bir fragen endlich nach dem Erfolge, der die Nachforfchungen
der Elfe Trönte, und gelangen nunmehr zum bedeutfamften und ers
anidiichten Momente unfrer Textesſtene. Das Kind des Todes tft
entdedt. Es führt's ein Jeder wie am Strid dem Herm zu, und
überliefert e8 Seinem Gerichte. — „Ein Jeder?“ fragt ihr flußend,
So ift 8! Mit Ausnahme eines Einigen haben fie Alle, Petrus
und Kohannes fowol, wie Andreas, Jakobus und Philippus und die
Andern den Sünder, anf den der Heiland hingedeutet, in ihren eigs
nen Perſonen erhafcht und in Haft genommen. — „In ihren eig.
nen Perſonen?“ — Nirgends fonft. Hört ihr fehmerzliches „Herr,
bin ich's?“, das fie an den Meifter richten, und bemerkt die nieders
geſchlagene Miene, den thrämenfeuchten Blick, womit fie diefes Wort
. begleiten. Was wollen fie fagen? Ein Jeglicher unwillkürlich nichts
Anderes, denn dies: „Sa, Herr, fo verderbt finde ich) mein Herz, daß
ich zu allen Böfen fähig, und, wenn der Wind der Verfuchung dar:
nach wehte, möglicherweife felbft (auch Petrus fühlt Solches in. dies
ſem Angenblide noch) im Stande wäre, Dich, du hoͤchſtes Gut, wie
du gefagt haſt, zu verrathen. Unbehütet mir felbft gelaffen, vermag
9
132 Der Barhe.
ich in nichts für mich einzuftehn. Wehe, unter die Sünde fühle ic
mich verfauft, und mit meinen beften Vorſaͤtzen finde ich mich als ein
fchwanfendes Rohr im Winde!” — Geht, Freunde, dies die Empfurs
dung unfrer Jünger. Das Wild, dem fie nacdhgefebt, ift erjagt; der
bezeichnete Webelthäter eingefangen. Aber heilvolle Inhaftuahme dies!
Denn indem fie den Erhafchten, ein Jeder in fich felbft, vor den Herm
führen, daß Der ihn richte und ihn binde, Iefen fie plögfich in dem
holdfeligen Liebesblick des Meifters ein füßes Wörtlein, und Das heißt:
„vergriffen! und gleich darauf tönt daffelbe fie verftändficher noch
aus feiner mündlichen Erklärung an: „Ihr feid es nicht, fondern „der
mit mir in Die Schüffel taucht, der wird mich verrathen!”“
— „Ei“, höre ich euch fagen, „ſo hatten die Elfe ſich ja Doch vers
than?” — Keineswegs, lieben Freunde! In dem, daß fie in ſich
der Fähigkeit nach den treulofen Verräther erkannt zu haben glaub
ten, verthaten fie fich nicht; daß derſelbe aber die Frevelthat nicht
wirklich wollbrachte, verdankten fie der Hut und Bewahrung Deffen,
dem fie ihn unverholen überlieferten, der mit göttlichen Feſſeln ihm
band, durch feinen heiligen Geift ihn entkräftete, und ihu einem ans
dern, befiern Ich in ihnen unterthänig machte,
Vernehmt, Geliebte, die große Lehre, welche der Auftritt unfe
res Tertes auf feinem Grunde trägt. Die wirklich Berlorenen in
der Welt, die „Kinder des Zornes“, find Diejenigen, die entweder den
fluhwürdigen Sünder in fi) nicht erkennen, oder, wie der fchwarze
Nabe dort unter den Gäften in dem Saale zu Jerufalem, den Sohn
des Verderbens wol in fi wahrnehmen, aber ihn weder felber rich
ten, noch dem Herrn ihn überantworten mögen, daß Er ihn dem Tode
übergebe; fondern vielmehr ihn nur zu reiten, und, wie eben dort
der falfche Bruder unter den Zwölfen mit feinem bios nadhgeäff-
ten und Unfchuld und Aufrichtigleit erheuchelnden „Rabbi, bin
ih’89’ zu verlarven trachten. Alle die hingegen, welche den zu jedem
Böfen fähigen Sünder in ſich felbft nicht allein ertappten, ſondern
auch in Heiliger Entrüftung wie geſchloſſen vor Das Angeficht des hei⸗
ligen Gottes führen, das Berdammungsurtheil Diefes allerhöchften Rich⸗
ter8 über ihn auf den Knieen als ein gerechtes und wohlbegründetes
verehrten, und flehend die Gnade darum angehn, daß fle mit dem
Dlige des Geiſtes ihn zerfchmettern und flatt feiner einen nenen
Indas Iſcharioth. 133
Menſchen, einen Menſchen Gottes in ihnen erzeugen wolle; — dieſe
preiſen wir ſelig. Denn von dem Momente ſolcher Selbſtver⸗
baftımg an find fie als Individuen bezeichnet, wider welche der Steck⸗
brief des oberften Gerichtshofs zurückgenommen wird, und brauchen
vor feiner Anklage, fei es Moſe's oder des Satans, mehr zu erzit-
tem. „So wir uns felber. richteten”, fagt die Schrift, „ſo würden
wir nicht gerichtet” und an einem andern Orte: „Die fich demnüthi-
gen, die erhöhet Ex, und wer feine Augen niederfchlägt, der wird ges
neſen.“
Neigen wir denn der Aufforderung Jeremiä, des Propheten, unſer
Ohr: „Laſſet uns forfhen und fuchen unfer Wefen, und uns zum
Herren ehren!” Sprechen wir betend mit unferm Kirchenliede: „Er⸗
feuchte mich, Herr, mein Licht! Ich bin mir felbft verborgen, und kenne
mich noch nicht.” Und geben wir Raum in unfern Herzen den Worten
eined andern Sängers: |
Herr, fomm mit deinem Lichte
Und deines Geiſtes Schein!
Dein’ heil'ge Strahlen richte
Tief und in’8 Herz hinein,
Daß Schauder und durchwallen
Bor unfrer Sünden Grans,
Und dir zu Fuß wir fallen,
Und flehn: Hilf und heraus! Amen. —
— older —
XIII.
Judas Iſcharioth.
Als ein ernſt warnendes Exempel für Alle, die, ſtatt Gott dem
Herrn zu leben, an irgend einen Götzen dieſer Welt ihr Herz ver⸗
Tauften, wandelt durch die Geſchichte Davids die dunkle Geſtalt des
Giloniters Ahitophel. Ein Mann von rafchem Blick und gewand-
tem Geift, hatte er fi) durch die Klugheit feiner Rathichläge dem
Böniglichen Hofe unentbehrlich gemacht; ja, „wenn er einen Rath er
theilte,* meldet die heilige. @eichichte, „Das war, als hätte man Gott
134 Der Bordef.
um etwas gefragt.” So ſchwer wog fein ſtaatsmämiſches Urtheil;
weßhalb er ſich denn auch zu der glänzenden Binde eines erften Käm⸗
merers der Krone emporgefchwungen, und biemit, wenigftens einft-
weilen, den Höhepunkt feiner Wünfche und Beftrebimgen erfiommen
hatte, Denn die Ehre der Welt war das Idol, für welches er zu
jedem Opfer .bereit, aber auch zugleich der Preis, für den ihm Alles
feil und läßlich war.
So lange Glüd, Sieg und Macht mit David gingen, durfte dies
fer auf Ahitophel, als auf feiner begeiftertften Freunde einen zählen,
Treue aber ift eine Perle, die nur bei denen zu fuchen tft, melde
Gott fürchten; während auf alle Anderen mit Sicherheit nur fe
lange zu rechnen fein wird, als ihre felbftifchen Intereffen mit ihrer
Hingebung an den Mann ihrer Verehrung nicht in Widerſtreit ges
rathen.
Der Aufruhr Abſaloms bricht in Iſrael los. Der größte Theil des
Volks fcheint fih den Fahnen des Empörers zuzuneigen. David, von
wenigen Getreuen umgeben, verläßt die Stadt, und- mit feiner Herr
lichkeit liegt auch diejenige Ahitophels am Boden. Was ift nun zu
thun? Ahitophel zieht in Erwägung, nicht was hier Gott gebiete,
fondern was - vernünftiger Berechnung nad) der ganze Handel für einen
Ausgang nehmen könne. Und da er, weil er die Alles Ienfende Hand
dort oben außer Anfchlag läßt, die Sache feines Königes für eine
verlorene erachten zu müffen glaubt, beeilt er fih, von der Hoffnung
auf noch glänzendere und einflußreichere Stellungen, al8 er fie bisher
befleidete, getragen, dem Rebellen Abſalom feine Dienfte anzubieten,
und findet diefen denn natürlich auch gern bereit, ihn, den einfichtes
vollen Staatsmann, unter feine Räthe aufzunehmen.
Um David fammelte fich jedoch bald wieder, namentlih aus dem
Zandvolfe, eine Kleine, aber getreue und kampfesmuthige Heldenfchaar.
Abſalom begehrt Rath, wie er fich zu verhalten habe, um feinen Sieg
und feine Herrfchaft zu befeftigen. Ahitophel macht den Vorfchlag, er
möge ihn bevollmächtigen, mit zwölftaufend Mann dem entthronten
Flüchtlinge nachzujagen; er wolle denfelben, weil er matt und laß fet,
unverfehens überfallen, und, nachdem das Volk, das fi um ikm ges
ſchaart, Durch den unvermutheten Angriff erfchredt, auseinandergeftos
ben ſei, den entfliehenden König felber zu erhaſchen fuchen, und ihn
Dann vereinzelt niederfchlagen. Abfalom genehmigt diefen Vorſchlag;
Doc) will er auch hören, was Hufat Dazu fage, der Mann, der unter
Judas Iſharioth. 1%
dem Scheine, als ob auch er es mit dem Ufurpator Kalte, als Da⸗
vids Kundſchafter in Jeruſalem zurüdgeblieben war. Hufai verwirft
Ahitophels Rath, und ertheilt einen amdern, welchem Abfalom den
Borzug gibt. As Ahitophel von diefer feiner Demüthigung und
Riederlage hört, glaubt er mit einem Male die Ideale feines Ehr⸗
geizes für immer zerrinnen zu fehn, und verfällt darüber in eine tiefe
Schwermuth, welche unter den einlaufenden Kunden von den wach:
fenden Heereshaufen, Die fi) zu David fchlügen, fo wie unter den
verdammenden NRichterfprüchen feines fchuldbeladenen Gewiflens fich
vollendet. Er, gewohnt, allezeit der Erfte zu fein, nach welchen Nies
mand mehr zu reden wagte, hält das Paradies feiner weltlichen Herr
lichkeit, — und für ein anderes war feine Seele nie entbramnt, —
für unwiederbringlich verloren; und fo deucht ihm das Leben eine öde,
freudenfofe Wüfte, auf welche vollends die Zukunft als eine unbes
ftirnte, wetterfchwüle Nacht fich niederfenf. Was ift zu thun? Ahi⸗
** ſattelt verzweiflungsvoll ſeinen Eſel, zieht von Jeruſalem heim
in feine Stadt, beſchickt daſelbſt ſein Haus, nimmt einen Strick, wirft
ihn fih um den Hals, md — 2 Sam, 17, 23 leſet ihr's — ers
beutt ſich: ein beflagenswerthes Opfer der Gottentfremdung und
Beltvergötterung. — Ein Wehe hallt über feinem Grabe bis zu dieſer
Stunde.
Warum ich euch dieſe tragifche Gefchichte erzählte? Weil fie Weiſ⸗
fagung tft von einer noch viel erſchütterndern, zu der wir auf umferm
Betrachtungswege heute kommen. Judas Iſcharioth ift der neus
tekamentlihe Ahitophel. Dafür hat ihn Die Kirche je nd je
erfannt, und dies, wie wir uns heute überzeugen werden, mit vollem
Rechte,
Matth. 26, 21 - 25. Marcus 14, 18—21. Sucas 22, 21 - 23.
Jeh. 13, 21— 32.
Da Zefus ſolſches geſagt hatte, ward er heträßt im Geiſte, nnd zengete und ſprach:
Beni = wahrlich, ich Tage euch: Einer unter V wird mich verrathen; ſiehe, die
Hand meineb Berrätherb if mit mir über Tiſchel Da ſahen fih die Jünger unter
einander au, und wurden ſehr betrübt, und warb ihnen bange, von weldhem er te»
bete, und huben an, ein jeglicher unter "ihnen, und fagten zu ihm einer nad) dem ans
dern: Herr, bin ichs? und der Andere: Herr, bin ichs? Er ano and ſprach
zu ipmen: Giner and den Zwölfen, der mit der Hand mit mir in die Schüffel tan-
et, der wird uni verrathen. Des Menſchen Sohn ——æ wie non ihn
:136 Der Vorhof.
geſchrieben ſteht und befchloffen ift; body wehe demſelben Menſchen, durch welchen bei
Menſchen Sohn verrathen wird; es wäre demſelben Menſchen beſſer, daB er noch nie
geboren wäre. Und fie fingen an zu fragen unter ſich ſelbſt, welcher eB doch wäre
unter ihnen. Es war aber einer unter feinen Juͤngern, der zu Tiſche ſaß an der
Bruft Jeſu, welchen Jeſus lieb hatte. Dem wintte Simon Petrus, daB er forfchen
-follte, wer e8 wäre, von dem er fagte. Derfelbige Ing an der Bruft Iefu und fpred
zu ihm: Herr, wer ift e8? Jeſus antwortete: Der ift e8, dem ich ben Biffen ein-
tauche und gebe. Und er tauchte den Biffen ein, und gab ihn Juda Simonis Iſcha⸗
rioth. Da ſprach Iudas: Bin ich's, Rabbi? Er ſprach zu ihm: Du fagk ed! Und
nad dem Biffen fuhr der Satan in ihn. Da ſprach Iefuß zu ihm: Was bu Huf,
das thue bald. Daffelbige aber wußte niemand über dem Tifhe, wozu er eb ihm
fagte. Etliche meinten, bieweil Indas den Beutel hatte, Jeſus ſpräche zu ihm: Kaufe,
‚was und noth ift auf das Feit, oder, daß er den Armen etwas gebe. Da er nun ben
Biffen genommen hatte, ging er fo bald hinaus. Und ed war Radt. Da er hie
ausgegangen war, fpricht Jeſus: Nun ift bes Menfchen Sohn verflärt, und Gott ik
verfläret in ihm; ift Gott verfläret in ihm, fo wird ihn Gott auch verflären in ihm
ſelbſt, und wird ihn bald verflären.
Am Strahl der Sonne, diefes herrlichen Geftirns, reift die Traube,
aber auch der Sodomsapfel. Das Evangelium, das dem Einen ein
Geruch des Lebens zum Leben tft, wird einem Andern ein Geruch des
Todes zum Tode, Ehriftus ift gefeßt zum Fall und Auferftehen Vieler.
Siehe, elfe feiner Bertrauteften verklären fich in feiner Gemeinfchaft
zu welterleuchtenden Gottesfternen. Ein Zwölfter verdüftert ſich in
derfelben Atmoſphaͤre zu einem Phantom der Nacht, zu einem Hoͤllen⸗
kinde!
Um Judas Iſcharioth ſammeln ſich heute unſere Gedanken. Wir
richten auf'ihn zuerſt, und dann auf feine neuſten Brüder unſere
Blicke.
Ein dunkler, ſchauerlicher Gang, den wir in unſerer diesmaligen Be⸗
trachtung gehen. Lehre er uns vor uns ſelbſt erſchrecken, und gereiche
er uns zum Sporne, unſere Seelen in Sicherheit zu bringen!
ungefaähr um dieſelbe Zeit, da * Wort zu Bethlehem Fleiſch ward,
und die Engel Gottes dem Erſchienenen ihr ſeraphiſches Wiegenlied
ſangen, war Freude auch in der Hütte Simons zu Carioth im Stamme
Juda; denn auch hier hatte ein Söhnlein, wenn auch ein menſchliches
nur, das Licht der Welt erblickt. Ich denke, die himmliſchen Hüter
der Kleinen haben auch ihm ihren Willlommsgruß entboten, und feine
Eltern nannten dankbar und hoffnungsfroh das Knäblein „Judas“,
d. i. „Gottes Lob" oder „den Belenner“, und weihten's Damit in
Indab Iſcharioth. 137
ſtiller Rührung dem Allmächtigen, der es ihnen in Gnaden ſchenkte.
Bar doch das Söhmlein wohlgeftaltet und lieblich anzufehn, und ftand
ihm Doch noch nicht am der Stimm gefchrieben, was aus ihm werden
und ihm begegiien würde. Ach, wir fchauen jet jenes häusliche Er-
eigniß mit andern Augen an, und das ffeſtlich geſtimmte Elterupaar
mit tiefer Wehmuth; denn wir willen, daß fchon über der Wiege
ihres fo heiter begrüßten Säuglings ein düfterer Schleier gebreitet
lag, gewoben aus Prophetenfprüchen, wie Pfalm 41, 10: „Auch mein
Freund, dem ich vertrauete, der mein Brod aß, tritt mich mit Fü-
ſßen;“ und Pfalm 109, 17: „Er wollte den Fluch haben, der wird
ihm auch kommen; er wollte des Segens nicht, fo wird er auch ferne
von ihm fein.” — Wahrfagend von der Zukunft des Neugeborenen
tauchte fern der grauenvolle Schatten Ahitophels auf. Die Eltern
ſahen ihn nicht. Wir gewahren ihn und erzitten! — Aus den frü-
beren Lebenstagen des Judas entbehren wir zwar jeder Ueberliefe⸗
mng; gehn aber gewiß nicht irre, wenn wir uns feine fortfchreitende
Entwidelung als eine zu ungewöhnlichen Hoffnungen berechtigende den⸗
fen. Er erzeigte ſich bald als einen Menfchen von hervorragenden
Beiftesträften, fcharfem Verſtande, ftarfer Erregbarkeit und energiſchem
Willen, ımd erfchien darım, wie er deſſen felbft wol frühe genug
fich bewußt geworden, für Bethätigungen höherer Gattung, als die
engbegrenzten Gleiſe eines bürgerlichen Stillfebens ihnen Raum ges
währen, angelegt. Wie der elektrifche Stoff, der die Luft durchs
ſtroͤmt, je nad) dem die Bedingungen zufammentreffen, entweder zu
einer Unheil drohenden Feuerkugel fi zufammenballt, oder zu wohl
thaͤtigen, die Atmofphäre reinigenden und belebenden Blitzen fich ver-
dichtet, fo lag ein Entweder, Dder diefer Art auch in der Nas
her des Mannes von Carioth. Daß Dderfelbe irgendwie einmal auf
der Bühne des öffentlichen Lebens fi) werde bemerkbar machen, war
vorauszufehn. Je nach dem er mit der Fülle feiner Anlagen unter
fine himmliſche oder gegentheilige Bewirfung gerieth, mußte er zu
mem auserwählten Rüftzeuge Gottes, oder zu einem Apoftel uud
Bannerträger des Satanas ſich entwideln. Wehe! er ging den Weg
per Linken; und mit tieferem und gerechterem Schmerze, als Jeſaias
dem Könige von Babel, rufen wir ihm die Worte nah: „Wie bift
ya vom Himmel gefallen, du fchöner Morgenftern!”
Das Heidenthum kennt feinen Judas, und konnte einen folchen
nicht erzeugen. Solch Ungethüm reift nur im Steahlenfreife des
138 Der Vorhof.
Chriſtenthums. Daß Judas unter dem glüdfichften dee Sterne ge
boren wurde, das wurde fein Unftern Er kam mit Chriſto in
eine zu nahe Berührung, als daß er, wo er nicht ganz Sein ei⸗
gen ward, nicht gänzlich des Satans hätte werden muͤſſen. Auch
Judas hat einmal feine Zeit gehabt, da „die Leuchte Gottes über fei-
nem Haupte, das Geheimnig Jehovas über feiner Hütte” war. Auch
ihm gebrach es einft an der Empfänglichleit für Eindrüde der hehr⸗
ften Gattung nicht, und feine Seele war jedes edleren Gefuͤhlsauf⸗
fhwunges fähig. Die Erfcheinung des „Schönften der Menſchenlin⸗
der” in ihrem Thaten- und Wunderglanze zog ihn an, wenn auch das
Heilandsmäßige und Sünderfreundliche tn Jeſu Perfönfichkeit
ihn weniger reizt. Er ſchwur, freilich ungebrochenen Herzens, wit
einer jugendfich fchönen Schwärmerei zu Jeſu Fahne; und der Her
zensfündiger, dem die verheißungsreiche Begabung des in einem ge
wiften Maße wirklich für die Sache Gottes entflammten Junglings
nicht entging, öffnete ihm vertrauensvoll die Schranken zu feinem
nächſten und intimften Yüngerkreife. Nimmer würde dem Indas biefe
Gnade zu Theil geworden fein, hätte er ſich Tediglih aus unlantes
ren Beweggründen dem Herrn angeichloffen. In dem Momente, da
er fi dem Meifter zu Dienft erbot, war er kein Heuchler, minde⸗
ſtens fein bewußter. Und wenn er binfort mit den Abrigen Juͤn⸗
gern bald betete, bald fi in Gottes Wort erging, bald fogar, wie
es fpäter gefchah, Diefes Wort auch Andern verkündete, fo geſchah
dies eine Zeitlang unftreitig noch mit einem gewiffen Maße innerer
Wahrheit; zu abfichtlicher Täufchung und Verftellimg ging er erſt
fpäter über. Der Herr überwies ihn das Amt eines Empfängers
und Verwalters der Xiebesfpenden in feinem kleinen Kreiſe, und
that dies unfehlbar aus feinem andern Grunde, als weil er ihn für
diefe Verrichtung als den tüchtigiten erkannte, Manche haben zwar,
faft Täfterlich, gemeint, der Herr habe ihm in der Abficht Die Kaffe
anvertraut, um ihn zu verfuchen; aber ein folder Gedanke ift ſchlecht⸗
hin zu verwerfen. Im Gegentheil beut uns jener Umſtand einen neuen
Beleg, daß Judas im Beginn feiner Süngerfchaft das volle Vertrauen
feines Meiſters befaß, wenn es Diefem auch nicht verborgen bleiben
konnte, daß e8 dem Juͤnger am einer durchgreifenden Selbfterfeuntniß,
und namentlich an Der Herzenszerfnirfchung noch gebrach, an weiche als
lerdings die Theilnahme au dem Erlöfungsheile Gottes ald an ihre
unerlägliche Bedingung gelnuͤpft iſt. Inter aller Ueberwucherung from⸗
Iudas Iſcharioth. 139
men Empfindungsiebens blieb in feinem Innern doch eine böfe Wurzel
haften: die Liebe der Welt, und namentlich ihres Goldes und ihrer
eiteln Ehre; umd in der That täufchte Judas fich felbft, wenn er ſei⸗
wen Eintritt in den Juͤngerkreis Jeſu viel tiefem und geheiligteren
Motiven zuichrieb, als fie in der Sehnfucht nad) der Verwirklichung
der immer nur irdifchen Zauberbilder Tagen, die ihm feine lebhafte
Phantafie hinter dem Reiche, zu deſſen Aufrichtung der Herr erfchies
nen fei, vorfpiegelte. Wie er felbit bei feinem Anſchluß an die Sache
des großen Nazareners durchaus dem Zuge einer höheren und edieren
Erregung zu folgen vermeinte, fo glaubten das nicht minder von ihm
feine Mitapoftel. Rur dem Auge des Herrn entzog fid) der verftedte
Schade feines Innern nicht; aber der Schade war ja nicht unheilbar,
und Ehriftus dazu eben erfchienen, daß Er als der göttliche Arzt das
Kranke heile und das Verwundete verbinde.
An Nichts hat es die barmberzige Liebe Jeſu fehlen laffen, Ddiefe
Heilung herbeizuführen. Aber wehel der Erfolg entſprach feiner zar⸗
ten und unermüdlichen Sorafalt und Samariterpflege nicht. Nur
zu bald fchon ftellte ſich'ſs heraus, daß die anfänglich fo fchöne Bes
geifterung, auf deren Flügeln Judas in die Nähe des Friedensfürs
fen getragen wurde, ihrem innerſten Kerne nach nichts weniger, als
ein reines Feuer vom Himmel war. Denn je mehr er an dem Les
bensgange des Herm, wie an des Herrn Meußerungen und Reden
dad Zruggebilde feiner finnlichen Reichsausfichten zerfahren fah, um
deſto tiefer brannte der Flammenſtrauß feines fcheinbar fo heiligen
Cathuſiasmus fichtlich herunter; und was als Heft deffelben in feis
wem Herzen zurücdhlieb, war das ungeläuterte Feuer feines felbftifch
tedifchen Erwartens ımd Begehrens. Wohl feheint faft zu ſtark, was
Jemand gefagt bat, daß „ein Jeder feinen Preis habe, für den
er ſich hingebe.“ Aber den unwiedergeborenen Menfchen trifft dies
ſes Wort in der That, wie lange e8 auch währe, bis es ſich faktiſch
an ihm bewahrheite. D, täufchen wir uns nur nicht: es wohnt auch
den greßartigften Gharakteren, fo lange fie nicht durch Ehriftus ges
heiligt wurden, die Fähigkeit inne, nach Umftänden nicht allein klein⸗
fich, fendern gar niedrig und gemein zu fein. Der natürliche Menſch
vertiert auch in feiner vergeiftigtften Geftalt fein centaurifches We⸗
fen nicht, vermöge deſſen er, nachdem er vielleicht eben erft den hoͤch⸗
Ken Idealen nachgejagt, einen Augenblid fpäter mit jenem Thiere in
Eden auf dam Buche Irierht und Erde iſſet. —
140 Her Borbef.
Dem Judas kam der verhängnißvolle Moment, in welchem es ihm
wirklich gelang, die ernften Bedenken zu bemeiftern, die Seitens feines
noch nicht ertödteten Gewiffens wider das freufe Gelüfte feines Her⸗
zend nach einer felbfterwählten Schadloshaltung für die erfahrene Taͤn⸗
[hung erhoben wurden. Wahrſcheinlich unter der trügerifchen Selbſt⸗
überredung, daß er nur ein Darlehn zu entnehmen beabfichtige,
legte er zum erjten Male die diebifche Hand an die ihm awer⸗
traute Liebesfaffe; und nachdem er einmal die Schranken feines ſitt⸗
lichen Bewußtfeind durchbrochen hatte, erfolgte der zweite und jeder
fpätere Unterfchleif ſchon um fo leichter und ungehemmter. Nun aber
ftellte das richtende Gewiffen in der Perſon feines heiligen Meifters
fih ihm von Außen gegenüber. Das Licht der Welt ward ihm zum
brennenden Feuer; der Sünderheiland, in feiner ſtummen Erfcheinung
fehon, zum Inquiſitor, vor welchem er entweder als einen todesſchul⸗
Digen Buben fi) bloß zu geben, oder — und er wählte das Leßtere,
— in die Schleier fheinheiliger Lüge fih zu verhüllen hatte. Cine
geraume Zeit glaubte er fih in der Vermummung feiner nunmehr
bewußten Heuchelei gefichert; da trat der Vorgang im Haufe Simons
des Ausfägigen zu Bethanien ein. Maria's Liebe falbte den Herrn.
Judas, organlos für das Zarte und Tiefe dieſer Handlung, ver
glimpfte die That mit der fcheinfrommen und doch fo rohen Bemers
fung: „Diefe Narde hätte befjer verkauft, und das Geld dafür den
Armen gegeben werden mögen.“ ‘Der Herr, alfobald in den Riß tre
tend für die gekränkte Süngerin, lobte deren Werk als ein „fchönes“,
defien nimmermehr werde vergeffen werden, und wies die ungebörige
Bemäfelung, die der herzlofe Heuchler fih erlaubte, mit der ernften,
Mark und Bein durchdringenden Erwiederung zurüd: „Arme habt ihr
allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.* An diefem Worte,
und mehr noch an dem ſchmerzlich mitleidsvollen Blid, womit der
Meifter dafjelbe begleitete, ging dem verfappten Jünger mit einem
Male das volle Bewußtfein auf, daß der Herr fein Inneres durch⸗
fhaue und um feinen Zrevel wiffe. Ein entfcheidender Moment dies
für Judas! Ein Augenblid, in dem er feiner Wahl nod) einmal den
Segen und den Fluch vorgelegt erblickte, und der nach irgend einer
Seite hin auf feine weitere innere Lebensentwicklung mit Rothwen⸗
Digfeit einen beftimmenden Einfluß üben mußte. Entweder flürzte der
verirrte Sünger jegt unter einem Strom von Reuethränen zu ef
güßen nieder, und fuchte mit dem unverholenen Bebenntuiß feines vers
Judas Iſcharioth. 141
lorenen Zuftandes Rettung und Erbarmen am Thron der Gnade; oder
es flegte in ihm das gefränfte Chrgefühl, und machte, in die entges
gengeſetzte Bahn einer abfichtlichen Verhärtung ihn hineinreißend, dem
Satan Raum, den Höllenfunken einer geheimen Erbitterung wider den
ihm einzuflößen, defien Bli er fortan als eine verhaßte Fackel über
dem nächtigen Abgrımde feiner Seele fchweben ſah. Ihr wißt, welche
diefer beiden Straßen Judas einfchlug. Gleich nach dem immer noch
milde flrafenden und nur auf feine Heilung berechneten Worte des
Meiiters eilte Judas aus der Verſammlung zu Bethanien hinweg. Wo⸗
bin er fi wandte, tft euch bewußt. Unter den Widerfahern Jeſu
fühlte er fich heimiſcher jeßt und mehr in feinem Clemente, als im
Kreife feiner bisherigen Genofien. Der Dreißig- Silberlinge- Handel
wird abgefchloffen, mehr jetzt aus einem geheimen Rachedurft, als aus
Geiz und Habſucht. Den Remonftrationen feines Gewiſſens begegnet
Judas mit der Ausrede, e8 werde dem wunderthätigen Rabbi ja ein
Leichtes fein, falls er wolle, aus den Händen feiner Feinde fich zu
reiten. Uebrigens wußte Judas nur halb no, was er that. Er
hatte fi in einen Strudel hineingeftürzt, dem fein Widerftand mehr
zu leiften war. Er führte wicht mehr fich felbft; ein Anderer riß
ihn hinter fih ber. Er war in dem graufigen Stadium angelangt,
in. welchem, wie der Prophet fi) ausdrüdt, „ unfre Füße ſich an
den Dunkeln Bergen ftoßen.“
Man follte meinen, Judas habe von nun an die Nähe Jeſu wicht
mehr ertragen können, Nichtsdeftoweniger erbliden wir ihn bald wies
der an feiner alten Stelle inmitten der Zwölfe. Ob, was ihn dahin
zurädgeirieben, die folternde Unruhe und der Bann in feinem Innern
war, oder etwa die Beforgniß, durch feine Abwefenheit Verdacht auf
fich zu ziehen; oder ob er gar die Möglichkeit mit in Rechnung brachte,
Daß e8 immer noch zu einer Reihsaufrichtung Jeſu nad ſei⸗
nem, Des Judas, Sinne kommen fönnte, und er für ſolchen Fall
fich feine Rolle zu referviren gedachte? — Ich weiß es nicht. Aber
vielleicht, daß alle dieſe Motive zufammenwirkten. Genug, wir be
gegnen dem Kinde des Berderbens fogar auch noch in dem lepten
trauten Abendfreife zu Serufalem, und fehn den Herm aufs neue Al
les verfuchen, um die zum Tode franfe Seele noch zu reiten. Aus
zarter Schonung für fein Ehrgefühl fordert er ihm die Kaffe nicht ab,
fondern beläßt ihn auch jeßt noch in feinem bisherigen Amte. Aber
Daß er um die Gefahr wiffe, in welcher des armen Jüngere Seele
142 Der Borbef.
ſchwebe, das muß er ihm zu verftehen geben; und Darum gefdhiehet,
was wir jebt vernehmen. Wie fie nämlich bei Zifche ſitzen, be
ginnt der Herr mit tiefer Ergriffenheit und fichtlicher Liebeswehmuth:
„Wahrlich, wahrlich, ich fage euch: Einer unter eu wird
mich verrathen!“ Mit unausfprechlicher Beftürzung fahren die Elfe
zufammen, fehen fich einander erfchroden und befümmert an, und bres
hen Einer nach dem Andern in die änaftlihe Frage aus: „Herr,
bin ich's, bin ichis?“ Der Mann des Todes meldet ſich nicht.
Ach, nur nad Minuten noch bemißt fich feine Gnadenfriſt! Es ruſt,
als fpräche fein guter Engel, eine Stimme in feinem Innern: „Gut
decke dich, Judas; wirf die Larven von Dir und entrinne, vor Thor
ſchluß noch, dem ewigen Verderben!“ Aber Judas ftreubt fi md
widerftrebt, und huͤllt ſich nur tiefer noch in feine Schleier; denn die
Stimme eines Andern fchlägt mächtiger in feiner Seele durch, ud
übertäubt in ihm jede befjere Regung. Da gibt der Herr feiner An⸗
zeige eine beftimmtere Faffung, und ſpricht: „Einer aus den Zwäls
fen, der mit mir in die Schüffel taucht, wird mich vers
rathen;“ und dann fpricht er feierlich das Wehe aus über den,
der diefe ungeheure Zrevelthat vollbringen werde, und entfchletert dem⸗
felben feine Zukunft; und diefe Zukunft ift — die Hölle. Ach, der
legte Mahnruf zur Rettung donnert in diefen Worten des Herrn den
unglüdfeligen Jünger an. Den Elfen erzittert das Herz. Simon Pe
tru8 winkt dem Apoftel, der an Jeſu Bruft Ing, daß er forfchen möge,
wer der fei, von dem der Meifter fagte. Johannes wagt, nicht ohme
Schüchternheit, die Frage: „Herr, wer ift es?“ — Da reißt der Meis
fter dem Berräther die Iehten Zehen feiner Maske vom Angeſicht und
fpriht: „Der ift es, Demic den Biffen eintaudhe und gebel*
Und indem er's fpricht, taucht er den Biffen in die Schüffel und reicht
ihn vor Aller Augen dem Juda Simonis Iſcharioth. Ein Schau
der überfällt die Jünger. Und Judas? — Da fteht er, todtenbleid,
zitterig, unftäten Blickes und faſſungslos. O Judas, noch ift es Zeit!
Immer noch war es Bußglodenklang, was an dein Ohr Thing!
Schlage in dich, fchleudre die Vermummung von dir, befenne, uud
fhreie um Gnadel — Aber, — „bekennen?“ denkt Judas bei fich felbft;
„Dem noch die Ehre geben, der fo ſchonungslos dich bloßgeftellt?
Angefihts deiner Gefellen dich felbft zum Schandpfahl verdanmen
und vor aller Welt als eine Memme, als einen jänmerlichen Seigs
ling dich erzeigen? — Nein, behaupte dich, Judas, fei ein Mann,
IAwal Iſcherioth. 143
wud handle folgerecht!“ — — Go heißt es in feinem Innern; mb
mit einem Gemiſch von entfeglicher Frechheit und tiefftem Jagen wagt
er noch, den dargereichten Biffen in erheuchelter Unbefangenheit ver
ſchluckend, der beftimmten und unzweideutigen Bezeichnung des Meis
ſters gegemüber, die freilich mit Mühe bingeftotterte Frage: „Rabbi,
bin ich's?“ Da enigegnete der Herr, mit unendlichen Herzeleid
das Berderbenskind nın verloren gebend: „Du fageft es!’ m
diefem Momente aber überwand in Yudas der böfe Wille den lebten
ud mächtigften Gnadenzug, und die Sünde wider den heiligen
Geift war vollendet. Das „Jahr des Heils“ fchloß fi ab; Die
Stunde der Heimfuchung göttlicher Barmherzigkeit hatte ausgeſchlagen.
Die Engel des Friedens traten trauernd von feiner Seite weg; der
Satan aber triumphirte und „fuhr in ihn* Das Wort des Herm:
„Eiuer unter euch ift ein Teufel," war nunmehr eine Wahrheit
geworden. — Die furdhtbarfte Menfchengeftalt, die bis dahin Die
Erde beirat, fland ausgeboren auf dem Plane.
„Bas du thun wiltft,* rief der Herr ihm fchliehlich zu, „das
thue bald;*" und gab ihm damit zu verfiehn, daß er fein ganzes
Borhaben wiſſe. Zugleich deutete er ihm damit an, daß er ihn bins
Sünderliebe fi zu unterziehen im Begriffe ftehe. Die Elfe wuß-
sen ſich die Worte: „Was du thun willft, das thue bald,* nicht zu
entziffern. Etliche unter ihnen meinten in ihrer Arglofigleit, weil Ju⸗
das den Beutel führte, fo fpräche Jeſus zu ihm: „Kaufe, was und
noth ift auf das de; ;* während Andere dafür hielten, der Meifter
gäbe dem Indas einen Wink, daß er den Armen eine Liebesgabe über;
beingen ſolle. So fern lag felbft ihrer Ahnung noch das Bars
brechen, welches ihrer Mitfünger einer im Schilde führte. Diefer
Dagegen verftand den Meiſter defto befier. Ueberſehen wir indeß
wicht, Daß Jeſus mit feinem „Was du thuft, das thue bald,“ zugleich
den Berräther jetzt aus dem Kreiſe ſeiner Vertrauten und dem Ver⸗
gen Johannes fußend, ſich den Judas bei der Einſetzung des Sakra⸗
ments nicht mehr gegenwärtig denken. — Kaum, daß das verlorene
Kind auf den erhaltenen Wink das Gemach geräumt hatte, und der
Meifber mit feinen elf Getrenen fich allein ſah, ward Dieſem wieder,
144 Der Border.
o, wie viel Teichter um’8 Herz. War es doch auch, als wäre die ganze
Atmofphäre plöglich eine andere, umd, ich weiß nicht, von melden
unheimlich beffemmenden Elementen gereinigt worden. Freier athmete
der Heiland wieder auf, und begann dann in erhabenem Geiſtesauf⸗
ſchwung: „Nun ift des Menfhen Sohn verklärt, und Gott
ift verffärt in ihm; ift Gott verfläret in ihm, fo wird ihn
Gott auch verflären in ihm felbft, und wird ihn bald ver
klären!“
Judas ging bin. Mit ſchauerlicher Bedeutſamkeit bemerkt bie
Geſchichte: „Und es war Nacht.“ Ja, Nacht von außen und von
innen. Wir erblidlen den Beweinenswerthen jebt ganz unter die Ge
walt der finftern Mächte verkauft, und zum Allerentfeglichften gerüſtet.
Denn was hat er vor, was foll gefchehen? Ein lichtſcheues Nacht⸗
gefpenft ſchickt fih an, rachefchnaubend die Sonne auszulöfchen, Die
feine Schwärze ihm beleuchtet. Ein wahnftnniger Zitan unternimmts,
in dem Heiligen Iſraels den Thron der fittlichen Weltordnung wmzus
ftürzen, damit die Sünde binfort nicht mehr erzittern müffe. Ein vom
Pfeil feines Gewiffens Verwundeter ift darüber aus, das allgemeine
und perfönliche Gewiſſen, welches in Ehrifto erfchien, und den lie
theilsfprüchen des individuellen erft das göttliche Siegel aufdrüdi,
in feinem Blute zu erfliden und aus der Welt hinwegzutilgen. Seht,
Dergleichen iſt's, wozu Judas jebt, ob auch mit verworrenem und halb⸗
foren Bewußtſein nur, fi gürtet. Die unheimliche Macht, der er
anheimgefallen, reißt ihn im Wirbel mit fih fort; und in feiner
Gewalt ftehet ed nicht mehr, wie er wandele und feinen Gang richte,
2.
- Judas, Judas, wäreft du Deines Stempels der einzige ges
blieben! Aber Die Zahl deiner Brüder, in unfern Zagen zumal, heißt
Legion. Nicht zwar waren diefe deine Sinnesgenofien Apoftel einft,
wie Du. Aber wie du athmeten auch fie die Luft des Evangeliums,
und fahen, wie du, von den Strahlen des ewigen Morgenfterns
fi) angefchienen. Sie wurden getauft, wie du; fie wuchfen, ges
tränft mit den Anfchauungen der göttlichen Wahrheit, auf, und fagten
am Zage ihrer Confirmation, mehr oder minder bewußt, in feierlichkter
Weife fi dem Herrn und feinem Reiche zu. Aber, untreu dem heis
ligen Gelübde, verfielen fie mit der innerften Richtung ihres Herzens
dem Gotte Diefer Welt; und zu ihrem Ideale erhub ſich, flatt des
göttlichen Licht⸗ und Friedensreiches, ein anderes, in welchem das
Judas Iſcharioth. 145
Fleiſch in fchrankenfreier Bewegung zu feiner vollen Befriedigung
gelangen follte, Diefem Reiche jagten und jagen fie nad. Aber
nun vertritt Einer ihmen den Weg zu ihrem Ziele. Das ift der Heis
lige auf dem Stuhle Davids, mit feiner Macht, „Chriſtenthum“
genaunt. Der fordert Kreuzigung des Fleifches fammt Lüften und
Begierden, unbedingte Unterwerfung unter Gottes Gebot, unausgefeß-
tes Streben nad) Gottveräßnlihung; und fchüßt den Beſitz, heiligt die
Ehe, friedigt die Familie ein, und flucht wie dem Aufruhr, dem Meins
eid und jeglichem Lug und Zrug, fo der Unzucht, der Schlemmeret,
umd jedem Verſtoß gegen die fittliche Weltordnung, als deren Träger
und Anwalt Er ſich Darftellt. Und fie, Die dagegen ihre Gefüfte zum
Weltgeſetz erheben möchten, fühlen in ihrem Gewiffen mehr oder min-
der alle noch das Gewicht feiner Forderungen, wie den Stachel feiner
Zlüche, und find, aud ohne es einzugeftehn, innerlich genöthigt, den
Barnungen und Weiſungen des Chriftentbums, in welchem fich die
abfolute und unabweislihe Wahrheit vor ihnen geltend macht, wider
fih ſelber Recht zu geben. Dies aber erfüllt fie mit Verbitterung,
umd entzündet in ihnen den Abgrundsfunfen eines geheimen Haſſes
gegen das Evangelium und deſſen Kern und Stern, den Herrn,
Denn fie begehren, was nicht taugt, und wollen Dabei doch uns
gerichtet fein und bleiben. So werden fie denn zu Himmels⸗
flärmern, und gehen in das Eoloffale Wagniß des Satans ein, der
Macht und Gründung Gottes im Chriftenthume den Krieg zu erflären,
md die ganze Welt chriftlich fittlicher Anfchauungen in das Riefen-
grab eines gottess und unfterblichfeitsfeugnerifchen Materialismus ber
graben zu wollen. Sie zimmern für Jeſus das Kreuz eines Schwärs
mers, für fein Evangelium den Mumienfarg einer fogenannten „Antis
quirung“, für feine ganze Kirche die Pilatustreppe, über deren
Stufen diefelbe vom Schauplap der Wirklichkeit in ein Reich der
Schatten niederfteige; und erneuern den YJudasverrath an dem Herrn
um die Dreißig-Silberlings-Beute eines erhofften Weltreichs, in dem
an der vergiftenden Milch einer vergänglichen Erdenluft binnen Kurzem
jedes Bewußtfein von einer höheren Menſchenbeſtimmung für immer er-
fterben fol. Horcht euch nur um, wie unverholen ſchon aus dem Lager
der Belt heraus das teuflifche Feldgefchrei ertönt: „Hinweg mit Jeſu
und dem Wort von feinem Kreuze!” a, haben nicht felbit Laute
fhon unfer Ohr zerriffen, wie das entjeßliche: „Fluch dem alten
Gotte!“ umd Zofingen unfer Herz empört, welche die Begriffe: Bots
| 10
146 Der Vorhol.
tesfurcht, Tugend, Sitte, Keufchheit, ja Alles, was Gebot und Verbot
heißt, als dem Reiche verjährter Hirngefpinnfie anheimgefallen profia-
miren? Grfcheinungen, wie fie uns heute begegnen, fah im folcher
antichriftifchen Reife und ſolcher Maffenhaftigleit die Welt noch nie.
In taufend gefteigerten Gegenbildern fteht der Verräther Judas, got
teömörderifchen Hafles voll, wieder auf dem Plane; und wenn ein
Lehrartikel der heil. Schrift zu dieſer unferer Zeit feine haudgreifliche
Beftätigung findet, Dann iſt es derjenige von der Eriftenz einer Obrig-
feit der Finfterni und eines Reiches fatanifcher Abgrundsmächte. Jeßt
erfüllt fich, was der Seher Johannes prophetifch zeugte: „Der Teufel
hat einen großen Zorn, fintemal er weiß, Daß er nur wenig Zeit hat.“
Die Pfingften der Hölle find erfüllt. Wie einen Feuer⸗ md Schwefel
regen gießt fie ihren Geift über die Menfchheit aus, und ihre Schild
träger und Apoftel wachfen ihr wie Pilze aus der Erde,
Sehe ſich denn ein Jeder vor, Daß nicht auch er mit jener Taufe
getaufet werde. Wer nicht heute fhon für den Herrn fich entſchei⸗
det, der kann morgen bereitö wider ihn fiehn und mit Dem Fahnen
des Satans ziehn. Die Neutralität ift ein verlorener Poſten.
Wer halbwege nur in die herrfchende Richtung unfrer Tage eingeht,
der endet, ehe er ſich's verfieht, der beften Vorfäge obnerachtet, die er
faßte, im Judas haſſe, d. h. im Neb des Teufels; und wer dem
Zeitgeifte auch nur eine Fingerfpige darreicht, Darf ficher darauf rech⸗
nen, daß ihm bald die ganze Hand genommen fein wird.
Zum Herm darum, eilends zum Herrn! Mit Leib und Seele als
„ganze Opfer“ ihm ums bingegeben! Heute noch fleht uns die Zu
flucht feiner Wunden offen; aber vielleicht fchon morgen nicht mehr.
Auf denn, bringen wir in fie unfre Seelen in Sicherheit, und fenfgen
wir aus der Tiefe unſres Herzens:
Behäte, guter Hirte,
Mich vor des Satans Strid,
Und zeuch mich, wo ich irrte,
Schnell an Dein Herz zurüd!
O, ſchleuß in beine Hände
Mich, Rode im Winde, ein,
Und laß mich Hiß an’8 Ende
Ganz, ganz dein eigen fein. Amen. —
— U} | U ( )
Der Dqgerul 147
XIV.
Der Weheruf.
Bevor Iftael, an den Grenzen des gelobten Landes angelangt, die
legteren wirklich überfchreiten durfte, hatte es noch fchwere Kämpfe zu
beftehn, aber auch in Jehova's Namen furchtbare Gerichte über feine
und des Herrn Feinde zu vollziehn.
So geſchah ed ımter Anderm, daß jenes Volk fi ihm entgegen-
ftemmte, von welchem der Herr einft zu Abraham fagte: „Die Miffes
that der Amoriter ift noch nicht alle.“ Sept war das Maaß ihrer
Sünden voll. Wie lange hatte der Herr diefe blinden Heiden mit
unermmüdlicher Geduld getragen! Wie wiederholt und ernftlich fie ges
warnt! Wie reiche Gelegenheit, Ihn, den allein wahren Gott, zu erken⸗
wen, ihnen dargeboten! Aber fie hatten ihr Herz verhärtet., Nun war
die göttliche Langmuth ber ihnen erfchöpft, und die Stunde der Ders
geltung für fie berbeigelommen. Der Herr gab fie in Iſraels Hand,
und Iſrael ſchlug fie mit des Schwertes Schärfe, daß von dem vers
meſſenen Heere nicht Einer übrig blieb.
Ein Gleiches widerfuhr nah 4 Mof. 21, 1—3 dem Könige Arad
und feinen Ramaniterhaufen, die fi) ebenfalls wie ein flarrender Lans
zenwald dem heranziehenden Wanderzuge Iſraels in die Straße ſcho⸗
ben, und ihm den Eingang in das Land der Verheißung abzufchneis
den drobten. Iſrael fchrie zum Herm, und Gott erhörte die Stimme
feines Volls. Die Feinde wurden niedergeworfen, die Gefangenen
gebannt, d. i. dem Tode geweiht, und ihre Städte zerflört und dem
Erdboden gleich gemacht, Und der Drt, wo Sfrael den Sieg erfocht,
hieß fortan zu ewiger Erinnerung, daß Gott fih nicht ſpotten laſſe,
„Harma“, d. i. Bann⸗ und Fluchſtatt.
Solcher Harma's, ſolcher Denkmale Seines richterlichen Ernſtes
hat Gott gar manche aufgerichtet in der Welt. Wir kommen auch
hente zu einem ſolchen. Laſſe uns die Gnade von einem Dornbuſch
eine Segenstraube brechen! —
10®
148 Der Verhoſ.
Matth. 26, 24.
Des Menſchen Sohn gebet zwar dahin, wie von ihm geſchrieben fehet; doch wehe
dem Menſchen, durch welchen des Menſchen Sohn verrafben wird. Es wäre ihm beſ⸗
fer, daß derfelbige Menſch nie geboren wäre.
Dies die Grabſchrift, welche der Herr felbft feinem unglückſeligen
Jünger Judas fegte. Die Worte haben ſchauerlichen Klang. Wie
Gefchmetter der Gerichtspofaune hallen fie Durch unfre Mitte. Weichen
wir ihnen nicht aus, fondern nehmen wir fie treu und tief zu Her⸗
zen; denn fie enthalten einen Gnadenruf, und verfehren fich für
uns in ein donnerlautes „Eile aus Sodom, und errette Deine
Geele!*
Den Weheruf Jeſu über feinen Verräther machen wir am Ges
genſtand unfrer Betrachtung, und nachdem wir zuerft Die Schauer
Diefes Rufes angefchaut, verftändigen wir uns zum Andern über
die Grenzen feiner Anwendbarkeit aufuns und unfre Zeits
genoffen,
Was gefchrieben fteht, ward uns „zur Lehre, zur Strafe, zur Beh
ferung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit” gefchrieben. Möge dies
heute in jedes Einzelnen Erfahrung fi) bewahrheiten! Gott walte
es in Gnaden!
1.
Wenn Jemand mid, fragen wollte, welchen Ausfpruch ich für den
erfchütterndften und fchredenvolliten des ganzen Bibelbuchs erachtete,
fo würde ich mic) auf die Antwort nicht lange zu befinnen brauchen.
Ich wiefe weder hin auf das Wort 5 Mofe 27, 26: „Verflucht fei
Jedermann, der nicht hält Alles, was gefchrieben ftehet im Buche des
Geſetzes;“ noch auf das Zeugniß oh. 3, 36: „Wer an den Sohn
Gottes nicht glaubt, der wird das Leben nicht fehn, fondern der Zorn
Gottes bleibet über ihm." Nicht einmal erinnerte ich an das nieder
fhmetternde Wort des Apofteld Paulus zu Bar⸗Jehu: „O du Kind
des Zeufels, voll aller Lift und Schalfheit*, noch an die Weherufe
des Herm felbft über die Phariſäer und Schriftgelehrten Matth. 23.
Ich führete vielmehr den Fragenden geradesweges zu unfrer heutigen
Tertesftelle, und wäre feines Zugeftändniffes gewiß, daß hier der
furchtbarſte aller Donner rolle, die bin und wieder auch die Friedens
harmonie des Evangeliums unterbrehen. Wie Manchem, der umvers
fehrt am Sinai vorbeigelommen, ift bier das Herz zerfprumgen und
der Schrei nad) Gnade abgenöthigt worden!
Der Wehernf. 149
Hört, hit! „Wehe dem Menfchen, Durch welchen des Men:
Then Sohn verrathen wird. Es wäre demfelbigen Men-
Then beffer, daB er nie geboren wäre!" Mein Gott, welde
Redel Bon wannen tönen diefe Verzweiflung gebärenden Worte zu
uns herüber? — Wohl, dies erwägt zuerft, und die Worte wer⸗
den beginnen, ihre Schauer vor euch zu entfalten. O, daß ein Ans
drer fie ſpraͤche, als der, auf defien Lippen wir fie wirklich finden!
Daß fie aus unfres Gleichen Eines, aus eines Sterblichen, aus eines
menfchlihen ‘Propheten, aus eines armen Sünders Munde kämen!
Dann bliebe noch einiger Raum für allerlei Betrachtungen, welche
den ſchreckensvollen Ausspruch in etwa zu mildern vermöchten, und wir
dürften uns berechtigt glauben, von dem Graufenhaften feines Ins
halts wenigftens etwas abzuziehn, und es auf Rechnung der flammen⸗
den Entrüftung des Sprechenden, oder feiner wohlmeinenden Abficht zu
übertragen, durch den erfchütternden Ernft feiner Worte den Sünder
möglicherweife von feinem frevelnden Vorhaben noch zurüdzudonnern.
Aber nım iſt e8 Jeſus, aus deffen Munde der Weheruf erfchallt; der
König der Wahrheit ift’s, der barmıherzige Sünderfreumd; und nicht aus⸗
fprechen Täßt es fich, welch’ ein ungeheures Gewicht, und welchen fürdhe
terlichen Nachdruck diefer Umftand jenem Worte leiht. Denn nım vers
nehmen wir in dem „Es wäre dDiefem Menfchen beffer* ja nicht
die Stimme. der Letdenfchaft, fondern die Stimme Defjen, der mit
vollem Rechte von fich fagen Eonnte: „Sch bin fanftmüthig und von
Herzen demüthig.“ Nun fchilt und tobt bier nicht ein blinder
Zorn, der fich felber nicht bewußt ift, was er ausftößt; fondern es
verlautet bier nun das befonnene Zeugniß eines Mannes, dem Das
eigne Herz aus taufend Wunden darüber blutet, daß er ſolch Urtheil
über feiner Bertrauten einen fällen muß. Nun richtet bier nicht ein
Menſch, der gewohnt ift, mit Vebertreibungen zu verkehren; fondern
der richtet hier, welcher fih die „Wahrheit felber nannte, und am
Keunſchheit und Zucht der Rede nicht feines Gleichen fand auf Erden,
Und nicht iſts ein Kurzfichtiger nun, noch ein dem Irrthum Unter⸗
worfener, gleich uns, den wir bier fprechen hören; fondern es geht das
entfegliche Wort aus dem Munde des Unfehlbaren, von welchem ges
ſchrieben fteht: „Er bedurfte nicht, daß Jemand Zeugniß gebe von
einem Menfchen; denn er wußte wol, was im Menfchen war." a,
Das fürchterliche Anathema fpricht Der Mann, deſſen Gefichtstreis Zeit
und Ewigkeit umfchrieb, deſſen Geifteshlid Himmel und Hölle durch⸗
150 Der Becher.
reichte, und den, als dem zukünftigen Richter der Lebendigen und ber
Zodten, jedes Einzelnen Leben und Gefchid bis über Tod ımd Grab
hinaus bloß und entdedt vor Augen lag. Diefer, und fein Andrer,
ift’s, der von Judas Iſcharioth bezeuget: „E8 wäre dDemfelbigen
Menſchen beſſer, daß er nie geboren wäre.” Großer Gott,
nun muß es ja auch fo fein, umd jener grauenbafte Spruch faun umn
nicht eine einzige Sylbe mehr zu viel enthalten. O Schauer und
Schrecken ohne Gleichen! Wer erbebt hier nicht, ald ob er die Hölle
ſchon vor fi offen ſähe?! —
„Aber,“ höre ich fragen, „warum wurde er geboren, wenn er beffer
ungeboren geblieben wäre?” — D Freunde, fragt lieber nicht alſo. Mit
ſolchen Fragen werdet ihr das Beängftigende jenes Wortes nur noch
fleigern. — „Es mag fein,“ fahrt ihr fort; „aber wir koͤnnen nicht
anders, fondern müffen aufs neue fragen: Barum ließ ihn Gott
geboren werden?" — — Was erwiedere ih? — Hört den Her: „Des
Menihen Sohn gehet zwar dahin, wie von ihm gefchries
ben fteht,“ (er erfüllt fein Schickſal nad) feines himmliſchen Baters
Rath und Borfag,) „aber wehe dem Menſchen, durch welchen er
verrathen wird!" — Merkt ihr des Herm Abficht bei Diefen Bor
ten? Dffenbar geht fie dahin, die ganze Schuld des Berraths als eine
frei gehäufte lediglich auf Zudas fallen zu lafien; Gott den Allmaͤchti⸗
gen dagegen als fchlechthin fchuldfrei an dem Handel md im keiner⸗
lei Beziehung mitwirfend an demſelben zu rechtfertigen. — „Freilich,“
werft ihr ein, „find aud wir gar weit davon entfernt, beftreiten zu
wollen, Daß dem entarteten Sünger alle Gnade und Kraft zu Gebote-
geftanden habe, dem Satan Widerftand zu leiften, und fich zum Herm
zu befehren; aber der allwiffende Gott ſah doch voraus, daß er der
Verſuchung nicht widerftehn, fondern in die Schlinge des Xeufels
eingehn, und fomit der ewigen Verdummmiß verfallen werde" — —
Ich antworte: „Allerdings ſah er dies voraus, und ließ es fogar in
Prophetenfprüchen vorherverfündigen — —. „Bohlen dem,“ ruft
ihr, „Da e8 dem Ewigen bewußt war, daß es jenem Menſchen beffer
iwäre, er würde nicht geboren, warum verhinderte er nicht feine Ge⸗
burt? Warum wehrte er dem Schluffe des Ehebumdes nicht, dem er
entiproß? Warum ſchlug er nicht des Judas Mutter, wie ex einft die
Michal flug? Oder warım nahm er den kaum Geborenen nicht
aus der Wiege wieder zu fih? Warum gönnte er ihm Rum uud
Beit, bis zu ſolcher Berderbensreife ſich zu entwideln? Warm,
Der Wehernf. 151
warum that Dies Gott, da er ja allmächtig, und da er die Liebe
if — — D Brüder, thut euern Fragen Einhalt. Befcheidet euch
Die Tiefen der göttlihen Weltregierung ergründet fein menfchlicher
Geift. Ein verfiegeltes Geheimniß bleibt es uns, wie der alllies
bende Gott auch Menfchen könne geboren werden laffen, deren Lebens-
fragen Er kraft feiner Allwiffenheit in die Abgründe einer ewigen
Derdummniß fich verlieren ſieht. Wir nehmen daraus nur ab, daß
Gott, der Uinerforfchliche, anders lieben müfle, als ein Menſch liebt,
diefer elende Wurm, der von einer heiligen Liebe nicht weiß, von
einer Liebe, die mit der Gerechtigkeit Hand in Hand geht, feine
Ahnung hat. Ueberdies bedenkt: Wo bliebe das Reich der Frei⸗
beit, wenn Gott zwingend verhindern wollte, daß Jemand ſich felbft
verderbe, und alſo verloren gehe? Was würde aus dem Glanze Sei⸗
nes Thrones, wenn Er, um nur nicht ftrafen zu müflen, die Objekte
feiner vergeltenden Gerechtigkeit befeitigte, oder ihre freithätige Ent⸗
widlung gewaltiam hemmte? Endlich laßt euch darüber feine Sorge
kommen, wie der Ewige einft über die einzelnen Alte feines Welt
regiments ſich werde verantworten können; fondern haltet euch verfi«
chert, daß Er an dem großen Offenbarungstage durch Enthüllung Seis
ner Führungen und Wege, Alles, was Ddem hat, nöthigen wird, ans
betend in die Worte Mofis einzuftimmen: „Der Herr tft ein Fels;
feine Berte find unfträflih; denn alle feine Wege find
Recht, Treu ift Gott, und kein Böſes an ihm; gerecht und
ftomm ift er!“
Gehen wir nın in den Richterausfpruch Jeſu über feinen Berräther
näher ein, und laffen wir denfelben alle feine Schreden vor und ent
falten. Ein „Wehe“! fchidt ihm der Herr voran; und wo Ehriftus
„Wehe“! ruft, fpriht im Himmel und auf Erden Niemand mehr
wit Erfolg ein „Friede mit dir!“ oder „Heil!“ — „ES wäre
demfelbigen Menſchen beffer,“ begin der Herr. Dem „Mens
fen’! — Ungewohnter Ausdrud im Munde des guten Hirten! So
nennt er fonft die armen Sünder nicht. Jene Bezeichnung hat etwas
Begwerfendes, und Abſchiedslaut tönt durch fie hindurch. Judas geht
den Heiland nichts mehr an. Jeſus entläßt ihn aus dem Kreife der
Seinen, und betrachtet ihn fortan als einen Fremdling. O wie
ſchauerlich dies und wie zermalmend! Wo will er nun hin, der Uns
glücfelige, nachdem der Einzige, der ihn noch retten koͤnnte, ſich von
ihm Iosgefagt? Helfe Gott, daß der Friedefürſt für uns einen für
154 Der Bordel.
ich aber tüchtig bin, iſt dies: ich kann fagen: Wer fo md fo ſich Ik,
bat Grund, um feine Seele beiorgt au fein. Ber Diefe umd jene Reh
male mit Judas fbeilt, tbeilt auch mit ihm Die Fluchſentenz des Ham,
Ihr fragt mit banger Spannung, welche diefe Signaturen fein?! Beh
an, ich führe fie flüchtig an euch vorüber. Bejpiegelt euch in iful
Vorab laßt euch bedeuten, daß eine äußere Unfträflichfeit auch v
feinen Grund zu dem berubigenden Gedunfen gibt, ihr gehört ale
nen nicht, welchen es beiter wäre, fie wären nie geboren worden. Sl
nicht außer Acht: auch Judas batte äußerlich Die Welt verlafien, u
mit der Mitch der göttlichen Wahrheit groß gefäugt, lebte nadmell
ununterbrochen unter Kindern Gottes, wurde von Denfelben argles di
ein Bruder anerkannt, betete und faitete mit ihnen, gehörte um ıı
mittelbaren Gefolge des himmlischen Friedensfürften, war deffen Ayehd
und Vertrauter, half fein Wort verfünden, erlitt Schmach um Chi
willen, vollbrachte gleih den andern im Namen Jeſu Thaten m
Wunder, und — trog alledem wäre e8 „ibm beſſer gewefen, et
wäre nie geboren worden.” O beherzigts, Geliebte, und hikk
euch, eure Chrbarfeit, eure Gottesdienite, eure dhriftliche Grfemnteik,
euern guten Namen bei Den Gläubigen, und was deß mehr ift, ſche
für eine zuverläffige Schanze zu erachten, binter der ihr vor den Gb |
lenflammen gefichert würet.
Nun aber fehret eure Blide in euer Inneres, und ftehet mir, ade
vielmehr Dem, in Deflen Namen ich zu euch fpreche, Rede und Aus
wort. Es gibt Menjchen in der Welt, die den Mantel des Chrikes
thums äußerlich um fi) werfen, um, wie Judas, einen Teufel dahinkr
zu verbergen, Sie möchten, gefichert vor dem Richterblick der Belt,
den Dämonen der Wolluft, des Geizes oder der Hoffarth dienen fie
nen; und eben Darum verhüllen fie fi in die Larve des Chrifes
thums. Ich Elopfe bei euch an und frage: Sind der Art Leute a
in unfter Mitte? — Es gibt Menfchen, die, wie oft auch fchon ge
wahrſchaut und gewedt, dennoch fid) Ehrifto nicht ergeben mochten,
weil irgend eine geheime Schooßfünde, Die zu verdammen fie nich
Muth zu finden wußten, fie gefangen hielt. Nun fröhnen fie diefe
Sünde mit dumpfer Gewohnheitsruhe, und in der Länge der Jeit
- wuchs ihre Schuld dermaßen an, Daß fie jebt eher zu allem Andern
fi verftänden, als Dazu, mit Diefer Schuld frei an's Licht heraucpu⸗
treten. Sigen Solche etwa auch in dieſen Bänken? — Es gibt Leute,
die, genau befehn, nur eine Sorge fennen, die eine, daß man ihnen
Der Weheruf. 155
hinter die Maske ſchauen, und entdecken möchte, daß fie nie belehrt
geweſen feien, obwol fie dafür feit Jahren fchon gehalten wurden. Nun
it ihnen die Heuchelei wie zum Inſtinkt geworden, und felbft uns
bewußt find fie immer befchäftigt, ihre Worte, Blide, Mienen, wie
ihr Thun zu Schleiern zu verweben, mit denen fie ihre wahre Geftalt
wnziehen. Zählen wir folche Kinder des Scheins auch in unjern Reis
ben? — Leute gibts, denen es fo oftmals ſchon gelungen ift, den
Donner der Wahrheit, der an ihre Seele ſchlug, durch Troß oder abs
fichtliche Zerftremmg und Selbftüberredung zu überwinden, daß fie num
eine Fertigkeit in Entkräftung der göttlichen Gnaden⸗ und Geifles-
züge erlangten, und gegen die erfchütterndften Schreden der Ewig⸗
feit eben jo bombenfeft, als gegen Die füßeften Lockungen der götts
lichen Liebe unempfindlich geworden find. Finden fich folche vers
panzerte Seelen unter uns? — Es gibt Leute, die, wenn fie viel
leicht auch felbft mit einem geringen Abfall ihres Mammons an der
Arche des Reiches Gottes bauen helfen, es dennoch mi Mißbehagen
gewahren, wenn dieſes Neich gedeiht und Fortfchritte macht,
und die bei Zärtlichleitsbezeugungen für den Herrn, wie die der
Maria, mit Judas fprechen möchten: „Diefer Unrath wäre beffer ges
fpart, und zu reelleren Zwecken verwendet worden.” 9a, dieſe Leute
verfpüren fogar eine geheime Schadenfreude, wenn etwa das Mifs
fionswerf, zu welchem fie möglicher Weife des Anftandes halber
felber beigefteuert, in Ruͤckgang zu kommen, und überhaupt der Eifer
für die Sache Gottes zu erfalten fcheint. Ich frage: Athmen folche
falſchen Brüder in diefen Mauern? — Es gibt Leute, die in ſoweit
von der Wahrheit des Evangeliums überwunden wurden, als fie ſich
genöthigt fehen, derfelben in ihrem Gewiffen Zeugniß zu geben; aber
dies wider ihren Willen und zu ihrem Verdruß; weßhalb fie, fo oft fie
etwas hören oder leſen, was den Gedanken in ihnen nährt, daß man
auch ohne Ehriftum, von deſſen Heilsordnung fie ſich gerne ent
bunden fähen, den Himmel ererben könne, ein innres WBohlbehagen
fühle. Sind ſolche Menſchen unter euch? — Unterfucht die Gründe
eures Weſens, und wiffet: wer zu der einen oder andern der eben bes
zeichneten Menjchenklaffen ſich zählen muß, von dem ſage ih — nicht,
daß es ihm beſſer wäre, er wäre nie geboren worden; wohl aber, daß
e8 im Neich der Möglichkeiten liege, e8 wäre ihm Solches wirklich
beffer. Er hat rund zu der Bejorgniß, daß jene fchauerliche Grab⸗
ſchrift son dem Leishenftein des Judas einſt auf den feinen über⸗
156 Der Vorhoſ.
gehen könne. D Freunde, wenn ich mir denke, daß vielleicht anch eure
Wiege beffer ein TZodtenfarg gewefen wäre; daß die Hebamme in
Dir und dir ach! einen Höllenbrand einft in die Arme deiner Mutter
fegte; daß eure Eltern mehr Urfache gehabt hätten, eure Geburtöftunde
mit Weinen als mit Frohloden zu begrüßen; daß das Waſſer der hei⸗
ligen Taufe an euch vergeudet ward, und gleichfam nur zum Spott
über euch dahinfloß; daß, während man freudiger Hoffnungen voll euer
erftes Zeit beging, euere Namen ftatt in das Bud, des Lebens in
dasjenige des Todes eingetragen wurden: — wenn ich mir Solches
vorftelle, fo will mir vor Entfeßen das Blut in den Adern gefrieren.
Nein, nein, ich fage nicht, daß es wirklich alfo ſei; aber möglich iſt
e8, daß es auch euch befier wäre, ihr wäret nie geboren worden. Und
daß ihr nur Grund habt, an eine folhe Möglichfeit zu glauben,
fehmettert euch das nicht fchon wie ein Donnerfchlag damteder?
Ja, ihr bebt, ihr fteht beftürzt. Laßt mich's wenigftens vorans
feßen, daß dem alfo fei. Denn wenn ſich's anders verhielte, und ik
gähnen könntet umter folchen Wahrheitsdonnen, oder gar mit fatz
nifhem Trotze fie verlachen; wahrlich, fo fehlte nicht mehr viel, ich
fpräche geradezu von euch im Namen Gottes: „ES wäre diefen
Menfchen beffer, daB fie nie geboren wären!” — Doc ver
hüte Gott, daß ich die Grenzen meiner Befugniß überfchreite! Den
Samen Abrahams zu beunruhigen, bin ich nicht ermächtigt, und mit
Jeruſalem, wie tief e8 darniederliege, foll ich „nicht anders, denn
freundlich” reden. Ich weiß, es gibt mehr, als eine Seele in unfter
Mitte, die das Schredwort über Judas nicht angeht, ob fie gleich
darum forget, daß es fie treffen koͤnnte. Laßt mich auch Diefe Seelen
mit flüchtigen Zügen euch kenntlich machen, damit Keiner zuge, der zu
frohloden und Gott für feine Gnade zu preifen berechtigt iſt.
Bon denen unter uns, die mit Paulus jauchzen innen: „Ich weiß,
an welchen ich glaube,” rede ich nicht. Dieſe im Leben der
Gnade feft Gewurzelten und durch den heiligen Geiſt Verfiegelten wär
den lächeln, wenn ich mich bemühen wollte, ihnen erft zu beweifen,
daß auf fie jenes Wort keine Anwendung erleide. Was ich ihnen
fagen würde, zeugte ihnen längft ein Anderer. An euch aber richte
fih meine Rede, Befümmerte ihr, und von Zweifeln hin und her Ge⸗
worfene, bei denen Die Frage noch fchwebt, ob ihr eure Geburts
ftunde fegnen dürft, oder fie zu verwuͤnſchen Urfache habe, Seid
ſtille! Ich weiß um euern Jammer. Nichts entfcheidet noch der
Der Behernf. 157
Umftand, dag ihr weder Glauben, noch Liebe, noch Kraft der Heili⸗
gung in euch verfpürt, und daß ihr euch täglich noch als Fehlende und
Strauchelnde ertappt. Bitter ift es, fich fo erfinden muͤſſen; aber nicht
wahr, Dies eben ift auch euer Schmerz, und euer größter, daß es fo
traurig um euch flehe? Nicht wahr, Begehrenswertheres ſchwebt euch
vor der Seele nichts, als Daß auch ihr in voller Wahrheit mit der
Braut im Hohenliede möchtet fagen Lönnen: „Mein Freund ift mein,
und ich bin fein, der unter den Roſen weidet?” Nicht wahr, wenn
als Bedingung diefes Glücks euch auferlegt würde, das Kreuz in feis
ner .empfindfichften Geftalt dem Herrn nachzutragen, und vor aller
Bet, enerer Schuld geftändig, euch felbft an den Pranger zu ftels
fen: ihr wäret unweigerlich dazu entfchloffen? Nicht wahr, ihr gäbet
euer Liehftes darum hin, daß ihr euch Chrifti getröften, und Seiner
Gnade euch rühmen könntet? O antwortet „Ja“ auf diefe Fragen,
umd ich erkläre euch im Namen defien, der „das Verlangen der Elens
den erhört”: Euch trifft der Weheruf über Judas nicht, fondern euch
gült die frohe Botſchaft, daß ihr die Stunde benedeien dürft, in
der ihr einft das Xicht der Welt erblicktet.
O, es it gut, daß ihr geboren wurdet! Zu großen Dingen feid
ihr auserfehn. Ihr follt Gott dem Herm zu Leuchtern feiner Gnade
dienen. Mit euch gedenkt er, als mit Gefäßen der Herrlichkeit, feinen
Tempel zu ſchmücken. Euch begehrt er vor Himmel, Erde und Hölle
als Zeugen defien aufzuftellen, was das Kreuzesblut vermag. Zu Säns
gern hat er euch erforen, Ihm und dem Lamme das große Halle
Inja anzuftimmen. Als ihr geboren wurdet, fanden freumdliche Engel
am eurer Wiege. Ueber eurem Haupte flüfterte eine erhabene Stimme:
„Ich babe dich je und je geliehet!” Eure Eltern drüdten in euch)
einen Himmelserben an ihre Bruft. Eine göttliche Vermächtnißakte
flel euch in den Schooß, als das Wafler der Taufe eure Stim bes
nebte. Ihr tratet in dieſes Thränenthal nur herein, um mit rajchem
Schritt daffelbe zu durchmefjen, und dann in dem „Jeruſalem da dros
ben* die bleibende Stadt zu finden. Der König aller Könige fchrieb
den Namen, den man euch gab, in Sein Lebensbuch. Die Gerech⸗
tigfeit feines Sohnes war das erfte Gewand, das er euch umwarf;
uud das letzte, mit dem er euch ſchmücken wird, wird das Kichtfleid
der bimmlifchen Verklärung fein. Wie dem, daß es nicht gut fein
ſollte, daß ihr geboren wurdet? Wäre es doch fchmerzlich zu befla-
gen, won ihr in der Reihe der Wefen fehltet! Denn dann tönte einft
158 Der Vorhoſ.
eine Stimme weniger in dem großen Jubelchore am Throne Gut,
tes, umd eine Perle funfelte weniger in den Diadem des him
fifhen Friedensfürften. Darum dreimal Heil euch, DaB ihr da feib!
Troß allen Elends, in welchem ihr noch ſchmachtet, preifet deu Her!
Wir preifen ihn mit euch aus froh bewegtem Herzen.
Ihr Andern aber, die ihr noch gleichgültig am Kreuze Immannel
porüberfchreitet, oder gar dem heiligen Geifte widerfirebt, der „um
die Sünde“ euch „ftraft“, umd zu Jeſu euch weifen will, was fage
ich fehließlih euh? — Hört, hört! Euch Täute ich heine mit ben
ernften, berzerfchütternden Glockenpulſen des alten Kirchengefanges:
Ach, ihrer Menſch, wach auf, wach auf,
Halt ein in deiner Sünden Lauf,
Auf, wandle um dein Leben!
Wach auf, denn es if hohe Zeit,
Dich übereilt die Gwigfeit,
Dir deinen Lohn zu geben !
Bielleiht ift heut der letzte Tag;
Mer weiß doch, wann man fterben mag?! — Amen. —
—.s—
XV,
Der Gang zum Oelberg.
In weiten Kreifen hat die feltfame Vorftellung Raum gefunden,
als ob der Glaube der Kirche höchftens am der Lehre der Apos
ftel, teinesweges aber an derjenigen des Herrn Jeſu felber feine
Stuͤtze habe. Ich begreife in der That nicht, wie man zu emer fo
völlig ungegründeten Anficht gelangen fonnte, da ich in allen apofles
liſchen Sendfchreiben nichts gewahre, was nicht wenigſtens als treis
bender Keim auch in irgend einem Ausfpruche des großen Meifter
fhon enthalten wäre. Schon im Blick auf die Einheit dee Lehre
der Apoftel mit feiner eigenen hätte der Herr mit voller Wahrheit
fprechen dürfen, wie er Luk. 10, 16 mit einer andern Beziehung ſpricht:
„Wer euch höret, der höret mich!“ Was bie Apoſtel predigen
Der Gang zum Oelberg. 159
von Des Menſchen Fall und Fluch, von der Nothwendigkeit einer Er⸗
Hung, von der Gottheit des fleifchgewordenen Wortes, von der ver-
föhnenden Kraft feines ftellvertretenden Leidens und Sterbens, von
der Rechtfertigung durch den Glauben allein, von Buße, Wiedergeburt
und ewigem Leben, das hat laut den Evangelien er ſelbſt fchon Alles
moor gepredigt. Wir hören aus Seinem Munde ſchon, daß „was
vom Fleiſch geboren, Fleiſch fei,” daß „Er und der Vater eins,*
daß „alle Gewalt im Himmel und auf Erden Ihm gegeben,” daß „Er
getonmen fei, fein Leben zu geben zum Löfegeld für Viele,” daß „Nies
wand zum Vater komme als durch ihn,“ daß „wer an Ihn nicht glaube,
das Leben nicht ſehen,“ daß Er einft den letzten Richterfpruch über
alle Menſchen fprechen, und feinen Gläubigen den Himmel öffnen und
das Erbtheil der Heiligen im Licht befcheiden, feine Verächter dage⸗
gen zum ewigen Fener verdammen werde, Und was er mit Worten
nicht predigte, bezeugte er nachdrüdficher durch die That, indem Er
die Rath⸗ und Zroftbedürftigen auf Sich vertröftete, die Mühfeligen
uud Beladenen auf Seinen Namen hoffen hieß, den Uebertretern
ihre Sünden vergab; — und wie Er fonft thatſächlich von Sich
zu zeugen pflegte. Auf Schritt und Zritt beurfundete er unwillfürs
lich Sein innerftes Bewußtfein wie von der Hoheit Seiner Perfon,
und dem Zwecke Seiner Sendung, fo von feiner Mittlerftellung für
die fündige Welt und der Heilsbedeutung feiner biutigen Marter; und
Dies Alles zum fchlagenden Beweife, daß, was Die Apoftel Iehrten, nur
ans dem Schatze Seiner Lichtgedanfen gefchöpft war. Bon dem Allen
und aufs nene zu überzeugen, gewährt uns der Geſchichtsabſchnitt
willtommene Gelegenheit, der unfrer heutigen Betrachtung vorliegt, und
in welchem wir den Herrn den erfien Fuß auf feine eigentliche Opfer
Araße fegen fehen.
Matth. 26, 30 — 32.
Und da fie ben Lobgeſang geſprochen hatten, gingen fie hinaus an ben Oelberg.
Da ſprach Jeſus zu ihnen: In biefer Nacht werdet ihr euch Alle ärgern an wir;
denn es fiehet gefchrieben: Ich werde den Hirten ſchlagen, und die Schafe der Heerbe
werben fih zerſtreuen. Wenn ich aber auferftehe, will ich vor euch hingehn in Galilän.
| Wenige Worte, aber ein reicher Inhalt. Sie erfchließen ums die
Tiefen des Herzens Iefu, und enthüllen uns das Bewußtfein, mit
weichen: ex feinen Leiden enigegengeht, In dieſes Heiligthum einges
160 . Der Bordel.
führt zu werden, muß uns vom allerhöchften Getwichte fein. Denn wicht,
wie diefer oder jener den Herrn verfteht, fondern wie der Herr ſich
felber weiß, das entfcheidet die Frage, für wen wir ihn zu Halten,
und welche Bedeutung wir feinem Werke beizumefien haben. Es gikt
fi) aber jenes Sein Selbftbewußtfein in unferm Texte als ein Drei»
faches fund, und zwar zuerft als ein Bewußtſein von feiner
amtlihen Stellung; fodann als ein Bewußtfein von der
Bedeutung feiner Leiden; und endlich als ein Bewußtfein
von feinem Siege darnach. Gehen wir tiefer in die Sache ein,
und kroͤne der Herr unfre Betrachtung mit feinem Segen!
1.
Ein feierliher Moment iſt's, bei welchem unfre Gefchichte anhebt.
Der Herr Jeſus bat fo eben die heilige Stiftung feiner Liebe, das
Abendmahl, eingefegt, und ſtimmt nun nach Gewohnheit des Paſſa⸗
feftes in der Stille der Nacht mit feinen Jüůngern das „Hallel“,
oder den großen Lobgeſang an. Diefer Gefang befand aus den Pfals
men 115— 118, Zum erftenmale begegnet der Herr und fingend;
denn eine andre Deutung läßt das Wort des griechifchen Grundterxtes
nicht zu. Der Heiland ertheilt hiedurch dem gemeinfamen Gefange
in feiner Kirche für immer die Weihe, in koͤſtlich Geſchenk des
Himmels an die Erde, der Gefang, diefe Sprache des Gefühle, die
jer Odem der erhöhten Stimmung, diefer Flügel des bewegten Ge⸗
müths! In dem Dienfte des Heiligthums aufgenonmen, wie wohls
thätig und fegenbringend ift feine Macht! Wer erfuhr es nicht ſchon,
wie er dann uns über die graue Sphäre des Alltagsiebens hoch hin⸗
auszutragen, fo wunderthätig bis in die Vorhöfe Des Himmels uns
zu entrüden, fo mächtig das Herz und zu erweitern und zerfchmels
zen, und den Gram uns zu verfcheuchen und die Zeffeln der Sor⸗
gen zu zerfprengen vermag? Und Größeres vermag er noch, denn
dies, wenn der Geift von Oben feinen Hauch mit ihm vermifcht.
Zaufendmal hat er wieder Frieden geitiftet mitten im Hader, und den
Satanas gebannt und feine Anfchläge zu nichte gemacht. Ja, er iſt
hingeweht wie Frühlingsthaumind über erftarrte Winterfluren, und bat
fteinerne Herzen wie Wachs zerrinnen, und für Saaten der Ewigkeit
urbar und empfänglich gemacht. — Der Herr der Herrlichkeit fins
gend mit den Seinen! O wäre dem David, als er jene Palmen
einft auf's Pergament warf, eine Ahnung davon gelommen, Daß den⸗
jelben die hohe Ehre widerfahren werde, von den holdfeligen. Lippen -
Der Gang zum Delberg. 161
Deffen felber angeftimmt zu werden, der feiner Lieder erhabenfter
Jahalt und feines Lebens ganze Hoffnung war; er hätte wol vor
freudiger Beftürzung den Griffel feiner Hand entfinfen fehen. —
Welch' Siegel aber drüdt der Herr auf jene Lieder als auf wirkliche
Ergüſſe des heiligen Geiſtes, indem er felbft, und zwar in der
feterlichften Stunde feines Erdenwallens, diefelben fingend fich an-
eignet. Würde er, zumal in jenem Moment, fie gefungen haben, wenn
fie ihm nicht Tauteres Gotteswort enthalten hätten? So erfcheint
denn auch Diefer Belang des Herrn als ein mächtiges Zeugniß für die
göttliche Eingebung der heil. Schrift. Wahrlich, nur in Seine Zuß-
flapfen tretet ihr, wenn ihr mit unbedingtem Vertrauen an diefes Wort
euch hingebt. Und follte. nicht dies Bewußtfein fchon höchſt ermu⸗
thigend für euch fein, und jeden neu auftauchenden Zweifel bald wie-
der niederichlagen können? — O Brüder, wer jenem ftillen Nacht⸗
gefange hätte lauſchen Dürfen! Gewiß Tagen die heiligen Engel mit
berchendem Schweigen in den Wolkenfenftern. Du aber, o Menfchheit,
vernahmft in dieſen Zönen das Wiegen: und Weihelied deiner ewigen
Erlöfung!
Millionen ſchon hatten in Iſrael in den taufend Jahren feit Da-
vid nad) dem Paflahmahl das große „Hallel” gefungen. Manche,
wie die Propheten und die Erleuchteteren im Volk, gewiß mit ties
fer Rührumg und feuriger Inbrunft. Aber mit Empfindungen, wie
die, womit der Herr Jeſus es fang, fimmte noch Niemand dafjelbe
an: denn die vier Palmen bandelten von Ihm felbft, dem wahren
Dfterlamm, und von feinem Priefter- und Mittlerthume. Seine Er-
lebniffe ımd Empfindungen, Seine Marter, Kämpfe und Triumphe
gaben jenen Liedern erft die volle Wirklichkeit. Der 115te Pfalm
rähmt die Segnungen der göttlichen Gnade, denen durch die Vermitt⸗
fung des Meſſias das Strombette zur Sünderwelt gegraben werden
follte. Im 116ten Pfalm hebt der Mittler felbft Die Schleier von
den fchauerlichen Abgründen blutiger Paſſion, Denen er fi für Die
Sünder überantworten werde, „Stride des Todes“, heißt e8 dafelbft,
„batten mich umfangen, und Ungft der Hölle Hatte mid getroffen.”
Amgleich aber. preifet das Lied die herrliche Errettung, die er nad) Er⸗
duldung jener Marter erfahren follte: „Du baft meine Seele aus dem
Tode gerifien, mein Auge von den Thränen, meinen Zuß vom Gleiten.
Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.” Der
117te Palm enthält eine Aufforderung an Die Völker, mit Halleluja
11
162 Der Vorhof.
die ewige Gnade zu verherrlichen, die ihnen aus des göttlichen Hohen⸗
priefters Werk erwachſen fe. Der 118te Pſalm faßt das vorher Bes
zeugte noch einmal in eine Summe zufammen; und zwar zuerft das
Kreuz: „Sie umgeben mich wie Bienen, fie dämpfen wie ein Feuer
in Domen, man ftößt mich, daß ich fallen foll;” dann des Mittlers
Vertrauen: „Der Herr ift mit mir, darum fürchte ich mich nicht;
der Herr ift meine Macht und mein Pfalm; ich werde nicht fterben,
fondern leben und des Herrn Werke verfündigen;”” — dann die Er-
rettung: „In der Angſt rief ich den Herm an, und der Herr erhörte
mich und gab mir Raum;“ — hierauf das aus feinem Opfer er-
wachfene Heil: „Man finget mit Jauchzen vom Heil in den Hütten
der Gerechten: die Rechte des Herrn ift erhöht, die Nechte des Herrn
behält den Sieg. Thuet mir auf die Thore der Gerechtigkeit, daß ich
hineingehe und dem Herrn danke. Dies (nämlich diefer freie Zutritt)
iR das Thor des Herm; auch die Gerechten werden dahinein gehn;
— und endlich die fieghafte und Alles überwindende Macht feines
Gnadenreichs auf Erden: „Der Stein, den die Bauleute verworfen
haben, ift zum Edfjtein geworden. Das tft vom Herrn gefchehn und
it ein Wunder vor unfern Augen.”
Seht, lauter Züge zum Bilde des zukünftigen Meſſias; lauter Hin-
deutungen auf Seine Erlebniffe und Sein Werl! Und Der, in welchem
diefes Alles feine volle Verwirklichung finden follte, war nun erfchie-
nen, und fein Zuß rubte bereits im Thal der Erde. Der Herr Jeſus
erihaute, wie in dem Spiegel des Mefftanifchen Weiſſagungswortes
überhaupt, fo auch in dem jener Pafiahpfalmen fein eigen Bild,
und fang die heiligen Strophen mit dem vollen, Haren Bewußtſein
feiner Hohenpriefter, Heilands⸗ und Mittierftellung. Rah dem Ges
fange „ging er hinaus an den Delberg.* Großer, verhängniß-
voller, folgenreicher Gang Dies! Wir rufen: „Erde, die er dem Fluche
entreißen will, füffe Seine Füßel Hölle, wider die er den Hamifch
angelegt, erzittere! Himmel, dem er eine neue Bevölkerung zu erwerben
auszieht, neige Dich nieder, und finune über die Höhe, Breite und Tiefe
feines Werkes!" — Dort gebt er hin. DO, was Alles Iaftet auf Ihm
in Diefem Augenblid? Die Schuld von Jahrtauſenden, die Zukunft
der Welt, das Heil von Millionen! Er gehet hin, um in feiner eignen
Perſon das mit Blut bethaute und befruchtete Saatkorn eines neuen
Hönmels und einer neuen Erde zu pflanzen. Wehe, wohin gingen
wir, hätte Er nicht Diefen Gang für uns gethau! Unſer Leben wäre
Der Gang zum Delberg. 163
eine Fahrt zum Hochgericht; unfre Zukunft verlöre fih in ein maus _
loſchliches Feuer. Es war Ihm dies bewußt. Seine Aufgabe ftand
ihm allaugenblidtich in ihrer ganzen Größe Har vor der Seele, Ebenfo
far aber ſchwebte auch der hochherrliche Erfolg feines Werks ihm vor,
Er erfaßte fich felbft auf Schritt und Tritt als den, der vom Bater
geſendet fei, die durch die Sünde aufgeriffene Kluft zwifchen Gott und
der Kreatur, dem Himmel und der Erde wieder auszufüllen. War Er,
daß ich menfchlich rede, Derjenige, als den er fich wußte, dennoch nicht,
fondern bildete Er ſich nur ein, es zu fein, fo würde ihn doch dieſe
großartige Einbildung ſchon als den Sohn Gottes, wenn auch als
den kranken, als den phantafirenden verratben haben: denn in
das Herz eines bloßen Menſchen konnte jene erhabene Idee einer
Gotiverföhnung nimmer fommen. Und daß vollends ein bloßer Menſch
im Stande gewefen fein follte, diefe Idee mit fo Eonfequenter Ruhe,
wie Zefus es that, ein ganzes Leben hindurch feitzuhalten, und all
fein Reden, Thun und Laffen zu derfelben in Beziehung zu feßen, ift
gar erft fhlechthin undenkbar. Ich kenne Jemanden, der mit der
gewaltfam behaupteten Vorausſetzung an die evangelifche Gefchichte hers
antrat, der Herr Jeſus fei — der Herr vergebe die Wiederholung des
Ausdruds! — nur ein wohlmeinender Schwärmer geweſen. Im Wege
unwiderftehlicher Nöthigung gelangte aber der Mann zu der feften, uns
umftößfichen Weberzeugung, daß, angenommen felbft, Jeſus habe geirrt
und geträumt, fein Adamsfohn, fondern immer nur ein übermenfch«
licher, ja allein der Herr vom Himmel fo habe träumen und phantafiren
können. Und wer wird die Wahrheit in Diefem Schluß verfennen?
2.
Zurüd zum Zerte. Das Bewußtfein unſres Herm will ſich noch
weiter vor ums erfchließen. Dort wandelt er im Geleite feiner Jünger
durch die ftille Nacht dahin; fie alle von den feierlichen Borgäns
gen, die fie eben in jenem Saale zu Jeruſalem erlebten, noch) tief bes
wegt, und hoch erhoben durch die wie aus dem Himmel hernieder .
tönenden Worte, welche fie aus feinem holdfeligen Munde dort ver
nahmen. Da bridt der Herr das gedanfenvolle Schweigen, und
fpricht zu nicht geringer Beftürzung feiner Lieben: „In dieſer Nacht
werdet ihr euch alle an mir ärgern; denn es fiehet ges
ſchrieben: Ich werde den Hirten fhlagen und die Schafe
der Heerde werden fich zerftreuen,” — Schwer wiegende, ges
haltwolle Wortel Der Herr bezeichnet in ihnen den Befichtspuntt,
11
164 Der Vorhof.
aus welchem Er felbft die ihm bevorftehende Marter anfteht. Er
weiß genau um die Leiden, die ihm nahen. „In dieſer Nadıt,*
fpricht er. O heilige Nacht, aus deren Schooße und, wenn auch mit
blutigem Lichte, die hellften Hoffnungs- und Zrofteöfterne aufgegangen!
Der Herr erfennt feine Paffion als eine unbedingte Nothwendig-
feit. Wenn Er fie dafür nicht angefehen hätte, wie leicht wäre es
Ihm geweien, ſich derfelben unter dem Schleier der einfamen Nacht
zu entziehen! Aber frei gibt er ſich ihr hin; denn während er fpricht:
„Sn diefer Naht“, fehreitet er ſchon mit feftem Gange feiner erften
PMarterftätte, dem Garten Gethfemane, entgegen. Mit klarem Blick er-
kennt er feiner Leiden Bedeutung und Zwed; denn „Es fteht ge-
ſchrieben:“ fpricht er, „Ich werde den Hirten ſchlagen und
die Schafe der Heerde werden fich zerftreuen.” Aus Sa-
charja 13, 7 find dieſe Worte entlehnt. Hier leſen wir: „Schwert,
mache dich auf über meinen Hirten und über den Mann,
Der mir der Nächfte ift, fpricht der Herr Zebaoth. Schlage
den Hirten, fo wird die Heerde fich zerfireuen, fo will ich
meine Hand kehren zu den Kleinen.’ — Diefe Stelle deutet uns
der Herr in feinem Ausſpruch. Der Kern ihres Inhalts ift Diefer:
„ch, der Herr Zebaoth, werde fehlagen mit dem Schwerte der Ge
rechtigleit meinen Hirten, den Mann, der mir der Nächfte ift, (d. i.
den Meſſias,) und die Schafe der Heerde (feine Jünger, Freunde nd
Bertrauten,) werden fich zerftreuen.” „So ſteht's gefchrieben,“ fagt
der Heiland, „und wie's gefchrieben fteht, wird's nun kommen.“ Was
Jeſus in Mofe und den Propheten Tiefet, gilt Ihm, ihr feht e8 bier
aufs neue, unbefehn bis zu den unfcheinbarften Beitandtheilen hin,
als vom heiligen Geifte eingegebenes untrügliches Gotteswort. Ihm
ift dieſes Wort unbedingt entfcheidend; Ihm macht es in allen Fäl-
Ien dem Hader ein Ende, Diejenigen, die in unfern Tagen nur von
einem Worte Gottes in der Bibel, flatt von der Bibel als dem
Worte Gottes wiffen mögen, feßen fich vermeffen und keck über den
König der Wahrheit hinaus. Wir wollen nicht fagen, daß fie nicht
dennoch Kinder Gottes feien, und des ewigen Lebens theilhaftig wer:
den koͤnnten; denn zu ihren Gunften fagt die Schrift, daB ſchon „felig
werden folle, wer nur den Namen des Herrn anruft”. Aber nicht
minder heißt e8 auch zu ihrer Warnung, und leuchtet wie eine bes
denkliche Flammenſchrift an ihrer Wand: „So Jemand davon thut
von den Worten Diefes Buches der Weiffagung, dem wird
Der Gang zum Delberg. 165
Gott abthun fein Zheil vom Holze des Kebens, und von
der heiligen Stadt, und von dem, das in dieſem Bude
gefchrieben ſteht.“
Uebrigens vermefjen ſich in unfern Tagen auch in einem andern umd
fogar weſentlichern Punkte noch felbft Gläubige, namentlich der
borgeblih gebildeteren Kreife, an evangelifcher Einficht Jeſum
jelbft überbieten zu wollen. Sie behaupten, die hergebrachte kirch⸗
liche Lehre von der blutigen Stellvertretung des Mittlers, fofern dar⸗
unter ein Schuld» und Strafetragen, ja ein Erdulden des Zornes
Gottes verftanden werde, fei al8 ungegründet aufzugeben. Die her
koͤmmliche juridifche oder prozeß⸗ und gerichtsmäßige Anfchauung fet
als zu finmlich und der Vernunft widerftrebend von der Betrachtung
feiner Paffion zu entfernen. PBaffionspredigten, in denen noch nad
alter Weiſe der leidende Ehriftus als für unfre Sünden haftend,
ja als an unfrer Stelle Fluch erduldend, Strafe abtras
gend, und damit der göttlichen Strafgerechtigkeit für die
Sünder genugtbuend dargeftellt werde, ftünden mit den Ergeb»
nifjen einer fortgefchrittenen Schriftforfchung nicht mehr in Einklang.
So fagen fie, und doch geht diefe fogenannte „juridifche* oder
„richterliche“ Anfchauung von der Marter Jeſu unverkennbar durch
die ganze heilige Schrift hindurch, und begegnet uns nicht allein
fhon in den Weiffagungen und dem ganzen vorbildlichen Opferweſen
des alten ZTeftaments, fondern ift auch die Anfchauung fänmtlicher
Apoftel, die bald uns zurufen: „Gott rechnete den Sünden ihre
Sünde nicht zu, fondern er hat den, der von feiner Sünde wußte,
für uns zur Sünde gemacht“; bald bezeugen: „Ehriftus bat und ers
löfet vom Fluche des Geſetzes, da er ward ein Fluch für ung; denn
e8 fteht geichrieben: „Werflucht ift, der am Holze hängt”. — Und was
fehwerer wiegt als diefes Alles, — obwol auch die Apoſtel nicht aus
fich, fondern aus dem Geiſte Gottes reden, — ift der Umſtand, daß
auch der Herr Zefus felbft feine andre Anfchauung von feinem Leiden
hatte, als eben die ſe. Beweis hiefür haben wir, vieler andern Auss
fprüche nicht zu gedenken, an dem Worte in unferm Text. Jeſus Pit
bier unzweideutig und entfchieden einen Prophetenſpruch auf ſich, in
welchem der allmächtige Gott als Richter auftritt, und in der Rüſtung
nicht feiner Liebe, fondern feiner Gerechtigkeit erfcheint. ‘Der Hoch⸗
erhabene gebietet dem Schwerte, daß es der Scheide entfahre. Er
iſt es, Der Das Schwert zuckt, und nicht etwa Kaiphas, Pilatus, die
166 Der Border.
Juden oder die heidnifchen Söldner. Nein, Er, der Herr Zebaoth
ſelbſt. Und wen fchlägt er mit dem Schwerte? „Ich will den Hirten
fhlagen, * fpricht er, „den Dann, der mir der Nächfte ift,“ d. h. mei⸗
nen Gefalbten. Bon diefem prophetifhen Bilde fagt nun Jeſus
ganz ausdrüdfich, daß es in Ihm feine Erfülhmg finden werde. Sid
ftellt er alfo dar al8 den von dem richterlichen Gott Gefchlagenen. Aus
welchem Grunde er von Gott gefchlagen wurde, erhellt genugfam aus
andern Stellen. Er trat, die Sünde büßend und fühnend für uns
ein. Er ließ das unwiederrufliche „Verflucht fei Jedermann, der nicht
bleibet in alle dem, das gefchrieben fteht im Buche des Geſetzes, daß
er e8 thue,“ im Wege der Stellvertretung zur Ehre Gottes, zur Wie
Derherftellung der Majeftät des Geſetzes, und zu unſrer Freifprechung
md Erlöfung an Sich eine Wahrheit werden. So, und nicht anders,
muß die Sache aufzufaffen fein, oder die ganze Paffionsgefchichte wird
zum büftern Labyrinthe. Es muß fi fo verhalten, oder hunderte
von Schriftſprüchen ftehn als unauflösliche Räthfehvorte vor und. Es
muß, oder das fchauerliche Gefchi des Heiligen in Sfrael hallt wie
ein gellender Mißlaut durch die Menfchengefchichte, und flellt das Vor⸗
bandenfein einer göttlichen Vorfehung und Weltregierung durchaus in
Frage. Ja, e8 muß, e8 muß, oder der Herr vom Himmel bat flatt
Bahrheit Saat des Irrwahns gefäet: denn Er fprah: „Es erfüllt
fich jebt an mir, was gefchrieben fteht: Ich, ſpricht der Herr
Zebaoth, werde den Hirten fchlagen.” — „Mber die Vers
nunft — —?“ OD, der Herr wußte wol, was die Vernunft dazu
fagen werde; darum fprach er: „In Diefer Nacht werdet ihr euch
Alle an mir ärgern." Die Vernunft irrt, und vernimmt von den
göttlichen Dingen nichts, fo lange das Herz nicht zur Einficht, zur
lebendigen Einſicht feiner wahren Bedürfniffe gelangte. Werde du
nur erſt zum heilöbegierigen Zöllner oder Schächer, mit wie fo ganz
anderm Klange wird dir dann das „Ich werde den Hirten fehlagen“
entgegen tönen! Dann weißt du: fchlagen muß der Allmäcıtige. Es
fagt dir's der Richter in deiner Bruft, es bezeugt dir's dein vom Todes⸗
ſchlaf erwachtes Gewiffen. Was man dir vorreden mag von Gottes
allgemeiner Freundlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe, du bleibft dabei:
„Schlagen muß er." So tief und feurig ift dir dies hinfort in
dein Bewußtſein gefchrieben, daß auch ein Engel vom Himmel dich daran
nicht mehr irre machen wird. Gott ift heilig, gerecht und wahr, und
bu ein Rebell wider ihn und ein Frevler vor feinem Angeſicht. Bei
Der Gang zum Delberg. 167
Diefem Sape verbleibft du, und hoͤrſt fchon die Donner feines Zorkes
rollen über deinem Haupt; und nichts in der Welt bringt dich von
Dem Gedanken wieder ab, daß es einer Genugthumg bedürfe, wen
Da Sünder felig werden folleft. Zönt unter diefen Erwägungen und
Empfindungen dann das Wort di an: „Sch werde den Hirten
ſchlagen!“ o welch' füßer Friedensglockenklang wird's für dich ſein!
Selige Wendung, die jetzt in deiner Lage eintritt! Du ſuchſt den
Hirten auf, der an deiner Statt geſchlagen ward, und findeſt ihn in
dem blutigen Buͤrgen in Gethſemane, auf Gabbatha, am Kreuze. Du
umklammerſt ihn mit allen Ranken deines innigften Vertrauens, und
bezeugfi e8 Jedem, der es hören will, daß du feinen Zroft im Les
ben und im Sterben haben würdeft, wäre der Sohn Gottes nicht
im wirklich gerichtlichen Sinne ftellvertretend für dich eingetreten. —
Täglich bewahrheitet ſich's aufs neue, daB das Evangelium dem bes
dürfnißlofen Menfchen eine Thorheit dünkt; an dem Bedürftigen aber
als eine Kraft Gottes ſich erweilt, und mithin die Erkenntniß auf
dieſem Gebiete nicht vom Berftande, fondern lediglich vom Herzen,
und zwar von dem durch den heiligen Geiſt erleuchteten und im Schuld⸗
gefühl zerbrochenen Herzen ausgeht. Der natürliche Menfch verninmmt
mm einmal, wie die Schrift fagt, von den göttlichen Dingen nichts;
es ift ihm eine Thorheit und er kann es nicht erfennen: denn es muß
geiftlich gerichtet fein. Wer an der Lehre von dem fluchtragenden Got⸗
teslamme Anftoß nimmt, beurfundet damit nur, daß er, wie gläubig
er im liebrigen auch fei, vom Weſen und der Verdammlichkeit der
Sünde wenigftens noch fehr feichte und oberflächliche Begriffe hege.
3.
Das Wort des Herm: „Es fteht geichrieben: Ich werde den Hir⸗
ten fchlagen“, hat uns alfo audy das Bewußtfein des Herrn von ber
wahren Bedeutung feiner Leiden fonnenhell beleuchtet. Es kann us
darım fein Ausruf: „Sch muß mich noch, mit einer Taufe taufen laf⸗
fen, und wie ift mir fo bange, bis fie vollzogen werde,“ eben jo wenig
mehr, wie fein nachmaliges Angfigebet: „Vater, iſt's möglich, jo gehe
dDiefer Kelch an mir vorüber" ein Räthfel fein. Freilich hat die Liebe
des Baters den „eingebornen Sohn“ feinen Augenblid verlaffen.
Jeſus blieb der Gegenftand Seines höchſten Wohlgefallens ımd Sets
ner zärtlichften Zuneigung. Aber die Erfahrung und Empfindung der
väterlichen Liebe follte ihm zeitweilig entzogen werden, umd Dagegen
Gnupfindungen eines non Bott Berlaffenen au deren Stelle
168 Per Borbof.
treten. In’ die Hölle follte er hinab, und hinein in alle Anfechtungs⸗
gluten des Satans und feiner finfteren Rotten; und eben Davor hat
Ihn gefchaudert und gegrauft. Durch das Dunkel diefes beffemmen-
den Bewußtfeins aber ergoffen fich zugleich verflärend die morgenroͤth⸗
lichen Strahlen eines andern erheiternderen Wiſſens, des Wiſſens um
den Triumph, der nad dem Kampfe Seiner harre. Auch dieſes Bes
wirßtfein gibt der Herr zu Tage, und zwar in den Worten: „Wenn
ich aber auferftehe, fo will ih vor eu hingehn in Gali—
läa.“ Bewundert hier zupörderft die Treue des quten Hirten. Zus
erft fagt ers den Seinen ausdrüdlich vorher: „In diefer Nacht
werdet ihr eu Alle an mir ärgern.” Welche zarte Fürforge
für fie beurfundet er hiedurch fchon! Es vermochte ja num das Aer⸗
gerniß nicht mehr zu weit zu greifen. Wenn die Xeiden über den
Meifter hereinbrachen, mußten fie fi fagen: „Er wußte, Daß es da
hin mit ihm kommen werde, und dennoch ging Er freiwillig foldyer
Baffion entgegen. Folglich mußte e8 ja wol unerläßlich zur Vollen⸗
Dung feines Werks gehören, daß er Ddiefen und jenen Marten ſich
unterzog.“ — Der Herr geht aber weiter noch, und eröffnet ihnen,
daß in feinen Leiden nur die heil. Schrift und fomit der Rath
ſchluß Gottes fih erfülle. Welch’ einen mächtigen Stab für Die
Tage der Trauer gab er ihnen auch damit fürforglih in die Hand:
einen Stab, der fie freilich allein nicht völlig aufrecht zu erhalten ver⸗
mochte, aber doch vor einem gänzlichen Schiffbruch am Glauben fie
ſicher ftellte. Und num fagt er ihnen endlich, die Schafe der Heerde
würden fich zwar zerftreuen, aber darum doch fo nach wie vor feine
Schafe bleiben, und ihrer Untreue wegen nicht verftoßen werden.
Er fagt ihnen dies, indem er ihnen eröffnet, daß er, nachdem er aus
allen feinen Martern triumphirend werde hervorgegangen fein, und
jelbft den Tod überwunden habe, fie wieder in Frieden und Freude
um fi fammeln werde. O, welch' ein Troft lag darin für fie, und
welch' eine Glaubensftärfung und Ermuthigung namentlih auch für
die Stunde, da nad) eingetretener Zerftreuung die Kunde fie erreichen
follte, Daß der fchmählicy von ihnen Aufgegebene und Berlaffene wirk⸗
lich wieder da fei, und als Sieger über alle feine Zeinde auf dem
Plane ſtehe. Da war es denn nicht noth, daß fle fich entfegten;
fondern fie durften ſich mehr unbedenklich der fügen Hoffmung übers
fafien, er werde ihnen nicht vergelten nach ihren Werfen, fondern Alles
thnen verzeihen und fie liebend wieder um fi vereinigen, Seht, fo
Der Gang zum Delberg. 169°
waltet feine mütterlihe Sorgfalt nicht in der Gegenwart der Seinen
bloß, fondern auch ſchon in der Zukunft ihres Lebens, und bahnt
auch da fchon Alles an, und bereitet vor, was Unheil verhüten, und
Heil und Segen bringen muß. O wie wohl ift man geborgen, wenn
man erft unter Seinem Hirtenftabe fteht! Gefchehen kann es, daß
man auch dann noch einmal wieder an Ihm ſich ärgere, ja, für eine
Weile von Ihm weiche, und ſich in das Eigene zurüd verliere. Aber
Er laͤßt uns nicht mehr in der Irre, fondern fucht uns wieder auf;
denn allen feinen Schafen gilt das Wort; „Sie werden nimmermehr
umlommen, und Niemand wird fie aus meiner Hand reißen.”
„Benn ich aber auferftehe,“ fpricht der Herr; buchſtaͤblich:
„Nachdem ich werde auferftanden fein.“ Hier blickt er alfo über das
Angftmeer der ihm bevoritehenden Paſſion in freudigfter Zuverficht bis
auf den Triumph darnach hinaus. “Daß er das jenfeitige Ufer, wo der
Delzweig des Sieges ihm winkt, erreichen werde, ift ihm gewiß. Er
fagt nicht: „wenn,“ fondern: „nachdem ich werde auferftanden fein.“
Er gedenft an den alten, verheißungsvollen Prophetenfpruh: „Wenn
er fein Leben zum Schuldopfer gegeben haben wird, wird er in die
Länge leben,” Wer in folhem Erfaffen der göttlichen Zufage feinen
Zußftapfen zu folgen weiß, hat das Geheimniß gefunden, wie man
mitten der Brandung fchon fein „Land! Land!“ frohloden, und mit⸗
ten im Kampfe Siegeslieder fingen kann. Ja, heraus aus der ängfts
lichen Stellung, in der man nur anfleht, was vor Augen ift, und wie
ein Spielball den Berechnungen der Vernunft fih überläßt! Beide
Fuͤße vielmehr auf den hohen und unwandelbaren Felſen des Wortes
des allmächtigen Gottes geftellt! Wie ficher und Tieblich ift dann woh⸗
nen, felbft wenn Nacht uns umgraut, und Sturm und Wetter uns ums
toben. Da wird man gewahr, es umhülle die Wolke, die uns aͤng⸗
fligt, nur vorübergehend einen Theil unfres Lebenshimmels; denn der
entferntere Horizont ift heiter, und der noch entlegnere verheißt nad)
allen Nächten einen Tag, an dem die Sonne nicht mehr untergeht. —
„Nachdem ich werde auferftanden fein, will ich vor euch hers
gehn nah Galiläa.“ Galiläa alfo der Sammelplatz. Galilaͤa das
Land der Wiedervereinigung und des Wiederfehens. Dort einft ans
gelangt, hat er feine Marterkelche mehr zu leeren, und die Seinen
werden nicht mehr an ihm irre werden. Nicht ift er dann mehr der
„Mann der Schmerzen“; fondern in Majeftät und Siegesherrlichkeit
gehuͤllt, tritt ex feinen Lieben entgegen, und grüßt fie mit dem Friedens⸗
170 Der Vorhoſ.
gruße des neuen Lebens. — „Ich gehe vor euch her nach Gali⸗
läa.“ Sa, auch für uns, wem wir zwifchen den Zeilen zu leſen
wifien, liegt etwas in diefen Worten, — „Nachdem ich werde anf-
erfianden fein,” Gewiß, auch die Auferftehung wird nicht verzies
ben, deren wir barren: die endliche Erhebung Seined Reiche aus
tiefer Schmach, der fleggefrönte Hervortritt Chriſti aus langer Nachts
umbüllung. Bielleiht erfolgt fie bald. Wenn er feine Feinde zum
Scemel feiner Füße wird gelegt, feine Auserwählten aus den vier
Winden herzugerufen und gefammelt, und den Satan gebimden und
in den Abgrund verfchloffen haben wird, dann ziehen auch wir in
das Galiläa des Friedens und der Freude ein, wo wir Ihn, an
den wir glaubten, ob wir ihn gleich nicht fahen, von Angeficht zu
Angeficht fchauen, und mit Jubelpfalmen des Entzüdens Ihn begrü-
Ben werden, Erleben wir aber den Anbruch dieſer Siegesperiode
feines Reichs auf Erden nicht, o fo kennen wir ein anderes Galiläe,
wohin er ums vorangezogen, und welches uns allerdings wol näher
liegen mag, als jenes. Ich meine das Galiläa, wo täglich der müden
Pilger fo Manche Anker werfen; das Galilda, wo die Hand fih be
wegt, welche von den Augen begnadigter Anlömmlinge die legte Thräne
trocknet; das Balilän, wo ſtets aufs neue das Lied begimmet von dem
Lamme, das erwürget ward, und dem Blute, in welchen man feine
Kleider wuſch und helle machte. D du Galiläa da droben, Land der
völligen Bereinigung mit dem, der unfre Xiebe ift, wie erhebt uns ſchon
die bloße Erinnrung an dic) während der Wallfahrt Durch dieſes Pils
gerthal! Du Galiläa jenfeitS der Wolfen, wie felig iſt, wem aud zu
deinen ewig grünen Auen und fonnigen Hügeln Jeſus voranging,
um ihm die Stätte zu bereiten! — — „Wohl felig,* fagt ihr; „wenn
man nur auch wüßte, Daß man dort einft wirklich Ianden werde!" —
Wißt ihr Dies noch nicht, geliebte Brüder, o, was fäumt ihr dann,
von dem Herm es euch verfichern zu laffen? Ueberall und zu allen
Stunden neigt er euch fein Ohr; zuverläffig aber da, wo fein heilis
ges Bundesmahl bereitet fteht. Ja, bier ift auch ein Stücklein Des
Galiläa, wohin er vor euch hergegangen, um dafelbft mit euch ſich zu
vereinigen. O, er wartet eurer ſchon mit feinem geheimnißvollen Brod
und feinem Segenskelche! Er will e8 euch urkundlich zu wiſſen thun,
daß auch ihr ihn einft von Angeftcht fchauen werdet. Mit einem Bors
ſchmack diefes Schauens will er euch begnadigen, Kommt deun, ſchöpfet
Gnade um Gnade aus feiner Fülle, werdet feiner Gegenwart felig ge
Der Gang sum Oelberg 171
wiß, und ſprechet, wenn ihr dieſe Stätte wieder verlaſſet, mit Dem
imbelnden Sänger:
D, angenehme Angenblide,
Drin fi die füße Hoffnung regt,
Daß eink auch ums, zum ew’gen Glüde,
Die benedeite Stunde fchlägt,
Da wir zu den vollend’ten Scharen,
Wo's „heilig, heilig, heilig!= tönt,
Erlaubniß kriegen, heimzufahren,
Und den zu fehn, der und verfühnt! —
D, welche Freud’ und welche Wonne,
Welch' unausſprechlich heller Schein
Bon aller Himmel Himmel Sonne
Wird über unferm Haupte fein,
Wenn wir das neue Lieb mitfingen,
Mo Gott ſich ſichtbar offenbart,
Und Ruhm und Preis und Ehre bringen
Dem Lamme, das erwürget ward. — Amen.
— I 000 —
xVI
Das Nachtgeſpraͤch.
Einen tiefen Blid wirft der Apoftel in das Herz des Herm Jeſu,
wenn er Hebr. 12, 2 von ihm bezeugt, Er habe „um der ihm vors
gehaltenen Freude willen das Kreuz erduldet, und die
Schande nicht geadhtet.* _
Ueberaus getroften Muthes, ja, unter Pfalmengefang, fahen wir den
Harn in jener verhängnißvollen Nacht Jeruſalem verlafien. Was
fonnte es fein, als eben jene ihm in Yusficht gefiellte Freude, Die
ihn befähigte, fo harmlos die blutige Opferftraße zu betreten?
Denkt euch die Lage, in welcher der Heiland damals ſich befand,
Wie es auch euch wol widerfahren kann, daß eine gefürdhtete ſchwere
Zufunft plöglich in einer Klarheit vor eure Seele tritt, als wäre fie
fhon Gegenwart geworden; fo, nur in beftinumteren Unriſſen, als je
112 | Der Borhof,
ein Menſch ein Zukunftsbild geſchaut, und nicht im Lichte der Wahr:
fheinlichleit nur, fondern in dem der Gewißheit, ſchwebten dem
Heilande damals alle die Schredden vor, die ſchon in den nächften
Stunden ihn umgeben follten. Wie fih zu Zeiten, ehe ihr es euch
verfeht, ganze Züge düfterer Zrauerbilder, feien es Zodtenfärge, oder
Dornenkränze der Erniedrigung, oder Bettelftäbe der Armuth, oder
was fonft es fei, ſchreckend am eurer Phantafte vorüberdrängen können;
fo tauchten in grellfter Färbung vor Seinem Geifte alle die Schauer
des Hohn, der Entwürdigung und Mißhandlung auf, denen er nach
dem Rathe Gottes jetzt entgegenging. Euch pflegt ſich's in folchen
Stunden banger Ahnung wie Gebirgslaft über Geift und Gemüth zu
lagern. Der Herr fühlt auf feinem Oelbergsgange fein Herz erwei-
tert, und findet durch die Schatten der Schredigebilde, die ihn um-
grauen, den Weg zu der fonnigen Höhe volllommenfter Getroftheit.
Euch fieht man in ähnlichen Zeiten ſtumm, umflorten Blicks, in euch
felbft verfunfen und fehwermuthsvoll dahingehn. Den’ Herrn hören
wir in einem jener Paffah-Pfalmen, die er anftimmt, faft jubelnd
fprehen: „Du bift mein Gott, und ich danke Dir; mein Gott,
ich will dich preiſen!“ — Unerhört dies, und übermenfhlih! Wo-
ber diefe Freudigkeit in ſolchem Augenblide? Seine menfchliche Natur
frohloct nicht, fondern fpriht: „SH muß mih noch mit einer
Taufe taufen laffen; und wie ift mir fo bange, bis fie
vollendet werde!” Es frohlodt aber in Jeſu der Eifer um die
Ehre Gottes: denn der Grundton feines innerften Gemüthes lautet:
„Deinen Willen, mein Gott, thue ich gern, und dein Ge-
ſetz babe ih in meinem Herzen!" 8 frohlodt in Ihm Die
Hoffnung, dag Er binnen Kurzem den Erzfeind Gotted und der
Menfchheit erlegt, und die Werke des Teufeld zerftört jehen werde.
Was aber vor Allem die Schauer des nahenden Todesfampfes Ihm
verfüßt, und feliglih Ihn frohlocken macht, das ift die Liebe zu dem
armen Sündervolfe, deſſen Erlöfungsftunde jeßt gefchlagen hat. Der
Gedanke, dag Er „Sein Leben für Seine Schafe laſſe,“
ſtrahlt, alle Wolfen zerftreuend, wie ein freundlicher Morgenftern am
Himmel feined Bewußtfeind. Daß Er mit feinem Blute Hoͤllenwuͤr⸗
Dige von ihrer Schuld befreien, mit feiner durchgrabenen Hand Ber-
fluchte vom Untergange retten, und im grauenvollen Schmude feiner
Dornenkrone den Sündern Kronen des Lebens erwerben werde: das
iſt die „Ihm vorgehaltene Freude,“ die Ihm Flügel gibt, und
Das Rachtgeſpraͤch. 173
feine Heilandsfeele Angeſichts der Hölle und des Todes zu Halleluja's
ftimmt. Denkt welche Liebe! — Bon ihr werden wir heute noch ein
Weiteres hören,
Matthãus 26, 31—35. Marcu⸗ 14, 27 -31. $urcas 22, 31 -38.
Der Herr aber ſprach: Simon, Simon, ſiehe, der Satanas hat euer begehret;
daß er euch moͤchte ſichten, wie den Waizen. Ich habe aber für dich gebeten, daß dein
Glaube nicht aufhoͤre. Und wenn du dermaleins dich belehreſt, fo ftärfe deine Bruder.
Er ſprach aber zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir in'ßs Gefängniß und in den Tod
zu gehn. Gr aber ſprach: Ich fage dir, Petrus, der Hahn wird heute nicht Trähen,
ebe denn du dreimal verleugnet haft, daß du mich fenneft. Und er ſprach zu ihnen:
Sp oft id; euch gefandt habe ohne Beutel, ohne Taſche und ohne Schuhe, habt ihr
auch je Mangel gehabt? Sie fprachen: Nie feinen. Da ſprach er zu ihnen: Aber
nun, wer einen Beutel bat, der nehme ihn, defgleichen auch die Tafche. Wer aber
nicht dat, verkaufe fein Kleid, und Taufe ein Schwert. Denn ich fage euch: Es muß
auch noch dad vollendet werden an mir, dad gefchrieben ſtehet: Er ift unter die Uebel⸗
thäter gerechnet. Denn was von mir gefagt ift, das hat ein Ende. Sie fpradhen aber:
Herr, fiehe, hier find zwei Schwerter. Er aber ſprach zu ihnen: Es ift genug. —
„Ich hatte viel Bekuͤmmerniß in meinem Herzen; aber deine Trös
flungen ergögen meine Seele.” So mörhte man Angefichts des eben
verlefenen Abfchnitts mit dem Sänger des Yaften Pſalms fprechen.
Welch' ein Herz, das Herz unfered Heilandes! Welche fürforgliche
Liebe des guten Hirten für feine Lämmer, wie fie bier ſich fundgibt!
Ja, wie eine Henne ihre Küchlein umter ihre Zügel, fo verfammelt er
feine Erlöften unter den Fittig feiner Barmherzigkeit. O wie forgens
frei und unbefümmert mag man feine Straße ziehn, wenn man nur
das Eine weiß, daß man Ihm angehöre! —
Ein köftlicher Gegenftand, der fi) unfrer heutigen Betrachtung dar⸗
beut! Es ift das Mutterherz des großen Sünderfreunded. Laßt uns
fehen, wie daffelbe in feiner Unterredung mit Simon Petrus,
und fodann in feinem Zuruf an die sänger insgefammt, ſich
und enthüllt. —
Daß ſich in unſrer Betrachtung ein reicher Duell der Slaubensftärs
fung und des Friedens und eröffne, walte der Her! —
1.
Der Lobgefang ift gefungen, und die Opferftraße zum Delberg ans
getreten. Seht, dort wandelt der Priefter Gottes, von feinen elf Ver⸗
trauten umgeben. Schweigende Nacht ift um fie her. Seine Sede
ergeht fich in Todesgedanfen. Näher und näher Drängen feine Lies
174 Der Vorhoſ.
ben fih an ihn heran, wie man zu thun pflegt, wenn der Augens
bil der Trennung von einem geliebten Menſchen herbei gefommen
tft, und Abfchiedswehmuth das ſchwerer athmende Gemüth umfängt.
Dem einen und andern unter ihnen bebt ſchon das Kinn, fchinmert
die Thräne ſchon am Wimper; und immer farger und einfilbiger wird
die Unterredimg. Schon treten längere Paufen gänzlihen Verſtum⸗
mens ein. Da öffnet Jeſus den Mund, Was wird Er zu fagen
haben? Wir denken, ed Eönne vor der Hand nichts Anderes ihn bes
ſchaͤftigen, als die fchwere Zrübfal, der er entgegengehe. Aber wir
irren. Der Gedanke an fich und die ihm bevorftehende Marter tritt
tief in den Hintergrund zurüd. Was weit mehr ihn bewegt, find Ges
Daufen der Liebe und Mutterforge für feine Heerde. „Simon,
Simon,” beginnt er, indem er den Mann, der als der traurigfte er-
ſcheint, und zunächft an ihn fich anfchmiegt, mit wehmüthigem Ernfte
anſchaut, „der Satanas hateurer begehrt, daß er euch fichte,
wie den Waizen.” Welche Nede dies, Doppelt fchauerlich und er:
fhütternd durch die nächtliche Zeit, in welcher, und Die lmftände,
unter denen fie Dahertönt! In dem Augenblide, da den Juͤngern ihre
einige Hülfe und ihr Schild genommen werden foll, wird ihnen der
Heranzug des furdhtbarften aller Feinde angekündigt. Der Herr drüdt
fh wunderfam und in hohem Maße Beftürzung erregend aus, „Der
Satan, fagt er, „bat eurer zur Sichtung begehrt,“ d. h. „her⸗
ausgefordert hat er euch, Anfpruch auf euch gemacht, fich euch er:
beten, daß er feine Macht an euch erzeige.* Und allerdings verhielt
ſich's ſo. Die Gefchichte Hiobs follte fih erneuern. Der Fürft der
Finſterniß reflamirte die ihm entriffenen Beuten, werdächtigte fie, und
machte fein Eigenthumsrecht an fie geltend, indem er fich erbot, den
thatſächlichen Beweis zu führen, daß e8 mit ihrer ganzen Gottes
furcht nichts, und ihre Belehrung nur Schein und Taͤuſchung
gewefen fei. Und ihr wißt, der Herr geftattet?8 dem Böfewicht je⸗
zuweilen, Daß er bis zu einem gewiffen Punkte an den Erlöfeten ans
fechtend feine Kraft verſuche. Er thut's, theils, um auch den Geis
ftern der Hölle die Unüberwindlichkeit derer, die Ihm fich ans
vertrauten, fund werden zu laffen, und dadurd Seinen Namen zu
verherrlichen; theils, um Seine Kinder im Schmelztiegel ſolcher An-
fechtungen wie Gold zu Täutern, und die dem eigenen Leben nad
Vernichteten tiefer in die Gemeinfchaft Seines Lebens hereinzuziehn.
Ein Prüfungsfeuer diefer Art follte nun auch um die Jünger entbren⸗
Das Rachigeſpraͤch. 175
nen, Der Mörder von Anfang hatte gleichfam die Wette vorgeſchla⸗
gen, daß er, wenn ihm Raum gegeben werde, fie zum völligen Abfall
bringen werde. Die Waffe zu diefem Apoftelfturze hofft er in der
unendlichen Erniedrigung und Schmach zu finden, welcher der Meifter
entgegenzog. Diefer aber weiß um den wüſten Anfchlag, und ſieht
den höllifchen Geier ſchon über den Häuptern feiner Lieben freifen. Er
darf es ihnen nicht verfchweigen, Damit der Ueberfall fie nicht überrafche;
und fo fpricht Er denn zu ihnen, nachdrücklich wahrfchauend, und den
Simon, auf den es der Arge worzugsweife abgefehen hatte, fonderfich
in's Auge faffend, ja ihn mit Namen nennend: „Simon, Simon,
der Satanas hat euer begehrt, daß er euch ſichte, wie den
Waizen.“ — Nun wiffen fied. Möchten fie nur jede Sylbe diefer
Nede zu Herzen nehmen. Warnung und Troft find hier wunderbar
gemiſcht. Wie der „Waizen“, fagt er, würden fie „geſichtet“ werden:
eine Operation, bei der befanntlich nur die Spreu dahinftiebt, wäh⸗
rend die edle Frucht zurückbleibt. Der Erfolg wird alfo ein Beils
famer, er wird nur Reinigung und Läuterung fein; aber Dies
freilich nicht nad) des Teufels Plan und Anſchlag, fondern lediglich
Durch Vermittlung der göttlichen Gnade. Beruhigende Ausfiht! Der
Stärkere wird über den Starken kommen, und ihn entwaffnen. Frei⸗
fih unterliegend haben fie geflegt, die Gefichteten; aber fo wußten
fie denn auch um fo gründlicher, wem ihres Sieges Kranz gebühre,
Doc hört den Herrn weiter. Noch tiefer öffnet fi) vor uns fein
großes Mutterherz. Nachdem er die erfhütternde Warnung ausge⸗
fprochen, blit er die Jünger freundlih an, und, ald ob er fagen
wollte: „Erſchreckt nicht allzuſehr,“ fpricht er zu Simon: „Ich aber
habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.“
D fagt, wo ift ein Seelenfreund, ein Hüter und ein Hirt, wie Er!
Das Evangelium geleitet uns oft auf den Schaupla Seiner Thaten
und Wunder. Nicht felten Lüftet e8 ums auch die Schleier von feinem
ftilleren Umgangsleben mit feinen Vertrauten, und erfchließt uns die
beiligen Stätten, wo Er des Priefteramtes pflegt. Hier aber vers
gönnt es und auch einmal einen Blick in die Einfamfeit Seines Käms
merleins hinein; und zu wie innigem Danke find wir ihm naments
lich für dieſen Dienft verpflichtet! Kaum daß der Herr von ferne
die Berfuchungswogen infonderheit wider Petrus fich heranwälzen
gefehn, hatte er die Stille gefucht, und den ſchwer bedrohten Juͤnger
betend der Hut und Bewahrung feines himmliſchen Vatersanbefohlen.
176 Der Vorhof.
Daß Simons Glaube im Anfehtungsfturme „nicht aufhöre”, da⸗
hin zielte fein Gebet. O, läßt fich eine mütterlichere Fürſorge denken,
als fie ſich hier uns darftellt? Der glüdliche Simon! — Aber wäh-
net nicht, es habe Simon nur, als ein vor andern Gläubigen Aus⸗
erwählter, ſolcher Liebe ſich getröften dürfen. Laufchet nur in das
befannte hohepriefterliche Gebet Johannes 17 hinein, und überzeugt
euch eined Andern. Welche Klänge, die von da zu uns berübertönen!
Hört: „Vater, erhalte fie in deinem Namen, die du mir
gegeben haft, daß fie eins feien, gleih wie wir.” Hört:
„Ih bitte nicht, Daß du fie von der Welt nehmeſt, fondern
daß du fie bewahreft vor dem Uebel.” Hört: „Ich in ihnen,
und du, Vater, in mir, auf daß fie volllommen feien in
Eins, und die Welt erkenne, daß du mid gefandt haft,
und liebeft fie, gleichwie Du mich liebeft."— Nicht wahr, herz⸗
erhebende Gebeteslaute dies? — „Ya,“ denkt ihr, „gälten fie nur auch
uns; aber er betet ja für feine näch ſten Sünger nur.” — Glaubt
ihr dies? DO, dann hört weiter: „Sch bitte nicht allein für fie,
fondern für Alle, fo Dur ihr Wort an mid gläubig wer-
den, auf Daß fie Alle Eins feien, gleih wie du, Bater,
in mir und ich in dir.” — Set werdet ihr ja zufrieden fein. —
Und gedenkt ihr, wer dort für uns betet? Er iſt's, deflen Gebete
alle mit dem, wenn auch nicht immer ausgefprochenen, Wort bes
Hinnen: „Water, ich Danke dir, Daß du mich erhöret haft,“
und zu Dem ein für alle Mal der Bater gefprochen hat: „Heifche
von mir, und Ih gewähre dir's!“ — Seht, fo hat der Glau⸗
be, den der Geift in uns wirkte, an der Fürbitte Zefu die Bürgſchaft
feines ewigen Beftehens. Beftürmt, angefochten und erfhüttert kann
er werden; aber nicht ausgelöfcht noch vernichtet. Simon follte diefes
wiffen, damit er an foldhem Bewußtfein eine Wehr und Waffe hätte,
wenn num der Kampf für ihn entbrennen würde. Im Fall des Un:
terliegens aber follte dies Bewußtfein ihm den Stab und Steden
reichen, an dem er über den Abgrund der Verzweiflung fi glüd-
lich hinüberſchwänge. Allerdings hat Petrus in dem Momente, da die
Berjuchung daherbraufte, von dem theuerwerthen Worte keinen Gebrauch
gemacht. Simon wankte, ftraudhelte, ja, erlag. Wie wird aber nad)
dem Falle der Gedanke ihn aufgerichtet und getröftet haben: „Es ift
mit Dir noch nicht gar aus! — Der Herr betete ja für Dich, daß dein
Glaube nicht aufhöre, fondern daß der Same Gottes bei Dir bleibe.“
Das Rachtgeſpraͤch. 177
„Ich habe für Dich gebeten,“ fpricht der Herr, „daß dein
Glaube nicht aufhoͤre.“ Und wie fpricht er weiter? Ach, faft ift’s
zu viel, zu viel auf einmal, was Er von den Ziefen Seiner herz
lihen Barmherzigkeit uns entichleiert. — Vielleicht meinte bisher der
Eine und Andre von euch, es rede der Herr nur darum fo liebevoll
zu Simon, weil er ſich zu ihm verfehen habe, er werde den Kampf
befiehen und Zreue beweifen. Aber nein; der Herr weiß, daß Pe
trus fallen wird. Er ſieht ſchon den Treubrüchigen, den Berleug-
nenden in ihm. „Und dennoch kann er fich fo huldreich gegen ihn
bezeigen?” — „O, nur um fo mehr! — €8 ergeht ihm wie einer
Mutter, deren Herz gerade dann erft recht in Zärtlichkeit zu ihrem
Kinde entbrennt, wenn fie den Xiebling in Gefahr fieht. “Daß nur
fein Simon nicht verzweifle nach dem Zall, fondern zur rechten Zeit
wieder Muth gewinne, zu Ihm, dem guten Hirten, fich zurückzuwenden,
das ift des Meifters einzige Sorge; und auf diefen Zweck der retten
den Liebe find alle feine Reden fein berechnet. Hierauf berechnet
ift auch das Wort fürforglichfter Leutfeligkeit: „Und wenn du di
dermaleins befebreft, fo ftärfe deine Brüder!“ — — O
Simon, hörft du, hörſt du? Welch’ reicher Inhalt in diefen wenigen
Lauten! — „Wenn du dermaleins dich befehreft.”" — Fallen alſo
wirft du; du wirft verfchlagen werden. Simon, bangt Dich nicht? Bes
ginnt nicht Alles, was in Dir ift, zu zittern? — Nein, dem armen
Jünger bleibt ein Räthfel, was da der Herr zwar andeutungsweife
mr, jedoch verftändlich genug ihm vorherverkündet. Er verfteht es
nicht, weil er eher des Himmels Einfturz für möglich halten würde,
als daß er jemals feinen Herrn werde verleugnen können. Nun im⸗
merhin, willft du es denn nicht faflen, verbiendeter Jünger, fo beachte
wenigſtens den mächtigen Troſt, den hier für die Thränentage, da dir
Hülfe noth fein wird, der Herr dir darreicht. O, wie wird dir derfelbe
noch einmal zu ftatten Eommen! — , Wenn du Dermaleins Did bes
kehreſt.“ Alfo auch nach der betrübten Niederlage darfft du wieder⸗
kommen; er geftattet dir's hiemit. Du wirft auch nach dem Treubruch
deines Hirten dich neu getröften, und feiner Heerde Dich wieder zuge⸗
fellen dürfen. Ya, zu Mehrerem wirft du noch ermächtigt fein. „Wenn
du Dich dermaleins befehreft, fo ftärfe Deine Brüder.* Alfo fein
Apoſtel follft du bleiben, und auch ferner feine Laͤmmer weiden! —
D Simon, fannft du folche Huld ermefien? Sinfft du nicht nieder,
die Züße ſolch eines Herm zu küſſen? — — Rein, Simon würdigt
12
178 Der Borkel. .
die Erharmung in jenem Worte nicht. Für den Augenblid hat er
nichts an diefem füßen Zuſpruch; ja ahnet nicht einmal, was ihm
derfelbe fol. Es werde ja niemals, denkt er, dahin mit ihm kommen,
daß er fid) noch einmal befehren müffe; denn er müßte ja dann zuvor
ein Abtrünniger geworden fein. Und „einen Abtrünnigen,” denkt
‘er, „wird der Heiland nie an mir erfinden!” — „So wäre denn das
troftvolle Wort des Herrn für Simon in den Wind geredet geweien?“
— D nit doch! Simon hats vernommen; und liegt’8 einftweilen
auch noch fehlummernd und wirkungslos im Schrein feines Gedächt-
niſſes, jo wird der Tag ſchon kommen, da e8 erwachen und als ein
unbezahlbarer Schag feine Zinfen tragen wird. ‘Der Heiland tft felbft
nicht fo erpicht darauf, wie wir, daß er alfobald die Wirkung feiner
Worte ſchaue. Er hat Geduld, und weiß, es bringe ein jegliches Ge⸗
wächs feine Frucht „zu feiner Zeit“. Es ift ja begreiflih, daß
unſer Simon das Fährgeld, welches der Herr ihm fchon vor der An-
Tunft bei dem Strome in die Hand gelegt, erft dann wird fchägen
fernen, wenn fchon die Waſſerwoge feinen Fuß befpülen wird. Laßt
fie nur erft daherraufchen, die Angfts und Zrübfalsflut; o, wie wird
er dann den Gottesgrofchen fegnen, den er eine Zeitlang unbewußt
in feiner Reiſetaſche trug!
. „Wenn du dich dermaleins befehreft, fo ftärfe deine Brü-
der.” Bermag man doc faum an dieſen Worten fid) fatt zu hören.
Faſt ſcheint's, als hätte Simon dur den Fall erft zu einem rechten
Apoftel werden follen. Und im Grunde war dem auch fo; denn wie
hätte es fonft gefchehen fünnen, daß Gott Die Niederlage zuließ? Die
erfte und wejentlichite Eigenfchaft eines Herolds des Evangeliums ift
und bleibt ein gründlich zerbrocyenes, gebeugtes und gedemüthigtes
Herz; und Gott kann einer Gemeine kaum etwas Heilfameres erzeigen,
als wenn er den Hirten Derfelben zu einem recht armen Sünder macht.
Erfi, wenn man felbit der Schächersgnade als folcher theilhaftig
und froh geworden, it man im Stande, „die Brüder zu ftärfen.*
Wenn man felbit erft lebendig erfuhr, daß man nichts vermöge ohne
Ehriftum, Durch Ihn aber Alles, wird man ein wahrer Evanges
Lift, der nicht mehr unerträgliche Laften auferlegt, welche er felbft mit
feinem Finger anrührt, fondern linde und fanft einherfährt, wie Der
felbft, der da kam, nicht „das zerftußene Rohr zu zerbrechen und ben
glinmenden Docht auszulöfchen”; fondern „die muͤden Herzen zu etz
quiden und Die firauchelnden Kniee wieder aufzurichten.“ —
%
Des Ratigelpräß, 179
Simon geht auf des Herm Rede nicht ein. „Herr,“ ruft er, un
wirfch faft, als widerführe ihm eine Unbilde, „wenn fie fi Alle
an Dir ärgern, fo doch ich nicht! Ich bin bereit, mit dir
in's Gefängniß und in den Zod zu gehn!“ — Der lieben
würdige Mann! Freilich ſteckt er alles Selbftvertrauens voll; aber
nichtödeftoweniger flammt eine Inbrunft für feinen Meifter aus ihm
heraus, won der ich nur wünfchen kann, daß fie auch uns durchglühte.
Keine Selbftüberhebung ift erträglicher und verzeihlicher zugleich,
als Diejenige, welche eine folche Begeifterung für den Heiland zu
ihrem Grunde hat. O, wie war dem Jünger zu Muthe auf jenem
Delbergögange! Wie glomm und gohr und wogte es in feinem In⸗
nern! Nein, nie noch hatte er es fo gefühlt, wie lieb er Jeſum habe,
als eben jeßt, da die Zrennungsftunde nahte. Und gerade in Diefem
Momente höchften Gefühlsauffhwunges hört er feinen Meifter die Bes
forgniß äußern, er möge treulos von ihm weichen können. „Wie,
denkt er, „Lönnte das jemals möglich werden? — Nabbi, verfenne
deinen Simon nicht!” — „Auch Bande und Tod,“ fpricht er, „wer⸗
den mich von dir nicht ſcheiden!“ Mit diefer Berficherung war es
ihm ein heiliger Emft. Aber ach, er verfprah zu viel, — „Wars
um?“ fragt ihr ftugend. „Hatte nicht Jeſus für ihn gebetet, daß fein
Glaube nicht aufhöre?“ — Wohl hatte er das; und wenn Petrus
darauf fein Vertrauen gegründet hätte, fo würde er immerhin uners
fchütterlihe Treue bis in den Zod haben geloben dürfen. Aber Simon
troßte auf feine eigne Kraft, und wollte fagen: „Meine Liebe ges
wäbhrleiftet dir's, Daß ich Dich nicht verleugnen werde;” und eben Dies
ward des Jüngers Unglück. O Simon, es ift das menjchliche Herz
ein troßig und verzagtes Ding, und auf morfche Krüden lehnt fich,
wer auf fein Fühlen und Empfinden fid verläßt. Du aber weißt
dies noch nicht, wirft es jedoch fpäterhin erfahren. O nimmer auf
eigne Koften was verheißen, wie geiftlich reich umd ſtark man fich auch
glauben mag! Nimmer den Fuß über Bord gefeßt, fo lange der Herr
nicht fein „Komm!“ uns zurief und feine helfende Hand uns ent
gegenſtreckte! — Wer aber auf den ftarken Arm Immanuels fi
flügt, und in Seiner Gnade feine Stärke fucht, der fpreche freudiger
noch, als Simon: „Ich bin bereit, Herr, mit dir in den Tod zu gehn!“
Der Herr wird ihn mit feinem Glauben nicht ſchamroth werden laffen,
fondern ihm felbft auf brandenden Meereswogen feften Grund bereiten,
Kaum daß Simon in aller Arglofigleit feine heroiſche Derfiherumg
12
180 Dear Bordel.
ausgefprochen hat, vernimmt er aus Dem Munde des Herm die zweite
Warnung. Der Herr ſagt's ihm jet mit dürren Worten heraus, was
ihn bedrohe. „Petrus,“ fpricht er, „ich fage Dir, der Hahn
wird heute nicht frühen, ehe Denn du Dreimal verleugnet
habeft, daß du mich kenneſt!“ Welch' ein Wächternuf Dies!
Welch' ein Pofaunenftoß in Simons Seele! Aber Simon weift ihn
im Gefühle feines Tiebewarmen Herzens von fih ab. — „Sei ohne
Sorge, Herr! * denkt er. „Ich follte Dich verleugnen? — Rein, dein
Simon verleugnet dich nicht! — Er ftirbt mit Dir, wenn e8 fein muß;
aber Dich verleugnen? — Nimmer, nimmer!” — So Petrus. Daß
Er nicht anders denken werde, fah der Herr voraus. „Aber wozu
denn die Warnung?“ — Ich habe ſchon gefagt, Daß es mit Derfelben
im Grunde mehr auf die Wiederaufrichtung des Gefallenen, als
anf die Stärkung des Kämpfenden abgefehen war. Nach der Ber:
lengnung follte Simon zu fi) felber ſprechen: „Sieh, der Meifter
hat dir's vorausgefagt, was dir jetzt widerfahren ift. Er fah es fom-
men, und warnte did. Ob Er aber gleich erfannte, du werdeft die
Warnung in den Wind fchlagen, verftieß er dich doch nicht, fondern
redete nach wie vor zu Dir wie liebreih, wie Teutfelig!“ — So
follte er fagen, und an diefen Erinnerungen zu feiner Zeit fid) wieder
erheben und ermuthigen. Den Hahn aber beftellte ihm der Herr zum
Weder und Bußprediger, der mit feinem Morgenrufe zur rechten
Stunde den Gefallenen aus dem Taumel wieder zu fich felber brin-
gen, und die Thräne der Zerfnirfchung ihm entlocken follte. Gebt,
fo erftredte fich die mütterliche Fürforge des Heilandes noch weit über
die Anfechtung und den Kampf hinaus, und bereitete fchon die Heil-
mittel für die Wunden nad) Fall und Niederlage. DO, mit wie vielem
Grunde darf Er jagen: „Ich will euch tröften, wie einen feine Mutter
troͤſtet;“ und wie großen Anlaß haben wir, bei ſolchem Blicke in fein
weites Mutterherz auszurufen: „Seine Liebe ift ftärker, denn der Tod,
md fefter, als die Hölle. Ihre Glut ift feurig, und eine Flamme
des Herrn!“ —
2.
- Nachdem der Herr mit Simon fertig ift und alle Veranftaltungen
zur Wiederaufrichtung des geliebten Jüngers in der Stunde der Beu⸗
gung und des Weinens getroffen hat, wendet er ſich zu den Juͤngern
insgemein; und ac, welche Blicke in fein Heilandsherz müſſen auch
dieſe Verhandlungen uns eröffnen! Die Jünger hatten ihre Lehrjahre
Das Raqtgeſpraͤch. 38
nun beendet, und die Zeit war vor der Thür, da fte In der Finſterniß
diefer Welt ihre Lichter leuchten Taffen, und von Sturm und Drang,
Tumult und Streit umtobt, das Panier des Kreuzes unter den Völkern
der Erde entrollen ſollten. Jeſus fteht im Begriffe, e8 ihnen ange
fagen. Und wie thut er dies? Wieder fo mütterlich, fo forgfam, fo
zart und liebend, Daß Einem das Herz Darüber jauchzen möchte, „Sagt
Doch,“ beginnt er, „als ich euch entfandte ohne Beutel, ohne
Taſche, ohne Schuhe, (d. h. mit ausdrüdlihem Verbote, dergiek
hen mitzimehmen,) habt ihr da je an irgend etwas Mangel
gehabt?" Die Gefragten befinnen fi: „Gebrach es uns irgend
einmal am Nothwendigen? Litten wir wirklih Mangel?“ Aber nehm,
fie erinnern ſich ſolchen Falles nicht, fondern müffen zur Ehre des
Herrn freudig befennen: „Herr, niemals!” Der Herr war mit
ihnen verfahren, wie er gewöhnlich mit feinen Kindern zu verfahren
pflegt, die er in der Zeit ihrer erften Liebe gar fänftiglich Teitet umd
in Gängelbanden mütterlich zarter Huld und Milde gehen läffet. Alles
gibt, Alles gewährt er ihnen, nicht allein was, fondern aud) wie fie
begehren, und zwar in der Abficht, fie nur einmal erſt recht an ſich
zu gewöhnen, ihnen einen unauslöfchlichen Eindrud von der Lieblich⸗
feit feines Friedensreiches für Die weitere Lebensreife mit auf den
Weg zu geben, und ihnen den leßten Zweifel zu benehmen, daß er fie
wirklich angenommen und in fein Herz gefchloffen habe.
Wie aber fährt der Here nad) dem fo wahr und kindlich dankbar
ausgefprochenen „Niemals * feiner Jünger fort? Dan ift geneigt,
zu denfen, er werde fagen: „So forget denn auch ferner nicht; denn
wie ihr's bisher erfahren, gleicher Weiſe wird es fortgehn.” — Aber
nicht alfo. Vielmehr eröffnet er ihnen gerade umgekehrt, daß fie tm
Zukunft nicht felten auch andere Erfahrungen machen würden. „Seht“,
fpricht er, den Gegenfaß gegen das „Bisher“ ftark betonend, umd
nicht etwa blos in Die nächftlommenden drei Tage, fondern in den
ganzen nachmaligen Berufs: und Pilgergang der Apoftel hinüberden⸗
tend, „wer einen Beutel bat, der nehme ihn, desgleichen
aud die Taſche. Wer aber nicht hat, (nämlich weder Beutel
noch Tafche, welche erforderlichen Zalls für das gleich zu nennende
noch Unentbehrlichere hinzugeben wären,) der verkaufe fein Kleid,
(das Allernöthigftel) und kaufe ein Schwert!” — Wie haben wir
und dies Wort zu deuten? Im Allgemeinen kündet er Damit den Juͤn⸗
gern unverholen eine Zutunft des Kauspfes, der Gefahr, der Reth und
182 Der Borhof.
wielfacher Bebrängniß an, worauf fie bei Zeiten fich zu rüften und ge-
foßt zu machen hätten. Zeftiglich aber, — dies ift feine Meinung, —
möchten fie alsdann auf Ihn vertrauen, den fie ja als einen treuen
Rothhelfer und Beiftand hätten kennen lernen. Zugleich gibt er ihnen
Deutlich zu verftehn, daß fie fich hinfort auf eine fo augenfällige Wun⸗
Derleitung, wie fie fie bisher während ihrer Kinderübung erfahren
hätten, nicht allzuficher mehr Rechnung machen dürften, indem ſich ihr
Leben fortan mehr in den Geleifen des Gewöhnlichen bewegen, und
Die Unmittelbarkeit, in welcher feither die Hand der ewigen Liebe
fle getragen und gepflegt, einer Bermittlung der göttlichen Hülfe-
letftung Platz machen werde, die Glauben verlange. Da werde es
denn gelten, neben dem Aufſehen zur Höhe und dem Gebet auch die
ordentlichen Verſorgungs⸗, Schuß- und Hüfsmittel, die ihnen zu
Gebote ftänden, in Anwendung zu bringen. „Wer einen Beutel und
eine Tasche hat, der werfe fie nicht weg, fondern nehme fie ımd halte
fie zu Rath. Männliche Entfchloffenheit, Vorficht und Auge Berechnung
find nicht mehr zu verfchmähen, fondern in Bewegung zu feßen und
zu gebrauchen. Ja, wer nicht hat, verfaufe fein Kleid, und faufe für
den Erlös ein Schwert!” — „Ein Schwert?” fragt ihr ſtutzend.
„Ein geiftliches doch wol nur? — Das Schwert des Wortes etwa
oder des Glaubens Schwert?” — Nein, Freunde, an geiftliche Waf⸗
fen denkt der Heiland bei dem Schwert fo wenig, wie bei dem Beutel
amd der Taſche an ein geiftliches Reiſegeräthe. Es geht aber auch
feine Meinung nicht etwa dahin, als follten die Jünger mit Schwer-
tern im eigentlichen Sinne des Wortes fich verfehen; fondern feine
Rede ift fprichwörtlicher Natur, und befagt in ftark bezeichnender Weiſe:
„Euer künftiger Berufsweg wird euch in Verhältniffe und Lagen führen,
Da ihr eure Seele in den Händen tragen und in entfchloffenfter Ge-
genwehr um eure Freiheit und euer Leben werdet kämpfen müſſen!“
Dann aber, als ob der Herr fagen wollte: „Verwundert euch dep
nicht, was ich eben euch eröffne; denn der Jünger ift nicht über dem
Meifter, und was wider mic) ift, das wird auch wider eud) fein,” er-
innert er fie daran, daß nun auch Sein eigner Weg in die äußerfte
Schmach und Drangfal fi verlieren werde; und fpricht, mit einem
Grund angebenden „Denn“ beginnend: „Denn ich fage euch: Es
muß auch noch das vollendet werden an mir, das geſchrie—
ben ftehet: Er ift unter die Uebelthäter gerechnet. Denn
was von mir gefagt ift, das bat ein Ende“ Der Herr bezieht
Das Sactgeip. 183
fih hier auf das 53ſte Kapitel des Propheten Jefaias, und namentlich
auf den 12ten Ders defielben, und bezeugt ausdrüdlih, was da von
dem „Knecht Jehova's“ gefchrieben ftehe, Daß er „Vieler Sins
ben tragen, für die Uebelthäter in’s Mittel treten, und
durch Gehorſam und tiefe Dpferleiden fein Volk gerecht
machen und ewig erlöfen werde,“ das fei von Ihm geſagt.
Hiemit hat er denn zuoörderft über Die einzig richtige Deutung des
genannten Kapitels in göttlicher Vollmacht den letzten Zweifel zerftreut,
Bon Ihm Handels; von Seiner Perfon, von Seinem Werl, vor
Seinem Reid, Sodann hat er in jenem Ausſpruch den Seinigen eine
hellleuchtende Fackel für das räthfelvolle Dunkel feiner bevorſtehenden
Baffion in die Hand gegeben; und endlich ihnen fein Reich als ein
Kreuzreich bezeichnet, deſſen Angehörige fich in diefer argen Welt
kaum eines Beffern würden zu verfehen haben, als es Ihm felbft zu
Theil geworden fei, Ihm, der zulegt noch bis in den Tod am Holz
des Fluchs hinein den „Uebelthätern“ gleich gerechnet werden, und
wie ein „Fegopfer“, verfpien und ausgeftoßen, die Welt verlaffen werde,
Was meint aber der Herr mit den folgenden Worten: „Denn maß
von mir gefchrieben ift, das hat ein Ende?” — Gewiß nicht
Dafjelbe, was er mit den vorhergehenden fagen wollte: „Es muß auch
noch das vollendet werden an mir, das gefchrieben ftehet.” Unverkenn⸗
bar fieht der Herr da wieder auf die den Jüngern vorhin gegebene
Mahnung zurüd; und der feinen Worten zu Grunde liegenden Ge⸗
danken find fonderlih dreie. Zuerſt will er fagen: „Für mich ſollt
ihr euch nicht wappnen, mich nicht vertheidigen wollen; denn ich babe
als das Gotteslamm einem vorweltlichen Rathſchluſſe zufolge die wir
zugemefjenen Leiden als folche, Die zu eurer Verſoͤhnung unerläßlich
erfordert werden, in hingebender Geduld auf mich zu nehmen.” So⸗
dann: „Das Maaß derjenigen Marter, durch welche eure Erlöfung
bedingt ift, erfchöpft fih in meiner Baffion; darum mögt ihr als
die mit Einem Opfer in Ewigfeit Bollendeten getroften Muthes eurer
Zukunft entgegengehn.” Und endlich: „Was immer ihr in Zukunft
werdet zu erleiden haben, zu eurer Berföhnung erletdet Ihr nichts
mehr, indem, was zur Büßung der Sünde und zur Zilgung
der Schuld erduldet werden mußte, fih auf mein Haupt zuſam⸗
menbhäuft, und alfo in mir ein Ende hat. Wenn ihr noch fürder
leidet, fo leidet ihr nur zu eurer Läuterung; und euch fteht es zu,
was mir nicht ziemt, für euer Leben ımd deſſen Erhaltung zum Dienft
184 ‚Der Borbof.
der Liebe für die Brüder, zur Nothwehr euch zu rüften, und erforder-
lichen Zalls mit allen erlaubten Mitteln euch zu ſchützen und zu wehren.”
“ Dies des Herm Meinung. Die Sünger aber faffen den Meifter
nicht, fondern deuten fih fein Wort, wie Petrus dies nachmals mit
der That zu Tage legt, ald eine Aufforderung an fie, ihn mit mate⸗
rieller Gewalt gegen feine Feinde in Schuß zu nehmen. Mit diefer
Borausfegung halten fle ihm die ehernen Schwerter hin, womit ihrer
zween, und unter diefen Simon, nad Gewohnheit wandernder Ga⸗
filäer bewaffnet waren, und fprechen, allerdings wohlmeinend, aber mit
findifhem Unverftand: „Siehe, Herr, hier find zwei Schwer:
ter!” — „Es ift genug!” erwiedert der Meifter, wehmüthig ab⸗
brechend. „Laſſen wir für jeßt die Sache ruhn,“ will er fagen; „im
Fortgange eurer Erlebniffe wird euch das Verſtändniß meiner Worte
Thon befjer aufgehn.” — —
Nun fagt, Freunde, was e8 wol Rührenderes und Herzerhebenderes
gibt, als die mehr denn mütterliche Umſicht und Fürforglichkeit, womit
der Herr hier den Seinen ſchon für die fpätere Zukunft ihres Lebens
Alles mit auf den Weg zu geben ſich bemüht, was ihnen zur rechten
Stunde Rath, Halt und Troft gewähren könnte. Freilich wiffen fie
noch nicht, was für einen koͤſtlichen Schag fie an dem Allen mit fich
nehmen. Sie tragen denfelben noch in allerlei Mißverftändniffe ver-
hüllt in ihrer „Taſche“. Zu feiner Zeit aber wird ſich das geiftfiche
Bandergeräthe fchon in feinem Werthe geltend machen und feine Dienfte
leiften, und fie werden anbeten die Liebe, die vor der Gefahr fo
forglich mit allen Schußmitteln wider Aergemiß, Zweifel und Verwir⸗
tung fie ausgeftattet. Es ift aber der Herr im Laufe der Sahrhunderte
nicht ein Andrer geworden, al8 der er damals war. „Jeſus Chris
ftus, geftern, heute und derfelbige aud in Ewigkeit!” —
Zreuen wir uns deß, vertrauen auch wir und unbedingt Ihm an, und
fingen wir, mit jenem Weihe an Seines Kleided Saum uns hängend,
und mit der Sulamithin uns lehnend auf Seine Schultern:
Es fei mir nur dad Eine, Mas mag dann noch mich fhreden,
O Iefu, feft bewußt: Für den ſolch' Herze ſchlägt,
Ich ruhe als der Deine Den ſolche Flügel deien,
Berföhnt an deiner Bruſt. Und ſolche Liebe trägt? Amen. —
2
Dans Deilige. .
nnd
XVII.
Gethſemane.
Kampf und Sieg.
Es begegnet uns im alten Teſtamente ein ſinnbildlich tieferer Auf⸗
tritt nicht, als derjenige iſt, in welchem wir (1 Moſes 32) den Alt
vater Jakob mit dem Engel Jehova ringen fehen. Wir treffen den
vor feinem Bruder Eſau flüchtigen auf dem nördlichen Ufer des Flüß-
hend Jabok, wo er, von feines Herzens Noth gedrängt, nachdem
er fein Gefolge über den Bach voraus gefendet, einfam und allein,
um im Gebet vor Gott fich zu ergießen, zurüc geblieben if. Da ge
fhieht es, daß, ſcheinbar in feindfeliger Abficht, eine hehre Mans
neögeftalt, in der der Patriarch alsbald den Gott der Erſchei—
nung, den ewigen Sohn erkennt, fi) ihm nähert, und in demfel-
ben Momente auch ſchon ihn angreift, und ihn niederzuringen trachtet.
Jakob, von dem Bewußtfein durcydrungen, daß er e8 hier mit Dem
zu thun habe, der fein einiger Troft und feine lete Zuflucht fei,
geht unter Gebet und, wie Hofen berichtet, vielen Thränen den uns
gleihen Kampf mit dem Erhabenen ein, und ift feft entfchloffen, ob
es ihm auch das Leben Eoften follte, nicht zu weichen, bis des Ges
beimnißvollen Zorn über ihn, den Sünder, fi) in Gnade verwandelt
habe, Während des Kampfes aber rührt der Herr, zum Beweife ſei⸗
ner Uebermacht, dem kühnen Streiter das Gelenk feiner Hüfte an; und
fofort ift ihm daſſelbe verrentt, und er fühlt, wie er zu ſinken ber
inne. Se tiefer aber den Erzvater jetzt das Gefühl feiner Nichtigkeit
und Ohnmacht durchdringt, um fo flürmifcher nimmt er Die freie
Gnade des Herrn in Anſpruch; und je weniger die eigenen Füße
ihn mehr tragen wollen, um fo frampfhafter umsfchlingt er mit beiden
Armen als feine einige und letzte Stuͤtze den Hals feines wunderbas
188 Das Heilige.
ren Gegners. Gegen ſolch Andringen eines zerfnirfchten und um Er-
barmen bettelnden Sünders fann der Herr aber nicht mehr an. Dem
Glauben einer lauterlichen Kindeseinfalt hat Er ein für alle Mal
fih hingegeben. Er deutet dies felbft durch die an Jakob gerichtete
- Bitte an: „Laß mich gehn; denn die Morgenröthe bricht
an." Iſt's nicht, als wollte er fagen: „Jetzt haft du mich übermodit.
Ih bin fortan abhängig von dir, und bin dein Gefangener.“
Zugleich entlodt er dem Erzvater mit jenem Worte, allen Betern nad)
ihm zum Vorbilde und zum Zrofte, die rüdhaltlofefte Kundgebung
feiner jedes Bedenkens fi entfchlagenden Kindeszuverficht zu der
göttlichen Barmherzigkeit. „Ich laſſe dich nicht, * fpricht Jakob,
„Du fegneft mich denn!” Wo fchreiendes Hülfsbedürfnig auf
der einen, und unbedingtes Vertrauen zur Gnade auf der anderen
Seite das Herz bis zu dieſer Sprache demüthiger Kühnheit drängt,
da fieht der Herr feine Luft, und ift geneigt, dem Flehenden Alles
zu gewähren, was er begehret. — „Wie heißeft Du?” fragt der Herr.
— , Jakob“, antwortet der Patriarch in tiefer Beugung; denn diefer
fein Name, verdeutfcht „Ueberlifter“, erinnert ihn am feine Sünder:
ſchuld. Der Herr aber fährt fort: „Niht Jakob mehr, fondern
Iſrael (d. i. Gotteskämpfer) follft du heißen; denn du haft
mit Gott, und (weil nämlich Gott fortan mit Dir und auf deiner
Seite ift, wirft du auch deine fterblihen Gegner überwinden) mit
Menſchen gekämpft, und bift obgelegen.“
Der Kampf Jakobs war wenigftens theilmweife und in feinen
allgemeinften Umriffen ein Vorbild jenes andern und un-
gleich bedeutungsreicheren Kampfes, deffen wir heute Zeugen fein wer-
den. Ich meine den Kampf Immanuels mit feinem himmliſchen Bater
in Gethfemane. Doc indem ich mich anfchide, die Vergleichungs⸗
punkte zwifchen dem Schatten und dem Gegenbilde aufzufuchen,
ſchwindet jener mir immer tiefer in den Hintergrund zurüd, und das
Entfprechende in demfelben erftredt ſich kaum auf etwas mehr, als auf
Die Hingebung und Inbrunft, womit hier wie dort der Gebetesfampf
gekämpft wird. Der Delbergsfampf fteht einzig da in feiner Art. —
Keine andere Begebenheit der Weltgefchichte tft ihm an Wefen, Zwed
und Großartigkeit der Bedeutung, wie des Erfolges, zu vergleichen.
Davon werden wir uns heute näher überzeugen, Sei der Herr nicht
ferne von uns mit feinem Geiſtel —
Geihfemane. 188
Matthãus 26, 36—46. Marcus 14, 32—42. Sucas 22, 39—46.
Johannes 18, 1.
Da kam Iefus mit ihnen zu einem Hofe, ber hieß Gethfemane, da war ein Ger
ten, darein ging Jeſus und feine Jünger. Judas aber, der ihn verrieth, wußte deu
Ort auch; denn Jeſus verfammelte fi oft dafelbft mit feinen Jüngern. Und als er
dahin fam, fprad er zu feinen Jüngern: feget euch bier, bis daß ic) dorthin gehe
und bete; und betet, auf daß ihr nicht in Anfechtimg falle. Und nahm zu fi Bes
trum, und Jalobum, und Iohannem, die ziween Söhne Zebebäi, und fing un zu trau⸗
ern, und zu zittern und zu zagen. Da ſprach Iefus zu ihnen: Meine Seele ift be⸗
trübt bis in den Tod; bleibet hier und wachet mit mir. Und ging hin ein wenig,
und riß fi) von ihnen bei einem Steinwurf, fnieete nieder und fiel auf fein Anger
fit auf die Erde und betete, daß, fo e8 möglidy wäre, die Stunde vorüberginge;
und ſprach: Abba, mein Vater, es ift dir Alles möglich; willſt du, fo überhebe mid
dieſes Kelchs, und nimm ihn von mir; doch nicht, was ich will, fondern was du
willſt! — Und er fam zu feinen Iüngern, und fand ſie fhlafend, und ſprach zu
Petro: Simon, ſchlaͤfſft du? vermoͤchteſt du denn nicht eine Stunde mit mir zu wa⸗
hen? Wachet und betet, dag ihr nicht in Anfechtung fallet; der Geiſt ift wikig, aber-
das Fleiſch ift ſchwwach. Zum andern Mal ging er wieder bin, betete und ſprach Die
felbigen Worte: Mein Bater, iſt's nicht möglih, daß diefer Kelch von mir gehe, ih
trinte ihn denn, fo geſchehe dein Wille. Und er fam wieder und fand fie abermals
fhlafend vor Tranrigfeit, und ihre Augen waren voll Schlafs, und mußten nidht,
was fie ihm antworteten. Und er ließ fie und ging abermals bin, nnd betete zum
dritten Mal, und redete diefelbigen Worte. Und ed fam, daß er mit Dem Tode rang,
und betete heftiger. Es war aber fein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die
Erde. Es erſchien ihm aber ein Engel vom Himmel und färfte ihn. Und er Rand
anf vou dem Gebet und lam zum dritten Mal zu feinen Jüngern, und- ſprach zu
ihnen: Ach wollet ihr nnn fchlafen und ruhen? es ift genug: flehe, die Stunde ift
bie, baß des Menſchen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird, Stehet
auf, laſſet und von hinnen gehn; fiehe, der mich verräth, it nahe. —
Das Heiligthum der Paffion bat fih vor uns aufgethan. Das
große Opferwerk nimmt feinen Anfang. Sehet dort den Priefter und
das Lamm; den Brandopferaltar und drauf das Feuer Gottes, Brüs
der, welch' ein Auftritt! Wer ergründet hier die Tiefen? Wer Iöft
von dieſen Geheimniffen die Siegel? Wahrlich, bier ift mehr, als
Abrahams Opfer auf Morijah, als Jakobs nächtlicher Gottes
fampf und als Mofis Gefiht beim Berge Horeb. „Hier flarrt der
Geiſter Schaar; die Seraphinen bededen. hier mit Flügeln ihr Ges
fiht!" Heiliges Dunkel, das Gethfemane umgraut! Wie fänden wir
uns je darin zurecht, leuchtete uns die Fackel Gottes nicht voran? —
Schauervolle Räthfelwelt, die uns bier umgibt! Wie gelangten wir
zu ihrer Deutung, reichte uns nicht Jehova durd feine Dolmet⸗
fcher, die Propheten und Apoftel, dazu die Schlüffel? —
192 Dad Heilige.
als etwas nur aus feinem eigenen Innern Entfpringendes, ſondern
als ein in pofitivner Weife von Außen ber über ihn Hereinbre-
chendes anfehe, und angefehen wiflen wolle. Als ein Berhängniß
fteht e8 vor Ihm, was feiner wartet. Einer Wetterwolfe gleich fieht
Er's bruͤtend über feinem Haupte bangen.
„Sitzet ihr hier, auf daß ich hingehe.” Dies war die
Sprache feines ganzen Lebens, und iſts noch heute Man könnte
das Wort ald Wahlſpruch unter Sein Bildniß fchreiben: „Sißet
ihr hier, auf daß ich hingehe!“ So ſprach er im Anbeginn
ſchon, als einft die Barmberzigfeit und Gerechtigkeit Gottes mit ein⸗
ander zu Rathe gingen, was aus uns armen Sündern werden folle,
und, als — laßt mich von unergründlichen göttlichen Dingen einmal
menſchlich ftammen, — die Liebe uns gern begnadigen wollte,
aber die Heiligkeit nicht durfte, weil fie verdammen und verwerfen
mußte. Da war Er es, der fih in’s Mittel warf. „Sibet ihr
bier,” fprach er, auf Daß ich hingehe und laffe mein Leben
für die Lämmer!” — As er nachmals den Himmel zerriß und
unfer Zodesthal betrat, um für uns „alle Gerechtigkeit zu erfüllen,”
fprach er abermals, und zwar jebt zu uns: „Sißet ihr, auf dag
ich hingehe, und gehorchend und leidend euch vertrete?” Und fiehe,
dies blieb feine Lofung bis diefe Stunde. Allewege will er für ung
gehn, wir follen ſitzen; Er arbeiten, wir ruhen; Er fchaffen, wir
genießen; Er für uns kämpfen, wir Giegeslieder fingen. Wo Er
feine Kinder fi) mühen fieht, in Streit oder Angft, in Sorgen oder
Zweifeln, da ift Er bald zur Hand, und fpridt: „Siget ihr nur,
und werft alle eure Sorgen auf mid, legt euch auf meinen Schultern
fill zur Ruhe, und laßt mich hingehn, Daß ich für euch forge!“
Und wenn Er uns dies felbft in die umdunkelte Seele raunt, und
das füße Geheimniß uns verftchen lehrt, wie Er Alles für uns thun
wolle: ftreiten und forgen, ringen und fiegen, wirfen und beten: o
weich" ein Feiern, welch” ein Raften, zu dem Dann das müde Herze
eingebt! Zwar ringen und lümpfen Dann aud wir noch fort; aber
mit Siegeögewißheit gefchieht es, und mit tiefem Herzensfrieden. Wir
wiffen, wer au unfrer Seite ftebt, und Daß uns nichts mehr jcheiden
Bine von der Liebe Gottes,
Die Jünger, der Beifung ihres Meiſters geborſam, laſſen fich beim
Ciagange des Gehäftes nieder, während Er ſelbſt, nachdem Gr feinen
dee Vertrunteften, dem Petrus, Johannes und Jakobus gewinft, Da
Geibfemane. 193
fie Ihm folgen möchten, tiefer in das Gebüfch des Gartens vorgeht.
Um der Zukunft feiner Kirche willen Tiegt Ihm daran, Augenzeus
gen der verhängnißvollen Begebenheit zu haben. Zugleich bewegt
Ihn zur Mithinzuziehung jenes Jungerkleeblatts das rein menſch⸗
liche Bedürfnig nad) tröftlicher Liebesgemeinfchaft umter dem Ihm bes
vorftehenden Kampfe. Wie thut es wohl, in Stunden der Anfech⸗
tung von gleichgefinnten Freunden fich umgeben wiffen, Die mit un
machen, mit uns beten, und Schäße der Ermuthigung aus dem Worte
Gottes, wie aus dem Gebiete ihrer eignen geiftlichen Erfahrungen uns
Darzureichen haben! Wie kann uns dies den Kampf erleichtern und
verfüßen; während die Einſamkeit das Grauen zu fteigern, und
neben der wirklich vorhandenen Noth auch noch den Schredbildern
der Bhantafie die Pforten zu öffnen pflegt! — Dem Herrn Chrifto
aber blieb kein rein menfchliches Bedürfnig fremd. — In Allem
ward Er uns gleich, ausgenommen in der Sünde,
2.
Durch den Garten Eden fang die Stimme: „Adam, wo bift du
und Adam verbarg ſich zitternd hinter den Bäumen des Gartens,
Diefelbe Stimme des nachfragenden und fuchenden Gottes durch⸗
hallt, getragen von ähnlicher Abfiht, den Garten Gethfemane; aber
der „andere Adam“ entzieht fi) der Stimme des Rufenden nicht;
fondern fchreitet dem Erhabenen, der vor Sein Angeficht ihn fordert,
mit einem entfchloffenen „Hie bin ich“ entgegen. Folgen wir Ihm
in das nächtliche Dunkel. Welche Schauer aber, die wir jebt fi
um Ihn entfalten ſehen! Es find uns lauter wohlbelannte Perfonen,
mit denen wir hier zufammentreffen; aber wie haben fie ihre Geftalt
gewandelt! Alles verhüllt ſich, Alles wird unkenntlicd in Gethſemane;
und von Moment zu Moment fteigert fih im Anſchauen diefer ‘Dinge
unfres eigenen Herzens Noth und Bangen.
- Der ewige Vater iſts, der bier waltet; aber was bleibt uns
übrig, als Angefichts Seiner mit Hiob auszurufen: „Gott ift groß
und unbekannt, und Dunkel ift unter feinen Füßen!” Sein einiger
über Alles geliebter Sohn erfcheint vor ihm in einer Lage, daß der
Stein fi) über ihn erbarmen möchte, aber bei Ihm, der Doch zu
Zion fpradh: „Und ob auch ein Weib ihres Kindleins vergäße, fo
vergeffe ich doch deiner nicht,” fcheint kein Erbarmen mehr zu fein.
Wird man doch verfucht, mit David in den Schrei des Entiehens
13
184 Das Heilige.
auszubrehen: „Hat denn Gott aufgehört, gnädig zu fein, und feine
Barmherzigkeit vor Zorn verfchloffen?” Denn ſchaut nur, welche Scene!
Ein um das andre Mal wirft fih der Sohn der Liebe mit heißem
Flehn an des Vaters Herz; aber fein Ohr laufcht vergebens nad)
einem gewährenden „Amen“ aus der Höhe. Da ift nicht Stimme,
noch Antwort, noch Aufmerfen, als ob der Ewige feine Zufage:
„Rufe mich am in der Noth, fo will ich Did) erreiten und du follft
mich preifen!” im Grimm zurüdgenonmen, und für jeden Audern
wohl, nur für Den fein Herz mehr hätte, der doch vor Grundlegung
der Welt ſchon in Seinem Schooße war. Der Schauerteldy geht an
dem bebenden Duflder nicht vorüber; vielmehr wird der Trank von
einem Augenblide zum andern bitterer. — Lauter tönt die Klage des
Ringenden; andringender wird fein Gebet und Zlehen. Aber die Höhe
fehweigt, und der Himmel fcheint taufendfach verriegelt. Wohl naht
zuletzt der heiligen Engel einer; aber warum doch ftatt des unmit⸗
telbar tröftenden Hereintritts des Vaters ein Engel nur? Erſcheint
es nicht faft wie eine Ironie, Daß zu des Schöpfers Stärkung
ein. Geſchöpf entjendet wird? — Und was war Das für eine Stär-
fung, welche nur eine gefteigerte Bedrängniß zur Folge hatte? Denn
„nun erft”, lefen wir, „Fam es, daß Jeſus mit dem Tode
rang, und betete heftiger, und es ward fein Schweiß
wie Blutstropfen, Die fielen auf die Erde.” Großer
Gott! Welche Schatten und Schauer in Gethjemane! Ya, der Vater
waltet bier, aber im Dunkel wohnend: ein tief Berhüllter, ein Uns
befaunter, [heinbar im ſchneidendſten Widerfpruche mit fich felbft,
und von den Zrümmern feiner eigenen Verheißungen und Betheurun-
gen umgeben.
Und nun die Blide auf den Sohn geridtet! O fagt, wer Fennt
Ihn wieder? In ein undurdhdringliches Gewebe von üngftigenden
Näthfeln und Widerfprüchen fehen wir auch Ihn verhält. Er ift
der Mann, den Jeremias beftürzt im Geift erblidte, und mit den
Worten fchüdert: „In feinem Innerften iſt ihm das Herz zerfchlagen
und alle feine Gebeine erbeben,” — Er ift der Dabingefchmetterte,
welcher im Pfalme von fich zeugte: „Ich bin ein Wurm und fein
Menſch.“ Er kündigte fih an als den, der die Welt erlöfen werde;
und wer erfcheint der Erlöfung bedürftiger, als er ſelbſt? Gr
trägt den hohen Titel eines „Zriedensfürften”; und wo war je
mals Einer an Frieden ärmer, ala Er es iſt? Seht nur, wie ex
Gethſemane. 195
„unftät und flüchtig” bald Gott feinen Vater, bald arme Menfchen
finder um ein Labfal für feine zagende Seele angeht; aber nicht
findet, was er fucht, fondern unerquict aufs neue zu erzittern und
zu beben genötbigt wird. Sein Auge ift voller Thränen, fein Mund
voll Klage und Gefchrei, und ach! fein Herz ſchmachtet in einer Kelter,
die ihm den blutigen Angftfchweiß aus den Adern preßt! O, ift das
der Held, der einft die Stärke der Schwachen, der Zroft der Trauern⸗
den, der Wankenden Hort, und der Schild der Streitenden war? Iſt
das der Heilige in Iſrael, der weiland auf Alles gefaßt, ja mit Freu⸗
digkeit Daherrief: „Siehe, ich komme; deinen Willen, mein Gott, thue
ih gern, und dein Geſetz habe ich in meinem Herzen?“ Ich frage
wiederholt: Wer kennt Ihn wieder in diefem Elendeften der Elenden,
und wer erſchaut in diefem zerfnicten Rohr und bebenden Wurm noch
den „Schönften der Menfchenkinder*?
Und num feht endlich auch feine Jünger an, die das Maaß der
Unbegreiflifeiten voll machen. Während ihr Meifter in uners
hörten Beängftigungen mit dem Zode ringt, fehen wir fie, und noch
dazu die drei Auserlefenften der Kleinen Freundes: Schar, fehlaftruns
fen, ja übermannt vom Schlafe, am Boden liegen. Er weit fie
mit der faft flehentlichen Bitte, daß fie nur eine kleine Weile mit ihm
wachen möchten; aber fie, als ginge er fie nichts mehr an, entichluns
mern aufs neue, und überlaffen den Meifter feinen Aengften. Und
in ihrer Zahl befindet fih auch der, der da fprah: „Und wenn fle
fih Alle an dir ärgern, fo doch ich nicht, und ob ich auch mit Dir
fterben müßte*; umd ebenfo der, welcher als der Lieblingsfünger
einft an Jeſu Bruft lag; und der, welcher einft ein fo entfchloßs
nes „Ja“ auf des Meifters Frage hatte: „Könnt ihr den Kelch
auch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen Iaffen mit der
Zaufe, da ich mit getanfet werde?" — Ach erfehet hier, was e8 mit der
Treue der armen Menfchenkinder auf fih hat! Treu it Einer nur;
und nur auf Einen iſt Verlaß in allen Fällen; und Einer fhläft
und fhlummert nimmer bei der Seinen Noth: Der, um welchen her
Alles fchlief in jener bangen Nacht; nur feine Feinde nicht. —
Wie aber konnten Angefihts jenes erſchütternden Schaufpiels die
Fünger fchlafen? — Ya, wie konnten fie? Muß man nicht annehs
men, e8 fet dies mit natürlichen Dingen nicht zugegangen? Drängt
fih Einem bier nicht gewaltfam der Gedanke an eine Einwirkung uns
heimliche finſterer Mächte auf? Ihr feht, nach allen Seiten bin
13*
196 Das Heilige.
iR man in Gethfemane von Schauern umringt, und es kann Einem
werden, als träumte man bei wachendem Zuflande grauenhafte Fieber:
träume, oder als wären ed nur Zrug- und Schredgefichte, Die man in
einem Delirium an fich vorüberfchweben ſehe. —
3.
Doc vergegenwärtigen wir uns den Verlauf des Delbergsfam-
pfes näher. Kaum, daß Jeſus mit den Dreien einige Schritte in
Das Didicht des Gartens vorgedrungen, „hub er (alfo vor ihren
Augen ſchon) zu zittern und zuzagen an.“ Mit Diefem „er hub
an“ gibt die Gefchichte uns einen Wink, daß jebt etwas bis dahin
Unerhörtes über Ihn gefommen fei; zugleich aber bezeichnet fie damit
die ihn ergreifende Roth als eine nad) befonmener Vorkehrung in
freiem Entſchluß von ihm übernommene; Ihn felbft aber als einen
Mann, der, wie ein Ausleger treffend bemerkt, „unter Dem Leiden etwas
thue, und unter dem Thun etwas leide.” „Zu trauern und zu
zagen begann er.” Eine mausoſprechliche Schwermuth ergriff feine
Seele; eine geheimnißvolle Angft umlagerte fein Gemüth. Marcus
bringt nad) der ihm eigenthümlichen, die heiligen Scenen mehr in's
Einzelne ausmalenden und veranfchaulichenden Darftellungsweije auch
Die Art des Trauerns Jefu unfrer Ahnung näher, indem er fagt, Je⸗
ſus habe angefangen, „Sich zu entfegen.“ — Er bedient ſich im
Grundtert eines Wortes, weldyes ein plößliches Mark und Bein durch⸗
fehütterndes Erfchreden vor irgend einem Grauen erregenden Gegen:
flande anzeigt. Unverkennbar beabfichtigt der Evangelift, damit anzu:
deuten, daß bie Urſache des Erzitterns Jeſu nicht in Anfchauungen
und Erwägungen feiner Seele nur, fondern zugleich in Erfcheinun:
gen zu fuchen fei, die von Außen her auf ihn eingedrungen. Es
näherte fid) ihm ein Etwas, das feine Nerven zu zerreißen, ja, deſſen
Anblick das Blut ihm in den Adern zu erflarren drohte,
Schon gleich nad) dem erſten Angſtaufalle wendet er fich zu den
Dreien mit der feinen innerften Gemüthszuftand tief beleuchtenden
Aeußerung: „Meine Seele ift betrübt bis in den Tod." —
Gewiß ſchließt fi der Sinn diefer Klage in dem Gedanken nicht ab:
„Ich bin flerbenstraurig; die Angft bedroht mein Leben;“ obwol die
Worte allerdings auch dDiefes, ja dieſes zunächft befagen. Nach Diefer
Bedeutung ſchon eröffnen fie uns in die Tiefen der Seelenleiden des
Mittlers einen um fo erfchütterndern Blick, je weniger bei den Reden
Defien, der die Wahrheit felber ift, auch mur von ferne an Ueber:
Gethſemane. 197
treibungen gedacht werden darf. Das Betruͤbtſein bis in den Tod
bezeichnet aber nicht blos Das Maaß, fondern zugleich die Art und
das Wefen feiner Bedrängniß. Wir Tefen fpäter, es fet dahin ge-
fommen, daß er „mit dem Tode rang;“ und allerdings war es der
der fündlofen Natur des Herrn als etwas Fremdes und Widers
ſprechendes entgegentretende Tod an fich fchon, vor welchem ein
geheimes Grauen ihn erfaßte. Nicht war jedoch, was ihn erfchüt-
terte, der durch Die Gnade verfüßte Tod, der nur Die Bande des
Leibes löſt, um die Seele in ihre Heimath einzuführen; fondern der
Zod, der „der Sünde Sold“ heißet; der Tod, der als Fluch
auftritt; Der Tod, „deſſen Gewalt“ nach apoftolifchem Ausſpruch,
„der Zeufel hat“, und der als König der Schreden dem tiefoer-
fhuldeten. Adamsfohne das Licht der Augen austöfcht, um e8 zu feinem
Entjegen erft vor den Schranken des jenfeitigen Gerichts, und dann
in den ewigen Wüften ihm wieder anzuzünden. In Diefes Todes
Grauen fühlt fi) der Bürge hineinverfeßt, und dies nicht im Wege
der Anſchauung nur, fondern zugleich in demjenigen einer geheims
nißvollen Aneignung. Man fage, was man wolle, ohne ein Feſt⸗
halten an dem Begriffe der Stellvertretung findet man fich in dem
Dunfel des Delberglampfes nimmer zurecht. Eine bloße Bor ftellung
des Sündertodes, von welchem Ehriftus die Menfchheit zu erlöfen kam,
hätte den Heiligen in Iſrael fo zermalmend nicht erfaffen können. Er
kam in ungleih nähere Berührung mit jenem „legten Feind“.
Er leerte den Becher ſeiner Schrecken.
Beachtet nun, bis zu welcher Spitze ſeine Noth ſich ſteigert. it
jenem offnen Geftändniß: „Meine Seele ift betrübt bis in den
Tod,” eilt er wie Einer, dem in feiner Hinfälligfeit auch Die geringfte
Stüße und Labung hoch willlommen ift, zu den drei Freunden zurüd,
und fpricht zu ihnen, nicht mehr wie ein Herr zu feinen Dienern, ſon⸗
dern wie ein Bedrängter und Zroftbedürftiger zu feinen etwa zur Hülfes
leiftung befühigten Brüdern: „Bleibet hier und wadhet mit mir! *.
„Verlaſſet mid) nicht,” will er fagen; „eure Nähe ift mir tröſtlich.“
Er bezeichnet mithin nicht fie, fondern fich als den Beklagenswerthen,
„Bleibet hier!" — In welcher graufen Umgebung muß er fi) bes
funden haben, daß ſchon der Anblick diefer armen gebrechlichen Jünger
ihm fo erwünfcht und wohlthuend erfcheinen kann! „Bleibet hier]?
— Bie hätte er alfo bitten koͤnnen, hätte er den Himmel über fih offen
gefehn, und an der Bruft des Vaters ſich gebettet gefühlt, Wachet
198 Das Heilige.
mit mir! * fügt er hinzu. Diefer Ausruf bezeichnet faft noch fchärfer
und umfaſſender den Nothſtand feiner Seele, als das Bleibet!“
Zunähft ift das „Bacher!“ freilich Mahnung an die Seinen, in
diefer Stunde der Anfechtung auf ihrer Hut zu fein; zugleich aber
nimmt der Herr damit ihre Zheilnahme für fi in Anſpruch, und bittet
um ihr Mitleid. Ob gar auch um ihre Fürbittet Ich wage es
nicht zu behaupten. Gewiß aber ſtand des Herm Zuß niemals noch
weder vorher noch nachher in einem tiefern Grunde der Erniedri-
gung, ald eben bier im Garten Gethjemane.
Kaum daß Er jene Worte zu den Seinen geſprochen hat, reißt er
ſich wieder unftät und in gewaltiamer Bewegung von ihnen los, und
verliert fi) aufs neue einen Steinwurf weit in das Innere des Gar-
tens. Hier fehen wir ihn nun zum Staube niederfinken, auf feine
Kniee zuerft, dann gar auf fein Angefiht; und nun ringt ſich aus
feinem fturmbewegten Innern zum erften Male der flehentliche Seufzer
los: „Abba, mein Bater, es ift Dir Alles möglih. Willſt
Dun, fo überbebe mich dieſes Kelchs, und nimm ihn von
mir. Doch nicht wie ih will, fondern wie du will!" —
Habt ihr's vernommen? Ja, er wäre des Kelchs, den er eben trinken
fol, und deſſen Inhalt zu entfeßlich ift, gern überhoben; denn wicht
ein fühllofer Stein, fondern ein wirklicher, jeder Schmerzensempfün-
dung fähiger Menſch iſt's, der in ihm leidet. Aber er begehrt die
Verſchonung lediglich unter der bei Ihm fich immer won felbft ver-
fiehenden Vorausſetzung, daß diefelbe mit des Vaters Rath und Willen
vereinbar fe. „Wenn es möglich if,“ fpricht er; meint jedod)
nit: möglih überhaupt, wie er denn das Wort vorausfchidt:
„Dir ift Alles möglich,” und damit fagen will: „Wie, daß du nicht
auch Diefer Roth mich follteft entrücden können?” fondern denkt nur
an eine bedingte Möglichkeit innerhalb der Grenzen des Endzweds,
zu welchem Er erfchienen fei. — „Wie aber,“ fo höre ich einwer⸗
fen, „Chriftus kann noch fragen, ob die Erldfung der Menfchheit
auch ohne Kreuz, Blutvergießen und Tod zu Stande kommen fön-
nen?" — DO nicht doc), lieben Brüder. Die Frage des Herm bes
ſchraͤnkt fi) nur auf das gegenwärtige Grauen, auf den Gethſema⸗
ne's⸗Kelch. — „Aber auch darnach mußte er erft fragen?“ —
Laßt euch Das nicht befremden, meine Lieben; vielmehr mahne dieſer
Umftand eudy auf neue Daran, daß die Selbftentäußerung des Sohnes
Gottes weſentlich mit darin beftand, daß er bis zu einer gewiffen
Gethſemane 190
Grenze auch des Gebrauchs feiner göttlichen Vollkommenheiten über-
haupt, ımd feiner unbefchränkten göttlichen Allwiſſenheit insbeſondere
fi) begab, und dadurch in Die Lage ſich verfeßte, mit und einen Weg
des Glaubens wandeln, und, nach apoftolifchem Ausſpruch, „an dem,
das er litt, Gehorfam erlernen” zu Tönnen.
Mit der ganzen Macht heiliger Inbrunft und Findlicher Ergebumg
flug das Gebet des göttlichen Dulders an die Pforten des Thron
ſaals Gottes an; aber kein Wiederhall kehrte von dort zurüd, Der
Himmel verharrt in tiefem Schweigen. Da fährt der Beter mit fteis
gender Beängſtigung vom Boden auf, eilt auf8 neue zu feinen Jun⸗
gern, findet fie aber — wer vermag’s zu faffen? — in tiefen Schlaf
verfimten. Haſtig weckt er fe, umd fpricht mit wehmüthigem Grnfte,
zunächft zu Petro: „Simon, fhläfeft du? Vermöchteſt du
denn nicht eine Stunde mit mir zu wachen?" — Zermalmende
Frage für den ünger, der fo hoch fich vermeffen und den Mund son
Betheurungen der Treue bis in den Zod, fo voll genommen hatte!
— Und nad) diefem richtet er an die Drei zufammen den erſchuͤttern⸗
den Warnungsruf: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Ans
fechtung fallet; der Geift ift willig, aber das Fleiſch ift
ſchwach.“ Was ihn diesmal zu den Jüngern zurüdführte, war neben
dem Troftbedürfnig feiner beaͤngſtigten Seele der Eifer feiner mütters
lich fürforglichen Liebe für fie, die fammt ihm ein bedenklicher Zauber
freis umgab. „Die Stunde der Finſterniß,“ auf die er fräher
warnend hingedeutet, war jebt herbeigefommen. „Der Fürſt diefer
Belt" hatte in voller Rüftung den Plan befchritten. Die Hölle ſah
jetzt für ihre Handftreiche alle Schranken ſich geöffnet. Die räthfelhafte
Betaͤubung und Hinfälligkeit der Jünger kündet ſich ſchon als eine
Wirkung des unheimlichen Luftfreifes an, in dem fie athmen. Da galt
es denn wol, alle Kräfte des Geiftes und Gemuͤths zuſammen zu raffeır,
um nicht der Verfuchung zu Aergerniß, Unglaube und Abfall zu erliegen.
Denn das Wort „hineingerathen” bezeichnet bier fo viel als „in
die Berfuchungsftride fi) verwideln”. Das „ Bacher!” fchliept Al⸗
larmruf in fi zur Nüchternheit und Vorſicht, und Warnnng vor der
Verkennung der drohenden Gefahr. Das „Betet!” ift Feldherrnfignat
zur Rüftung, Befcheidung in das Zeughaus Jehova's, und Ladung zur
Quelle aller Kraft mıd Hülfe: der Gnade Gottes. Das „Der Geiſt
if willig, aber das Zleifch iſt ſchwach,“ darf nicht ale Ent
ſchal digung für die Schlaſtrunkenen gedeutet werden; ſondern iſt
200 Das Heilige.
nur als nähere Begründung des Mahnrufs aufzufaffen. Der Herr will
fügen: „Vertrauet euern frommen Entichließuugen wicht. Eure fün-
Dige und fo leicht zu berüdende Natur bedurf, zumal wenn unheim⸗
licher Einfluß von Außen herzutritt, viel jlürferer Zügel!” — Bon
einem „willigen Geijte” kann übrigens, beiläufig bemerft, nicht im
Bid auf alle Menichen, jondern nur, jofern es fih von Gläubi-
gen handelt, die Rede fein, weßhalb denn auch jener Wädhterruf des
Herm nur ihnen güt. Ob der Herr, wie Manche meinen, die Worte
„der Geift ift willig, aber das Fleiſch it ſchwach,“ auch auf
fich ſelb ſt bezogen habe, in welchem Falle ans dem Worte „Sieifch“
allerdings der Begriff des Sündlichen hinwegzudenlen wäre, ſteht
fehr in Frage. Ich wenigftens möchte Bedenfen tragen, es zu glauben.
Wiederum eilt der Herr in dus Tidicht des Gehöftes zurüd, und
zum andern Tale verlautet, in etwas verinderter Geftalt nur, Das
brünftige Gebet: „Mein Vater, iſt es nit möglich, daß dies
fer Kelch von mir gebe, ich trinke ihn Denn, fo geſchehe
dein Wille.“ — „Eindringlicher“ noch, meldet der Evangeliften
einer, habe er dieſes zweite Mal gebetet; doch will er damit nicht etwa
fagen, ex babe ungeftümer um die Verſchonung gefleht, dem zu⸗
vor; ſondern im Gegentheil habe er, nachdem er binter dem Schweigen
feines himmlischen Baters ſchon die Berneinung feiner nur fragen
den Bitte gewittert babe, fich mit vermehrtem Kraftaufıwande nur noch
tiefer in den Glaubensgehorfam hinein zu leiden und hinein zu kaͤmpfen
ſich bemüht. Sein inneres Grauen war übrigens Dabei in fortwährender
Steigerung begriffen. Nachdem er vom Gebete aufgeftanden, fuchte
er abermals feine Jünger; fand fie aber neuerdings ſchlafen d. Sie
fpliefen „vor Traurigkeit“, meldet die Geſchichte; — ımd wie
ram und Kummer auch die Lebensgeifter lähmen und binden
Sönmen, haben wir felbft wol fchon erfahren; — „und ihre Augen
waren voll Schlafs.” Und da er abermals fie weckte, „wußten fie
in ihrer Betäubung nicht, was fle ihm antworteten.” — Zum dritten
Male z0g fi num der Herr in jeine Einjamfeit zurüd, ſank wieder
zum Staube, und betete diefelben Worte. Da — o, was begibt ſich?
— Ein Engel Gottes fchwebt zu dem Ringenden herab, und nähert
Rd ihm, um „ihn zu ſtärken“. Diefe unerwartete Erjcheimung eis
ned himmlifchen Weſens mußte dem Herrn, der ſich bisher mit feinen
Innern Anfhauungen nur in die düftere Sphäre fündiger Menfchen
amd verworfener Dämonen eingelerkert fa, an und für fih ſchon zu
Geihfemane. 201
nicht geringem Troſt gereichen. Was aber der leuchtende Bote dem
göttlichen Dulder überbrachte, war nicht etwa die Kunde, daß der Va⸗
ter gewillt fei, die Bitte um Verſchonung ihm zu gewähren, fondern,
wenn er überhaupt mit einer Botfchaft kam, nur die erneute ausdrüd:
liche Eröffnung, daß der große Erlöfungspian die Wegnahme des Oel⸗
bergsfelches nicht geſtatte. Das Wahrfcheinlichite indeffen ift, daß
e8 mit der Engelfendung blos auf eine Lörperlich=feelifche Staͤrkung
und Reubelebung des bis auf den innerften Lebensgrund Erfchütterten
abgefehn war, Damit er bei dem legten und ſchwerſten Aft des Kampfes
wenigftens dem Leibe nad nicht erläge. Denn gleich nad) des Engels
Rückkehr „Lam es, Daß Jeſus mit dem Tode rang, und betete
heftiger. Es war aber fein Schweiß wie Blutstropfen,
Die fielen auf die Erde.” Welch’ eine Erfcheinung! Nur von
einem Menfchen noch, von Karl IX. von Frankreich, der die Partfer
Bluthochzeit auf dem Gewiffen hatte, will man behaupten, daß andy
er auf feinem Sterbebette unter den Anlagen des Richters in feiner
Bruft, im buchftäblichen Sinne des Wortes blutigen Angſtſchweiß
vergofien habe. Denkt, jener Mörder Taufender von Gliedern Chriftt,
und Chriftus, der Heilige Gottes felbft, in gleichem Falle! Wer
entfeßt fi) hier nicht; aber wen geht bier nicht zugleich in dem dun⸗
felften und graufenerregendften Momente des Delberglampfes eine
daͤmmernde Ahnung von dem Weſen und der Bedeutung der Paffton
Inmanuels auf? Toch hievon ein Weiteres in unfrer nädftfolgens
den Betrachtung.
4.
Wenden wir uns für heute nur noch ein Mal jenem geheimnißvollen
Gebete zu, an welchem weniger die Belt, als der Glaube der Gläus
bigen fo oft fich ftoßen will, Bald nemlich weiß man's mit der Liebe
des Herrn nicht zu vereinen, bald nicht mit feiner Unterthänigkeit ums
u des Vaters Rathſchluß, bald mit feiner Allwiſſenheit nicht, noch
mit feinen“ früheren in fo großer Ruhe und Gefaßtheit ausgefproche-
nen Vorherverfündigungen der ihm bevorftehenden Leiden, daß er num
plöglich eine Befreiung von eben dDiefen Leiden begehren koönne;
und wenn man auf Einwände Diefer Art erwiedert, Daß die Seele Jeſu
während des Delberglampfes als in einem Zuftande göttlich gemollter
ſchwerer Verdunklung befangen zu denken fei, fo wird entgegnet, daß
Doch die Klarheit und Innigkeit, womit er nad) wie vor zu Gott als
feinem Vater rede, keineswegs auf eine ſolche Verdunlelung ſchließen
22 Das Heilige.
laſſe. So fcheinen fi) denn allerdings mmauflösliche Raͤthſel und
Widerſprüche hier vor und aufzuthürmen; doch wird fi das Dunkel
fichten, wenn wir Folgendes in Erwägung ziehen:
Was zunörderft den aus der vorausgeſetzten Allwiffenheit des Herrn
entuommenen Zweifel anbelangt, jo wiederholen wir, was wir vorhin
berührten. Die Selbftentäußerung des ewigen Sohnes beftand we⸗
fentlih darin, daß er ſich des unbeſchränkten Gebrauchs aller
feiner göttlichen Eigenfchaften, mithin auch der genannten, für Die Zeit
feines Erdenwandeld begab, und aus der über Raum und Zeit erha⸗
benen Ewigleit in die Form des Zeit- und Raumlebens eintrat, um
auch an feinem Theile, gleich wie wir, den Weg des Glaubensges
horſams zu wandeln, und in demfelben zu unferm Haupte, Hohen⸗
priefter und Mittler fich zu vollenden. Ald „der Knecht Jehova's“,
mit welchem Namen die altteftamentliche Offenbarung ihn bezeichnet,
mußte er dienen, nicht gebieten; Unterthänigfeit „lernen“,
nicht herrſchen; kämpfen, nicht über allen Kämpfen in ſtolzer Ruhe
thronen. Wie hätte dies aber für den Gottgleichen ohne eine
Selbftbegrenzung möglich werden koͤmen? Alle feine Kämpfe und
Prüfungen wären dann nur Scheinlämpfe und Scheinprüfungen ges
weien, und nicht wirkliche. Er hörte feinen Augenblid auf, wahr⸗
baftiger Gott, und im Vollbefike aller göttlichen Bolllommenbeiten
zu fein; aber Er enthielt fi des Gebrauchs derfelben in foweit,
als fein himmlifcher Vater Ihm denfelben nicht geftattete. —
Zum Andern ift zu beachten, daß der Herr in Gethſemane nicht
um Abwehr der über ihn verhängten Zodesleiden überhaupt, fons
dern nur um Wegnahme des gegenwärtigen befondern Grauens
bittet. Wie hätte Er, der den von feinem Paffionsgange ihn abmah⸗
nenden Juͤnger mit jenem darmmiederfchmetternden: „Hebe dich hinter
mich, du Satan, denn du meineft nicht, was göttlich if“, zurückwies,
jetzt ſelbſt das dem Nathichluffe Gottes Widerftreitende —* löns
nen? Er fragt nur, ob es möglich fei, daß diefer Kelch an ihm
vorübergebe, und meint den Kelch allein, deſſen Bitterkeiten und
Schrecken ex eben koſtete.
Daß Ehriftus während feines Kampfes Gott noch als feinen Bater
weiß, hat nichts Befremdliches, und widerfpricht der Annahme nicht,
daß Er am Delberge den Kelch des göttlichen Berichtes für unfre
Sünden leerte, Denn nur noch durch Den Glauben Gott als ſei⸗
wen Bater wifen, ımd Ihn als Bater gegenwärtig fühlen, und im
Gethſemane | 203
Genuffe feiner Liebeshuld Ihn erfahren, tft zweierlei. Allerdings
rang fih Jeſu Geift in tiefem Glaubenskampfe zum tröftlichen Kin-
Desbewußtfein immer wieder durch; aber was fein feelifcher Menſch
empfand, war nur Fluch, Entfremdung und Berwerfung.
Der Zweifel endlich, ob Das Dranggebet des Herrn mit feiner Suͤn⸗
derliebe, fowie mit feiner Unterthänigfeit unter den väterlichen Rath⸗
ſchluß in Einklang ftehe, ermangelt vollends jedes Grundes. Jeſu
Liebe wie fein Gehorfam feiern gerade in Gethſemane ihren glängend-
fien Zriumph. Er wendet fi) an den Vater ja mit der Frage nur,
ob es unbefchadet des Werkes der Erlöfung gefchehen könne, daß Dies
fer Kelh an ihm vorübergehe. Denn daß er mur diefe bedingte
Möglichkeit im Auge babe, und nicht die Allmacht Gottes überhaupt
zu feiner Errettung in Anſpruch nehme, gibt er, um jedem fünftigen
Mißverſtaͤndniß vorzubeugen, ſelbſt ſchon unzweideutig durch das feis
ner Frage vorausgefchidte: „Vater, es ift Dir Alles möglich“,
zu erkennen. „Das“, will er fagen, „weiß ih wol, daß, ſobald
du willfi, mein Kampf geendet iſt; aber wirft Du es wol⸗
len können, obne daß die Rettung der Sünder dadurd
vereitelt werde? Wenn nicht, dann, Vater, weife mich mit
meiner Bitte ab. Ach trinke dann den Kelch bis auf Die
Hefen!” — Nicht anders aber, als wie mit feiner Liebe, verhält
fih’8 mit feinem Gehorfam gegen feinen Bater. Richt einen Augen⸗
bli® hieß feines innerften Weſens Lofung anders, als: „Nicht wie
ih, fondern wie du willft, Vater!” Wollte fih in unfünd-
licher Schwachheit der menfhlich feelifche Wille in ihm dawider
ftreuben, fo erfaßte denſelben fogleih der Wille des Geiſtes und
übermochte ihn mit dem Rufe der entichiedenften Hingebung: „Abba,
dein Wille gefchehe, nicht der meinel” — Freilich mußte diefer
Ruf wie eine Siegesbeute der in ihrem Notbitande widerftreben-
den Natur abgerungen werden; und nur in ähnlicher Weife, wie
ein vom Sturm erfaßtes Schiff zwar feſt und unverwandt nad) der
Richtung des Magnets, doch nicht fo geraden und gleichen Zaufes, wie
zur Zeit der Meeresftille, dem Hafen entgegenfteuert, Drang der Geiſtes⸗
wille Jeſu in den Willen Gottes ein. So lange ihm die unbedingte
Nothwendigkeit der Delbergsmarter noch in Frage ſtand, wurde fein,
Herz wie von brandenden Wogen hin und her geworfen. Sobald
ihm aber aus dem andauernden Schweigen des himmlischen Vaters
fhon die Gewißheit wurde, Daß Die Welt nicht anders zu erlöfen fet,
204 Das Heilige.
denn durch eine vollftändige Leerung and) dieſes Kelches, geſtattete
er dem leidesflüchtigen Menfchen in ſich auch nicht einen Laut mehr,
fondern vollzog mit einem: „Mein Vater, iſt's nicht möglich,
daß dieſer Kelch an mir vorübergebe, ich trinke ihn denn,
fo gefhehe dein Wille,” den großen Opferaft der rüdhaltlofeften
und kindlich willigften Hingabe feines ganzen Ich an den väterlichen
Rathſchluß.
5
Der Schreckenskelch ward bis auf den Grund geleert. Der Her
erhebt fih vom Staube, und eilt zurüd zu feinen Jüngern. Die ganze
Art feines jeßigen Auftretens ift bis auf Haltung, Blick und Zon der
Stimme eine wefentlich veränderte, und deutet auf Ermuthigung, Er⸗
mannung und Siegsbewußtfein. Man fiehf8: trummphirend geht er
aus dem Kampf hervor, und iſt gerüftet und gegürtet für alles noch
Zukünftige. „Schlafet denn immerhin und ruhet,“ begumt er
mit wehnmüithig ftrafendem Ernfte; „es ift genng!” — „Um meinet-
willen,” will er fagen, „iſts nicht mehr noth, Daß ihr wachet. Ich
bedarf eures Beiftandes nicht mehr. Mein Kampf ift Durchgelämpft.”
— Was aber will der Zufab: „ES ift genug”? Was Anderes,
als: „Es wird euch fortan das Schlummern ſchon vergehn.” Diefe
Deutung fordern die unmittelbar darauf folgenden Worte: „Siehe, die
Stunde ift bie; des Menfchen Sohn wird überantwortet in der Sün-
der Hände.” — „Seht“, will der Heiland fagen, „geht's an den Leib
und an des Leibes Freiheit; wer wird da noch an Schlafen denken?”
Er weiß, welche Stumde ihm geichlagen hat. Nicht ohne Grauen,
doch feiner Empfindungen Herr, geht er der Ueberantwortung in die
Hände der „Sünder“, denen er fi mit Diefem Ansdrud umver:
fennbar als den Heiligen gegenüber ftellt, feften Schrittes entgegen.
„Stehet auf!” Tautet der nur tapfere Entichloffenheit athmende
Schluß feiner Worte. „Laſſet uns gehn“, führt er fort; „ſiehe,
der mid) verräth, ift nahe!” — Welch' einen verhängnißvollen
Aufbruch fignalifirt Diefes: „Laflet uns gehn!” Der Held in Sfrael
zeucht hin, Tod, Teufel und Hölle für uns in ihren ftärfften Schanzen
anzugreifen und zu überwinden. Beugen wir Ihm anbetungsvoll das
Knie, und geben Ihm mit Halleluja’s das Geleite!
Gethſemane. 205
So ift denn die geheimnißvollfte Gefchichte, welche die Welt gefehn,
mit ihren ergreifenden Zügen an unferm Blicke worübergegangen; und
wen unter und hätte ſich das ˖ Gefühl nicht aufgedrängt, daß zur Loͤ⸗
fung ihrer Räthfel Die Schlüffel nicht reihen, welche menſchliche
Geelenfunde und an die Hand gibt, In feinem Märtyrerthume der
Welt findet fi) etwas dem Delbergfampfe auch nur von ferne Ent
ſprechendes. Daß wirs hier vielmehr mit einem Leiden einziger Art
zu thun haben, Tiegt auf der Hand, Aber ich möchte fügen: das wis
derfpruch8volle Dunkel Gethfemane's fett, fobald es feinen Gipfelpunkt
erreicht, fi felbit in Licht und Klarheit, und erzeugt mit Nothwen⸗
digkeit den Gedanken an Stellvertretung, Genugthuung, Opfer.
Nur an dem leitenden Faden Diefer Begriffe finden wir uns in jenem
Irrgewinde zurecht. Gehen wir demſelben, den nicht menfchliche Will
für z0g, fondern den Gotted Wort und in Die Hand legt, gläubig
nach, jo entdeden wir, wo Anfangs nur Schauer und Aengfte unfer
Herz ergriffen, die firömende Quelle unferes ewigen Friedens, umd
enden damit, daß wir frohbewegt die Worte des alten befannten Lie
des zu Den unfern machen:
Im Garten ward die Todesfrucht gepflüdt,
Im Garten ward das hoͤchſte Gut verloren;
Und Dun haft einen Garten dir erforen,
Mo Du dem Rachſchwert Gottes mich entrüdt.
Hier wurdeft Du in Traurigfeit verfenkt,
Mit Furcht und Schreden um und um befangen,
Daß ich von Allen, was mich nagt und Fränft,
In Deiner Angſt Befreiung möcht’ erlangen. — Amen.
206 Das Heifige.
XVIII.
Gethſemane.
Bedeutuung und Frucht.
Ein tiefes Wort begegnet uns Hebr. 5, 7—8. Der Apoftel han⸗
delt von dem Priefterthume Jeſu Ehrifti, und fagt von dem Herm:
„Da er in den Tagen feines Fleifhes Gebet und Flehen
mit ftarfem Gefchrei und Thränen geopfert hat zu dem,
der ihn aus dem Tode erretten konnte, und ift erhöret wor-
den von dem Grauen, hat er, wiewol er der Sohn war,
an dem, das er litt, Sehorfam gelernt.” Unverkennbar ſieht
der Apoftel hier auf den Delbergskampf zurüd, und bezeichnet Das
ausdrücklich, was Jeſus dort erduldete und vollzog, als Opferwerk.
Nach des Apoftels Anfchauung rang der Herr am Oelberge in Todes⸗
noth, wie er denn auch die Errettung „vom Tode” als das Ziel
feines Flehens darſtellt. Es konnte aber der Tod, mit welchem dort
der göttliche Dulder kämpfte, nicht derjenige fein, der mit erlöfender
Hand die Seele aus dem Kerker des Leibes frei macht, um fie als
willfommener Friedensbote in die felige Gemeinfchaft Gottes einzus
führen, fondern nur der, deffen Gewalt „der Teufel” hat, und wel-
cher, von der Gemeinjchaft Gottes trennend, als Fluch und Sold der
Sünde auf der Menfchheit laſtet. Der Apoftel fagt, Chriſtus fei er-
hört worden von der „Eulabeia«, d. i. von der Furcht und dem
Grauen vor Gott. Es verfteht fi) mithin won jelbft, daß Diefe
„Eulabeia« nicht al8 Devotion und findlihe Ehrfurdt, fondern als
Schauder und Erfhreden vor der Majeftät des Dreimalheili⸗
gen in der Höhe aufzufaffen ift; denn von Erhörung kann nur im
Blick auf eben folche Angſt die Rede fein. Die väterliche Erhörung
trat aber erft ein, nachdem Chriſtus „an feinem Leiden Gehor—
fam gelernt,“ d. h. mit feinem: „Nicht wie ich, fondern wie
du willft, Vater!“ auch zur Hinnahme dieſes Kelches mit unbe-
dingter Willigkeit fi) verftanden hatte, Unter feinen Geufzern und
Thränen opferte der Herr Sich felbft als Das Lamm, das ſtellver⸗
Gethſemane. %7
tretend für die Sünder zur Schlachtbant des Berichtes ging. — „Des
Berichtes?" — Merdingg! — „Er ift aus der Angft und dem
Gericht genommen,” fprach weiffagend von Ihm fchon der Prophet
Jeſaias Kap. 53, 8.
Ich babe jenes apoftolifche Wort vorausgejendet, um mit demfelben
die Beleuchtung des heiligen Dunkels einzuleiten, in weldyes die heu⸗
fige gottesdienftliche Stunde und zum zweitenmale einführt. Es wers
den ums jedoch noch hellere Xichter fcheinen, und zu der Ueberzeugung
uns nöthigen, daß die enangelifche Kirche, als Dollmeticherin der
Schrift, auch bei der Entzifferung des Geheimniffes der Seelenleiden
Jeſu das Richtige getroffen hat, —
Matthãus 26, 36—46. Marcus 14, 32—42. £uras 22, 39 46.
Iohannes 18, 1.
Sch geftehe, daß ich, fo oft mir die Aufgabe wird, in das Heilig
thum Gethſemane's euch einzuführen, eines gemwiffen Bangens und
Zagens mic) nicht erwehren fann. Mir ifi’s, als ftände auch an die
fes Gartens Pforte ein Eherub, der, wenn auch nicht mit flammen⸗
dem Schwert, fo doch mit abwehrender Hand und feierlich ernflem
Blick uns den Zugang unterfagen, und mit verftärktem Nachdrud die
Worte des Herrn wiederholen wollte: „Sitzet ihr hier, und lafs
fet Ihn hingehn, daß er bete!” — Immer wandelt ein Gefühl
mid) an, als ob ſich's nicht gegieme, den Sohn des Tebendigen Gottes
in feinen geheimften Verhandlungen mit feinem himmlifchen Vater zu
belaufchen. Immer raunt eine innere Stimme mir zu, ed wage ein
fündiges Auge zu viel, indem es ſich unterfange, in eine Scene hineln
zu ſchauen, wo der Herr vom Himmel in einer Berlafienheit und
Ohnmacht erjcheint, die Ihn den elendeften unter den Elenden gleich
ftellt, Weberdies weiß ich, daß ihr, fo oft wir dieſer Opferftätte nahen,
zu euerm Prediger die Erwartung hegt, daß er in Ziefen euch einweihe,
an deren Abhange ihn felber fchwindelt; daß er euch Nüthfel Löfe, am
deren völliger Entzifferung dieffeitö der Ewigkeit ex von vornherein vers
zweifeln muß; daß er Geheimmifje euch deute, nach deren Entfiegelung
feine eigene Seele vergebens ſchmachtet, und Schleier hebe, die ſich
ihm, je öfter er fie zu lüften verfucht, nur um fo mehr zu verdichten
fcheinen. Aber das Evangelium legte uns einmal die geheimmißvolle
Geſchichte zur Betrachtung vor, und fo muͤſſen wir in deren heiliges
208 Dab Heilige.
Dunkel hinein, und zu erfaffen fuchen, was in ihr menfchlicher Erfaſ⸗
fung fi) bequemt. Und ift deffen auch nur äußerſt wenig, fo ift die
ſes Wenige doch Gottlob! gerade das Weſentlichere ımd der Kern
der Gefchichte. Dringen wir denn in Hoffnung auf das Geleit des
heil. Geiftes zu dieſem Kerne Durch, und reden mit einander zuerft von
der Bedeutung und dann von der Frucht der Delbergsleiden,
1.
Die Gethfemane’sgefchichte ift uns mit ihren einzelnen Schauerfcenen
gegenwärtig, Sind wir nicht befugt, Stellung und Berrichtung, im
‚der uns der Heiland dort begegnet, als eine ganz außergewöhn-
liche, übermenfchlidhe und einzigartige uns zu denken, fo
Ichließe man doch die Pforte jenes verhängnißvollen Gartens zu, und
entziehe den Heiligen Iſraels, wenn man feine und feines Baters
Ehre retten will, den Bliden der Welt. Haben wird am Delberge
mit Jeſu nur als mit. einem Propheten zu thun, fo erleidet fein
Prophetenthum dafelbft den vollftändigften Schiffbruch, indem dann der
Annahme nicht mehr zu wehren ift, daß er felbft an feiner Lehre irre
geworden fein, und für diefelbe zu fterben, den Muth verloren haben
müſſe. Will er in Gethfemane nur als Vorbild einer unbedingten
Gottergebung betrachtet fein, fo müſſen wir fagen, daß er diefen
Iweck faum erreichte, da ein Stephanus, und wie mancher Blutzeuge
fonft, in der legten Noth unendlich größer erfchienen, als der Zit-
ternde dort mit dem Blutſchweiß, und dem Angftgebete, daß der Kelch
an ihm vorübergehe. Gilt es, dort Jefum nur für einen Mann zu neh⸗
men, der mit feinem Beifpiele und die Wahrheit befiegeln wollte, daß
Gott der Herr zur Stunde der Bedrängniß den Seinen mit feiner
Hülfe und feinem Trofte am allernächften fei, fo drängt fich uns wie-
der die Frage auf, wo folche beruhigende Thatſache dort zu Zage
trete, da ja das grelle Gegentheil fi) erzeige, und der heilige Dul-
der in Gottverlaffenheit verſchmachte? Wollte Er endlich in Gethfes
mane als ein Zeuge jenes die Welt überwindenden Friedens gelten,
der von dem Gerechten nimmer weiche, fondern in alle Nothftände
ihn hineinbegleite, fo fehen wir uns felbft auch nach ſolchem Zeugniß
dort vergebens um: denn ftatt Friede überfällt den Heiligen Gottes
eine Angft, wie die Angft eines ſchuldbeladenen Miffethäters,
macht ihn unftät und flüchtig, und gibt ihm das Anfehn eines ſogar
von der Verzweiflung nicht mehr weit Entfernten.
Gethfemane. 209
. So müflen wir e8 denn in Gethfemane noch mit etwas weſentlich
Anderem zu thun haben, als mit alle dem, was ich eben nannte, oder.
Gethfemane ift das Grab der Herrlichkeit unfres Herm. Kämpfte er
am Delberge ähnlichen Kampf nur, wie alle Blutzeugen des Himmels
reichs vor und nad) ihm ihn gekämpft, fo find die Schüler über dem
Meifter, und letzterer erfcheint durch jene tief verdunfelt. Aller Glaube
an das Walten eines heiligen und gerechten Gotteswillens in der Welt
ift zu einem Wahn geftempelt, falls wir an das Leiden Jeſu feinen
andern Maßſtab, als den eines gewöhnlichen Prüfungs - und Läu⸗
terungsleidens legen dürfen. Es fhürzt der Himmel ein, die Ordnung.
göttlicher Weltregierung fteht vernichtet, und um das Chriſtenthum
iſtss für immer gefchehn, wenn die heilige Schrift uns etwa nöthigt,
Jeſu Keldy dem Wefen nad) dem Kelche eines Hiob, Jeremias, Paulus
und Anderer gleich zu achten.
Aber wife, Daß der Delbergs-Kämpfer in unfern Augen durch fein
Zittern und Zagen nichts verliert. Bis zu welchem Grade er auch die
Zaffıng verloren zu haben fcheint, wir werden darum an ihm nicht
irre. Uns fößt es nicht, daß wir ihn mit der Heftigfeit eines außer
ſich ſelbſt Gefegten von feinen Züngern fich Iosreigen fehn, und dann
zum Staube hingefunfen ihn wimmern hören: „Meine Seele ift bes
trübt bis in den Tod!“ Gelbft fein dreimal angftvoll hingefeufztes:
„Vater, iſt's möglich, fo überhebe mich diefes Kelches;“ und feine Zus
fluhtnahme zu den ſchwachen Juͤngern, fowie fein Gefuch an fie, daß
fie nur eine Stunde zu feinem Zrofte mit ihm wachen möchten; ja
fogar der blutige Angſtſchweiß, der aus feinen Adern quillt, umd
tropfenweife von feiner heiligen Stim zum Staube niederthaut; —
in welche Beftürzung dieſes Alles uns auch verfeßen mag, welche
Trauer es über unfre Seele hereinführt, wie bis in's innerfte Mark
es uns erfchüttert: zum Aergerniß gereicht es uns nicht, und läßt
uns an unferm Glauben nicht Schiffbruch Teiden. Laut aufſchluchzen
möchten wir beim Anblick folcher Erniedrigung des Schönften der Men⸗
ſchenkinder; aber nicht fchütteln wir bedenklich das Haupt, noch fchreien
wir, an jeder Löfung verzagend: „Hier ift ein Labyrinth; wer zeigt
den Ausweg?!" Wir Iaffen foldhe Sprache denen, die an einen
Gottmenſchen, an die Nothwendigfeit eines Mittlerthums, umd
am eine Stellvertretung des Bürgen für die Sünder nicht glaus
ben mögen. Daß dieſe hier im Zinftern tappen, und ihr Chriſten⸗
thum an den Klippen des Delbergs-Evangeliums ‚zerfchellen fehn, tft
14
210 Das Heilige.
begreiflih. Uns leuchten helle Sterne über dem Dunkel Gethſemane's.
Wir befipen den Schlüffel zu den Geheimniffen und Tiefen ſeiner
Schauer. „Und diefer Schlüffel wäre?” — Das in den mannigfel-
tigften Ausdrucdsformen die ganze heilige Schrift Durchtönende Offen-
barungdwort: „Gott hat den, der von feiner Sünde wußte,
für uns (d. i. an unſrer Statt,) zur Sünde gemadt, auf daß
wir in ihm würden die Gerechtigkeit Gottes.” Go lange die
Mittlerftellung Zefu verfannt wird, bleibt die Begebenheit Gethſe⸗
mane's ein tiefverfiegeltes Geheimniß. Alle Berfuche, Die Delbergs-
paffion anders, als durch den großen evangelifchen Grumdartifel von
feiner hohenpriefterlichen Vertretung zu erflären, find gefcheitert, und
‚werden ewig fcheitern. Nur beim Scheine der heiligen Zadel, welche
der Geift der Wahrheit in jenem Artifel uns angezündet, wird in je
nem erfchütternden Ereigniß Alles licht und Mar. Die fchreiendften
Gegenſätze gleichen fi) aus, und das Befremdlichfte und fcheinbar
Unbegreiflichfte Löft fi und erfcheint volllommen in der Ordnung.
Es will der göttliche Dulder in Gethfemane nicht als das, was er
iſt an und für fi, fondern in feinen geheimnißvollen Beziehungen zu
dem Gefchlechte der Sünder erfaßt und gewürdigt fein. Ex tritt hier
auf als „andrer Adam”, als der Vertreter der dem Fluch vers
fallenen Welt, al8 der Bürge, „auf welden Gott“, nad) des
Propheten Ausdrud, „alle unfre Sünden warf.” Bernehmet:
drei Urſachen liegen dem Seelenleiden Jeſu zu Grunde, und Die
eine ift jchauriger, als ‚die andre,
Es ift jene Marter zuvörderſt Sündengrauen, Entfeßen über
den Greuel unjrer Miffethat, Bußkampf. Die Uebertretungen, wel
he ihm göttlich „zugerechnet“ find, auf daß er fie flellvertretend
büße, Drängen ſich in grellfter Beleuchtung in feinen Geſichtskreis.
Er jchaut fie; aber anders, als in feiner Verbüfterung ein Menfd
fie fieht. In ihrer nadten, ungefchminkten Geftalt, in ihrer unfäglich
verabfcheuungsmwürdigen Natur, in ihrer bis in die Ewigkeit hinein
verwüftenden Kraft treten fle vor fein heilige8 Auge. Er fieht in der
Sünde den Abfall von dem allmächtigen Gott, die fredhe Auflehnung
gegen die ewige Majeftät, die wüfte Empörung gegen Gottes Willen
und Gefeß, und überfchaut zugleich in einem Blicke alle Die entfeß-
lichen Früchte und Ausgeburten der Sinde un Fluch, im Zude und
in der endlufen Berdammniß. Wie, daß die reine Jeſusſeele ſolchem
Geſichte gegenüber nicht hätte erzittern, wie, daß nicht ein namenlos
Gethſemane 211
ſer Abſchen und ein Schauder fie hätte ergreifen ſollen, von welchem
wir, Die mit der Sünde fo tief verwachſenen Menfchenkinder, faum eine
Ahnung baden? Man denke nur: die perjönliche Heiligfeit ſelbſt mits
ten in den Pfuhl des Weltwerderbens hineingeftellt! Läßt ſich's nicht
denfen, wie der vom Vater Ihm zugefendete fündenreine Himmelshote
nur ſchweigend in einen fo grauenvollen Anfchauungsfreis herein
zu treten brauchte, um den Herrn fchon durch fein bloßes Erfcheinen
hoch zu erlaben und zu erquiden? — Doch verhehlen wird uns nicht,
daß Jeſu Zittern und Jagen am Delberg immer noch ein unauflösbares
Räthiel bliebe, wenn wir Ihn uns nicht in einem noch nähern Vers
haältniß zu unfern Sünden, als dasjenige einer bloßen Anſchauung
und Dergegenwärtigung ift, vorftellen dürften, Aber wir Dürfen dies
nicht nur, fondern werden fogar Durch die Schrift dazu genöthigt.
Mit Recht zwar behauptet man, daß der Erlöfer ftellvertretend die uns
zuerfannte Strafe nur dann habe zu erleiden vermocht, wenn er auch
ein Gewiſſen von unfern Sünden hätte haben können. Das perſoöͤn⸗
fihe Schuldbewußtfein, diefer Wurm im Marl des Lebens, macht
allerdings erft die Strafe zur Strafe, und bildet deren eigentliches
Weſen und innerften brennenden Kernpunkt. Glaubt man mın aber,
die Lehre von der Genugthuung Ehrifti aus dem Grunde beftreiten
zu können, weil Ehriftus ein Heiliger gewefen, und es fomit widers
fprechend und unmöglich fei, daß er in feinem Innern gleich einem
Mebertreter das Verdammungsurtheil des Geſetzes habe empfinden koͤn⸗
nen, fo macht man fich mindeftens eines fehr voreiligen und vermeſſe⸗
nen Berfahrens ſchuldig. Dan läßt dabei die übernatürliche und ges
heimnißvolle Einigung außer Acht, in welche der Gottmenfch als der
andre Adam und unfer Haupt mit und einging, und vermöge Deren
er zwar nicht unfere Sündigleit, — er blieb der Mafellofe nach
wie vor, — wohl aber unfer Schuldgefühl fammt deſſen Schreden
in fih aufnahm. Ihr fragt befremdet, wie dies thunlich gewefen fei?
Es findet fih, allerdings nur entfernt, Entfprechendes felbft in uns
fern eignen menfchlichen Berhältniffen und Zufländen. Schon natärs
liche Liebe und Verbrüderung find im Stande, Sympathieen zu
begründen, vermöge deren, frei von allem egoiftifchen Beweggrund, ein
Bater feines Sohnes, ein Freund feines Freundes DVergehungen und
Fehle dergeftalt fi „gu Gemüthe ziehen“ kann, daß er Darunter wie
unter eigenen trauern, fenfzen, ja zerfnirfchten Herzens ſich beugen,
und mit Gott um Gnade ringen muß. Vergegenwaͤrtigt euch nun, wenn
14
212 Te Greg.
üp’o vermägs, abieben? und ven feiner willen Berpieberm mi
dem Geihleht ter Sünder, die Enerzie Der Siehe ud des *8
fübls, weit Chriſtus in und mud unire Juitinde ſich werienfie; nd
es wird euerm Beariit ichen niler Ireten, wie Gr, obwol der Heilig
in Ach, unite aa ai —
der ad
neh auf einem andern um? intimeren Wege, als auf dem einer bie?
gegenſtaͤndlichen Bergegemwärtiauma, ımier Schultbewußtiein ih eu⸗
eignete. Ihr werdet es mm fañen, wie er ichen im den meſſiauiſchen
Palmen ausrıfen konnte: „Meine Sünden baben mid ergriffen;
meine Miñnſetbaten geben mir über mein Haupt. Ich verfinfe im tie
fen Schlamm, da fein Gnmd it. Errene mich aus dem Kotb, da
ich nicht verfinke.“ It es ums uber geſtattet, wie es dies wirllich
iſt, der Vorftellung Raum zu geben, daß der beilige, nur in der Liebe
Gottes athmende Jeius nicht etwa in einem düften Traume nut,
in welchem aud) wir zu Zeiten unter einer fremden Schuld, wie unter
einer eignen bis zu einem Angſtſchweiß erichudern können, ſondern
real mit unfem Sünden in eine je nabe Berbindung eingegangen
fei; wie kann uns dann jein Derbalten am Oelberge noch irgend Bm
der nehmen? Das Rütbiel jeines Grauens, Zitterns ımd Zagens iſt
gelöft. Die Getbiemmednoth it nichts Anderes, als Sündennotb,
Bußſchmerz, Erſchrecken vor der richterlihen Majeſtät des heili-
gen Gottes, in unferm Namen erduldet, an unfrer Statt geichmedit
und ausgefofte. Reue it es, umd zwar die Reue, die der Größe
unfrer Sünde volllommen entipricht, und die Er priefterlich dem ewis
gen Bater für uns darbringt.
- Reben der Berabfcheuungswürdigfeit der Suͤnde empfindet der Herr
der Sünde Fluch; und hierin erblidt ihr den zweiten Erkflärungss
grumd für feine Delbergs-Schreden. Gr füblt fi) al8 einen Gerich-
teten vor Gott. Was es heiße: von Gott gefchieden, feiner Huld
serluftig, aus feiner Liebe entlaffen, und ein Kind des Zornes fein,
das ſchmeckte er fo tief, fo innerlich, fo lebendig, als ob er felber in
jenen: Lagen fich befände, Auf den Stufen folder Empfindungen fteigt
Gethſemane. 212
er hinunter in der Verdammten Noth, und in jene Hoͤllenſchauer, wo
die Meſſiasklage des 22. Pſalms ihre wirkliche Erfüllung findet: „Set
nicht ferne von mir, denn Angft ift nahe, und es ift bier fein Helfer.
— Meine Kraft ift vertrodinet wie eine Scherbe, und meine Zunge
Hebet an meinem Gaumen: und du legeft mich in des Todes Staub.“
— Zu dem Bewußtfein, daß Gott nach wie vor fein Vater fei, —
wie Er dies denn auch wirklich war, und felbftredend auch nicht einen
Augenblid dem Sohne feines Wohlgefallens in der That gezürnt hat,
— vermag er durch die Fluth der gegentheiligen Eindrüde und Ems
pfindungen nur mit dem nadten Glauben fich- hindurchzuringen,
Seine Seele wird von der Gnadennähe Gottes nichts gewahr, fon
dern ſchmeckt nur Angft und Bein der Verlaffenheit. Ach, Der Anblick
des freundlichen Vaterangefichtes war fein Himmel, das Innewerden
der väterlichen Huld feine ganze Seligkeit. Aber nım flieht er jenes
in dunkle Wolfen verhüllt, und ftatt trauter Annäherung erfährt er
nur ein fremdes Zurüdtreten feines Gottes. Es follte indeß auch
dieſer bitterfte Tropfen des Fluchkelchs ihm nicht erlaffen fein, Damit
das „Er lud auf fih unfre Schmerzen“ in weiteftem Umfange
zur Erfüllung füme, Auch der Himmelsfriede feines Herzens gehörte
mit zu den Dingen, die er als Loͤſegeld für unfre Seelen priefterlich
opfern mußte. Wundert's euch drum noch, daß, als fein Leiden ſelbſt
bis zu Diefer innern Beraubung fi fteigern follte, die Frage
nad) der Möglichkeit des Vorübergangs des Kelches mit verftärkter
Lebendigkeit fi) aus ihm losrang?
Der dritte Grund der bittern Seelennoth des Herrn am Delberg
ift in der gefallenen Geifterwelt zu fuchen. Daß der Satan bei deit
Schrecken Gethſemane's fich weſentlich mitwirfend erzeigte, fteht außer
Zweifel. Der Heiland felbft deutet darauf hin fowol mit den ängft
lichen Worten: „Jetzt fommt der Fürft dieſer Welt; als mit
der Eröffnung: „ Yebt ift die Macht der Finſterniß;“ und fein
wiederholter Aufruf an die von unheimlicher Schlaftrunfenheit befalles
nen Zünger: „Wachet und betet, daß ihr nit in Anfechtung
fallet;“ läßt uns vollends darüber keinen Zweifel, in was für einer
Umgebung und Atmofphäre. diefelben in jenen Momenten ſich befuns
den. Die Mächte der Hölle find gegen den Herrn der Herrlichkeit
losgelaffen. Es ift ihnen geftattet, alle ihre Xifl, Gewalt und Kunft
wider ihn in's Feld zu ftellen. Keine Schranke tft ihnen mehr’ gezos
gen; fein „Bis hieher und- nicht weiter!“ aus der Höhe ſteckt ihnen
214 Das Heilige.
Grenze mehr und Ziel. Sie haben offne, freie Bahn. Können fie
Die gerechte Seele des Heiligen Iſtaels bis zur Verzweiflung treiben,
fo mögen fie es thun. Vermögen fie bis zum Zode ibn zu aͤngſtigen
und zu foltern, Niemand wehrt es ihnen; hier flieht Er. Sie mögen
an ihm erproben, was fie lönnen. Kein Helfer ſteht ihm mitlämpfend
zur Seite. Er muß felber zufehn, wie er fi behaupte. Entſetzlich
ingt, was ich fage; aber der unfere Strafen tragen wollte, durfte
auch dem Geſchicke nicht entgehn, den Gewalten des Abgrunds ſich
preisgegeben zu fehn. Was Diefe mit ihm vorgenommen haben,
wird uns nicht ausdrüdlich gemeldet; aber gewiß ift, daß fie ihm
aufs fürchterlichfte zugefeßt, und bald mit Graufen erregenden Biflo-
ven, die fie ihm vorgezaubert, bald mit empörenden Läfterımgen, in
Denen fie fich vor ihm ergoſſen, bald mit lügenhaften Zuflüfterungen,
Durch die fie ihm das Verhalten feines Baters gegen ihn zu verdaͤch⸗
tigen fi bemühten, bald mit verfänglichen Abmahnımgen von Dem
Werke der Sünder-Erlöfung, dem er ſich unterzogen, oder womit fonft
es war, ihn gefoltert haben, Genug, wenn je der Glaube unſres Herm,
fowie ſejne Geduld, feine Treue und feine Beharrlichleit in dem übers
nommenen Werke auf glühende Proben kamen, dann unter den Feuer
pfeilen des Böfewichts, die in Gethfemane auf ihn eindrangen. Hier
wurde die Meffinsklage des 18ten Pfalms eine Wahrheit: „Es um⸗
fingen mid) des Todes Bande, und die Bäche Belinls erfchredtten mid.
— Bande umfingen mich, und Todesſchrecken haben mich über⸗
waͤltigt.“
So hat ſich denn die Nacht Gethſemane's, wenn auch dämmernd
nur, vor uns gelichtet. Die Beziehung des Delbergsgartens zum
Garten Eden, welcher Ießtere hier fein graufes Gegenbild ſindet, ift
unverlennbar. Während im Paradiefe der erfle Adam fchuldios im
Schooße der göttlichen Liebe ruhte, und friedfum, ald „Kind vom
Haufe” mit Jehova und feinen heiligen Engeln verfehste, fehen wir
im Garten Gethſemane den andern Adam unter erdrüdender Schul
denlaſt zagend zu Boden finken, in Gottverlaffenheit verſchmachten,
und in der Geſellſchaft finfterer Abgrundsgeifter zuſammenſchaudern.
Wie deutlich ftellt ſichs in diefem Gegenſatz heraus, daß, was dort
verbrochen, hier gebüßt, was Dort verfchuldet, hier bezahlt wird; und
wie laut zeugt fomit die Gefchichte ſelbſt fhon für Die Wahrheit,
daß Chriſtus im der Eigenfihaft eines genugthuenden Bürgen ah
verſoͤhnenden Gtellpertseigre: gelitten habe.
Gethſemane. 215
2.
Nachdem ſich uns das Geheimniß der Urſachen wie der Natur
der Oelbergsleiden Jeſu, ſoweit es hienieden möglich iſt, erſchloſſen
hat, gilt es jetzt, nach der Segensfrucht zu fragen, welche uns dar⸗
aus erwachſen iſt. Freilich iſt der Kampf in Gethſemane nicht in ſei⸗
ner Vereinzelung, ſondern nur in ſeiner unzertrennlichen Verbin⸗
dung mit dem Ganzen der Paſſion und des Prieſterwerkes Jeſu als
Heil wirkend aufzufaſſen. Nichtsdeſtoweniger ſehen wir auf jeder ein⸗
zelnen Stufe der Marter Jeſu irgend eine beſondere Seite des
erwirkten Heils in vorzugsweiſe helles Licht geſtellt; und je nachdem
wir in der einen oder andern Rage uns befinden, und diefes oder jenes
Zroftes bedürftig find, Iadet uns bald die eine, bald die andre Sta⸗
tion feiner Kreuzeöftraße mit befonderen Winken in ihre Friedens⸗
ſchatten.
Nach Gethſemane zunächſt, geliebte Brüder, wenn es uns beklommen
werden will in einer Welt, in der der Egoismus herrſcht, und, was
noch von Liebe übrig ift, bis auf den legten Funken in ſelbſtiſchem
Geſuch und Wefen auch noch zu verglimmen droht! Der Liebende,
den wir Dort am Delberg für uns ringen fehen, bleibt uns; und wie
it Er uns fo treu, fo innig und lauter zugethan! Welch' ein Preis,
den er fih’8 hat koſten laſſen, um uns Unwürdige unferm Elende zu
entheben, und uns für alle Ewigkeit zu bergen! — O Liebe des
Blntbräutigams! Wie geht uns beim bloßen Anblid deiner Schöne
ſchon das Herz auf, Wie iſt's beglüdend fchon, anfhauend und bes
trachtend nur aus der liebenrmen Welt zu deinem Bilde flüchten!
— Und nun gar in deinem Licht ſich ſonnen, in deinem Schooße
ſich gebettet wiffen: o dieſe ftille Seligfeit im Thal der Wallfahrt,
dDiefer Himmel auf Erden! — Liebe, ftärker denn der Tod, und fefter,
denn die Hölle, entweidhe nimmer aus unferm Gefichtsfreis! Get du
das Geſtirn, das Tag und Nacht uns Teuchte; und je ſchärfer in der
Stemdlingsfchaft hienieden die Luft der Eigen ſucht uns anmeht, nm
defto heller entfalte du vor unferm Geiftesauge Die holdfeligen Strah⸗
Ien deiner Himmelsfchönel —
Nach Gethſemane, Freunde, wenn ſich's uns in Frage ftellen will,
weſſen die Welt fei: ob Ehrifti, daß Er fie zum Tempel Gottes
weihe, oder ob Fraft der Sünde umd des Verhängniffes göttlicher Ge⸗
sechtigfeit der finfteen Gewalten, durch dexen Liſt, Betrug und Macht
fie maͤhlig einem gaͤnzlichen und ewigen Berberben ewsgegenueifet &s
215 Das Heilige.
find Zeiten über die Erde hingegangen, deren Thatfachen auch den
Gläubigen eine freudige Bejahung der erftern jener Fragen fehr er:
ſchwerten. Und ob nicht auch heute wieder Das Zepter der Weltherr-
[haft mehr einem Andern, ald dem Könige der Wahrheit, ſich zuzu-
neigen fcheine, überlaffe ich eurer Entfcheiding. Gewiß ift, Daß unter
‚dem Lärm der augenblidlich vorherrſchenden gefellichaftlichen und reli-
giöſen Tageslofungen nicht Wenigen wirklich wieder der Muth entfal-
Ien, der Glaube wanken will. Seid etwa auch ihr von denen, die
fi) der ängftlichen Frage nicht mehr erwehren können, ob nicht Ehriftus
wirklich feiner fchlieglichen Entthbronung, Ehrifti Evangelium und
Reich dem BVerfcehwinden von der Erde nahe fein? In dieſem Falle
Tommt nad) Gethfemane, und Iernet hier wieder euer Haupt erheben!
Hier feht ihr den enticheidenden Kampf um den Befiß der Welt ent:
brannt. — Ehriftus ſoll fie. haben; aber es hat und behält fie ewig
ein Andrer, wenn der Herr vom Himmel die Probe nicht befteht, fon-
dern weich und wanfend wird in der Verfuchungshike. Doc fchaut,
wie er fieggefrönt aus der Delbergichlacht hervorging, der Gottesheld!
Richt einen Augenblick wich fein Heiliger Wille von der geraden
Richtung auf das von Gott Gewollte ab; und hätte ihn der Rath⸗
ſchluß Gottes zur Welterlöfung in zehn Höllen flatt in eine binab-
gewiefen, er hätte fich, fobald er e8 als Gottes Rath erkannte, un:
weigerlih auch in fie hinabgeftürzt. So errang er fich Eraft feines
untadelig vollbrachten Vertreterwerks den gegründetiten und ausfchließ-
lichen Anfpruh auf die Welt. Ihm gehört fie; Ihm that der Va⸗
ter laut der Schrift alle Dinge unter feine Füße. Und ift dies, wie
der Apoftel bemerkt, auch noch nicht offenbar, fo ift es doch eine
Thatſache, die ſich vor feinem Widerfpruch zu fürchten braucht. Das
Regiment des widerchriftifchen Geiftes, wie keck er feine Fahne auch
entfalte, it nur Zwifchenherrfehaft. Still und geräufchlos, aber
unglaublich ficher, verfolgt der rechtmäßige Erbe feinen Welteroberungs-
plan. Wie manche Höhen, die fich wider ihn erhoben, warf er bereits
Darnieder! Wie manche Befeftigungen, fcheinbar unbezwinglich wider
Ihn aufgethürmt, fchlug Er in Trümmer! Er wird's aud) ferner thun,
und auch die legten Schangen, die wider ihn aufgeworfen wurden, aus
dem Wege zu räumen wiffen. Vor Seiner weltbeglüdenden Standarte
werden heut oder morgen alle andern, welche Farben und Embleme
fie tragen mögen, fi) neigen müffen, und für feinen legten Sieg liegt
das Jubellied ſchon fertig im Archive Gottes, und es lautet: „Nun
Gethſemane. 217
find die Reiche dieſer Welt unſres Gottes und feines
Ehriftus worden!“
Nach Gethfemane, Geliebte, wenn ihr am Scheidewege fteht,
nicht wiffend, ob ihr euch Gott, oder der Sünde zu Dienft ergeben
jollt! Gethſemane wird's euch wieder zu Harem Bewußtfein bringen,
was Sünde ſei. Seht Jeſum an. Er that nicht Sünde, fondern
übernahm nur fremde. Wie ergeht es ihm? „Seht ift Die Macht
der Finfterniß,” fprach er. Er ift den Abgrundsmächten überwie-
fen. Wie fallen fie über ihn ber! Wie foltern fie feine heilige Seele!
— Gräßlihe Umgebung! — Namenlofe Schauer! — Aber wiffet,
was Ihn für eine Weile nur gepeinigt, das droht euch ewig. —
Denkt, ewig in die Gefellichaft, in die Gewalt und unter die Geis
Bein der Höllenmächte gebannt fein! Gibt es einen gräßlichern Ges
danken, als diefen? — Jeſus betet: „Laß diefen Kelch an mir
vorübergehn!"” Keine Antwort wird ihm zu heil! — Er ringt
die Hände: „Iſt's denn nicht möglich, Vater?“ — Sein Be
fcheid tönt Ihm entgegen. — Gott achtet auf die Stimme dieſes
Beters nicht; und Jeſus ift doch ein Schuldner nur für Andere,
Ihr ſeid's, ein Jeglicher, für die eigene Perfon, und werdet einft
um eurer ſelbſt willen dem Fluche verfallen. Und ob ihr mit dem
reichen Manne im Evangelio wimmern werdet um einen fühlenden
Tropfen für die brennende Zunge; Gott wird für euch fein Ohr,
fein Herz mehr haben. Der Himmel ift über euch ehern; die Kluft
zwifchen euch und den Seligen unüberfteiglih. — Seht Jeſum zas
gen. Er fühlt den Stachel der Uebertretungen, die auf ihm laften,
Nur zugerechnete Miffethaten find es, umd nicht eigne; und den⸗
noch prefien fie ihm den Blutfhweiß aus den Adern, und entzüns
den ein verzehrend Feuer in feiner Bruſt. Schließt aus Seinen
Marten, was einft euch die Sünde ausgebären wird, wenn fie, nur
zu fpät, in ihrem wahren Weſen vor euerm Bewußtfein fich ent
fhleiert, und dann jener Wurm in eurer Seele fein Gefchäft begimnt,
der jeßt noch in euch fchlummert, oder nur je und dann in leiferem
Nagen fein Dafein fundgibt; ich meine den Wurm der Reue, die
feine Seligfeit mehr wirkt; den Wurm der hoffnungslofen Gewiſſens⸗
angft und der vollendeten Verzweiflung. Ad, wenn ihr dann heus
fen werdet: „Hätte ich doch Dies und das gethan!“ wird's nicht mehr
feommen, weil die kurze Gnadenfrift vergeudet ward, Wenn ihr nun
ſelbſt voll peinigenden Erſtaunens über.euern Jergang bei Leibes Leben
1 Das Heilige.
die Hände zufammenfchlagt, wird's umſonſt fein; Denn das Heitlsjahr
ift verfloffen. — Dem ringenden Heiland erfchien ein Engel, ihn zu
ftärken. Ihr werdet nur das Hohngelächter der Zeufel hören. Jeſus
ging aus dem Grauen flegreich und gekrönt hervor. Ihr werdet darin
ftedden bleiben, und nur mit Dormen eines flechenden Höllenfpottes
euch gekrönt erbliden. — Den Dulder Gethfemane's hielt der Glaube
aufrecht, daß ihn troß dem und jenem der Vater dennoch liebe, Ihr
werdet wifjen, daß Gott euch hafle, und Ihn wieder haffen, obwol
ihr durch foldhen Haß euern Jammer nur vollenden werdet. Ihr
werdet Blut darob ſchwitzen, daß Gott eud) von Seinem Angeficht ver-
ftoßen habe, und Doch dem Ewigen nur fluchen koͤnnen, flatt euch vor
Ihm zu beugen. — Seht, Dies trägt die Sinde aus. Wohlen, ihr
Miffethäter, grobe oder feine, Spötter, Läfterer, Lügner, Fleiſches⸗
fnechte, Ehebrecher, Geizige, Egoiften, Verächter Gottes, Verleugner
Jeſu, Verſchmaͤher feines Heils: Schaut's an dem, der ein Fluch ge
worden für fein Voll, wie Gott der Herr die Sünde anfleht, und
was für die Sünder die Ewigkeit in ihrem Schooße trägt! Wenn
Solches irgendwo zur Erfcheinung kommt, dann in Gethſemane. Hie⸗
ber denn, wer noch am Scheidewege ſchwankt! Hier, denke ich, wird
die Wahl nicht ſchwer. Links gähnt der Abgrund; rechts winkt die
Krone! Die Sünde gebiert den Tod; der Gerechtigkeit Frucht if
Sriede und Leben! —
Hört femer! Nach Gethſemane, Brüder, wenn Feuerzeichen nahen⸗
der Gerichte am Horizont der Erde Teuchten! — Mich dunkt, an fels
hen Zeichen ift fein Mangel mehr. Jener Adler mit den drei-
fahen Weheruf, den Johannes fah, Treift über unſern Häuptern.
Dumpfes Bangen erfüllt Millionen Herzen, und der Freude ſtockt je
länger je mehr der Athen. Wetter des Feuereifers Gottes brüten in
der Luft. Und iſt's ein Wunder, wenn endlich der Sonuenfchein der
Langmuth ſich verfinftert? Eine Lange, lange Gnadenfriſt flieht ver-
Hagend wider und vor Gottes Thron, und nennt als die Früͤchte,
welche unjer Gejchlecht unter dem „Stabe Sanft“ getragen habe, unfern
Undank für die empfangenen Segnungen, unfern Abfall vom Evang
lium, unfre Gottvergeffenheit, und unfern Leichtfinn, und was Alles
fonft noch! — Ach Herr, gehe wit deinen Knechten und deinen Maͤg⸗
den nicht in's Gericht! — Doch, voll, fo ſcheint's, iſt die Miſſethat
der Amoriter. Es fuche fich zu bergen, wer kann; und wer könnte
nicht, wenn ex nur wollte. — „Aber wohin?“ — Nach Gethfemume,
Gethſemane 219
Brüder! Da erblidt ihr das Gotteslanm, das der Welt Sünde trägt.
„Serufalem”, fprach er einſt, „wie oft habe ich dich verfammeln wol
Ien, wie eine Henne ihre Küchlein verfammelt unter ihre Zlügel; aber
ihr wolltet nidhtl* — Er fpricht Aehnliches heute auch zu ung. Ach,
dag nur der Schluß jener Worte uns nicht treifel ‘Daß wir Doch
„wollten“ und bedächten, was zu unferm Frieden dient] Kommt zu
Ihm! Ber an Ihn glaubt," wird nicht gerichtet. Was Dir genom⸗
men würde, bift du Jeſu eigen, fo bleibt dir Gott. Ob du von
der Erde verfioßen würdeft, was wäre e8? Der Himmel bleibt dir;
ihn ann dir Niemand rauben. — Unter Jeſu Flügeln ift die Frei⸗
ſtatt, in welche feine verderbende Gewalt mehr eindringt. Hier ums
zudt Dich fein Blig der göttlichen Gerechtigkeit; hier ift den Feuers
pfeilen des Böfewichts ihr tödtlich Gift entzogen; hier verklärt fich,
was die Welt als Strafe trifft, in heilſame und treu gemeinte
Züchtigung; uud wenn da Draußen der Berzweiflungsruf erfchallt:
„Zr Berge, fullet über uns, und ihr Hügel, bededet uns;“ fo bes
feligt hier das wohlbegründete friedfame Bewußtſein, daß Der, wel
her auf des Himmels Wollen baherfährt, um einem Jeglichen zu ges
ben nach feinen Werken, derfelbe fei, der, nachdem er und entfündigte,
in deu Schmud feiner eignen Gerechtigkeit uns hüllte, und unfer
Freund und Bruder wurde,
Nah Gethſemane endlih, wenn der Sturm der Anfechtung uns
umwbrauft, und der Satan umbergeht wie ein brüllender Xöwe, und
fucht, wen es verfchlinge, Schon if} er auf dem Plan, der Böfewicht,
Seine Geſchoſſe umſchwirren uns won allen Seiten. Gefährliche Tage,
in denen wir ftehn: diefe Tage des großen Abfalls, des fräftigen Irr⸗
thums, und taufendfältiger Verlodung zur Verleugnung Gottes und
feiner Ordnungen, Rechte und Gebote. Wie Wenige find es, die von
dem Strome des herrfchenden Zeitgeiftes nicht mit fortgeriffen werden;
md wie viel Glaubensfchwäche, Geiftesiahmbeit, Friedensarmuth und
Entmuthigung gibt fich felbft in den Kreifen der Gläubigen, der From⸗
men, kund! Wie vermehren fich hier die Klagen über innere Berdunfes
fung, in der man fich befinde, über Zweifel, von welchen man geängftigt
werde, über Täfterliche Gedanken und Phantafien, deren man fich nicht
entfchlagen könne! Lauter Zeichen, DaB der alte böfe Feind es jet gar
ernftlich meint, und wie die Schrift fagt, „einen großen Zorn“ hat,
Drum, wer ſich geborgen fehn will, trage fein Zelt nach Gethſemane!
Richt allein begegnen wir hier einem Genofien unfrer Kämpfe, ber
220 Das Heilige.
ms den Weg zum Siege zeigt; nicht allein tönt hier ermunternd der
Allarmruf uns an: „Wachet und betet, daß ihr nicht in An—
fehtung fallet;” hier erneuert fi) uns zugleih, wie faum irgend
fonft wo, das Bewußtfein, daß „der Fürft diefer Welt gerich-
tet iſt,“ daß jeder Rechtsanſpruch der Hölle an uns erlofch, und,
was der Arge wider unſern Willen noch Greuliches in Einfällen oder
Bildern durch unfre Seele jagt, auf feinen Kopf fommt, und nicht
auf den unfern mehr, indem es für die Bußfertigen länaft in dem
Blutfchweiße Immanuels feine Sühne fand, und nach Gottes Willen
für und nur eine läuternde Wirkung haben darf. Diefer Glaube
aber ift der Sieg, der den Abgrundsfürften fhon überwunden hat.
Seht denn, wie Gethfemane, im rechten Lichte angefchaut, für ums
zum Elim, die Oelbergsſchlucht mit ihren Schauern zum ftillen Frie⸗
densgrunde fich verflärt, Innerhalb dieſes Geheges ift wirffich Ber-
gung vor dem richterlichen „Adam, wo bift du?” In diefem Garten
fprudelt die nie mehr verfiegende Quelle der neuen Paradiefesftröme.
Wie viele Taufende geängfteter Seelen gingen hier aus dem Kampf:
gewühl der Welt fchon in die Sabbathruhe Gottes ein! Auch ung
ftehn die Pforten diefer heiligen Freiftatt offen. Kommt, treten wir
ehrerbietig in diefelbe ein, und athmen wir ihre Friedenslüftel O füßer
Trank, womit der Kelch der Bitterfeiten, den Jeſus leerte, jegt für
uns gefüllt iſt! Wohlauf, trinken wir durch den Glauben feinen
Himmelswein mit vollen Zügen, und lernen wir in feliger Erfahrung
mit dem Sänger fprechen:
D Herr, Du haft au meinen Frieden
Geſucht in jener finftern Nacht;
Du Haft, von Allen abgeſchieden,
Für mid gebetet und gewagt.
Wie ſollt' ich nicht daran gedenken,
Und aller Orten, wo ih geb’,
Die Biide meiner Augen lenken
Hinuͤber nad) Gethfemane? — Amen.
Der UNeberſal 221
XIX.
Der’ Ueberfall.
„Führe uns nidht in Verſuchung!“ lehrt uns der Herr Malth.
6, 13 beten. Es hat ſchon Mancher ſtutzend vor dieſer Bitte geſtan⸗
den, weil er fie nicht ſogleich mit dem Worte des Apoſtels Jakobus
in Cintlang zu bringen wußte, daß Gott, wie er ſelber unverſuchbar
ſei, auchh RNiemanden zum Böſen verſuchen koͤnne. Und allerdings
iſt die Sache damit nicht abgethan, daß man die Bitte willkürlich in
ein „Laß uns der Verſuchung nicht erliegen, ſondern errette uns aus
derſelben,“ hinüberdeutet. Die folgende Bitte enthält die ſen Ge⸗
danken, möge nun unter dem „Böſen“ das Uebel, oder der Urhe⸗
ber deſſelben, der Teufel, verſtanden werden. Gewiß war es nicht
die Abſicht des Herrn, und zum Hinwegbitten aller und jeder Prüs
fung anzuleiten. Die Anfechtung ift zu unferm Wachsthum am innern
Leben unentbehrlich. Im Ziegel der Zrübfal werden „die Kinder Levi
geläutert wie das Silber." Was und den Sinn der fraglichen Bitte
verdunkelt, ift das Wörtlein „führe“, welche allerdings theils auf
Gott den Schein wirft, als könne er und auf glatte Steige leiten, das
mit wir ftrauchelten, theils zu der Frage reizt, ob denn dem himmli⸗
fhen Vater eins der wefentlichften Erziehungsmittel für und aus der
Hand genommen werden folle. Doch wiffet, wenn unfere Ueberfeßung
das grundtextliche Wort flatt mit „führe“, buchftäblicher und richtiger
mit „gib“ oder „fchleudre nicht hinein“ verdolmetfcht hätte, fo wäre
allen Scrupeln von vornherein vorgebeugt gewefen. Gott, dem Hei
figen und Gerechten, fteht es volllommen zu, uns Sünder in einem
richterlichen Alte allen Anfechtungen und Ueberfällen der höllifchen
Mächte hülflos zu überlaffen. Nun lehrt aber der Herr und den
Bater darum anflehn, daß er von diefem feinem Nechte abftehn, und
mit folhem Gerichte und gnädig verfchonen wolle. Nimmermehr
aber würde er uns zu folcher Bitte angeleitet haben, gölte es, Gott
damit einen Alt reiner Willkür zugumuthen. Das Geſuch, zu dem
er und ermuthigt, hat zu feiner Borausfegung und zu feinem Grunde
die große und geheimnißvolle Thatfache, daß er, Ehriftus, ſich
222 Das Heilige.
felbft am unfrer Stelle von der ridhterlichen Gerechtigkeit Gottes als
len Berfuchungsflammen beiftandslos überweifen Tieß. — Kommt,
Geliebte, und feten wir auf8 neue Zeugen, wie der Herr Sefus die
tiefe und unmandelbare Grundvefte legt, auf welcher fußend wir jeßt
unfer: „Gib uns nicht hinein in die Verſuchung!“ fpre
hen dürfen. Werden wir aber zugleich zu unferer Warnung an dem
Exempel des verlorenen Süngers uns bewußt, daß troß der geleifte-
ten Genugthuung Ehrifti die Möglichkeit, von Gott richterlich in Die
Derfuhung hingegeben zu werden, nad) wie vor fortbeftehel —
Matthäus 26, 47. Marcus 14, 43. Ich. 18, 2—9.
Und alsbald, ba er noch redete, fiehe, da kam Judas, ber Zwoͤlſen einer, (da er
zu ſich genommen hatte die Schaar, und der Hohenpriefter und Pharifäer Diener)
und mit ihm eine große Schear mit Schwertern und mit Stangen, mit Fadeln, und
Lampen und mit Waffen, von ben Hobenprieftern und Schriftgelehrten und Aelteſten
des Bolt. Und Judas ging vor ihnen ber. Als nun Iefus wußte Alles, was ihm
begegnen follte, ging er hinaus und ſprach zu ihnen: Wen ſuchet ihr? Sie antwor⸗
teten ihm: Iefum von Nazareth. Jeſus fpricht zu ihnen: Ich bin'ß! Judas aber,
der ihn verrieth, and auch dei ihnen. Als nun Iefus zu ihnen ſprach: Ich biurt,
wichen fie zurüd, und fielen zu Boden. Da fragte er fie abermald: Wen fnchet ihr?
Sie aber fprahen: Jeſum von Razareth. Jeſus antwortete: Ich babe es euch ge⸗
fast, daß ih es fei; ſuchet ihr denn mich, fo laſſet diefe gehn, auf daß das Wort er-
hr würde, welches er fagte: Ich babe derer feinen verloren, bie du mir gegeben
Aus feinem Seelenfampfe fiegreich hervorgegangen, gürtet ſich der
göttliche Dulder, den Domenpfad feiner leiblichen Zräbfal anzu⸗
treten. Bon vornherein haben wir nun feftzuhalten, daß unter dem
änßeren Leiden nicht nur das innere fortgeht, fondern jenes überhaupt
nur als ein in die Erfcheinung tretender Reflex ungleich wefentlicherer
verborgener Zuftände und Lagen aufzufaffen tft. Seine Gefangen-
nehmung, feine Abführung vor die Schranken des Gerichts, feine Bers
urtheilung durch den hohen Rath, fein Gang zum Bintgerüfte u. |. w.;
e3 find nur ſymboliſche Abjchattungen unendlich erheblicherer Vorgänge,
die hinter den Schleiern in dem Berhältniffe des Mittlerd zu Gott,
dem Richter der Lebendigen und der Todten fich ereignen. Wer aus
dieſem Gefihtspunkte die einzelnen Paffionsfcenen nicht anzufchauen
verfteht, durchdringt diefelben nicht, und wird ftih in dem Irrgewinde
der Leidensgefchichte nimmer zurecht zu finden wiſſen.
Der Ueberſal 238
Bir treffen den Herrn heute feinen Verräthern und Haͤſchern ge
genüber, und ſehen uns Anlaß geboten, zuerft die Dypferbereitfnaft
des Sünderbürgen, dann die Majeftät des Sohnes Gottes,
und endlich die Treue des auten Hirten in Ihm anzubeten.
Neige der Geift der Wahrheit ſich zu uns nieder, und dente ex
uns die Geheimfchrift unferes Textes! —
1.
Roch umgrant uns jene verhängnißpolle Nacht, von der für tan⸗
fende der unferen noch heute gilt, was damals ber Here mit warnen⸗
dem Ernſte zu feinen Jüngern fagte: „In Diefer Nacht werdet ihr euch
alle an mir ärgern!” Eben erft hat der Heiland fi) vom Stanbe
aufgerichtet, als ſchon wieder eine neue Schredensfcene ſich vorbes
reitet. Ehe man ſich's verfieht, leuchten im düftern Buſchwerk des
Thalgrundes Laternen und Fackeln auf, uud, hinfchleichend am Ufer
des Kidrons, nähert fi, einer tüdifchen Riefenfchlange gleich, eine
mit Schwertem, Stangen und Knütteln bewaffnete Meutererbande,
Was diefelbe im Schilde führt, wißt ihr. Die gewaltige Rüftung,
in die fie ſich geworfen, ift theils Maske mur, durch welche die
Sache den Schein gewinnen fol, als fahnde man auf einen gefaͤhr⸗
lihen Empoͤrer und Rebellen; theils verräth fich in ihr eine die
Widerfacher wirklich begleitende geheimnißoolle Furcht und Sorge,
fie möchten am Ende doch, fie wiſſen ſelbſt nicht, auf was für eine,
unvorhergefehene Gegen wehr ftoßen, Die beim Vollmondſcheine
fo überflüffigen Fackeln und Laternen beleuchten ebenfalls nur die Ges
wiffensfchauer, von denen ihr Inneres erfüllt tft. Zugleich aber mode
ten die Feinde damit, wider ihre befiere Ueberzeugung, die erheuchelte
Kundgebung bezweden, e8 werde der zu Verhaftende als ein nunmehr
wohl felbft an feiner Sache Berzagender, mır in Schlupfwinteln
und Verſtecken aufzufuchen fein. Kaum je ging irgendwo mit fo
viel teuflifcher Bosheit, Gemeinheit und Tücke fo viel innere Gefhlas
genheit, Feigheit und Ohnmacht verpaart, als fie in dieſer Mörder
horde uns begegnet. Eine rechte Höllenbande iffs, mit der wire
bier zu thun haben; die Leibwacht des Satans! —
Laffen wir es uns nicht verdrießen, Diefelbe etwas näher zu muftern,
Zuerft erbliden wir hier die Priefter, die Pfleger des Heiligthums.
Was haben fe wider Jefum? Dies, dag er ihnen ihre flolgen Herr⸗
ſcherſitze untergräbt, die angemaßte falfche Glorie ihnen abftreift, das
Tyrannenzepter fiber die Gewiſſen des armen Volles ihnen aus den
224 Das Heilige..
Händen windet, ihre. weichen Pfühle umftürzt, Die Renten und Zehn⸗
ten ihnen fchmälert, und ihnen die Zumuthung macht, fi) mit erlö-
fungsbedürftigen Zöllnern und Sündern in gleiche Reihe zu ftellen.
Diefes Alles daͤuchte den hochmüthigen und herrichfüchtigen Mam⸗
monsdienern unerträglich, und eben daher ihre Erbitterung gegen den
Herrn der Herrlichkeit; und daher aud) der Haß unzähliger unferer
Zeitgenoffen gegen Jeſum. Alle Ehriftusfeindfchaft ift bei Licht
befehn nichts, als das ſich Bäumen des Leviathans der ftolgen, eigen-
gerechten, dem Dienfte der Welt ergebenen Menfchennatur gegen ein
Wort, welches Selbftverleugnung und Kreuzigung des Zleifches fammt
Lüften und Begierden an die Spibe feiner Forderungen ftellt. — Re
ben den Prieftern gewahren wir die Pharifäer, diefe blinden Leiter
der Blinden, die Repräfentanten der wahnwißigen Einbildung auf ei⸗
genes Verdienft, und. daher auch des Widerwillens gegen eine Lehre,
die, wie fie jeden Menfchen zum Delinquenten ftempelt, nur eine Se⸗
figfeit aus Gnaden in Ausficht ftellt, und auch dem Frömmſten als
Begenftand feines Rühmens vor Gott lediglich eine freigefchenkte, fremde
Gerechtigkeit übrig läßt, Wie begreiflich, daß ſich dieſe Menfchen an
einem Meifter ärgerten, der die „Wiedergeburt“ zur Lebensbedin-
gung für Alle erhob, und der, wie er in feine Fahne die Lofung fchrieb:
„Des Menfchen Sohn ift nicht gefommen, daB er ihm dienen laffe, fons
dern daß er diene;” ſo den Seinen eröffnete, er „heilige fich felbft für
fie,’ und laut in die Welt hinaus rief: „Ich bin der Weg, die Wahr:
beit und das Leben; Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!“
Doch gehn wir in ung felbft, und fragen und, ob es, fo lange der Geift
unfere FZinfterniß nicht erhellte, auch uns behage, Daß wir Nichts fein
follen, die Gnade aber Alles? Ob es uns beffer, als jenen Söhnen
Gamalield munde, unfere Rechtfertigung vor Gott ausfchlieglih auf
das Blut des Lammes gegründet zu fehn, und wir uns darum von
Natur an dem Friedensfürften minder ärgern, als jene? — Id) zweifle,
daß diefe Frage fich zu unfern Gunften entfcheiden werde. Von Haus
aus wohnt in uns Allen der Phariſäer. — In den Schriftge⸗
lehrten, welche in dritter Stelle die Rotte bilden, prägt ſich neben
der geiftlichen Herrfchfucht der Weisheitsdpünfel aus. Was Wun-
der, daß ſich auch Diefe unter den Verſchworenen wider Jeſum be=
treffen laffen? Ihnen, den eigentlichen Gelehrten des Volkes, wurde
zugemuthet, fich wieder mit dem Volke auf die Schülerbanf, umd
zwar zu den Füßen dieſes Rabbi von Nazareth herabzulafien! Sie
Der Ueberjall. 225
follten dies, die Meifter Ifraels, die angeſtaunt und bewundert zu des
Volles Häupten fagen! Wie hätte ſolch' Anfinnen die eingebildes
ten Herren anders, als aufs Außerfte entrüften und empören können?
Blieb aber nicht bis heute des Herrn Spruch in Kraft: „Den Klugen
iſts verborgen; und nicht minder des Apoftels: „Nicht viele Weiſe
nach dem Fleiſche find erwählt?” Bei den Schriftgelehrten kam
zu der allgemeinen Abneigung gegen Jefum, wie fie jedem von dem
angeſtammten Dunkel nod nicht genefenen Menfchenherzen eigen ift,
noch der verhaltene Verdruß über die zahlreichen Niederlagen und Bes
ſchaͤmungen hinzu, die fie, fo oft fie mit Jefu anzubinden gewagt, Ans
gefichts des Volls erlitten hatten. Wie ſiegreich hatte Er fie jedes;
mal aus dem Felde gefhlagen! Wie die Verſchmitzten in ihrer Klug⸗
beit erhaſcht! Wie mit Denfelben Sclingen, die fie Ihm gelegt,
fie gefangen zu nehmen, fie damn öffentlich zur Schau zu ftellen und
im Zriumphe aufzuführen gewußt! Dies aber war e8 eben, was fie
Ihm nicht mehr vergeben konnten. Und nachdem ihnen die Waffen
ihrer Sophiftereien aus den Händen gefchlagen waren, waren fie nicht
zu geiftig noch zu vornehm mehr, um nun auch Diejenigen des gemein«
ften Verraths und der rohften Gewaltthat für angemeffen und brauch⸗
bar zu erachten. D, ſpreche man uns doch nicht von einem „Geis
ftesadel” des natürlichen Menfchen. Es gibt einen ‘Preis, um den er,
welcher Stufe verfeinerter Sitte und Bildung er auch immer einzumehs
men fih rühmt, auch diefen Rubm unbedenklich losſchlägt. — Uns
ter dem Befehle der genannten Nädelsführer gehn, minder ſchuldig
zwar, jedoch nichts weniger als entfchuldigt, die Rathsdiener,
diefe blinden Werkzeuge ihrer Oberen, und Dann die aufgebotenen
Söldlinge der römischen Tempelwache. Leuten dieſer Klaffe ges
ziemt e8 zwar, dem Commandoworte ihrer Vorgeſetzten unbedingt zu
gehorchen; doch find auch fie nicht umzurechnungsfähige Mafchinen,
fondern ebenfowol, wie alle Anden, Gott, dem höchſten Richter,
für ihr fittliches Verhalten vermtwortlihde Menſchen, deren Gehors
fam in dem befannten: „Man muß Gott mehr geboren, denn
den Menſchen,“ feine Begrenzung findet, und denen es bars
um in dem vorliegenden Falle obgelegen hätte, den Zod unter dem
Henkerbeile dem zweideutigen Ruhme vorzuziehn, im ruchlofeften aller
Attentate ihre Schuldigfeit gethan zu haben. Doch willen fie zum
größten Theile nicht, was fie thun. Verwerflicher, als fie, erfcheint der
verächtliche Troß derjenigen, die um Geld und Gunft freuvillig fich der
15
226 Dad Heilige.
Bande angeichlofien haben. Diefe feigen Schmeichler und Menſchen⸗
Inechte, denen es ein Geringes ift, um einen Blick der Huld von hohem
Bönnerauge zehnmal ihrem Gewiſſen in’8 Angeficht zu fchlagen, erinnern
uns an euch, ihr feilen Nachbeterfchaaren in unfrer Mitte, Die ihr,
weil Diefer oder Jener, zu denen ihr in Abhängigkeitsverhälmniffen
fteht, fo oder fo denkt, urtheilt und redet, auch nicht anders zu den⸗
fen und zu reden euch unterfteht, und die Niederträchtigfeit bis zu
dem Punkte treibt, euer felbitftändiges Urtheil felbft im Bereiche der
höchften Lebensinterefien um die fchledhteften Preife von der Welt zu
veräußern. Wehe über euch, ihr unmürdiges Gefindel! Wäre nur
eure Zahl auch unter uns nicht Legion! Die Meiften, die nicht glaus
ben, treten mit ihrem Unglauben knechtiſch nur fremden Meinungen
nach, und haben in fchmählicher Unterthänigkeit unter Fleiſch und Blut,
und um irgend eines erbärmlichen zeitlichen Vortheils willen, des herr:
lichen Vorrechts ſich begeben, wenigftend Da, wo e8 die ewigen Ans
gelegenheiten gilt, mit eigenen Augen zu fehn, und frei nad Gottes
Rath allein ihren Weg zu wählen. — Dod einen Blid noch auf
die Häfcherrotte. Wer wandelt düftern Angefichtes und wirren Blicks
an ihrer Spike? Der Mann tief in den Mantel verbüllt, und mit
dem Gepräge mehr einer erzwungenen als natürlichen Entſchloſſenheit
in feiner Haltung, wer ift er? — Ad, wir erkennen ihn. Bor diefer
Erſcheinung erfchauert uns das Herz, und will ung das Blut in den
Adern gefrieren. Das „verlorene Kind“ ift’s, von dem ſchon ein
Sahrtaufend zuvor gefchrieben ward: „Der mein Brod iffet, der tritt
mid mit Füßen.“ Es ift der Menfch des Unheils, der feine Jeſus⸗
jüngerfhaft nur trägt, wie die giftige Natter ihre fchillernde Haut. Der
Heuchler, der in feinem Apoftelamte ſteckt, wie ein mörderifcher Dolch
in vergoldeter Scheide. Die Sünde ift jetzt in ihm vollendet und das
Berderben zu feiner Reife gediehen. Berbittert, verdüftert und verlogen
bis auf feinen innerften Wefensgrund, haßt er Zefum jept, wie die Fin-
flerniß das Licht haft. Ueber den Zeitpunkt, da er noch gelaffenern Sin-
nes mit Jeſu hätte brechen, und dann, ohne fich weiter um ihm zu füm-
mern, feine Straße ziehen können, it er hinaus. Er hat jebt einer dä-
monifhen Empörung gegen Ihn ald gegen fein anderes Gewiffen
in ſich Raum gegeben. Er ift wider Ihn als gegen einen ſchonungs⸗
loſen Richter entbrannt, durch deſſen bloße Heiligkeit, Lauterfeit und
Liebe Er ſich fchon in feiner eigenen Tücke, Heuchelei und Liebesleere
verdammt fühlt, Peinlich beengt fand er fich Länger fchon in Jeſu
Der Meberfall. 227
Nabe, Wie konnte e8 anders fein? Das Geflügel der Naht erträgt
das Licht der Sonne nicht. Bei dem befannten Auftritte in Bethas
nien trat feine innere Berftimmung gegen Jefum in eine neue Ents
wicklungsſtufe ein. Hier wurde ihm, wie ihr wißt, der lebte Zweifel
benommen, daß er von dem Herrn durchſchaut, und in feinen geheis
men Zrevlergängen erhafcht fei. Statt aber diefen verhängnißvollen
Moment zu feinem Heile auszubeuten, und feinen verderbten alten
Menfchen ſchonungslos dem Feuer eines aufrichtigen Selbftgerichtes
zu übergeben, damit aus feiner Ajche ein neuer aus Gott geborener
Menſch erſtehen könne, lieh er fatanifchen Einflüfterungen fein Ohr,
und hoffte in unfäglichem Wahnwig dadurch ſich und feine Ehre ret⸗
ten zu können, daß er, flatt dem heil. Geifte, dem Geifte des Grim⸗
mes und der Erbittrung fid) überließ, und dem Manne tödtliche Rache
fhwur, der ihm doch Anderes nichts zu Leide gethan, als daß er ihm
in's Herz gefehen hatte. Nein, mit der Begierde nad) den dreis
Big Süberfcherben mißt fi der Quell des Judasverraths nicht aus,
Derſelbe ift dDämonifcherer Natur, und will viel tiefer gefucht fein.
Der unglüdfelige Jünger trank fehon von dem Grimme, der die Vers
dammten in der Hölle ftachelt, unabläffig wider Den, der fie richtete,
und welchen fie das Zeugniß geben müffen, daß alle feine Gerichte
gerecht feien, Fluch und Läfterung zu ſchäumen. Ach, ein Zunfe von
diefem Grimm findet ſich überall in der menfchlichen Natur als ſol⸗
her. So oft der Herr Miene macht, mit der Fadel feiner Wahrheit
in die Ziefe ihrer Finfterniß hinabzuleuchten, regt fich Die verborgene
Natter. Das natürliche Herz erträgt den Störer feines faulen Frie⸗
dens nicht; und fo muß denn der einige Seligmacyer der Sünder von
Denen felbft, die er zu retten kam, mit Grüßen fich bewillfommt hös
ren, wie jener rebellifchen Bürger Gruß: „Wir wollen nicht, Daß Dies
fer über uns berrfche,” und wie der Gruß der Gergefener: „Gehe
hin, und weiche von unfern Grenzen!‘
Seht, fo ſchaut aus der wider den Herrn der Herrlichkeit verfchwos
renen Schaar ein Spiegelbild der Menſchheit und an, wie fie
in ihrem innerften Kerne von Natur beichaffen if. Wer in dem
einen der Parteigänger jener Horde ſich nicht wiederfindet, wird
Züge feines Bildes in irgend einem andern entdeden. Ein fo vers
derbtes Geſchlecht aber hat die Seligfeit verwirkt und iſt des Todes
fhuldig, oder das göttliche Geſetz müßte eine Lüge, und Gerechtigs
feit und Gericht nicht die „Veſten des Stuhles Gott “ fein. Nichts
15 |
228 Dus Heilige.
ift aber in der Welt gewiffer, als daß der Fluch auf unferm Scheis
tel ruht, und wir der Hölle verfallen find, wenn uns nit, auf Grund
einer vorab geleifteten Genugthuung, Barmherzigkeit wiederfährt,
und Gnade vor Recht zu Theil wird. Doc zur Stelle ift Er, der
dieſe Genugthuung zu Stand und Weſen bringen wird. Kommt, und
ſchauen wir Ihn an, und fallen beten und jubelnd in feine Arme! —
„Stebetauf, laffet uns von innen gehn; fiehe, der mid
verräth, ift nahe!” — Hört diefen nur Muth und Entſchloſſenheit
athmenden Aufruf! Bon wannen tönt er? Bon denfelben Lippen, von
weldyen eben erft das Noth= und Dranggebet: „Iſt's möglich, fo
gehe dDiefer Kelch an mir vorüber,” zum Himmel aufftieg. Dort
fhreitet er her, der herrliche Leberwinder. Wie an Leib und Seele
geftählt, geht er aus dem Feuer des Delberglampfes hervor. Aus ſei⸗
ner ganzen Haltung fpricht nichts, als Klarheit, Ermannung und er:
habene Ruhe. Sobald er inne geworden, wer den Gethfemanes:
kelch ihm reichte,, hat er ihn mit unbedingter Willigfeit geleert, und
weiß hinfort, daß, was Ihm noch an Schauern und Schrecken aufs
behalten fei, ebenfowol, wie der Gethfemanesbecher, den unerläßlichen
Bedingungen beigehöre, an welche die Vollendung des großen Retters
werks geknüpft ſei. Diefes Bewußtſein macht feinen Zritt auf der
blutigen Marterftraße gewiß. Was irgend Arges ihm noch bevor:
ſteht, erfennt er mit klarem Blide als einen Ausflug des väterlichen
Rathſchluſſes. Er fpricht das „Stebet auf und laffet uns von
binnen gehn,” zunächit als ein beherztes „Wohlan!” darin er den
Jüngern die veränderte Gemüthslage zur Anfchauung bringen will, in
der er fich gegenwärtig befinde. Sodann aber richtet Er’s an fte als
einen Sammelruf; denn es Tiegt Ihm daran, daß fie bei feiner
Verhaftung ſämmtlich zugegen feien, damit fie nachmals der Welt als
Augenzeugen verkünden könnten, wie ihr Meifter nicht als ein Ue⸗
berwundener, fondern frei den Händen feiner Feinde fich überlies
fert babe.
Schaut, was fi) begibt. Bevor noch die Häfcherrotte ihn erreicht,
wandelt er derfelben mehrere Schritte feft entgegen, und anders, als
unfer Stammpater im Paradieſe nach dem Zall, der auf das „Adam,
wo bift du?” Verſtecke fuchte, tritt er wie mit offnem Viſir vor die
Schaarwäͤchter hin, und richtet an fie die einfache, aber für die Meu⸗
terer tief: befchämende, weil Das Lügnerifche ihres ganzen Verfahrens
Der Ueberfall. | 29
und namentlich ihres Friegerifchen Aufwandes gegen Ihn enthüllende
Stage: „Wen fuchet ihr?” Diefes „Wen,“ wie fchlug es die Häs
fher! Es hätte heilwirkend für fie werden können, wenn fle demfel-
ben nur einen Augenblid befonnenen Nachdenkens hätten ſchenken wols
len. Uber fie waren fchon zu fehr darin geübt, Hafen und Angeln
diefer Gattung mit leichter Mühe zu verwinden; und fehiete ſich
auch ihr Gewiſſen etwa an, Befcheid zu thun auf folche Frage, fo
verftanden ſie's, dafjelbe mit den Trommelwirbeln der keckſten Lug⸗
und Zrugfophismen zu betäuben. Doc die Welt follte erfahren, daß
der Herr nicht etwa nur aus Verſehn, fondern abfichtlich, weil er der
Gerechte und Heilige in Ifrael war, zur Schlachtbanf geführt worden
fei; und auch aus diefem Grunde fragte der Heiland: „Wen ſu⸗
het ihr?” Die Antwort der Bande lautete beftimmt und Har: „Je⸗
fum von Nazareth!” Hiemit war die Blutſchuld der Schwar, ja
der Menschheit, die durch jene vertreten ward, Eonftatirt. Frei⸗
lich bezeichneten die Verräther den Herm liftig genug mit einem Ti⸗
tel, der ihnen, wäre er der einzige gewejen, unter welchen fie Yes
fum fannten, wenigftens einen Schein von Berechtigung dazu gelies
ben hätten, Ihn für einen falfchen Propheten zu halten, und ale
einen ſolchen ihn zu ergreifen; indem ja Nazareth allerdings der
Ort nicht war, von wannen die Prophezeihung den Meſſias kom
men ließ. Aber gar wohl kannten fie Ihn auch als den Sprößling
des Stammes Davids von Bethlehem, auf welhen Micha, und als
den Sriedenskönig, auf welchen Sacharja hingedeutet hatte. Das
durch aber, daß fie über dieſes ihr befferes Bewußtfein vorfäglich den
Schleier der Selbftbelügung warfen, fleigerten, ja vollendeten fie ihr
Verbrechen. Es machen's die heutigen EChriftusfeinde nicht viel ans
ders, als ihre jüdischen Vorgänger. Auch fie fehlagen ſich mit Abficht
alles das aus dem Sinne, was ihre Oppofition gegen den Herrn der
Herrlichkeit etwa Tähmen könnte. Sie fhließen vor der prophetifchen
Signatur, die auch fie auf Jeſu Stirne nicht verfennen können, fo
wie vor der glorreichen Siegsgefchichte feines Reichs gefliffentlich die
Augen, und gebehrden fih, als träte Er eben erft aus Nazareth
bervor, und hätte zum Erweife feiner Gottmenfchheit fein weiteres Zeuge
niß, als nur fein eigenes, oder feiner Jünger Wort. — Trotz dieſes
ihres großartig Teichtfertigen und Tügnerifhen Verfahrens aber fehlfs
ihnen doch an einem windigen Troſſe nicht, der ihnen treugehorfamft
nachtritt und in unzähligen Fällen nicht ahnt, Daß der dem Geifte nach
230 Das Heilige.
wieder auferflandene Judas an ihrer Spike geht, und fle commandirt
md leitet. Nachdem die Häfcher mit ihrem „Jeſum von Nazareth”
ihre Nbficht zu Tage gegeben, fpricht der Herr mit der erhabenen
Ruhe des göttlichen Mittlers, der nicht allein, wie die Gefihichte mel-
det, „Alles wußte, was ihm begegnen follte,” fondern auch des Grun⸗
des, des Ausgangs, und des legten Ergebniffes von diefem Allen ſich
Har bewußt war: „Ich bin es!” — Großes, bedeutungsvolles Wort!
So oft e8 ertönte, ging es mit der gewaltigften Wirkung verpaart.
„Ich bin's!“ rief er, auf den Meereswogen wandelnd, feinen be
flürzten Süngern zu, und wie auf diefen Laut der tobende Seeſturm
augenblicklich verftummte, fo ergoß ſich alfobald ein Strom des Arie
dens und der freude in die Herzen der felig Ueberrafchten. „Ich
bin's!“ fprach Er zu der Samariterin beim Jakobsbrunnen, und fofort
lieg das Weib ihren Waflereimer ftehn, und eilte als die erfte Evan-
geliftin in der Samariter Grenzen zurüd nad) Sichem. „Ich bin’s!“
bezeugte Er, wie wir fpäter vernehmen werden, vor den Schranken
des hohen Rathes, und das Bewußtſein, daß Er es wirklich fei,
flug im Innern feiner Richter fo mächtig durch, daß ſich der Ho-
hepriefter nur vermittelt des Bühnenftreich8 feiner Kleiderzerfetzung
aus der peinvollften DBerlegenheit zu retten wußte. Und was begibt
fih auf fein: „Ich bin's!“ an unferm Orte? Die Schergenrotte,
wie ſie's vernimmt, ftußt, wankt, taumelt zurüd, und finkt wie von
einem unfichtbaren Blitz getroffen, ja wie von einem Allmachtshauche
umgeblafen, fofort zu Boden. Was fo gewaltig fie ergriff, war un-
leugbar ſchon der tiefe Eindrud der Heiligkeit und Unfhuld Jeſu,
von dem fie in diefem Momente überwältigt wurden. Das eben fo
majeſtätiſche, als fchlichte „Ich bin's!“ rief das gewaltfam niederge-
haltene Bewußtfein von Seiner übermenfchlichen Herrlichkeit mit vol-
fer Stärke wieder in ihnen hervor. Doch hätte diefe geiftige Er-
ſchütterung allein wol nicht vermocht, die Rotte Mann für Mann wie
durch einen Zauberfchlag auch Leiblich in den Staub zu ſtrecken, wenn
nicht mit dem „Sch bin's!“ zugleich ein Akt göttlidyer Allmacht
verpaart gegangen wäre. Der Herr ſchlug die Horde nieder, theils
um damit in eindringlichfter Weife ihr karges „Jeſum von Naza—
reth“ zur Lüge zu ftempeln, und dem abfichtlich zurücgedrängten hoͤ⸗
ben Wiffen von Ihm in ihrem Innern wieder Raum zu fchaffen;
theils, um der Welt auch ein thatſächliches Zeugniß zu hinterlafr
fen, daß er nicht aus Nöthigung und Ohnmacht, fondern in Folge
Der Ueherfall. 231
freiefter Entfchließung ein Opfer für fie geworden fe. Da
liegen fie zu feinen Füßen, die vermeffenen Meuterer, von einem
Klange feiner Lippen bingefchmettert. Und was hätte Ihn jetzt gehin«
dert, triumphirend über ihre Hälfe einherzufchreiten, und, nachdem er
fie bleibend an den Boden feitgebannt, unverfehrt und ungefährdet
davon zu gehn? Aber Er bezweckt nichts, als eine Kundgebung feiner
Majeftät und feiner Unabhängigkeit von aller Greatur; und nachdem er
diefe Abficht glänzend erreicht, vergönnt er den Niedergeworfenen, fich
wieder zu erheben. Wie fie aber dort am Staube liegen, bezeichnen
fie euch Kindern des Unglaubens die Lage, in der man einft euch alle
erbliden wird. Die Huldigung, die ihr hienieden dem Herrn vers
fagtet, wird Er fich zu feiner Zeit ſchon zu erzwingen wiſſen. Das
Knie, das ihr mit freier Liebe Ihm nicht beugen wolltet, wird einft
die Schauer der Verzweiflung zum Staube nöthigen. Dreimal wehe
euch, wird der Herr auch dann noch als die Widerftrebenden euch fin-
den, wann nicht mehr Palmzweig und Hirtenftab, fondern Richtſchwert
und Wage die Embleme Seiner Erfcheinung bilden werden. Bon
dem Zittern und Zagen, welches euch dann beim Klange feines „Ich
bin's!“ ergreifen wird, gibt es fein Wiederauflommen und fein Ers
holen mehr. Glaubt Ihm darım, daß Er es ift, fo Tange fein „Ich
bin's“ mit der Betonung der lockenden Liebe euch noch antönt. Wollt
ihr's Ihm auf fein bloßes Wort nicht glauben, glaubt’ um des ge
waltigen Infiegels willen, das Er diefem Worte felber aufgedrüdt, O,
reichtet ihr Ihm nur einmal, daß ich menschlich rede, auf Probe eure
Hand, wie bald erflänge als Wiederhall feines „Ich bin's!“ ein fe
figes „Zürwahr! du bift es!“ durch euer Inneres. Beftürzung
würfe dann wol aud euch zu Boden, aber Beftürzung darüber
nur, daß ihr erft jebt, daß ihr fo fpät, daß ihr nicht fehon von
euerm erften Athemzuge an euch Ihm ergabet.
„Ben fuhet ihr? — — „Sch bin's!“ — Brüder, es ift uns
neftattet, daS eine wie das andere dieſer beiden Jefusworte in dem
umfaffendften Sinne auszudeuten, Wen oder was euer verborgen
ſtes Herzensbedürfniß immer fuchen mag: Er iſt's. Ergreifet Ihm,
und ihr feid am Ziele. Sucht ihr einen Mittler, der euch vor Gott
vertrete, einen Friedensfürften, der den Sturm bedräue in eurer Bruſt,
einen Freund, deſſen Gemeinfchaft jede andre euch entbehrlich mache,
oder einen verläffigen Steuermann am Ruder eurer Lebensbarke: „IK
bin's!“ ruft der Manu von Nazareth, und iſt bereit, feine Verſicherung
232 Das Heilige.
mit der That zu befiegeln. Und Er ift mehr noch, als jenes Alles.
Wird gefragt, wer jeder Noth die Bitterkeit, der Sünde die Macht,
‚der Hölle den Sieg, dem Tode den Stachel raube: „Ich bin es!“
ſpricht Er, und durch achtzehn Jahrhunderte hindurch antwortet das
Zeugnig Millionen Heiliger: „Du biſt's, und ift außer dir fein Hei-
land!” Sn diefem Ehore fehle auch unfre Stimme nicht. Winden
wir uns aus der heillofen Umgarnung eines ungläubigen Zeitgeiftes
heraus! Bedarf es doch Faum etwas mehr, als eines unbefangenen
Blicks auf den Davidsfohn, wie Er im Evangelium feine Herrlichkeit
entfaltet, und man wird, wenn das Herz nur an einer Gtelle noch
für göttliche Größe empfänglich ift, fi) unmiderftehlich gedrungen füh-
Ien, mit einem anbetenden „Du biſt es“ zu feinen Füßen hinzuſinken.
| Ä 3
* Nachdem fih die Schaar mit Jeſu Genehmigung wieder erhoben
hat, richtet Er aufs neue an fie die Frage: „Wen fudhet ihr?“
Diesmal begleitete diefelbe eine zermalmende Ironie. Wie wenn Ei-
ner, den man etwa für einen Landftreicher gehalten, und als Solchen
verhaftet hätte, vor feinen Häfchern yplöglich den EZöniglihen Stern
auf feiner Bruft enthüllte, und gelaffen zu diefen ſpräche: „Auf wen
fahndet ihr? * ähnlich hat fidy’8 mit dem „Wen fuhet ihr?” des
Herrn. Hier ift nur mehr, als ein menfchlicher König. Die Meu-
terer find’8 eben zu feinen Füßen gewahr geworden. So verwan-
delt fid) das wiederholte „Wen ſuchet ihr?” jet in gallenbittern
Spott für fie; denn welche Thorheit, daß ein Strohhalm an einem
Feuer, ein Zunfe an einer Meeresbrandung fich zu vergreifen wagt!
— Ich fehe, wie fie den Stachel der erneuerten Frage in ihrem Ges
wiffen fühlen. Sie ftehen befhämt. Der Nichter ihres Herzens ver-
urtheilt fie als Ruchlofe und zugleich als Narren. Nichtsdeftoweniger
bringen fie'8 fertig, den Eindrud der Wahrheit abermals in fich zu
überwinden, und geben, diesmal mehanifch nur, wie eine ausges
theilte Parole, Diefelbe Antwort: „Jeſum von Nazareth.” Das
erfte Mal trat dieſes „Iefum von Nazareth“ noch mit dem Accente
einer gewiſſen Friegerifchen Barfchheit und Keckheit auf; jebt kommt
e8 Heinlaut und betonungslos heraus, und zeugt von einer innern
Geſchlagenheit, Die erft wieder einem gewiſſen Troße Raum gibt,
nachdem der Herr fich frei ihren Händen überantwortet hat.
„Ich habe es euch gefagt,” fährt Jeſus fort, „Daß ich es fei;
ſuchet ihr denn mich, fo Laffet Diefe gehn,“ Hört Diefe füßen
Der Ueberfall. 233
und verheißungsvollen Laute! O, wie der Heiland in allen feinen
Ständen, audy den fchredensvollften, die volllommenfte Klarheit ſich zu
bewahren, und mit der Sorge um die Vollendung des ihm übertra-
genen Erlöfungswerkes im Großen und Ganzen, überall aud) diejenige
für das Ihm anvertraute Einzelne und Geringe zu vereinen wußte!
Während er zu. feinem verhängnißvollen Opfergange ſich gürtet, vergißt
er in feiner anbetungswürdigen Hirtentreue nicht, vorab feine Jün⸗
ger vor den bevorftehenden Anfechtungsftürmen zu bergen. „Suchet
ihr mich,” fpricht er, „fo laffet dieſe gehn;“ legt aber in diefes
Wort zugleich, wie dies feine Gewohnheit ift, einen über deffen nächfte
Bedeutung weit hinausreichenden großen Allgemeinfinn. In Dems
jenigen, was er zu Gunften feiner Elfe bier beanfprucht, fpiegelt fich
der Segen für eine Welt. Nichtsdeftoweniger verfährt unfer Evanges
lift ganz richtig, wenn er jenen Ausfpruch in erfter Reihe den Apofteln
zueignet, und ihn mit dem Zuſatz begleitet: „Auf Daß das Wort
erfüllet würde, welches er fagte: Ich habe derer feinen vers
Ioren, die du mir gegeben haft.“ In feinem hohepriefterlichen
Gebete Zoh. 17, 12 ſprach der Herr diefes Wort; nur fügte er dort
mit tiefem Weh hinzu: „Ohne das verlorne Kind, auf Daß die
Schrift erfüllet würde"; ein Wort, das der Evangelift, wir bes
greifen, aus welchen Gründen, an unferm Orte übergeht. Nicht Mits
leid nur hält ihn ab, das Verdammungsurtheil über den Armen, den er
uns hier perfönlich vorführt, zu wiederholen, fordern zugleich eine zarte,
in tiefer Wehmuth wurzelnde Sorge, e8 möchte den Schein gewinnen,
als wolle er, der Berichterftatter, über den beflagenswerthen Mitapo⸗
fiel felbftgefällig fich erheben, während er fich doc, mit aufrichtiger
Zerknirſchung tief und Mar bewußt ift, wie fein Herz nicht minder,
als Judä Herz, von Natur zu allem Böfen geneigt fei, und er es le
Diglich der bewahrenden Gnade zu danken habe, daß er nicht felber
zum Berräther wurde.
„Suchet ihr mich, fo laffet diefe gehn.” Zreffend und wahr
bemerkt bei diefen Worten ein Schriftausleger, e8 habe einen Grund
feiner Schilichkeit gehabt, daß Jeſus nicht gefprochen: „Meine Ans
haͤnger“, oder „meine Jünger, fondem nur fo unbeftimmt, jedoch
bindeutend auf dieſelben: „Dieſe“. Denn wo er fie mit den ers
ftern Namen bezeichnet hätte, fo würde dies für Leute, wie diejenigen,
aus welchen die Schaar beftand, fo viel geheißen haben, als „meine
Barteigenoffen”, und zwar in einem Sinne, dem er Borfchub zu
234 Das Heilige.
thun fich Hiten mußte. In der Bedeutung, in der die Welt es zu
verftehen pflegt, war der Herr fein Barteihbaupt, und wollte auch
den leifeften Schein vermeiden, als ob er ein folches wäre. Uebri-
gens bedurfte e8 zur Bergung feiner Jünger nur jenes einfachen, aber
mit Nahdrud ausgefprochenen „Laſſet dDiefe gehn!“ Nicht Bitte
war dieſes Wort, fondern Eöniglicher Befehl; zugleich aber Win
für die Jünger felbft, was jeßt zu thun fe. Es war Signal zu ei
nem einftweiligen Rüdzug für fie von feinen Marterftätten. Wäre
nur Simon Petrus auch diefem treuen Hirtenwinfe gefolgt! Die
Armen waren ja dem Anfechtungsfturme, der jetzt hereinbrach, noch
nicht gemachten. Mehr oder minder würden fie ficher alle, ob auch
vorübergehend nur, am Glauben Schiffbruch gelitten haben, wenn
fie dem Meifter auf feinen fernern Erniedrigungsgängen hätten folgen
wollen; der Gefahren, die außerdem ihre Freiheit, ja ihr Leben be-
droht haben würden, nicht zu gedenken. Angebetet fei darum die für:
forgliche Umfiht und bewundrungswürdige Befonnenheit und Ruhe,
mit der wir den Herm in einem Momente, in welchem der trefflichite
der Menfchen nicht mehr Raum gefunden haben würde, an etwas Ans
deres, als an Sich feLbft zu denken, die Wohlfahrt und das Heil
der Seinen auf dem Herzen tragen, und fo mütterlich vor dem na⸗
henden Orkane fie ficher ftellen fehen. Ueberfehn wir aber auch nicht
den reichen Troftesinhaft, der in jenem Zuge für die Gläubigen aller
Zeiten insgemein befchloffen ruht. Das „Suchet ihr mid, fo laf-
fet dDiefe gehn“ bat der Herr für und auch noch zu andern Rotten,
als zu denen Dort gefprochen. Er ſprach's nach dem tieferen All
gemeinfinn feiner Rede auch zu Hölle, Zod und Zeufel; und Ihn
haben fie wirklich gefucht, erfaßt, darnieder geftredt. Aber denen zu
Gut, die des Glaubens an Ihn find, haben fie an Ihm ihre Macht
für immer erfhöpft, und ihren Stachel in Ihm zurückgelaſſen. Und
fofern uns die feindlichen Gewalten heute irgend etwas mehr noch
wollen, als uns fichten, prüfen, oder läutern, zieht ihnen das
„Laſſet dieſe gehn” eine unüberfteigliche Schranke. Verderben
fönnen fie und, die wir in Ehrifto find, um ewig nicht mehr. An
jenem von einer vollgültigen Genugthuung getragenen: „Zaffet dieſe
gehen” haben wir einen Freibrief, der uns bis in das himmliſche
Jeruſalem hinüber ein ficheres Geleite verbürgt. Halten wir darım
Diefes Dokument in Ehen; denn das Siegel Gottes ftrahlt und dar⸗
ms enigegen. .
2
Der Judatkuß 235
Wohl uns denn bei dem Bräutigam umferer Seelen! Wir haben
nicht blos Alles an ihm, was wir bedürfen, fondern überfchwänglich
mehr noch, als die Nothdurft erfordert. Selig die fühn und hershaft
Glaubenden! Sobald wir unter Jeſu Flügeln geborgen ruhn, Tiegt
das Reich der Sorgen hinter uns, und nichts kann uns die Berech⸗
figung mehr ftreitig machen, in den alten Sang tief innerer Befrie⸗
digung einzuftimmen :
Hab’ ih Di in meinem Herzen,
Brunnen aller Gütigfeit,
So empfind’ ich feine Schmerzen
Selbſt im letzten Kampf und Streit:
Ich verberge mich in Did;
Kein Feind fann verleken mid).
Mer fi birgt in Deine Wunden,
Der hat glüdlich überwunden. Amen. —
—eotdior——
XX.
Der Judaskuß.
Das wunderſame Vorſpiel des Lebens Jeſu, wie es, einer Luftſpie⸗
gelung vergleichbar, in dem Lebensgange feines königlichen Ahnherrn
David ſich uns darſtellt, fuͤhrt ſogar auch die lebendigen Typen der
hervorragendern Perſoͤnlichkeiten der evangeliſchen Geſchichte am
uns vorüber, und zeigt und z. B., wie in Jonathan einen Johan⸗
nes, in Abifai einen Petrus, in Saul einen Herodes, fo m
Ahitophel einen Judas. Abitophel fland, wie wir willen, dem
Könige als fein erfter Staatsrath vor Andern nahe, und genoB das
unbedingte Vertrauen feines Herm. „Wenn Ahitophel einen Rath
ertheilte,” fagt die Gefchichte, „das war, als hätte man Gott um et
was gefragt.” Aber dieſe bevorzugte Stellung wurde Dem felbftfüchtigen
und von unbegrenztem Ehrgeize geftachelten Menſchen zu Strid und
Falle. Nach immer höhern Dingen trachtend, fühlte er fi) bald ſo⸗
gar auch Durch die Stellung, die er als erfter Diener der Koue ein-
®
nahm, nicht mehr befriedigt. War es doch immer noch eine Diener-
Stellung. Als nun Abfalom den Schild der Empörung gegen feinen
eignen Vater erhob, da warf, in der Hoffnung mit dem ausgebroche-
nen Aufruhrfturme, wer weiß, bis zu welcher Höhe der Macht und
Herrlichkeit hinan zu fleuern, aud Ahitophel die Maske der Schein-
heifigfeit, fanımt derjenigen feiner erheuchelten Treue und Ergebenhett
gegen David ab, und ſchlug fich in himmelfchreiendem Undank auf die
Seite der Meuterer. Der Herr aber wußte den Nichtswürdigen in
feiner Klugheit zu erhaſchen. „Er fchidte es aljo,“ meldet die Ge
ſchichte, „Daß der Rath Ahitophels vernichtet wurde.” Sobald aber
der Berräther feine berrfchfüchtigen Anfchläge fcheitern und ſich in die⸗
ſem Schiffbrudy von Gott gerichtet fah, erfaßte ihn die Verzweif⸗
fung, und des Lebens überdrüffig, fattelte er feinen Efel, zog heim
in feine Stadt, beſchickte ſein Haus, und machte feinem Leben durch
den Strid ein Ende, — Doch hiervon haben wir früher bereit3 ge⸗
redet.
Als eine dem Ahitophel ähnliche Erfcheinung begegnet uns in der
Gefchichte Davids Joab, der Sohn Zeruja, ein Mann des glühend-
fien Ehrgeizes und der ungezügeltiten Herrfehfucht. Blieb er in dem
Aufruhr Abfaloms feinem Könige und Herrn aud) treu, fo fchloß er
fi) doch nachmals dem Kronprätendenten Adonia an. — Seine Ju:
dasnatur trat aber fonderlih in feinem Handel mit Amafa zu
Tage. Diefem hatte der König die Anwartfchaft auf die Oberfeld:
herrnwürde verliehen. Das ertrug ein Joab nicht. Er glaubte fid)
Dadurh an feiner Ehre auf das empfindlichfte gekränkt. Amafa
war fortan der Gegenitand feines bitterften Hafjes, und wie er ihn
aus dem Wege räume, Der Gedanke, der ihn Zag und Nacht beichäf:
tigte. Bald genug fand er Gelegenheit, feinen geheimen Mordplan
auszuführen. Amafa, mit einer königlichen Miffion betraut, begegnet
ihm bei dem großen Stein zu Gibeon. Joab, feiner anfichtig ges
worden, eilt, wie 2 Sam. 20, 9 u. 10 berichtet wird, unter der Maske
der Freundfchaft auf ihn zu, beut ihm mit einem „Geht's dir wohl,
mein Bruder?” erheuchelten Zriedensgruß, umarmt ihn, und ftößt,
während er ihn mit der rechten Hand beim Bart faßt, um ihn zu
füffen, mit der linken das heimlich gezogene Schwert ihm in den
Leib, daß fein Eingeweide herausquoll und mit feinem Blute fih auf
Die Erde fehüttete, und er auf der Stelle des Todes erblich.
Entſetzlich iſt es, Daß wir Veranlaffung haben, mit der Erinnrung
>
Der Judatluß 237
an fo treubrüchige Buben, wie die genannten, eine Betrachtung ein
zuleiten, deren Mittelpunkt ein Bertrauter des Koͤniges aller Könige,
ein Apoftel ift. Aber wir haben fi. — Möge es dem Herrn gefal
Ien, die Betrachtung, zu der wir fhreiten, wie zur Mehrumg unfres
Abſcheus wider die Sünde überhaupt, fo infonderheit zur Verfchärfnug
unfrer Wachſamkeit über das eigene fo leicht zu berüdende und
zu verftridende Herz gereichen laſſen! —
Matth. 26, 48—50. Marc. 14, 44. 45. Sur. 22, 48.
Und fein Berräther hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gefagt: Welchen ich füfe
fen werde, der iſt's, den greifet, und führt ihn gewiß. Und ba er lam, nahete er fi
zu Jeſu umd trat alfobald zu ihm, ihn zu Füllen, und ſprach: Gegrüßet feift du, Rabbi!
und Füffete ihn. Jeſus aber fprah zu ihm: Wein Freund, warum bift du gelom⸗
men? — Juda, verräthft du des Menfhen Sohn mit einem Kuß?
Gibt e8 einen erfchütterndern und herzergreifendern Auftritt, als den
verlefenen? Wo begegneten fich je das unbedingt Gute und das voll
endete Böfe, der Himmel und die Hölle in unverdedtern und fchneis
dendern Gegenfäßen, ald hier? Das befchauende Herz droht den
gewaltigen Eindrüden, welche e8 von dem Ueberſchwange göttlicher
Liebe auf der einen, und der Zülle fatanifcher Bosheit auf der ans
dern Seite bier empfängt, fchier zu erliegen. Eine Scheidefcene
iſtss, vor der wir ſtehen, und zwar der traurigften und verhängniß-
vollften eine, welche die Welt gefehn bat. Jeſus und fein Apoftel
Judas gehn für immer auseinander. Kommt, ſehen wir zuvörderft,
wie diefe Trennung vor ſich gebt; und vernehmen wir dann
das Lebewohl, das der Herr dem unglüdfeligen Jünger
nachruft.
Diene unſre Erwägung uns zum Sporne, von ganzem Herzen an
den ums hinzugeben, der unfre einige Zuflucht vor dem Zorn, deffen
Scheidebrief dagegen nichts Anderes, als eine Anweifung auf Die
ewige Berdammniß ift.
1.
Noch einmal richten wir den Blick auf die Schaar, die wir an
der Schwelle des Delbergsgartens den Herrn überfallen ſahen. So
eben hat fie fih aus dem Staube, in den das „Ach bin's!“ Des
Herm fie niederwarf, wieder aufgerichtet. Unter den Dahingefchmets
terten war auch Judas. Man follte denken, diefe erneuerte Offen
%
238 Das Heilige.
barung der Majeftät Jeſu werde das verlorene Kind endlich wie ein
leptes Noth⸗ umd Feuerzeichen von feinem Berrätherwege haben ab»
ſchrecken muͤſſen. Und wer weiß auch, wozu es, ob auch aus fnechtis
fer Furcht nur, mit ihm gekommen voäre, wenn er jet nicht von
Zeugen umgeben gewejen, und mit feiner fogenannten Ehre dabei
nicht in's Gedränge gerathen wäre. Er hatte aber einmal die Ans
führerrolfe übernommen; und als weld’ ein Schwächling würde
er in den Augen feiner hohen Gönner und Helfershelfer erichienen
fein, hätte er diefelbe nicht entfchloffen dDurchgefpielt! Schauerliche
Berblendung, aus der Konſequenz auch im Böfen eine Tugend
machen zu wollen! Judas fachte die vielleicht auf Angenblide ge-
Dimpfte Flamme feiner Erbitterung gegen den Herrn dadurch in ſei⸗
nem Herzen wieder an, daß er ſich die bekannten Vorgänge bei der
Salbung zu Bethanien und dem letzten Abendmahle in Jerufalem im’s
Gedächtniß zurüdrief.e Genug, mit einem, freilich mehr erzwungenen,
als wirklich vorhandenen Heldenmuthe fteht er dort an der Spiße der
Meutererbande wieder vor uns. Ein erheuchelte® „VBorwärts!? Tiegt
in feiner Haltung; aus feinen ſcheuen Blicken aber, wie aus Dem
frampfhaft verbiffenen Munde und dem unruhigen Muslkelſpiele des
blaſſen Angefihts fpricht etwas Anderes. Doch er hat fein Wort ver:
pfändet, und den Vertrag mit dem Teufel abgefhlofien. Das Vers
rätherzeichen muß erfolgen. Die Hölle rechnet auf ihn, und würde
um feinen Preis auf den Triumph verzichten, den Nazarener durch
einen feiner eignen Apoftel fi in die Hände gefpielt zu fehen. —
Seiner Bertrauteften einer alfo wird fein Verräther! — Man hat
von dieſer fchauerlichen Thatfache taufendmal gelefen und gehört; und
doch, fo oft man ſich's wieder vorfagt, fteht man aufs neue beftärzt,
als vernähme man's zum erften Male. O, was diefer Judas uns
ferm Herzen zu fchaffen macht! Welche fchauerliche Räthfel = Erfchei-
nımg fchreitet in feiner Perfon durch die evangelifche Geſchichte!
Welche Aufgaben überweifet er der Seelenkunde zur Löſung, und in
welch” Gedränge bringt er und nicht blos mit unferer Dogmatik,
fondern felbft mit unferm Glauben!
Bevor wir in feinem Berrätherfuffe die reife Höllenfrucht feines in-
nern Verderbens anfchauen, werfen wir noch einmal einen flüchtigen
Kückblick auf den Entwidelungsgang feines inmern Lebens. Zu feiner
Biege treten wir im Geift. Zu Carioth erblicdt ein Söhnlein das
Licht der Welt, Vater und Mutter heigen’s mit Sreuden willlommen.
der Indadtuß. 239
Bielleicht Iefen fie an feiner Wiege arglos einen Pfalm; den 103ten etwa
oder den 128ften. Doc) wehe, dieſe wären nicht die rechten. Leſen folls
ten fie — ach, wenn fie es ahnten, — Pſalm 41, und drin die Worte:
„Auch mein Freund, dem ich) vertraute, der mein Brod aß, tritt mic) mit
Füßen ;” Iefen Pfalm 109, und da die Worte: „Seiner Tage müflen
wenig werden, und fein Amt und Bisthum müfle ein Anderer empfans
gen. Er wollte den Fluch, der wird ihm auch kommen; er wollte Des
Segens nicht, fo wird er auch fern von ihm bleiben; und er zog am
den Fluch wie ein Hemd, und der Fluch tft in fein Inwendiges de
fommen wie Waſſer, und wie eine geriebene Salbe in feine Gebeine.“
Diefe Palmen follten fie recitiren, und dazu, ach! ein Stüd des 22ften.
D, wenn fie e8 wüßten, daß das die Lieder feien für dieſe Wiege!
— Das Kind wird in den Tempel gebracht, dem Priefter übergeben,
mit dem Sakrament verfehn. Ach, was will dies Kind im Heiligthum
des Herm?! An ihm wird das Saframent nicht haften. Was fteht
gefchrieben Pfalm 69? „Seine Behaufung müfje wilfte werden und
es fei Niemand, der darinnen wohne.” Und was leſen wir Apoſtel⸗
geſch. 1, 20% Ach, was wir da Iefen, das fteht von dieſem Kinde
gefchrieben! — Das Unglückskind! — Uns fchaudert. Seine Eltern
wittern nichts, Wie follten fie etwas ahnen? Der Knabe waͤchſt ges
deihlich auf. Er ift der ftillern, der ernfteren und der vielverfprechens
den einer. Er zeigt mancherlei Anlagen, und felbit, wie man zu fagen
pflegt, Anlagen zur Religion. Wäre er ein gewöhnlicher Menfch
geweien, wie wäre er in den auserlefenen Kreis der Apoftel hinein,
gerathen? Nachdem Jeſus aufgetreten, ſcheint Judas, an menſch⸗
lihem Maßftabe gemeflen, vor Andern befähigt, deſſen großartige
Zwede fördern zu helfen. Er bietet fi) dem Meifter an, ımd Gott
der Herr vertritt ihm die Straße nicht, fondern läßt ihn herzu. ‘Der
Helland nimmt ihn gehorfam als einen vom Vater ihm Gegebenen
unter feine Flügel, und macht ihn fogar zum Zührer ihrer gemeins
fchaftlihen Kaffe Run ift Judas ein Ehrift, und mehr als dies.
Niemand weiß von ihm anders, al8 daß er ein wahrer Jünger, ein
andächtiger und hochbegabter Menſch, und jedenfalls ein bedeutender
Charakter fei. Nur der Herr Jeſus durchſchaut ihn bald, und findet
in feinem Innern noch etwas Anderes. Er gewahrt in ihm eine böfe
Wurzel, die aber in unſerm Herzen auch gefunden wird, und fomit
nicht gerade etwas Außergewöhnliches ift. Geiz tft die Wurzel, und
zwar Das Wort in feiner weiteren Bedentung genommen: Geldgeiz
240 Das Heilige.
und Ehrgeiz; mit einem Worte: Egoismus, d. i. die allen na⸗
tärlichen Menfchen gemeinjame fündfiche Richtung auf die ausfchließ-
fiche Befriedigung, Erhebung und Verherrlichung des eignen Ich. Was
den Judas in die Gemeinfchaft mit Jeſu führte, war höchft wahrfchein-
lich mit die Hoffnung, im Reiche dieſes wunderthätigen Meifters eins
mal eine Rolle zu fpielen. An böfem Zündftoff fehlte es mithin in
Indä Innerem nicht, Den erften Verfuchungsfunfen wirft die Kaffe
in fein Herz. Judas wird ein Dieb, Er vergreift fich an dem frem⸗
den Gut ein Mal, und abermals, und wieder, und — er verfchweigt
ed. Mein Gott, warum befennt er’s nicht und thut nicht Buße? Ya,
daß er dies nicht thut, wird eben fein Unheil. Aber geftände er, fo
wäre ja feine Ehre dahin, und fein Gelddurft bliebe ungeftillt. So
bleibt die Laft auf feinem Gewiſſen liegen. Bon Stund an ift fein
Berhältniß zu Jeſu ein verändertes. Die Gegenwart des Heiligen
wird ihm unbequem; denn wie ein heller Spiegel wirft feine Reinheit
die eigne Schwärze ihm zurüd. Aber wenn er dieſe feine Schwärze
erfennt, warum beugt er fid) nicht, und entrinnt dem Fluche? Ja, daß
er dies eben nicht thut, ift unfer Kummer und fein Fluch. Um kei⸗
nen Preis gäbe er fein Inneres bloß. Es mochte manchmal des Herm
Wort ihm wie ein Donner in's Gewiffen fchlagen; aber er überwand
des Wortes Wucht, und gewann eine immer größere Hebung in fol-
hem Ueberwinden. Er argwöhnte manchmal, daß Jeſus ihn miß⸗
traue; aber dann fchmeichelte er fid) mit der Hoffnung, er könne ein
Wort, einen Blid des Meifters falfch gedeutet haben. Doc) der Arg-
wohn reicht fchon hin, fein Herz dem Herm Jeſu zu entfremden, ja
ſchon eine gewiffe Bitterfeit gegen Ihn ihm einzuflößen. Endlich,
bei Gelegenheit der Salbung in Maria’8 Haufe, wird's dem Judas
fonnenflar, der Herr habe wirklich ihn ergründet. Verhängnißvoller
Moment! Was begibt fih? Alle Gift- und Geiferblafen in Judas
Herzen ergießen ſich. — Wie, und noch thut er nicht Buße? Nein,
er entbrennt vielmehr in wilden Rachedurft gegen den, der ihn zu
durchſchauen, und noch dazu vor den andern Juüngern bloßzuftel-
len wagte. Mein Gott, warum fchlägt er nicht noch an feine Bruft,
und errettet feine Seele? — Ach, Brüder, er it fhon des Satans
Beute, und flürzt, -ftatt Buße zu thun, jetzt durch die Nacht dahin zu
den Hohenprieftern, um, ihr wißt wozu, ſich ihnen anzubieten. Nichts-
deftoweniger wagt er fih noch einmal in die Nähe Jefu und den
Apoftelkreis zurüd, Wozu das? Etwa um jept Belenntnig abzulegen,
Der Inbaikuf. Bat
and reumüthig fein Inneres zu erfchliegen? — Hofft es nicht. Ba
die Larve eines Unfchuldigen vermummt tritt er daher, und fegt ſich,
als wäre nichts gefchehn, mit den Uebrigen zu Tiſche. Da ſpricht
Jeſus ernft und feierlich: „Wahrlich, ich fage euch, Einer unter auch
wird mid) verrathen.“ Und die Jünger fragen nach der Reihe, ums
endlich beitürzt: „Herr, bin ich es, Herr, bin ich es?“ Nur Eine
fragt nicht mit, fondern taftet mit erheuchelter Unbefangenheit in bie
Schüffel. Da lüftet Jeſus den Schleier ganz, und fpricht: „Der die
Hand mit mir in die Schüffel taucht, der wird mich verrathen.? —
Run entgegnet Judas halb troßig, halb verzagt: „Bin ich es, Rabbit?
— „Du fageft es“, fpriht Jeſus. Denkt, weld’ ein Augenblick!
Was gibt ed nun? Sinkt Judas erfchüttert Ihm zu Füßen und ſchreit
um Erbarmung? — Nein; vielmehr fährt jegt der Satan vollends
in ihn. Mein Gott, warum thut er denn nicht noch Buße? — Ad,
daß er auch jetzt noch fein Herz verhärtet, ift eben fein Untergang.
Er Schlägt in feinem Wahnfinn eher Alles in die Schanze, als fein
Ich. Statt zur Buße fich zu bequemen, eilt er, mit Höllenplänen
fchwanger, durch die finftere Nacht dahin, und fiehet den Meiſter erft
in dem Diomente wieder, in welchem er demfelben heute als der Füh⸗
rer jener Meutererbande begegnet. Er ift nun ganz des Abgrundéfür⸗
fin. Schauerlicher Entwidlungsgang! Bor Allem darum jo ſchauer⸗
lich, weil Judas von Haus aus fein Böfewicht vor andern, fondern ein
Menſch war wie wir, derfelben Natur mit uns theilhaftig. Er machte
nur fein Ich zu feinem Gott, und das in bleibender, bebarrlis
her Weile. Hörts, ihr Mammonstnechte, ehe auch euch der Satan
gänzlich hinnimmt! — Er wollte mit feinem verborgenften Herzens
grunde nicht an's Licht. Vernehmt's, ihr verftodten Pharifäer, umd
erzittert. — Er fcheute vor dem Gedanken zurüd, als ein um Gnade
bettelnder Sünder zu Jeſu Füßen zu erjcheinen. Ihr eigengerech⸗
ten, ungebeugten Geifter, nehmt e8 zu Herzen und fahrt zufammen!
Er gedachte fich lieber durchzulügen, als ſich bloßzugeben. Merite,
ihr übertündten Gräber, daß dies der Weg zur Hölle iſt! Gs
verdroß ihn und erfüllte ihn mit Unmuth, wenn Jefu Blid und Wort
ihm in's Gewiffen fuhr. Erſchreckt vor eurem Stande, wenn es euch
auch alfo ergeht! Es kochte allmälig ein giftiger Brodel von Grimm,
von Widerwillen ımd bittrer Galle gegen Jeſum in ihm auf. Ad, we
dergleichen ſich entzündet, da tft des Teufels Werk ſchon weit gediehen.
Ya, wo man, ob auch feiner Sünde überführt, dennoch fein. armer
16
ar Oad Heilige.
Sünder fein, noch Jeſum für fein Eins und Alles halten will, Da
it dem Teufel breite, ebene Bahn gemacht, und es fteht bie Hölle da
ſchon ſperrweit offen! —
Aber konnte Judas überhaupt noch felig werden, nachdem fein Uns
tergang getveiffagt war? O Brüder, fein Untergang wäre nie geweiflagt
worden, hätte Gott vorausgefehn, daß Judas das ihm dargebotene Heil
ergreifen werde. — Aber mußte nicht jetzt die Schrift erfüllet werden,
nachdem fie einmal des Judas 2008 verkündet hatte? — Sie mußte
freilich, wie Jeſus felbft bezeugt; aber des Judas Schuld wird das
durch nicht vermindert. — Wäre es denn jenem Menfchen nicht befier
geweſen, er wäre nie geboren worden? — Allerdings, viel beffer, wie
Dies Jeſus felbft bezeugt. Aber fand es denn nicht bei Gott, die
Geburt des Unglüdfeligen zu verbinden? — Welche Frage! Was
follte bei Gott unmöglid) fein? — Aber warum, du Grundbarmherziger,
ließeſt du ihn doch das Licht der Welt erbliden?! — Sa, fragt nur
fo; eure Frage kehrt als Echo zu euch zurüd. — Und warım, nad
dem er geboren war, verſetzteſt du, Gott aller Gnade, ihn in die Nähe
deines Sohnes, in deffen Lichte er nur zum Zode reifte? — Ya, fragt
ur; euer Warum verhallt in den Firmen der Ewigkeit. — Und du,
leutfeligfter der Menfchenfinder, Zefu, warum vertrauteft du gerade
ibm, dem verfuchungsfähigften der Zwölfe, den Beutel m? — DO,
laſſet ab von eurem Fragen, lieben Brüder! Hienieden ſchweigt der
Hünmel über euren „Warums“. Einſt wird er Antwort geben. Wollt
ihr aber hier ſchon Antwort, fo hört; aus Gottes Wort tönt fie
euch entgegen, und lautet: „Schaffet mit Furcht und Zittern,
daß ihr felig werdet!” Hiernach thut. Im Uebrigen die Hand
auf den Mund gelegt, und feit vertraut, daß Gott gerecht fei in allen
feinen Gerichten, und heilig in allen feinen Wegen! —
Doch zurüd zu dem Schredensauftritt in unferm Texte! Es ift
wahr, durch das freie Hervortreten Jeſu und feine majeftätifche Selbft⸗
offenbarung war das verabredete Verrätherzeichen überflüffig geworden.
Nichtödeftoweniger verftand fich Die Rotte nicht Dazu, dem Judas dass
felbe zu erlaffen, nachdem ed mit den dreißig Süberlingen bezahlt
worden war, und weil's Den Meuterern zu einer Art Gewiflenserleich-
terung gereichen konnte. „Löfe dein Wort!“ winkten ihre Blicke ihm
zu; und Judas, theils um ſich die Ehre feines erheuchelten Helden
thums zu reiten, theils um den entmuthigenden Eindrud zu vers
Inugen, den das. niederfchmetterude Machtwort des Meifters in ibm
Der Tudebtut. 2
hervorgerufen, theil® auch, um in fchwächlicher Feigheit durch das mit
ſchmeichleriſchem Gruß verfnüpfte Liebes zeichen wu möglich den Arm
des Heiligen in Iſrael gegen ſich zu ent waffnen, — (denn er zitterte
innerlich vor Seinem Zorn, und das zu den Häfchern gefprochene:
„Greifet ihn, führet ihn ficher, * erfcheint nur als Ausfluß feiner Furcht
und Sorge, und nicht, wie Manche e8 haben deuten wollen, als $ros
nie, die den Sinn gehabt hätte: „Es wird euch doch nicht gerathen;
in zu halten,“ — fchreitet er unter der Larve vertrauter Befreundung
auf den Herm zu, bewilllommt ‚ihn mit der Formel herzlichen Wohl⸗
wollens: „Begrüßet feift du“, fpricht mit erheuchelter Zärtlichkett
fein „Rabbi“, ımd wagt es, einer giftgefchwollenen Natter gleich,
die aus einem Rofengehege hervorzifcht, die heiligen Kippen des Mew
fchenfohnes unter dem Beifallsrufe der Hölle mit feinem Verrather⸗
kuſſe zu beflecken! —
Dieſer Kuß iſt das Ruchloſeſte und Verabſcheuungswuͤrdigſte, was
im finſtern Bereiche menſchlicher Suͤnde und Entartung je zu Tage trat.
Auf dem Boden nicht etwa der teufliſchen, ſondern der menfds
lihen Natur, ift, wen aud nicht ohne dämoniſche Einfläffe,
denen jedoch mit freier Entfcheidung Raum gegeben war, jener Frevel
erwachfen, und darum feiner ganzen Verruchtheit nah unferm Ges
ſchlechte al8 ſolchem zuzurechnen. Er entfchleiert; als die voll
ftändig erfchloffene Blüthe deffelden, den „Schlangenfamen“;
den wir, gleichviel, ob er zur Entfaltung gelangte, oder noch unents
widelt in uns [hlummere, ſämmtlich auf dem Grunde unfres We⸗
fens tragen. Uns Alle verdammt er; ftellt aber damit zugleich die
unbedingte Nothwendigfeit einer Sühne, Vermittlung und Ges
nugthuung zur Rettung unfrer Seelen außer Frage. Der Judaskuß
bleibt im Gebiete der Moral der Schild mit dem Medufenantlig, vor
welchem der Pelagianer mit feiner Theorie von des Menfchenherzens
natürlicher Güte erflarren muß. Es ift jener. Kuß das unauslöfdke
liche Brandmal an der Stirn der Menfchheit, durch das ihr ganzer
Tugendſtolz das Gepräge des Wahnwitzes und der Lächerlichkeit erhält,
Und möchte jener Kuß des Berräthers nur der einzige feiner Art ges
blieben fein! Aber in geiftiger Weiſe hat Jeſus denfelben bis zu dies
fer Stunde taufendfältig zu erleiden. Denn Ihn heuchlerifch mit dem
Munde befennen, während man mit dem Wandel läfterlich ihn bloß»
ftellt und verdächtigt; die Tugenden Seiner Menfchheit bis zum Him⸗
mel erheben, während man ihn feiner göttlichen Herrlichkeit ent⸗
16*
244 Das Hellige.
Heidet, und die Krone der überweltlichen Majeftät Ihm vom Haupte
reißt; Ihm, wie das Gefchlecht diefer Zeit es vermag, begeifterte
Hymnen und Oratorien fingen, während man außerhalb des Con⸗
certfanles fich nicht allein feines heiligen Namens fchämt, fondern in
Wort und That fein Evangelium mit Füßen tritt: was ift dieſes AL
le8 Anderes, als ein Judaskuß, mit dem man Sein Angeficht zu
befleden ſich erfreht? Der Heiland ftirbt an folchem Kuſſe freilich
nicht; du aber, der du einen foldhen Ihm zu bieten dich erfühnft,
wirft daran fterben. Ruhm und Ehre, Hab und Gut, Gefundheit umd
Leben verlieren, verfchlägt nicht viel, Für alles Diefes ift reicher Er⸗
ſatz vorhanden. Uber Zefum verlieren umd veräußern, ift der Tod
und die Hölle: denn Er ift das Leben und die Seligleit und der
lebendige Inbegriff alles Defien, was irgend Friede, Heil und Segen
heißen darf.
2.
„Rabbi, Rabbil* So der Verräther. Zwei giftige Dolchſtiche
in des Heiligen Herz! Er nimmt fie gelafien hin, und felbft den von
der Hölle entzündeten Kuß wehrt er nicht von fih ab. Er weiß,
warum er auch bier fi) Duldend hingiebt. War doch auch dieſes
Herzeleid ein Tropfen des ihm zugemeflenen väterlichen Kelches, und
fand Er doc) felbft auf dem Grunde dieſes fehauerlichen Vorgangs
nur den Rathichluß des allmächtigen Gottes. Judas war des Satans
und zugleich Gottes Werkzeug. Er wollte den Herrn feinen Feinden
in die Hände fpielen, und der ewige Vater wollte ein Gleiches.
Wunderbarer Einklang zwifchen Himmel und Hölle, dem Kabinet jen⸗
feits der Wolfen, und dein Abgrunde dDieffeits! Vollſte Ueberein-
flimmung in der That; aber welche Kluft und Scheidung in der Ab;
fit! Gott kannte das Verderbenskind ſchon lange; aber er zögerte,
es zu zerfchmettern. Längft durchichaute Gott feinen ſchwarzen Anfchlag;
aber er ſchloß ihm die Schranken nicht, fondern öffnete fie. Gott der
Allfehende war Zeuge, wie er die Silberlinge aus der Priefter Häns
den hinnahm; Doc, ließ er das Blutgeld in feiner Hand nicht eher
glühend werden, bis der Verlorene den Berrath vollzogen hatte. Mit
Einem Hauche feines Mundes hätte Gott den Greuelmenfchen vernichs
ten Tönnen; aber er ließ ihn leben, bis derfelbe frevelnd fein Wort
gelöft, und erft Dann fchleuderte er ihn hinunter in den Feuerpfuhl.
Wie, fo waltete der heilige und gerechte Gott? — So waltete er!
„Schwert*, fprach er, „mache Dich auf über meinen Hirten;* und ein
Stück diefes Schwertes war auch Judas. — Aber war denn Gottes
Zom gegen den Heiligen in Jfrael entbrannt? Wie mögt ihr fragem!
Jeſus war umd blieb der Eingeliebte, an dem er Wohlgefallen hatte,
Aber ein „Entweder Oder” lag bier vor, über welches, daß ich menſch⸗
li rede, Gott felber nicht hinweg zu kommen wußte. Entweder
mußten wir dem Mörder von Anfang ewig preisgegeben werden, oder
für und und an unſrer Stelle, Jeſus. Wie aber der Bater ſanmt
dem Sohne dazu fam, zu Letz terem ſich zu entfchließen, darnadı fragt
mich nicht. Daß Ihm fogar ein folder Zahlpreis nicht zu hoch er⸗
fdyien, um uns Sünder damit aus einer taufendmal verdienten Ver⸗
dammniß berauszufaufen, Dies überfteigt mein Berftändnig, wie das
eure. Er fonnte und eben nicht verloren gehen fehn, fondern wollte
und retten. Wir reden von Liebe hier, von Barmherzigkeit,
von einem Dcean der Güte, von einem Abgrund der Erbars
mung; aber alles dies ift mur ein armes Stammeln, ein Dürftiges
Lallen von der unausfprechlich großen und mnausforfchlichen Sache. Im
unfrer Sprache ift fein Wort, das auch nur einigermaßen die flam⸗
mende Inbrunft im Weſen Gottes würdig bezeichnete, aus welcher dies
fer Retter: und Berföhnungsplan hervorging. Genug, „Gott warf alle
unfre Sünden auf den Sohn,” und ſchrieb Ihm unfre Schulden zu,
Damit wir Schuldner, aller Laſt entbürdet, auf Grund Seiner Zah⸗
lung, des Erbtheils der ewigen Wonne theilhaftig würden.
Doch in die Geſchichte jebt den Blick zurüdigewendet, ımd auf
das Verhalten des Herm gegen den Berräther unfer Augenmerf ges
richtet! Eine Engelfanftmuth würde eine Probe, wie fie jene raffinirte
Unthat Ihm bereitete, nicht beftanden haben. Hier aber ift mehr,
als Sanftmuth, Leidfamkeit und Geduld eines Engels. Der Jüns
gerkuß felbft ſchon gibt der uͤbermenſchlichen Sanftmuth des Herm
Zeugniß; denn wie hätte der Apoſtat gerade dieſes Zeichen zum Ver⸗
rätherſignal erwählt, wäre er ſich nicht der Langmuth feines Meiſters
als einer unbegrenzten bewußt geweſen? So mußte er mit demſel⸗
ben Kuſſe, durch welchen er Ihn den Henkern überwies, den Herrn
preifen, und unfre Vorftellung von der unendlichen Herablaffung und
Liebe, deren er Seitens des Meifters ſich zu erfreuen gehabt, nur ſtei⸗
gern, indem er ja nimmer fein Bubenſtück gerade in die Larve der
Vertraulichkeit zu verhüllen gewagt haben würde, wenn ihn nicht Die
taufendmal erprobte unendliche Leutfeligfeit des Meifterd Dazu ermu⸗
thigt hätte. Ach ja, daß ber. Berräther es wagen durfte, fo Ihm
248 Dal Heilige.
gu nahen, das beurkundet der Herr aufs neue theils durch feine lei⸗
Dendliche Hingebung an die erheuchelte Umarmung des Abtrünnigen,
theils durch den Geiſt des Mitleids und der Milde, der fein letztes,
ach fein Abfchiedswort an ihn, durchathmet.
„Mein Freund“, beginnt der Herr mit wehmüthigem Exnfte,
„warum bift du gelommen?* Wer hätte diefe Lindigfeit bier
erwarten follen? Ein „Hebe dic; von mir, Satan”, oder ein „Daß
du verdammt wäreft mit deinem Joabskuß, du übertündhtes Grab! *
wäre hier viel mehr an feinem Orte gewefen. Statt deffen tönt uns
eine Stimme an, wie eines noch einmal zärtlih um die Seele feines
tief verirrten Kindes werbenden Vaters Stimme. Allerdings aber
würde ein Ausbruch flammender Entrüftung für den Verräther fo vers
nichtend nicht gewefen fein, wie es dieſer Hauch mitleidiger Liebe
für ihn war. Das „Freund“, oder wie das grundtertliche Wort
richtiger verdeutfcht wird, „Genoſſe“, führt ihm noch einmal die ganze
bevorzugte Stellung vor, deren er als ein in den Kreis der Vertrau⸗
teften des Herrn Aufgenommener gewürdigt worden war, Diefe Ans
rede gemahnte ihn an die taufendfachen Erweifungen unausfprechlicher
Freundlichleit und Huld, mit denen er drei ganze Jahre hindurch in
der unmittelbarften Nähe und treuften Hirtenpflege des Hofdfeligiten
der. Menſchenkinder fich überjchüttet fah. Und wie hätte, wenn noch
eine unverhärtete Stelle in feinem Herzen zurüdgeblieben wäre, diefe
Rücerinnerung ihn ergreifen und zermalmen müffen! Es lag aber in
der unverholenen Hindeutung des Herrn auf das Verhaͤltniß traulicher
Genoſſenſchaft, in welchem Judas zu Ihm geftanden hatte, zugleich ein
zerfchmetterndes Gericht für die Meuterer, welche der Führung eines
Menſchen ſich anzuvertrauen nicht errötheten, den fie felbft in ihren
Herzen als einen Auswürfling ohne Gleichen verachten mußten. Ein
Ehrloſer, der ſich nicht entblödete, einen treuen Freund und Brod⸗
berrn, von dem er nur Wohlthaten genoffen, fo tüdifh und mit fo
verruchtem Undank preiszugeben, ja mit Füßen zu treten, trug ihnen
die Fahne voran, und theilte unter ihnen die Tagesloſung aus.
Welche Erniedrigung lag darin für fie; welche Schmach und Schande!
Doch der verhärteten Brut ging's in dem Augenblid nur um das Eine,
Daß Jeſus falle, und feine ihnen fo verhaßte Sache den Zodesftoß
empfange; und dieſes mörderifche Begehren nahm dergeftalt ihre ganze
Seele ein, daß darin felbft für die Intereffen ihrer Ehre kein Raum
mehr blieb. — „Genoffel “ fpricht der Herr, und fährt Daum fort:
Der Judaltuß. 843
„Zu was bift Du gekommen,“ oder: „wozu ftehft du hier?“
— Diefe Frage, obwol immer noch lockende Liebe athmend, treibt Dem
Berräther den Stachel des dDurchbohrenden Vorwurfs noch tiefer ws
Marl. Zugleich aber laͤßt fie noch einmal die nachdrucksvollſte Auf
forderung an ihn ergehn, ſich jetzt in dieſem allerlegten Momente vor
feinem fchließlichen und rettungslofen Anheimfall an die Höllenmächte
noch auf fein unfelige8 Unterfangen zu befinnen. „Wozu bift dx
da?" — ie ein ſchreckender Donner rollt diefes furchtbar inquifi⸗
torifche „Wozu“ Durch des Berräthers Herz. Im Nu ift fen Ge
wiſſen von feinem Zodesfchlaf erwacht, und fühlt ſich wie von allmäch⸗
tiger Hand vor die Schranfen des Richterthrones Gottes fortgeriffen,
Saft ift Dafjelbe, nothgedrungen, ſchon im Begriff, auf das „Wozu“
Befcheid zu thun, und zwar den wahren ımd ungefälſchten Bes
ſcheid, der den Berräther zu einem Kinde des Fluchs und einem Erben
der Verdammniß geftempelt haben würde. Aber wie Judas Diefen
Durchbruch der Wahrheit in feinem Innern ſich vorbereiten fuͤhlt
ſtemmt er ſich mit Macht gegen fein eignes Gewiſſen am, erſtickt das
Wort des Geftändniffes gewaltſam auf des innern Richters Lippe,
reiht dDiefem den Gifts und Zaubertrank erneueter Selbftbelügumg,
und bringt's mit der Geläufigfeit eines in fo heillofer Kımft Erfaßs
tenen und Geübten wirklich fertig, denfelben auch diesmal wieder
zum Verſtummen zu nötbigen und zu betaͤuben. Da bleibt denn beik
Herrn nichts weiter übrig, als nun auch noch den Schlag auf filme
Herzensthüre fallen zu laſſen, welcher, wern es auch ihm nicht gelingt,
fi heilwirfend Bahn zu brechen, dem Berräther die Stelle des Glok⸗
kenklangs vertritt, der ihm den Moment feiner vollendeten Todesreiſt
und feiner ewigen VBerwerfung anzeigt. Der Herr nennt ihn jegt
beim Namen, etwa, wie man einen Mondfüchtigen, den man nacht
wandelnd einem Abgrunde entgegenfchreiten fieht, bevor er in denfelben
hinabftürze, durch feines Namens Nennung aus feinem verhängnißents
len Traume zu weden hofft. „Judas!“ ſpricht der Herr mit flarfer
Betonung, als ob Er, damit zu feiner Rettung nichts umverfucht ges
blieben fei, ihn auch noch bei feiner Ehre faffen und zu ihm fagen
wollte: „Gedenkſt du denn nicht, wie du, benannt nad) dem edlen Kern⸗
und Fürſtenſtamme des ausermählten Volles, deſſen Zweig du biſt,
von Kindheit auf durch die Bedeutung deines Namens ſchon zu einem
Berherrlicher Gottes verordnet bift; und Du vermagft es, jeht fo
zu mir zu kommen?“ — Jundas!“ fpricht der Herr. Und nachdem
28 Dis Hellige.
er den Mann genannt, bezeichrtet er num auch mit unverbrämten Wor⸗
sen feine That. Doc hören wir ihn auch jetzt noch in liebevollſter
Netterabficht feiner Nede eine ſolche Wendung geben, als vermöchte
& an die Möglichfeit des Vorhabens feines Jüngere wirklich noch
nicht zu glauben. Daſſelbe immer noch ſchonungsvoll, und mit erneuer⸗
tem Aufruf an Das Gewiffen des unglüdjeligen Jüngers, in Frage
ſtellend, fpricht er: „Berräthit du des Menfhen Sohn mit
einem Kuß?“ — Jedes diefer Worte hat feinen Nachdruck. „Vers
raͤthſt.“ — Furchtbares Wort, das nun endlich das Verbrechen in
feiner Nacktheit hinftellt! — „Du. — Mein Bertrauter, der mein
Brod aß, follteft Du folchen Frevels fähig fein? — „Des Menſchen
Sohn.“ Ihn, der nur Liebes und Gutes dir erwies, aber einft
nach Danield Zeugniß zum Gericht in des Himmels Wolken wieder:
kehren wird, könntet du verrathen? — „Mit einem Kup.” — Mit
‚dem Zeichen der Befreundung und der Liebe verräthft du ihn?
— Judas, du fönnteft Liebe lügen, und Mord im Schilde füh—
ren?“ Der Herr fragt’s, und Judas? — Ihr wißt, er hat in des
Satans Kraft die Frage beantwortet mit jenem Verbrechen, das feinen
Ramen zur fprüchwörtlichen Bezeichnung des Gräßlichften und Ders
ruchteſten in der Welt geftempelt hat, und welches ihn, felbft mit dem
Brandmal des göttlichen Fluchs an der Stirn, für ewige Zeiten als
Schrederempel für die Menfchheit an den Pranger der Weltgefchichte
Rellte. — Verräthſt du des Menfhen Sohn mit einem Kup?“
Dies alfo der Abfchiedsgruß, mit welchem der beflagenswerthe Jünger
von dem einigen Retter der Sünder auf immer verlaffen wird. Wehe
dem Unglüdfeligen! „Nun ift er unfer!“ trinmphirt die Hölle, und
vom Himmel ber wird fein Einfpruch dawider laut. Ueber des Judas
Haupt aber rollt wie dumpfer Donner jene Frage heute noch dahin.
— Einst aber entfleidet fi das Wort feiner Fragenden Form, und
verwandelt fi dann in ein richterlich nadtes „Du verrietheft des
Menfhen Sohn mit einem Kuß!“ —
Zief erfehüttert, Brüder, gehn wir heute auseinander. Laſſen wir
aber, was wir angefchaut, zu feiner vollen Wirkung in uns kommen!
Kein pharifäifches „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin, wie jener
dort,“ fchwäche diefe Wirkung! Wir find dem Keime nad, was er,
umd können's, ehe wird uns verfehen, auch der Entfaltung nad
fein, wofern wir uns nicht bei Zeiten unter die Hut der Gnade ftellen.
DE Teufel hat nicht aufgehört, wie ein brüllender Löwe umberzugehn,
Der Iubaituh. 249
und zu fuchen, welchen er verfchlinge; und der Weg, der von der ex
ften Entwidelungsftufe der Sünde zu der legten führt, ift, fo lange
wir uns felbft gelafien find, oft ſchnell zurüdgelegt. Säumen wir dar
um nicht, unfre Seele in Sicherheit zu bringen, und hüten wir unfer
Herz, wie eine von Feinden ringsum befagerte Stadt gehütet wird,
Suchen wir aber die Schubwehr da, wo fie allein zu finden ift: unter
den Flügeln Ehrifti; und machen wir den Geufzer des erleuchteten
Sängers zu dem unfern:
Treib und an,
Jeſn, daß wir immer flehn,
Und an unfrer Kraft verzagen;
Laß und ſtets die Feinde ſehn,
Und die Seel’ in Händen tragen.
Hilf und Kündlic) fort auf rechter Bahn;
Treib und an!
Nimm und ein,
Jeſu, nimm und ein und auf:
Rimm und ein in deine Wunden,
Und nach wohlvollbrachtem Lauf
Nimm und auf in legten Stunden,
Daß wir in Dir völlig ſicher fein;
Nimm und ein! — Am. —
— —
XXI.
Schwert und Kelch.
Als David auf jener ſchmach⸗ und drangſalsvollen Flucht vor ſeinem
empoͤreriſchen Sohne nach Bahurim kam, ging, ſo berichtet die Ge⸗
fhichte 2 Sam. 16, 5—12, ein Mann daſelbſt heraus, vom Geſchlechte
des Haufes Saul, der hieß Simei, und übergoß den gebeugten König,
indem er zugleich mit Koth und Steinen nad ihm warf, mit einer
Flut von Läfterungen und wilden Flüchen. Es gewährte dem fei-
gen Buben feine geringe Luſt, auf dem verwundeten Königslöwen fo
mit feinen Füßen jept herum zu treten, „Hinaus, hinaus aus dem
250 Das Heilige.
Lande; “ geiferte er, „hinaus, du Bluthund, du Iofer Maun, du Bes
lials⸗Kind! Der Herr hat dir vergolten alles Blut des Hauſes Saul,
daß du an feiner Statt bift König worden, Nun bat der Herr das
Reich gegeben in die Hand deines Sohnes Abſalom; und fiehe, nım
ſteckſt du in deinem Unglück; denn du bift ein Bluthund!“ — ‘David
hoͤrts, leidet’s, fenkt fein Haupt und ſchweigt. Nicht aber aljo fein
trener Paladin, Zerujas Sohn, Abifai. Dem beginnt das Blut
zu fochen, und mit zornbligendem Auge zu feinem Gebieter gewandt,
fpricht er, Die Hand an des Degens Knauf: „Sollte dieſer todte Hund
meinem Herrn, dem Könige, fluchen? Ich will hin, und ihm den Kopf
abbauen! „So recht!“ fprechen wir, „dieſer Ritter thut, wie ihm ges
ziemt!“ Und Abifat geht nicht mit leeren Worten um. Indem er
Spricht, hat er auch fchon fein Schwert gezückt, Aber da vertritt der
König ihm den Weg, und entgegnet dem Grimmentbrannten: „Was
babe ich mit euch zu fchaffen, ihr Kinder Zeruja? Lafjet ihn fluchen,
denn der Herr hat's ihn geheißen: Fluche David! Wer kann nun fas
gen: Warum thuft Du alfo?* — Und David fuhr fort zu Abifai und
feinem ganzen Gefolge, und fpradh: „Siehe, mein Sohn, der mein
Fleifh und Blut ift, ftehet mir nach meinem Leben; warum nicht auch
jet der Benjaminite? Laſſet ihn gewähren, daß er fluche; denn der
Herr hat's ihn geheißen. Vielleicht wird der Herr mein Elend anfehn,
und mir mit Güte vergelten fein heutiges Fluchen.“ — So der König
in unendlicher Beugung vor Gott, als aus deffen Hand er alle dieſe
Schmad und Unbild als gerechte Heimfuchung für feine Miffethat
bußfertig hinnimmt. Bedurfte es noch eines Zeugniffes für die Auf⸗
richtigkeit feiner Zerknirſchung, fo war daſſelbe in dieſem „Laffet ihn
fluchen!“ reichlich gegeben. Simei fährt jegt nur um fo dreifter mit
feinen Schmähungen und Steinwürfen fort. Der König aber läßt ſich's
geduldig gefallen; denn „Herr, Deine Ruthe iſt's, die mich züchs
tigt," denft er.
Wie in unzähligen Momenten feines Lebens, fo erfcheint David
auch hier wieder ald Schatte und Vorbild feines großen Sprößlings
nad) dem Fleifche, des Sohnes Gottes, des Königs aller Könige. Wir
nähern uns heute einem Auftritt, in welchem die ganze Scene bei Bas
hurim, in größerem Mapftabe nur, fi) wiederholt. Simei, wie
Abifai treten auch hier wieder auf; nur ift bier mehr, dem David,
der König Iſraels.
ie Ge
Schwert ud Kell. 281
Matthãus 26, 5i—5A. Mareus 14, 47. Sucas 22, 49 -31.
Ishanncs 18, 10 u. il.
Da aber fahen, bie um ihn waren, was ba werben wollte, ſprachen fie zu The:
Herr, follen wir mit dem Schwerte barein ſchlagen? Und fiebe, einer aus denen, bie
mit Jeſu waren und dabei flanden, Simon Betrud, hatte ein Schwert, und zog 8
and, und redte die Hand aus, und ſchlug nach des Hohenpriefterö Knecht, und hieb
ihm fein rechtes Ohr ab; und der Knecht hieß Malchus. Iefns aber antwortete und
ſprach: Laffet mid fo lange. Und ſprach zu Petro: Stede dein Schwert an feinen
Drt in die Scheide: denn wer bad Schwert nimmt, der ſoll durch'ß Schwert umfom-
men. Sol ih den Kelch nicht trinfen, ben mir mein Bater gegeben hat? Oper
meinft du, daß ich nicht Lönnte meinen Vater bitten, daß er mir zufchide mehr denn
zwölf Begionen Engel? Wie würde aber die Schrift erfüllet? Es muß alſo u
Und Er rührte fein Ohr an, und heilete ihn.
Ein feltfamer Zwifchenaft unterbricht für einen Augenblid die eben⸗
mäßige Enwicklung der heiligen Baffionsgefchichte, und dient uns zu
erneutem Zeugniß, wie fchwer es dem Gedanken des Menfchen wird,
zu den Gedanken Gottes, wie fie namentlich im Werke der Erlöfung
ſich entfalten, fich zu erheben. In unſrer heutigen Scene geſchieht et
Schweriftreih, welcher, obwol von der allerbeiten Meinimg begleitet,
dennoch gegen nichts Geringeres, ald gegen den Grund alles Hetis
der Welt gerichtet ift. WBünfchen wir uns Glüd, daß die ewige Liebe
ihre Wege geht, und unfern Beirath zu ihrem Thum nicht beanſprucht.
Simons Schwert und Jeſu Kelch find die beiden Hauptute⸗
mente unfter heutigen Erwägung. Knuͤpfe an fie der Herr Den Segel;
daß wir den falfchen von dem rechten Eifer fir die Sache Jeſu ums
terfheiden lernen, und im Berftändnig des eigenften und innerfteit
Weſens des Königreichs der Hünmel eine heilfame Förderung erfahren.
1
Nah dem mildsernften, aber um fo zermalmendern Worte an den
Berräther öffnet nun der Herr den Meuterern die Schranken, und
bietet ihnen willig feine Hände dar. Mit kinftlich heraufbeſchworner
Entfhloffenheit dringen fie auf ihn ein. Entfeplicher Moment! Der
Herr der Herrlichkeit einem Raubmörder gleich umzingelt und über⸗
fallen! Die Yünger fehen’s; aber diefer Anblick verſetzt fie außer fi.
Wenn ihnen beim Verraͤtherkuſſe vor Grauen das Blut erftarrte, ſo
beginnt e8 ihnen jet in den Adern zu fochen. Nein, daß es bis das
bin Eomme, dürfen fie nicht dulden. „Herr,“ fprechen fie wie mit
einem Munde, „follen wir mit dem Schwerte drein fchlas
gen?" — Sie thuen wohl daran, daß fie erft fragen; aber Die Brage
252 . Das Hellige. .
tft freilich nur Form, und bewußtlos bingefprochener Gewohnheits⸗
laut. Denn indem fie diefelbe ansprechen, ertheilen fie fich auch
ſchon felbft die Antwort; und ehe der Meifter auch nur zu einer
Sylbe Zeit und Raum gewinnt, ift Petri Schwert fchon aus der
Scheide, und der erfte Schlag der Gegenwehr gefallen. Wir verfies
ben Simons Herz. Zu gewaltig wurmte den feurigen Jünger nod)
das „In diefer Nacht — —“, welches der Herr auf dem Wege zum
Delberg zu ihn gefprochen hatte. „Rabbi“, denkt er in flammender
Liebesentrüftung, „ich Dich verleugnen? — Womit verfchuldete ich's,
fo ſchwer von Dir verfannt zu fein? — Bift du nicht mein Eins und
Alles? Und ich follte Dich verlaffen können? Wenn dir es denn nicht
glauben wollteft, daß ich eher mit dir fterben würde, fo magft du es
jegt erfahren!” — Er denkt's, und, unbezweifelt in dunkler, nur
freilich allzublinder Rüderinnerung an des Meifters früheres Wort
vom Schwerterfaufe, haut er mit dem gezüdten Stable blindlinge
auf Die Rotte ein, und trifft dem Malchus, dem Knechte des Hohen⸗
prieſters, vielleicht einem vor Andern Iofen und Täfterlichen Buben,
vielleicht aber auch der Schuldlofern einem, dergeftalt das rechte Ohr,
Daß es nur noch an zarten Fafern auf feine Wange herabhing. „Wohl
gethan, Simon!” möchten wir rufen. „Nur alfo fortgefahren! Die
Belialskinder verdienen blutige Köpfe! Hättet ihr, feine Vertrauten,
Diefem verruchten Attentate gegen euren Meifter kaltblütig zufehn kön⸗
nen, wir würden an eure Liebe nicht mehr haben glauben können!“
— So möchten wir fprehen, glückwünſchend dem Petrus zu feinem
Handftreih. Wir fühlen die Iebhafteften Sympathieen für den ents
ſchloſſenen Zünger, und möchten es den Andern ſchier zum Vorwurf
machen, daß fie nicht gethan, wie er, und ihm nicht helfend beigefpruns
gen. Aber hier wird uns einmal wieder Anlaß, an uns felbft uns
bewußt zu werden, wie oft auch die feheinbar edelften Aufwallungen
unferes natürlichen Herzens ſchnurſtracks wider Gottes Willen und
Ordnung angeht. Was uns hier an Petrus als ein fo liebenswers
ther Zug erfcheinen will, ift nur ein trübes Gemifh von Eigenheit,
Bermeffenheit und Thorheit, und das Naturfeuer unfrer Begeifterung
für Simons That hat gleichfalls nichts als Kurzfichtigkeit und Blind⸗
heit zu feiner Quelle.
Unleugbar hatte eine feurige und aufrichtige Liebe an Petri That
ihren wefentlichen Antheil; aber gewiß war es die Liebe nicht allein,
weiche zu jenem Sitterftreiche Die Hand ihm führte. Mindeſtens ging
Schwert and Kelch. 258
es ihm in gleichem Maße um die Rettung der eignen Ehre, wie um
die der Perfon feines Meifters; und es war die Deffentlichkeit
gewiß feine geringe Stüße feines Heldenmuthe. Um den Lorbeer
einer Preisrichter « Verfammlung, wie unfer Jünger dort fie vor fi
hatte, pflegt Mancher ſchon etwas zu wagen und aufs Spiel zu ſetzen.
Nur wagte Petrus bei feinem Streiche zu viel daran. Wäre es ihm
mit feiner Frage: „Herr, follen wir mit dem Schwert drein ſchlagen?“
doch nur ein rechter Ernſt gewefen; gewiß hätte der Herr dieſelbe mit
der Gegenfrage erwiedert: „Simon, willft du den Ruhm meiner Hins
gebung mir beflecken? Legſt du es Darauf an, und der Verdaͤchtigung
bloß zu ftellen, als feien wir doch nur ein politifcher Aufrührerhaufen?
Beabfihtigft du, den WBiderfachern einen Grund der Rechtfertigung
dafür zu leihen, daß fie bewaffnet zu uns kamen; und, Simon,
willft du abermals zur Vereitlung des ganzen Erlöfungswerfed dem
Satanas die Hände bieten?“ — So, oder Ähnlid würde der Herr
gefprochen haben; denn allerdings war, wenn das, wozu Simon und
feine für den Augenblid gleichfalls fchlagfertigen Mitapoftel den Ans
lauf nahmen, wirklich ausgerichtet wurde, der Plan der Weltbefeligung
durchkreuzt, indem alsdann das Lamm Gottes für und nicht zur
Schlachtbank ging. Es war aber die große Wahrheit, daß eben in
der Hinopferung des Gottmenfchen das Heil der Sünder wurzele,
den lieben Männern immer noch ein tief verfchloffenes Geheimniß,
und blieb es ihnen, bis der Pfingftgeift die fieben Siegel brach, und
die heiligen Tiefen ihnen auffchloß. Und auch heute noch iſts allein
der Geift, der hier das Beritändnig öffnet und das Raͤthſel loͤſt.
Ohne ihn vernimmt man den Artilel von der Verfühnung im Blute
Jeſu wol, und weig"ihn vielleicht gar predigend vor fich ber zu
tragen; aber man befigt ihn nur als einen dürren Begriff, als eine
dogmatifche Formel, als ein todtes Gedankending, und hat im
Grunde nichts an ihm. Gründlih durchſchaut, ernftlich geglaubt,
lebensträftig als Heils⸗ und Hoffnungsgrund erfaßt wird der Artikel
erft, wenn ihn der Geift der Gnade dem zerbrochnen Herzen nahe
bringt und deutet,
Der Wirrwar, den Simon durch fein unbefonnenes Dareinfahren
angerichtet hat, ift unbeſchreiblich. Die ganze Scene hat plößlich eine
andere und fremde Geftalt gewonnen. Die Häfcher rüften fi, ihre
Schwerter zuckend, nun ebenfalls zum Kampfe, und der heilige Boden
der Paffion iſt zu einer Wahlſtatt umgewandelt, Es hätte ein ſchneiden⸗
8 Des Heilige.
(merkte, ihr falfch empfindfamen Beftreiter der Begründung der To⸗
desftrafel) wer das Schwert nimmt, foll durch's Schwert
umlommen!” Als Petrus fpäter wirklich zum Richtplag wandern
mußte, wird er an diefes Wort mit Grauen zurüdgedacht, aber zu-
gleich in feinem Herzen hoch aufgejubelt haben, Daß nur das Todes-
uriheil der Menſchen ihn noch, treffen Eonnte, indem das des ridh-
terlihen Gottes durch das Blut des Lammes ewig von ihm hins
weggenommen war, Doc hört den Meifter weiter, „Soll ih den
Kelch nicht trinken, den mir mein Bater gegeben hat? oder
meineft du, Daß ich nicht Fönnte meinen Bater bitten, Daß
er mir zufhide mehr, denn zwölf Legionen Engel? Wie
wärde aber die Schrift erfüllet? Es muß alfo gehn!” —
O weld ein tiefer und umfafjender Blick, der uns hier auf's neue in
das erhabene Selbftbewußtfein des Herrn eröffnet wird! Wie weicht
hier der Schleier feiner Knechtsgeſtalt zurück, und wie entfaltet ſich
hier wieder vor uns, einem Blitz in finfterer Nacht vergleichbar, Die
ganze Majeftät des eingeborenen Sohnes vom Vater! Auch in den
dunfelften Emiederungstiefen bleibt Er, der er ift, und fteht mit fei-
nem Wiffen von fich felbit allewege über dem Gegenfat des Scheins,
der ihn umfangen hält. Ja, wenn er wollte, dürfte er, — gewiffer
if ihm nichts, als Dies — nur heifchen, (dies ift der Begriff des
Wortes im Grundtext,) und der Vater fendete ihm zu feinem Schuße
„zwölf Legionen Engel”, (alſo für jeden Einzelnen der Heinen Gemein-
ſchaft eine.) Daß der Herr dies ausfpricht, welche Befhämung liegt
darin für Petrus, der da meinen Eonnte, daß der Meifter, wenn
er nicht in den Riß fich für ihn werfe, verlaffen und hülflos ftehe.
Dies fein thörichtes Meinen, wie empfindlich wird es durch das
„Meineft du nicht?” beftrafl. Weiß Simon doch, daß fein Herr
mit leeren Reden nicht zu verkehren pflegt, und daß er darım deffen
Wort von der ihm zu Gebote ftehenden Himmelsmacht buchſtäblich
zu nehmen habe. Und ihm konnte der Einfall kommen, er müffe
Diefen Herrn al8 einen Wehrlofen von einer Handvoll armer Sterb-
licher erretten! Welch ein Unglaube! Welche Verblendung!
Aber hätte es in der That noch in der Macht des Herrn gelegen,
durch Engelhülfe feinen Leiden ſich zu entziehen? Lnbezweifelt! Wie
Er zur Uebernahme des großen Werkes fi) frei entfchloffen hatte, fo
fonnte er auch jedweden Augenblid wieder frei und ungehindert davon
abftehn, Jeder Gedanfe an Zwang und Nöthigung von Außen
Schwert und Kell. 259
her ift von dem Thun umd Leiden unfres Mittlers fern zu halten,
Nun wüßte ich aber kaum einen Moment im Leben Sefu, da feine
Sünderliebe herrlicher zu Zage getreten wäre, als in demjenigen,
vor welchen wir eben ftehen. Eine Himmelsichaar, mächtig, eine
Welt von Widerfachern in den Staub zu ftreden, fteht feines Winks
gewärtig hinter dem Wolfenvorhang, und brennt vor Begierde, für
Ihn einzutreten, und Ihn im Triumph aus der Gewalt der Gottlofen
befreien zu Dürfen; und Er, der Mißhandelte und Bedrängte, verzich⸗
tet. auf ihre Hülfe, und wiederholt aufs neue, nur mit größerem Nach⸗
drud noch, weil es durch die That gefchieht, fein: „Dein Wille
geſchehe, Vater, nicht der meine!" — „Es muß alfo gehen, *
ipricht er. Beachtet's wohl dies fein erneuertes Zeugniß von der MM-
umgänglichen Nothwendigkeit feiner Paſſion. — „Wie würde
fonft die Schrift erfüllet,” fügt er hinzu. Moſis und der Pros
pheten Wort ift feines Fußes Leuchte und das Licht auf feinem Wege,
„Soll id den Kelch nicht trinken,” fragt er, „den mir mein
Bater gegeben hat?" Großes, inhaltvolles Wort! Laßt uns bei
demfelben einige Augenblide betrachtend verweilen.
Was ift ein Kelch? — Ein Trinkgefäß, das fein beſtimmtes
Maß, und in ſeinem Rande ſeine Grenze hat. Ihr wißt, zu ver⸗
ſchiedenen Malen ſprach der Heiland von dem Kelche, der ihm vers
ordnet fei. Matth. 20 fragte er feine Jünger: „Vermoͤgt ihr aud) dem
Kelch zu trinken, den ich trinken werde?“ Unter dem Kelche verftand
er den ihm zugemefienen gallenbittern Trank feiner Paffion. — In
Gethſemane hörten wir zu Anfang Ihn noch fragen, ob es nicht möge
(ich fei, daß der Kelch an Ihm vorübergehe? An unferm Orte nennt
Er ihn mit dem ungetrübteften Bewußtfein einen Kelh, „den ihm
fein Bater gegeben“ habe. Was in dem Kelche war, wißt ihr,
Alles enthielt er, was der Sünde halber Seitens der göttlichen Ge⸗
rechtigfeit uns zugemeffen werden mußte. In dem Kelche war ber
ganze Fluch des unverbrüchlichen Geſetzes. Es waren in ihm alle
Schrecken des Schuldgefühls, alle Schauer der ausgefuchteiten Anfech-
tungen des Satans, alle Nöthen, die Leib und Seele treffen können.
Es dunfelten darin die fürchterlichften Tropfen der Verlaffenheit von
Gott, der Höllenangft, und eines mit dem Fluch belegten und in der
Umgebung der finften Mächte zu erduldenden blutigen Todes. —
Wie, und einen alfo gefüllten Kelch reicht Ihm der Vater? — Kein _
Andrer, als Er. Lernt bier verftehn, was das ift: „Der auch feines
17*
380 Das Heilige.
eignen Sohnes nicht verſchonte, ſondern hat ihn für uns Alle dahin
gegeben;“ was das iſt: „Gott warf alle unfre Sünden auf Ihn;“
was das ift: „Ich will den Hirten ſchlagen, und die Schafe der Heerde
werden ſich zerftreuen; * was das ift: „Chriftus hat uns erlöfet vom
Fluche des Gefeßes, da er ward ein Fluch für uns;“ und was das:
„Gott hat den, der von feiner Sünde wußte, für uns zur Sünde
gemacht!" Was alles dies bedeute, lernt's hier verftehen. Sieh, was
von Jugend auf du mit deiner Gottvergeffenheit, deinem felbitfüchti-
gen Thun und Zreiben, deinem Ungehorfan, deinem Hochmuth, dei:
nem Weltfinn, deinen unfaubern Gelüften, deiner Heuchelei, Deiner
Falſchheit, deiner Herzenshärtigfeit, Deinem Lug und Zrug: was, fage
ich, mit dem Allem du dir zufammenhäufteft auf den Zag der Offen:
barung feines heiligen und gerechten Zornes, das alles findet fid)
in dieſem Kelch vereinigt, und gährt zu einem furchtbaren Todestrank
darin zufammen. — „Soll ih diefen Kelh nicht trinfen?*
fpricht der Herr. — Ja, trinf ihn, Jeſu; denn du trinfft ihn oder
wir; und für uns hat der Kelch nicht Grund, nicht Boden: denn
Ewigkeit ift unfres Fluches Maß. — „Soll id diefen Keld
nit trinken?“ — Sa, leere ihn, Immanuel! Wir wollen dir da⸗
für die Füße füffen, und auf deinem heiligen Altare felbit die Opfer
fein, die Dir ſich wihen. — Er leerte ihn. Kein Tropfen
biteb für die Seinen darin zurüd. Die Genugthuung ift vollzogen,
die Verföhnung in's Werk geftellt. Nichts VBerdammliches ift mehr an
denen, die in Chrifto Jefu ſind. Fluch trifft fie nicht mehr, kann
und darf fie nicht mehr treffen; denn „alle Strafe Tag auf ihm, auf
Daß fie Frieden hätten“; und ihnen ift nichts geblieben, ald — das
Halleluja. —
ı Sa, wir find befugt, ſchon jet dies Halleluja anzuftimmen, obwol
wir noch der ftreitenden Kirche angehören, und die triumphirende
erft in der Ferne vor uns liegt. Das Wort: „Wir müffen durd)
viel Trübfal zum Reiche Gottes eingehn,“ behält, fo lange wir im
Thal der Thränen weilen, feine Geltung noch; aber als ein Se-
genswort, und nicht mehr als ein Wort des Fluches. Die Bezeu-
gung des Apofteld von „Leiden Chrifti, welche feiner Gemeine
(freifih nicht mehr als Straf-, gefchweige ald Genugthuungs:
leiden) übrig feien,” fteht immer noch in Kraft; aber in feinem
bedenklihen Sinne Drei Kelche gehen in der Gemeine Jeſu
um, Jeder Himmelserbe hat daraus feinen Trunk zu thun. Bitter,
Schwert und Kell. 261
bitter ift der Kelche Inhalt. Nichtsdeftoweniger dienen auch fie zum
Zeugniß, wie Großes es und ausgetragen habe, daß der Herr Jeſus
den Schauerkelch für uns geleert, den Ihm fein Vater darbot. Die
uns hinterlaffenen Kelche find Feine Hochzeitsbecher; aber ihr Trank ift
Heils- und Segenstranf. Der Wermuth des Gerichts ift aus
ihnen verbannt, nachdem derielbe in den Gethfemane’ss, Gabbathas⸗
und Golgatha's⸗-Kelch übergegangen iſt. —
Der erſte der fraglichen drei Kelche ift der der Buße, der Trau⸗
rigfeit um die Sünde, der Reue, die „Niemanden gereuet“. Er will
getrunken fein, diefer Kelch. Ohne des Zöllners Schlag an die Bruft,
ohne Magdalenens Schmerz, ohne Petri Thränen Fein Eingang in
das Gnadenreih. „Thut Buße!“ hieß der erfte Glockenklang, mit
dem der Hereintritt des neuen Teftamentes eingeläutet wurde, „hut
Buße!“ der Anfang jeglicher Geiftes-Antwort auf die Frage: „Was
fol ich thun, daß ich felig werde?" Die Buße ift die enge ‘Pforte
zum Friedensreich. Des neuen Lebens Keim und Knospe ift die
Buße. Erfenne die Sünde erit al8 Sünde, fo erfenneft du fie an
Dir mit Grauen. Denn die Sünde ſcheidet dich von Gott und ift
des Teufels Strid, der Hölle Mutterfchooß. Erkannteſt du aber erft
die Sünde an dir ald Sünde, fo wirft, ehe du dich's verfiehit, auch
Der die Schleier vor dir ab, außer welchem fein Heil zu finden tft.
Drum, was vor Allem noth thut, tft Selbitgeriht, Sündentrauer,
Buße! Nimm bin den Kelh! Es werden Dir von feinem Trank die
Augen übergehn: denn ftatt der Süßigfeit des Wohlgefallens an dir
ſelbſt, trintjt du daraus Die Galle des Gegentheild: ein Weh, das
fein Harfenfpiel der Erde dir mehr verfcheucht; ein Leid, das Die
die eitle Freude diefer Welt vergällt; eine Schwermuth, die Dich im
Schwarme deiner leichten Freunde nicht mehr dauern läßt; ja die in
die Einſamkeit did) drängt, und in den Thränenwinfe. Was aber
tränfeft du aus dem Kelche erft, hätte Jefus den Seinigen nicht
zuvor geleert! Du tränfit Verzweiflung dann, und Höllenangft, und
Hoffnungstofigfeit. Er wäre für dich wie für und Alle Kains,
Ahitophels und Iſcharioths Kelch. Nun aber it fein Trank
gemifcht mit Gnadenhonig, mit Erlöfungstroft und der Verheißung
ewiger Bergebung im Blut des Lammes. O, trinke ihn; Doc) ohne
Händeringen jetzt! Zerſchmilz in ftiller, hoffnungsreicher Wehmuth;
aber wehre dem Schrei des Zagens: „Meine Sünde iſt größer, denn
daß fie mir könnte vergeben werden!” Hiezu Tiegt fein Grund mehr
262 Das Heilige.
vor. Du trinkſt an dem Kelch des Sündenfchmerzes jeht einen Se
genokelch. Im Himmel ift Freude über dir, während du weinft; auf
Erden jubeln die Kinder Gottes dir entgegen: Willkommen, Bruder!
Der Satan fnirfcht mit den Zähnen, weil er dich nun laſſen muß;
und ewige Liebesarme ftreden fich aus, dich zu umfangen. Warum
braucht deine Buße nicht Verzweiflung mehr zu fein? Barum ift Dies
fer bittre Kelch Dir jegt ein Held» und Hoffuungsfelh? Antwort:
Jeſus büßte die ungefühnte Sünde, und du beweinft jet die
gebüßte nur. Jeſus hatte Die unbezahlte Schuld auf fi, und
ftand darum dem Bater als feinem Richter gegenüber; du bift um
Deine Schuld betrübt, nachdem fie vollaus für dich bezahlt ward,
und Gott dich nicht mehr richten Fanıı noch wird, — Freilih wird
der Kelch der göttlichen Trauer nie ganz geleert, fo lange wir noch
un Leibe des Todes wallen. Man fündigt wieder, und aufs neue
weint Das Herz; aber an der Bruft der ewigen Liebe weint's, und uns
ter der Thränen trocknenden Hand der göttlichen Erbarmung.
Neben diefem erften Kelche geht ein andrer in Zion um; und
auch diefer wird völlig nicht von uns hinweggenommen, bis der Kelch
der himmliſchen Seligfeit uns gereicht wird. Es ift der Kelch des
Sterbens nach dem Fleiſch, der Demüthigungen des alten Mens
fihen, der Entwöhnung von den Brüften der Kreatur, der innern Ver:
nichtigung, in deren Wege uns Chriſtus Alles werden foll in Allem,
Auch aus dDiefem Kelche thut fo oder fo ein jeder Gläubige feinen
Trunk. Paulus hatte feinen Pfahl im Fleifche, Petrus die gewiſſe
Ausficht auf den blutigen Kreuzestod, Timotheus feufzte unter Lei
besfchwachheit, Silas war mit Paulus ein Geächteter der Welt. —
Du fchlägft mit Armuth und Nahrungsforgen did) herum; du wohnft,
verfannt und ausgeftußen, einfiedlerartig unter deinen Brüdern; du
weißt bei dem bejten Willen in deinen gefchäftlichen Unternehmungen
auf feinen grünen Zweig zu kommen; du wirft wie Hiob Förperlich
geplagt, oder haft wie Eli große Noth durch deine Kinder; Dich trifft
in deinem Haufe ein nicht zu verfchmerzender Trauer» und Zodesfall
nad) dem andern; du fiehft Dich in Verhältniffe gebannt, wo du dich
nicht in deinem wahren Beruf, in deinem eigentlihen Elemente
fühlt, und kannſt doch nicht Heraus; du — — Doch, wu wollten
wir enden, gälte es, alle die bittern Tropfen namhaft zu machen, Die
den Trank der „Trübfal“ bilden, Durch welche wir, wie die Schrift
fagt, „zum Reiche Gottes eingehn müffen“ Habe ich doch die bit-
Schwert und Kelch. 2303
terften unter ihnen noch nicht einmal genannt; denn nichts fagte ich
noch von den Anfechtungen des Teufels, von den Glaubensverdunb⸗
lungen, von der Berdorrung des innern Lebens, von der Entziehung
des Beterdrangs, von der Zweifels⸗ und Zagensnoth, von der ſchmerz⸗
lichen Erfahrumg des innerlich ärmer, fündiger, gnadenbedürftiger Wet⸗
dens, ftatt reicher, heiliger und ftärfer; und von dem Zurüdfallen in
die Stellung Römer 3, wo die Klage ertönt: „Ich elender Menſch,
wer wird mich erlöfen vom Leibe diefes Todes!" Faßt aber alles Dies
zufammen, und ihr fennt den zweiten unfrer Kelche. Ja, auch Dem,
Brüder ımd Schweſtern in dem Herrn, bekommt ihr insgeſammt ze
ichmeden. Aber getroft! Auch in ihm tft nicht Fluch, nicht Zorn, nicht
Strafe mehr. Den Fluch trank der Bürge aus ihm heraus, und ſo
wurde der Kelch zum Segens⸗ und Geneſungskelche. Durch alle jene
Zeiden follt ihr nur mehr und mehr von euch felbft und diefer Wet
gelöft, und tiefer mit dem Herrn Jeſu verbunden werden. Ihr follt
dadurch an der Gnade euch genügen laſſen lernen, und in diejenigen
Zagerftätten des Weges Gottes hineingeleitet werden, wo Er Selm
Zreue, Seine Bewahrung, Sein Tröften und Tragen, Sein Aufbelfes
durch verborgene Kräfte und fein freundlich Reden mit den Muͤden
zur rechten Zeit, in handgreiflicher Weife an euch bethätigen kann.
Seht, lauter Heiljamkeit in Abficht, Zweck ımd Frucht. Darım ent⸗
jhloffen nur geleert, was Gott euch eintränft! Die ewige Liebe if
e8, die, Hand in Hand mit der himmlifchen Weisheit, Tropfen für
Zropfen den Trank euch zumißt, Wie dort bei den Brüdern Yofepbe
auf dem Grunde ihrer Säde der Schaß gefunden ward, fo findet ſich
hier der Segen auf dem Boden des Kelchs der Bitterfeiten. „Di
Zrübfal, wenn fie da ift, dünkt fie uns wicht Zreude, fondern Trau⸗
rigfeit zu fein; darnach aber wird fie geben eine friedfame Frucht
der Gerechtigkeit denen, die Dadurch geübet find,“
Der dritte Kelch erfcheint als der fehauerlichfte von allen, und doch
hat auch er alle feine Schauer verloren. An Niemandem geht auch)
er vorüber; und wer weiß, wie bald er auch dir und mir kredenzt
wird. Es grauft uns vor diefem Kelche, denn er kommt mit ſchwar⸗
zem Flor umhangen. Aber der Ehrift darf ihn ſchmücken mit Immer⸗
grün, und friedfam lächelnd ihn entgegennehmen. Es ift der Kelch
der legten Stunde, der Abſchiedskelch, der Todeskelch. Aber
auch er ift nicht mehr der Kelch, wie ihn die richterliche Gerechtigkeit
nad dem Zall im Paradiefe mifchte, Nicht ift er mehr der Kelch,
264 Das Heilige. "
den Jeſus trant; denn für Ihn umfchloß er noch den Fluch. Jeſus
ftarb den Tod, der der Sünde Sold ift, der in der Verlaſſenheit von
Gott geftorben wird, umd den die Schreden des Gerichts umgrauen.
Dafür fterben jegt hir, fofern wir Chriſti find, einen Zod, der die
Müden zur Ruhe führt, dem Pilger die Reifekleider abnimmt, um ihn
in's Baterhaus zu geleiten, ftatt des Dornenfranzes die Krone des
Lebens uns um die Stine flicht, und uns auf ewig die Thränen von
den Augen trodnet. Seht Stephanus, wie er, ohne eine Miene
zu verziehen, den legten Schmerzensfeldh dahinnimmt. Seht Pau⸗
Ium, wie ihn nad) dem Durchgang durch den Zodesjordan dücrſtet,
und er ausruft: „Ich Habe Luft, abzufcheiden und bei Chrifto zu
fein!® Geht Simeon, wie er den Sterbensfelh als einen Jubel
becherer greift und harmlos Daherjauchzt: „Nun Läffeft Du deinen Knecht
mit Frieden fahren!“ Hört Johannes, wie er froblodt: „Wir find
nun Gottes Kinder, und ift noch nicht erfchienen, was wir fein wers
den. Bir wiſſen aber, wenn es erfcheinen wird, daß wir ihm gleich
fein werden; denn wir werden Ihn fehen, wie er iſt.“ Wo find hier
die Schredien des letzten Kelchs? Entſchwunden find fie, und der Kelch
erfcheint nur noch mit Hoffnung und Frieden angefüllt. Das verduns
fen wir Dem, der dem Tode die Macht genommen hat, und zu deſſen
Ehren wir fortan triumphiren dürfen: „Tod, wo ift dein Stachel,
Hölle, wo ift dein Sieg?!" —
Seht, Freunde, fo trank aus allen Kelchen, die noch in Zion um
gehn, der Bürge ftellvertretend den Fluch hinweg, und was den Geis
nen darin zurüdblieb, ift, wie bitter e8 dem Fleiſch auch Dünfe, nur
Heilstrank. Freuen wir uns deffen von ganzem Herzen, und be
fennen wir gläubig und Danfbewegt mit dem Sänger:
Der Kelch, den Du geleeret,
Barg meine Angft und Roth;
Das Web, dad Dich verzebret,
Mir Sünder war's gedroht.
Seitdem e8 Dich gefchlagen,
Muß Trauben mir der Dorn,
Die Diftel Zeigen tragen ;
Und da, wo Andre zagen,
Quillt mir des Friedens Born. — Amen.
— 0 0 0 000—
Gabe und Opfer, 265
XXI.
Gabe und Opfer.
Ach weiß es, theure Brüder, warum fo viele unfrer Ehriften bei
aller ihrer Glaͤubigkeit doch feinen rechten Frieden haben. Worin ihr
unbefeftigtes, klagbares, lahmes und furchtiames Weſen feinen vors
nehmſten Grund bat, mir ift es wohl bewußt. „Chriftus hat Fries
den gemacht durch fein Blut,“ fpricht Paulus Coloffer 1, 205
aber Diefes Blut, wie oft fie auch davon reden, oder reden hören,
ft ihnen feiner überfchwänglichen Wirkung nach noch unbekannt; oder
es gebricht ihnen an der Fähigkeit, für ſich felbft Davon Gebrauch zu
machen. Die Seelen unfrer meiften Ehriften gleichen, zumal wenn
Rott, an Mann geht, und etwa ein Glodenhall der nahen Ewigfeit
an ihr Ohr fchlägt, dem immer bewegten, ruhelofen Meere, tiber defien
Oberfläche die Sonne einige erwärmende Strahlen wohl verbreitet,
aber bis auf deffen innerften Grund, wo es nächtig, alt und wüfte
bleibt, fie nicht hinabreicht. — So ftreift auch über jene das Licht der
Ehriftuss Erfenntniß Hin: obenhin berührend, aber nit durch⸗
dringend. Möge unfre heutige Betrachtung dazu gefegnet werden,
uns Allen das Werk des großen Bürgen recht gründlich zu verflären,
und feinen Heilswirfungen bis in die verborgenften Ziefen unferes
Weſens Bahn zu machen. Wir beten darum. Spreche der Herr dazu
fein Amen !
Matthäus 26, 55 u. 56, Marcus 14, 48 u. 49, Lucas 22, 52 u. 53.
Zu der Stunde aber ſprach Iefus zu den Schaaren, und zu den Hohenprieflern
und Haupfleuten des Tempels, und den Welteften, die über ihn gefommen waren:
Ihr feid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen, mid
zu fangen. Bin ich doch täglich bei euch gefeffen und habe gelehret im Zempel, und
ihr habt feine Hand an mid) gelegt und mich nicht gegriffen. Aber dies ift eure
Stunde und die Macht der Finſterniß. Und das iſt Alles geicheben, daß erfüllet wür⸗
den die Schriften der Propheten. Da verließen ihn alle Jünger und flohen. Und e8
war ein Züngling, der folgte ihm nad, der war mit Leinwand beffeidet auf der bio»
fen Haut, und die Jünglinge griffen ihn. Er aber ließ die Leinwand fahren, und
Roh Hof von ihnen, |
964 Has Heilige.
den Jeſus trank; dem für Ihn umfchloß er noch den Fluch. Jeſus
ftarb den Tod, der der Sünde Sol ift, der in der Berlaffenheit von
Gott geftorben wird, und den die Schreden des Gerichts umgrauen.
Dafür fterben jeht wir, fofern wir Ehrifti find, einen Tod, der die
Müden zur Ruhe führt, dem Pilger die Neifekleider abnimmt, um ihn
ms Vaterhaus zu geleiten, ftatt des Dornenfranzes die Krone des
Lebens uns um die Stirne flicht, und uns auf ewig die Thränen von
den Augen trodnet. Seht Stephanus, wie er, ohne eine Miene
zu verziehen, den lebten Schmerzenskelch dahinnimmt. Seht Pau⸗
Ium, wie ihn nad) dem Durchgang durch den Zodesjordan dürftet,
und er ausruft: „Ich habe Luft, abzufcheiden und bei Chrifto zu
fein!“ Seht Simeon, wie er den Sterbensfelh als einen Jubel⸗
becherer greift und harmlos daherjauchzt: „Nun Läffeft du deinen Knecht
mit Frieden fahren!“ Hört Johannes, wie er frohlodt: „Wir find
nun Gottes Kinder, und ift noch nicht erfchienen, was wir fein wer⸗
den. Wir wiffen aber, wenn es erfcheinen wird, daß wir ihm gleich
fein werden; denn wir werden Ihn fehen, wie er ift.“ Wo find hier
die Schrecken des letzten Kelchs? Entſchwunden find fie, und der Kelch
erfcheint nur noch mit Hoffnung und Frieden angefüllt. Das verdun-
fen wir Dem, der dem Tode die Macht genommen hat, und zu deffen
Ehren wir fortan triumphiren dürfen: „Tod, wo ift dein Stadel,
Hölle, wo ift dein Sieg?!" —
Seht, Freunde, fo tranf aus allen Kelchen, die noch in Zion um⸗
gehn, der Bürge ftellvertretend den Fluch hinweg, und was den Gei-
nen darin zurücbfieb, ift, wie bitter e8 dem Fleiſch auch dünke, nur
Heilstrank. Freuen wir und deſſen von ganzem Herzen, und be-
fennen wir gläubig und Danfbewegt mit dem Sänger:
Der Kelch, den Du geleeret,
Barg meine Angft und Roth;
Das Weh, dad Dich verzebret,
Mir Sünder war's gedroht.
Seitdem e8 Dich geichlagen,
Muß Trauben mir der Dorn,
Die Diftel Zeigen tragen;
Und da, wo Andre zagen,
Quillt mir des Friedend Born. — Amen.
— 0,0 0 0—
Gabe und Opfer. 265
XXI.
Gabe und Opfer.
Ich weiß ed, theure Brüder, warum fo viele unfrer Chriſten bei
aller ihrer Gläubigfeit doch feinen rechten Frieden haben. Worin ihr
unbefeftigtes, klagbares, lahmes und furchtſames Weſen feinen vor
nehmſten Grund hat, mir tft es wohl bewußt. „Ehriftus hat Fries
den gemacht durch fein Blut,“ fpricht Paulus Eoloffer 1, 20;
aber dDiefes Blut, wie oft fie auch davon reden, oder reden hören,
ift ihnen feiner überfchwänglichen Wirkung nach noch unbelannt; oder
es gebricht ihnen an der Fühigfeit, für fich felbft davon Gebrauch zu
machen. Die Seelen unfrer meiften Chriften gleichen, zumal wenn
Noth an Mann geht, und etwa ein Glodenhall der nahen Ewigfeit
an ihr Ohr fohlägt, dem immer bewegten, ruhelofen Deere, über defien
Oberfläche die Sonne einige erwärmende Strahlen wohl verbreitet,
aber bis auf deflen innerften Grund, wo es nächtig, kalt und wüſte
bleibt, fie nicht hinabreicht. — So ftreift auch über jene das Licht der
Chriftus- Erfenntnig hin: obenhin berührend, aber nit dDurd»
dringend. Möge unfre heutige Betrachtung dazu gefegnet werden,
uns Allen das Werk des großen Bürgen recht gründlich zu verflären,
und feinen Heilswirfungen bis in die verborgenften Tiefen unferes
Weſens Bahn zu machen. Wir beten darum. Spreche der Herr dazu
fein Amen!
Matthäus 26, 55 u. 56, Marcus 14, 48 u. 49, $ucas 22, 52 u. 53,
Zn der Stunde aber fprach Iefus zu den Schaaren, und zu den Hobenprieflern
und Haupfleuten des Tempels, und den Aelteſten, die über ihm gefommen waren:
Ihr feid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen, mid
zu fangen. Bin ich doch täglich bei euch gefeilen und habe gelehret im Tempel, und
ihr habt feine Hand an mich gelegt und mich nicht gegriffen. Aber dies ift eure
Stunde und die Wacht der Finſterniß. Und das it Alles geicheben, dad erfüllet wür⸗
den die Schriften der Bropheten. Da verließen ihm alle Zünger und flohen. Und es
war ein Juͤngling, der folgte ihm nad, der war mit Leinwand befleidet auf der blo⸗
Ben Haut, und die Zünglinge griffen ihn. Er aber ließ die Leinwand fahren, uud
floh bloß von ihnen,
268 Das Heilige.
Treuen, dem Berfuchungsftürme, in denen die Engelwelt nicht bes
ftanden wäre, nur dazu dienten, defto fchneller feinen Gehorſam Der
hoͤchſten Vollendungsftufe zuzuführen. Einen Mann der Bewährung
feht, der das Schifflein feiner Willigkeit und Gottergebung unverfehrt
durch Strudel der Anfechtung bindurchzufteuern wußte, die geeignet
gewefen wären, den heiligften Seraph in einen murrenden Rebellen zu
verwandeln, Seht einen Gehorfamen, der im Stande der empfind-
fichften innern Beraubung dennoch in der Liebe feines Vaters verharrte,
umd, obwol des Vaters Herz ſich von ihm abgewandt zu haben ſchien,
es nad) wie vor für feine Speife und feinen Trank erachtete, Deſſen
Willen zu vollbringen, der ihn fandte; und einen Helden, der in
einer Lage, wo ihm vor Angft der helle Blutſchweiß von der Stime
troff, nichtödeftoweniger, ob mit verfchmachtender Zunge auch, von
Grund der Seele darum flehen konnte, daß, nicht was er, fondern
ausichließlih, was der Ewige wolle und über ihn befchloffen habe,
geſchehen möge. Diefer blendend reine, überfchwänglich erprobte,
wie Gold bewährte, unwandelbar heilige Menſch ift die Gabe, welche
Ehriftus in feiner eigenen Perfon dem Vater darbringt. —
Betrachtet Ihn, den Herrlichen, wie er dort am Fuße des Delbergs
vor uns fteht. Er weiß, auch das fei feines Vaters Rath, daß er
nicht allein der Schmach einer öffentlichen Gefangennehmung,. fondern
auch noch weiterhin dem ganzen Schidfal eines gemeinen Delinquenten
und Auswürflings der Menfchheit fich unterziehe. Wie macht aber
ſolch' Bewußtfein Ihn fo willig, auch in Diefe Tiefen hinabzufteigen,
und unweigerlich den Händen der Sünder fi) zu überlaffen. Hört
ihn reden zu feinen Feinden. Mit der Majeftät, der Freiheit und er:
habenen Ruhe eines Mannes, der, weit entfernt, von demjenigen, was
ihn trifft, übermocht zu fein, vielmehr ſelbſt die Bahn fich vor-
zeichnet, die er wandele, und der in Gemäßheit des väterlichen Rathes
jelbit feine Gefchide ordnet, beginnt er zu den „Schaaren“, und nas
mentlih zu den „Oberen“ derfelben, zu den „Hohenprieftern“,
(d. i. zu den Männern, welche diefe hohe Würde einmal befleideten,) zu
den „Hauptleuten” der jüdischen Tempelwache, und zu den „Aeltes
ſten“, (den Beifigern des Synedriums,) welche fich ſämmtlich, in der
Hitze ihrer Feindfchaft gegen Jeſum, mit der Abficht, die Häfcherrotte
durch ihre Gegenwart zu ermuthigen, mit hinausbegeben hatten: „ Ihr
feid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern
und mit Stangen, mich zu fahen. Bin ich doch täglich bei euch
Gabe und Opfer. 208
gefeifen, und habe gelehret im Tempel, und ihr habt feine
Band an mich gelegt und mich nicht gegriffen!“ — Was will der
Herr mit diefen Worten? Zuvörderſt follen diefelben nicht blos denen,
die fie zunächft vernahmen, fondern der ganzen Welt zu einem erneuers
ten Zeugniß dienen, daß Er als ein Schufdlofer zur Schlachtbank ges
führet worden fei, und der böfe Schein, den Petri Schwertitreich auf
Ihn und feinen Anhang werfen fonnte, fih nur al8 leerer Schein
erwiefen babe; und fodann follen fie jeden Zweifel Darüber zerftreuen,
daß feine Macht der Erde Ihn würde haben überwältigen fünnen,
wenn Er nicht, da feine Stunde gekommen war, in freier Unterwer⸗
fung unter den väterlichen Rathſchluß fich ſelbſt dahingegeben hätte,
Nicht anrühren durften Ihn die Feinde, folange er das Werk feines
Lehramts nicht vollendet hatte Auch hatten fie nichts an Ihm zu
entdeden vermocht, wodurch fie in den Stand geſetzt gewefen wären,
hm den Prozeß zu machen, Jetzt wird den Widerfachern die unficht-
bare Schranke weggegogen. „Dies“, fährt der Helland zur tiefften
Beſchämung feiner Feinde fort, „ift eure Stunde“, und fügt das
fchauerlihe Wort hinzu: „und die Macht der Finfterniß* „Dem
Satan”, will er fügen, „dem ihr dient, wird durch einen Aft gött«
licher Regierung die Kette verlängert, und der Hölle, al8 deren Waffen⸗
träger ihr euch Tenntlich macht, der Kappzaum abgenommen, auf daß
fie nad) Belieben mit mir ſchalte“ — So der Herr. Welch’ eine
Faffung und übermenfchliche Ruhe in diefen Worten! Mit folcher rück⸗
haltloſen Willigkeit gibt er fich der Ichmachvolliten Behandlung preis,
Auch nicht die leifefte Regung irgend eines unmuthigen oder rache⸗
drohenden Affektes taucht den gottvergeffenen Buben gegenüber in fet-
nem Innern auf. Seine Seele verharrt vielmehr in einem Gleichmuth
und einer Faffung, als wären ed nicht Henfersfnechte, die mit Striden
ihn umgeben, fondern Anhänger und Freunde, die ihm Kränze wins
den wollten,
Was aber trägt uns das aus, daß Jeſus fo rein und vollendet
heilig dem Vater fich dargibt? — Das Allergrößte und Segens-
reichfte, Brüder, das ein Gedanke zu erreichen fähig iſt. Hört, es
fpriht in Seinem Gefege Jehova: „Ihr follt nit leer vor
mir erſcheinen.“ Erwaͤgt, daß, wenn wir den Himmel erben wol
en, wir dasjenige nicht entbehren können, dem die Seligfeit als
Preis verheigen wird. Wir befiten daffelbe num, und die Tage des
Grämens und Schämens haben für uns ein Ende, Wir dürfen jebt
ill DaB Heilige.
getroft dem Bater unter die Augen treten, und brauchen nicht mehr zu
beforgen, Ungebührliches Ihm zuzumuthen, wenn wir das Begehren
an Ihn ftellen, daß er uns liebe, und feines Haufes Pforte vor uns
öfne. Was haben wir aber Verdienftlihes vor Ihm aufzuweiſen?
Genug, Geliebte; ja mehr, als die Engel haben. Nichts zwar bes
figen wir in ung ſelbſt. In den Rechnungsbücern unfers Lebens
erbliden wir Ausfälle nur und Schulden. Aber wir brauchen,
Gottlob! auch Eigenes nicht zu haben; ja, e8 wird uns unters
fagt, auf dergleichen zu trauen und zu trogen. Ein außer uns
Borhandenes wird uns vorgehalten, darauf wir uns berufen follen;
und das ift die lebendige Gabe, von der wir reden: Chriftus mit
der ganzen Fülle feines m unfrer Statt geleifteten Gehorfams. Darf
Der fich ſehen laſſen, fo wir nicht minder; ift Er des Himmels würs
dig, fo find wirs gleichfalls. Denn was Er geglaubt, geliebt, ges
horcht und wohlgethan hat, das Alles ward den Seinen gut gefchries
ben. Durch „Eines Ungehorfant*, fagt die Schrift, „find wir
Sünder, durch Eines Gehorfam find wir heilig und ges
recht geworden.” In Ehrifto gibt es feine Uebertreter mehr vor
Gott, fondern eitel Fleckenloſe, Unfträfliche und Reine. Welch’ feliges
Geheimniß! Vermoͤgt ihr's noch nicht zu glauben, fo gönnt ihm wes
nigftens eine Stätte in euerm Gedächtniß. Es dürfte Die Stunde
fommen, da ihr’s gebrauchen könntet; denn wie es zuleßt aud) den
vermeintlich heiligften und frömmften Ehriften zu ergehen pflegt, ha-
ben wir ſchon oft mit Augen angefchaut. Was immer fie bei Leibes
Leben Berdienftlihes und Probehaltiges zu befißen wähnten, davon
bleibt, wenn das Licht der nahen Ewigfeit und des hereinbrechenden
Berichts feine durchdringenden Strahlen auf ihr Leben wirft, ihnen
nichts. Ahr Tugendglanz erlifcht, ihr Gold wird häßlich, und felbft
was fie ald Guthaben in ihren Büchern zu lefen vermeinten, ers
weifet fih ald Schuld und Ausfall. Was nun beginnen? Wie in
der Eile die Gerechtigfeit zufammenmweben, von der man ſchon aus
dem Katechismus weiß, daß Gott fie fordere, und ohne fie Niemand
in's Himmelreich zugelaffen werde? Was nun all den Verklägern
entgegengehalten, die ihren Mund wider uns aufthun: dem Gefeße,
dem Satan, und dem eignen Gewifjen mit feinem „Du bift der Mann
des Todes"? Fürwahr, wenn uns da die Verzweiflung nicht erfaflen
fol, fo muß außer uns etwas uns geboten fein, das wir als Grund
umfres Anfpruchs an die Seligkeit vor Gott bringen können; und da
Gabe und Opfer. 274
erbeut fi) uns denm jene lebendige „Gabe“, die überfchwänglich hin⸗
zeicht, und Gott zu empfehlen. In deren Befige haben wir vor uns
fern DVerklägern nicht mehr zu verſtummen. Wir erfüllten in unferm
Bürgen Ehriftus die Bedingungen, an welche das Himmelserbe ges
fnüpft ward. Wer will uns binfort beichuldigen? Wer uns verdam⸗
men? Wir jauchzen mit Paulus: „Nun wir denn find gerecht gewor-
den durch den Glauben; fo haben wir Frieden mit Gott durch unfern
Herm Jeſum Chriſtum.“
2. |
Doch nicht als „Gabe“ nur, fondern auch als „Opfer“ erfcheint
der Herr im unfrer Gefchichte. Unfre Sünden find ihm zugerechnet,
und Er erduldet an feiner heiligen Menfchheit, was jene werth find.
Laßt darum den heiligen Gottesfohn in Ihm für einen Augen-
blick jegt zurüdetreten, und betrachtet Ihn als den großen allge
meinen Sünder, der Er dur Zurehnung und Stellvertretung
iſt. Alſobald erfcheint dann die Unbilde, die Ihm widerfährt, ale
Recht, die Mißhandlung, die er erleidet, als Ihm gebührend.
Ein fchauerlich Bild tritt vor meine Seele, und id) meine, o Menſch,
du follteft e8 fennen, Einen Mörder fehe ich; denn es fteht gefchries
ben: „Wer feinen Bruder haßt, der ift ein Zodtichläger.” Ich gewahre
einen Räuber, einen zweenfach verfchuldeten: an Gott, dem er durch
Unglauben und Hochmuth feine Ehre nahm; an dem Nächſten, am
deſſen Güter er durch Neid oder Berleumdung die Hand gelegt. So
laftet der Fluch des Geſetzes auf feinem Haupte, und der Bann
Gottes hängt an feiner Ferſe. Schredliches fteht dem Unglüdfeligen
bevor: ein Ueberfall zunächſt in einer finftern Stunde, eine furchtbare
Verhaftung und Gefangennehmung. rei und ficher geht er feinen
Weg, und folgt, fein Unheil fürchtend, feines Fleiſches Geluͤſten; da,
ehe er ſich's verfieht, dröhnt's über feinem Haupte. „Schlaget die
Sichel an,” heißt, „denn der Halm ift reif.” Graufige Wefen, das
eine ſchauerlicher als das andre, fehen fid) in Bewegung. Der Tag bat
ſich geneigt, Die Nacht ift für den armen Menfchen herbeigelommen. Das
Dunkel der TZodesftunde brady für ihn herein. Was ereignet ſich
run um ihn her? Sn welcher Lage befindet fid) der Bedauernswerthe?
Sind e8 Engel der Rache, die ihn umgeben? Sind es Dämonen und
Geifter des Abgrunds? Hört er von Schwertern fi umklirrt? Um⸗
taffeln ihn Ketten und Banden? Ya, ja, er findet fih in fremder
Gewalt, Umringt, ertappt, gefangen fühlt er ſich. Er kann nit
wen, da auch ihr zu zuem Feinden md Berklägern etwa ſprechen
müßtet: „Jetzt ift eure Stunde, und die Macht der Finſterniß!“ —
ner Stellvertreter ſprach's ein für allemal für euch, und euer wars
tet hinfort nur noch die Stunde des Triumphes und der Wonne, Die
nie mehr enden wird. Habet denn Frieden, ihr in Seiner Gerech⸗
tigkeit Geheiligten und mit Seinem Opfer ewig Vollendeten. Zräumt
ferner nicht von Laften, Die eure Schultern nicht mehr drücken, fondern
wiffet und vergeßt es nimmer, daß euer Prozeß für alle Ewigfeit ges
wonnen it. Seht, dort trägt Chriftus eure Banden für immer fort;
und es liegt euch nun nichts mehr ob, ald Den von ganzem Herzen
Lied zu haben, und immer inniger zu umfaffen, der alle eure Verma⸗
fedeiung auf fih nahm, auf daß ihr möchtet ewig jauchzen können:
„Jehova Zidkenu!“ d. h. der Herr ift unfre Gerechtigkeit —
D habe Dank für Dein unendlich Lieben,
Das Dich für mid in Roth und Tod getrieben,
Daß Du den Zorn, der über mid ſollt' fommen,
Auf Did genommen!
Sur Dir, nur Dir, Lamm Gottes, fei mein Leben
Zum Eigenthum auf ewig hingegeben,
Wozu Du mid durch Deine Todeswunden
So hod verbunden!
Nichts kann und fol binfort von Dir mic ſcheiden;
Ich bleibe Dein, bis Du mich dort wirft weiden,
Mo Deine Liebe ewig wird beſungen
Mit Engelzungen. — Amen.
XXIII.
Chriſtus vor Hannas.
„Ich hielt nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein
Jeſum Chriftum, und zwar den Gekreuzigten.“ Go der Apoftel
1 Corinth. 2, 2. Er bezeichnet hiemit das vworherrfchende Thema
aller feiner Predigten, und zugleich die Meihode, Art und Weiſe ſei⸗
nes Zeugens.
Ehrifus vor Heunaß 275
Unter den Krieg füprenden Mächten iſt's im nenerer Zeit mehr und
mehr Grundſatz geworden, in „Maſſen zu handeln“, d. h. Eleinere Ne⸗
bengefechte möglichft zu vermeiden, und die Kräfte zufammenzuhalten,
bis fi Gelegenheit bietet, im Großen vorzugehn, die ganze Heeres⸗
macht auf einem Punkte zu entfalten, und, Volk gegen Volk, in wes
nigen impofanten Dperationen die ganze Sache zur Entſcheidung zu.
bringen. Wir in unfern geiftigen Kriegen follten ähnlich verfahren,
in jeder Predigt den Donner des groben Gejchüges vernehmen lafjem,
und in Maflen, d. i, mit der Gefammtheit der großen Haupt- und
Grundartikel des Evangeliums, unfre Schlachten ſchlagen, indem
doch nur Diefe es find, welche die Welt überwinden, den Satan dar⸗
niederlegen, die Starken bewältigen, und immer Entfheidung zu
Wege bringen.
Wenn aber irgendwo, fo muß diefer Grundfaß da zur Anwendung
fommen, wo wir ausfchließlich von jenen FZundamentalwahrs
beiten des Chriſtenthums umgeben find: bei der Betrachtung der
Paffionsgefchichte. Die Aufgabe jeder Paffionspredigt ftehet darin,
der Gemeine auf's neue das große unerichöpfliche Geheimniß unfrer
Vollendung in dem blutigen Mittler vor Augen zu malen; und wie
könnte es ſchwer werden, Diefelbe zu löfen, da uns in jedem einzelnen
Abfchnitte der Leidensgefchichte jenes hochherrliche Gentraldogma von
felbft, und immer wieder new beleuchtet, entgegentritt. So gilt denn
auch für unfre heutige Erwägung jene goldne Regel. Wir müffen
auf’8 neue Davon reden, wie wir durch das Werk des Bürgen von
Sünde, Zeufel, Zod, Gericht und Hölle auf ewig erlöfet find; und
wer deſſen fich nicht freut, Daß diefe Wundeweide abermals ſich vor
ihm aufthut, dem können wir nicht helfen, fondern ihn nur als einen
Menſchen beklagen, dem fein wahres Bedürfnig noch nicht aufgegangen
if, Unbefümmert um feinen Geſchmack, gehen wir feften Schrittes
unfre Straße vorwärts, und ſprechen heute wie geftern, und morgen
wie heute mit dem Apoftel: „ Wir halten Dafür, (zumal in Diefer
heiligen Zeit) nichts unter euch zu wiffen, als allein Jeſum
Chriſtum, und zwar den Gekreuzigten.“
Die Schaar aber und der Oberhauptmanu und bie Diener der Iuben nahmen Je⸗
fum, and handen ihn, Und führetem ihn aufs erſte zu Haunas; ; benm er DAR Dep
18
273 Das Heilige:
men, da auch ihr zu zuem Feinden and Verklägern etwa fprechen
müßtet: „Jetzt iſt eure Stunde, und die Macht der Zinfternig!* —
Euer Stellvertreter ſprach's ein für allemal für euch, und euer wars
tet binfort nur noch die Stunde des Triumphes und der Wonne, Die
nie mehr enden wird. Habet denn Frieden, ihr in Seiner Gere
tigfeit Geheiligten und mit Seinem Opfer ewig Bollendeten. Träumt
ferner nicht von Laften, die eure Schultern nicht mehr drüden, ſondern
wiffet und vergeßt ed nimmer, daß euer Prozeß für alle Ewigkeit ges
wonnen ift. Seht, dort trägt Ehriftus eure Banden für immer fort;
und es liegt euch num nichts mehr ob, ald Den von ganzem Herzen
Lieb zu haben, und immer inniger zu umfaflen, der alle eure Verma⸗
fedeiung auf fih nahm, auf daß ihr möchtet ewig jauchzen können:
„Jehova Zidkenu!“ d. h. der Herr ift unfre Gerechtigkeit! —
D habe Dank für Dein ımendlih Beben,
Das Dich für mid in Roth ud Tod getrieben,
Daß Du den Zorn, der über mid ſollt' fommen,
Auf Did genommen!
Sur Dir, nur Dir, Lamm GotteB, fei mein Leben
Zum Eigenthum auf ewig bingegeben,
Mozu Du mid durch Deine Todeswunden
So hoch verbunden!
Nichts Tann und fol hinfort von Dir mid) ſcheiden;
Ich bleibe Dein, bis Du mich dort wirft meiden,
Wo Deine Liebe ewig wird beſungen
Mit Engelzungen. — Amen.
XXIII.
Chriſtus vor Hannas.
„Ich hielt nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein
Jeſum Chriſtum, und zwar den Gekreuzigten.“ So der Apoſtel
1 Corinth. 2, 2. Er bezeichnet hiemit das vorherrſchende Thema
aller ſeiner Predigten, und zugleich die Methode, Art und. Weiſe ſei⸗
nes Zeugens.
Chriſtus vor Hannas. 277
yerftörten, um an deren Stelle den Tempel der Wahrheit aufzurichten,
und die Altäre falfcher Götter zertrümmerten, um dem des allein wahs
ren Gottes Raum zu fchaffen. — Jeſus gebunden! Welch' ein
Anblick! Daß dies auf Erden moͤglich war, macht alle anderweitigen
Zeugnifle für das Berderben der Welt und die Verföhnungsbedürftig-
feit derfelben überflüffig. Wie manches prophetifche Vorbild des alten
Bundes findet in dem gebundenen Jeſus feine Verwirklichung! „ Fragt
ihr nach dem Gegenbilde Iſaaks, wie er von feinem Bater Abraham
als Lamm für den Brandopferaltar gebunden ward; oder nach dems
jenigen jenes Widders auf Moria, der in die Domenhede ſich vers
wideln mußte, weil er e8 war, den Gott für das Opfermeffer gezeichnet
hatte; oder nach dem der heiligen Bundestade, da fie in die Hände
der Philifter gefallen war, jedoch nur, um die Gößen der legtern vom
Thron zu ftürzen; oder nach dem des Sohnes Jakobs, des in Egyp⸗
ten verhafteten und eingeferferten, deffen Weg durch die Mifjethäters
bande zu Purpur und Ehrenfronen fi) bindurchwand; oder nad) dem
der Ofterlämmer, welche, ehe fie zur Sühnung der Gemeine geichlachtet
wurden, an Die Schwellen des Tempels feitgebunden zu werden pflegs
“ ten; oder endlidy nad) dem des Richters Simfon, des gebundenen,
der aber der Bande Delila’s fpottete, und im Triumph aus dem Phi⸗
liſterkampf hervorging: Diefe Schatten und Vorbilder alle fanden in
dem gebundenen Jeſus, als in ihrem verleiblichten Urs und Gegen⸗
bilde, ihre erfchöpfende Erfüllung. Jeſus gebunden! Dürfen wir
unfern Augen trauen? Die Allmacht in Feſſeln! Der Schöpfer aller
Dinge in einem Strid, den. die Kreatur ihm angelegt! Der Herr
der Welt ein Arreftant feiner fterblichen Untertanen! — Freilich, wie
viel Teichter wäre e8 Ihm gewefen, diefe Seile zu zerreißen, als einſt
dem Sohn Manoahs! Aber er zerreißt fie nicht, fondern läßt fie wie
ein Ohnmächtiger und Ueberwundener fic) gefallen. Diefes fein lei⸗
dendliches Verhalten muß ja eine große und erhabene Abficht zum
Srunde haben. Und freilich ift dem fo. Die eben erwähnten Vor⸗
bilder haben ſchon auf dieſelbe hingedeutet.
Nein, nicht die Uebermacht der Häfcher fchlägt Ihn in Banden,
Was Ihn hier zum Arreitanten macht, ift der Rathſchluß des ewigen
Baters, dem er in freiefter Entjcheidung ſich unterzieht; die Liebe zu
feinem Bolt, deffen Rettung und Erlöfung ihm über Alles geht, und
fein Eifer um die Vollbringung des übernommenen großen Werfes,
welchem auch der Eintritt in die ſe Erniedrigungsftufe wejentlich beis
278 98 Hellige. |
gehörte. Es deuten die fichtbaren Bande, die ihn umfangen, auf
ſchauerlichere unfihtbare, tm welche er fich jet hineinbegeben hat.
Jene fchatten nur nach Außen bin die entfeglichere Gefangenfchaft ab,
die Er in der Gewalt der finftern Mächte erleidet. Eine Bin-
dung des großen Bürgen in Folge eines Verhaftbefehls des richter⸗
lichen Gottes bezeichnen fie. Steht Chriftus hier doch an feines
Volles Stelle, deffen Sünden tragend; und darum gebührt Ihm
daſſel be auch, was uns: Schmad, Ueberweiſung an die Rotten der
Hölle, Entziehung der Zreiheit, und was deß mehr if. Ward aber
Er an unfrer Statt gebunden, fo find, wie ſich von ſelbſt verfteht,
wir frei. Nahm Er ftellvertretend unfre Feffeln um feine Hände,
fo gehören wir nicht mehr zu denen, Die in Banden der Finfterniß
zum Tage des Gerichts behalten werden. Keine Kette des Fluches
bindet dann uns mehr. Unſere Arreftantenfchaft in den Eiſen des
Geſetzes und des Satans hat ein Ende. Wir find entlaffen und auf
freien Fuß gefegt, und haben eine Inhaftnahme von Seiten des ewi⸗
gen Gerichtshofs nicht mehr zu befürchten. In was für Stride wir
auch noch gerathen können; andauernd gerathen wir nicht mehr im
fie hinein. Seien es Stride der finftern Gewalten, oder der Sünde,
oder der Welt, oder des Todes gar: hart können fie Die. Glieder
unfres innern Menfchen drüden; aber halten können fle uns nicht
mehr, das ift unmöglih. War Petrus jämmerlih in Satans Strid
hineingerathen: um des gebundenen Jeſu willen, konnte ihn Gott
Darin nicht ſtecken laſſen. Kam es mit David dahin, daß er ganz
ein Spielball der Sünde ward: der Augenblid blieb nicht aus, da er
wieder jauchzen durfte: „Du Herr zogeft mich aus tiefem Schlamm,
und feßteft meine Füße auf einen Felſen!“ Schlugen über Hiob
Alle Anfechtungen zufammen wie Meereswogen: in den Schlußfapiteln
feiner Gefchichte Iefen wir die Worte: „Und der Herr wandte das
Gefängniß Hiobs.“ Mußte Paulus fi, fo fange er lebte, das Ge⸗
leit Des Satansengels, der ihn mit Fäuften ſchlug, gefallen laſſen.
Eines war er fih Doch bewußt: daß er nicht für immer in dieſe
Geſellſchaft gebannt fei, und feine „Beilage * ihm bewahret bleibe.
Lag dem armen Zazarus fo zu fagen Jahre lang der Tod auf
dem fiechen mit Wunden bedeckten Leibe: endlich kamen doch die En-
gel, und trugen den für immer Genefenen in Abrahams Schooß. Ya
endlich, endlich! — Tröftet euch deß, ihr armen Sünder, die ihr
glaͤubig wurdet! — Sagt, was für Bande find es, die ah Dehlen?
Chrius vor Hanns. 279
Die eifigen der geiſtlichen Dürre? Oder die ſeuerfſlammenden innerer
Anfechtungen? Oder die der Zrübfal, wielleiht Des Siechthums und
der Armuth; oder die eures widerhaarigen Fleifches; oder der Sor⸗
ge und des Zweifels Bande? — Wiſſet, endlich fpringen und loͤſen
fih alle. Nur vorübergehend können euch Bande noch berühren,
nicht bleibend mehr; und fo weit nur fömten fie euch noch Bes
ſchweren, al8 es zu eurem Heil und Frieden dient. Zulegt nnıß Allee,
was Kette, Strid und Feflel heißt, auf immer von euch weichen; ich
füge: es muB, weil Ehriftus die Banden trug, die für euch gewun⸗
den und gefchmiedet waren; und weil eins von Beidem, die Gerech⸗
tigfeit Gottes oder feines Sohnes Berdienft darüber zu
Grunde gehn würde, falls ihr in irgend einer Befchwerniß, Haft und
Umkettung andauernd folltet liegen bleiben.
Glaubt dies! Es ift heilige, tiefbegründete Wahrheit. Gfaubt’s;
und ſchon mitten in der Gebundenheit jauchzet in dieſem Guben:
„Der Strick ift zerrifien und wir find freit“ Was ihr aber thut,
bindet ihr Jeſum nicht! Ihr bindet Ihn, wenn ihr mißtranifc bald
hier, bald da feinen Arm zu kurz wähnt, ald daß Er euch retten
koͤnnte. Ihr bindet Ihn, wenn ihr der Meinung Raum gebt, einem
Sünder, der fo ſchwer verfchuldet fei, wie ihr, fei er weder befähigt,
noch geneigt zu helfen. Ihr bindet Ihn, wenn ihr denkt, es müſſe
erft eurerfeits dies und das geleiftet fein, ehe er euch retten könne,
Durch folhen Wahn verkerfert ihr Ihn und feine Gnade in Beding-
niffe und in Klaufeln, die Gott nicht gefept hat, Ihr bindet Ihm,
wenn ihr Ihm nicht zutraut, Daß er auch da Tieben und ſich erbars
men könne, wo nichts als Armfeligkeit ihm entgegentritt. Und wenn
ihr Ihn in Derdacht nehmt, Daß er nur den Treuen und Heiligen
treu ſei, nicht aber den Gebredhlichen, und die Darreichung feiner Gna⸗
dengaben und Gnadenhülfen von dem Maße unfrer Würdigfeit
abhängig mache, dann bindet ihr den Herrn Jeſum, legt, freilich in
eurer Vorftellung nur, feinen freien Händen Zefleln an, und befchrämft
Ihn, und zäunt Ihn in einer Weife ein, die als unwahr und uns
evangelifch ſchlechthin zu verdammen ift. Nein, bindet Ihn fo nicht,
Bolt ihre Ihn aber binden, bindet ihn mit den gofdnen Ketten ſei⸗
ner Berheißungsworte zu eurem Heil Sprecht zu Ihm: „Du
haft gefagt, Dies wolleft du in Gnaden thun, und Das — gedente
daran!® In folcher Weile läßt Er fi) fo gern von armen Sün⸗
dern binden, . So handen Ihn alle feine Heiligen in ihren Aengßen,
Bedrängniffen und Nöthen, und es ift kein Exempel vorhanden, daß
er die ſe Bande je zerriffen hätte,
2.
Seht, dort ziehn fie triumphirend mit ihrem Gebundenen hin, Zu
Hannas führen fie ihn zuerft, dem früheren Hohenpriefter, dem
Schwiegervater des Kaiphas, einem Sünder von hundert Jahren,
Barım zu dem zuerft? Vielleicht ſchon, um dem alten Herm, der
geäußert haben mochte, daß auch er den Schwärmer aus Nazareth
einmal zu fehen wünfche, eine Artigfeit zu erzeigen. Doch fcheint die
Borführung auch nicht ohne vorher getroffene geheime Verabredung
zwifchen ihm und feinem Schwiegerfohne ftattgefunden zu haben, und
er, der alte Sadduzäer, war bei dem ganzen Handel mit Jeſu wohl
ftärfer betheiligt, als es nach Außen hin den Anfchein hatte. Das
Borverhör, das num beginnt, wurde unbezweifelt von ihm und
nicht don Kaiphas eingeleitet. Schon der formlofere Gang, den es
nimmt, ftellt dies außer Frage. Was in den enangeliichen Berichten
diefer Annahme fcheinbar widerfpricht, verliert alle Bedeutung, ſobald
man fi), wozu Grund genug vorhanden ift, den Hannas als mit
feinem Schwiegerfohne in einem, dem hohenpriefterlichen, Palafte
zufammenmwohnend vorftellt,
So fteht denn der Herr vor den Schranken feines erften Richters,
eines jener jümmerlichen Menfchen, deren leider! auch unter uns nicht
wenige angetroffen werden, und welche, zwiefach erftorben, der Wahr⸗
heit Gottes entfremdet, und im Alltäglichiten gefättigt, nichts Höheres
mehr an fi) kommen laffen, fondern das Erhabenſte im beften Falle
nur wie ein Schaufpiel behandeln, und in ihrer vollendeten Abgeſtumpft⸗
heit für alles Ueberirdifche das Brandmal des Fluches ſchon ſichtlich
an der Stirn tragen. Gewiß gehörte es nicht zu den geringften Leis
den des Heiligen in Ifrael, in die Hände fo erbärmlicher und von jes
dem edlern Gehalt entleerter Wichte fi) überantwortet zu fehn. Und
fhaut nur, wie jener graue Sünder fid) gegen den Herm der Herr⸗
lichkeit fpreizt und aufbläht, obwol er nicht einmal mehr wirklicher
Hoherpriefter ift, und felbft, als er e8 noch war, nur einen luftigen
Schatten des mwahrhaftigen Hohenpriefters abgab, welcher, Priefter
und König zugleich, jebt in der Perfon des gebundenen Nazareners
vor ihm ſteht. Jeſus nimmt indeß alle die Demüthigungen, die ihm
widerfahren, gelaffen hin; und wir wiffen ja, aus welchen Grunde
er dies thut, Kennen wir Doch feine geheimnißvolle Stellung, in der
Chrikus vor Hannas 22
er nicht blos vermittelſt feines eignen Exempels ums bedeuten will,
daß fein Reich nicht von diefer Welt, und fomit auch die Ehre gar
etwas Anderes fei, als was die Welt mit diefem Namen zu bezeichnen
pflege; fondern die er zugleich als der für ums einftehende und haf⸗
tende Bürge einnimmt, welchem es vor Allem geziemte, dem ewigen
Vater die hohen Zugenden einer vollendeten Selbfiverleugnung und
Hingebung an uufrer Statt, und im Gegenfage zu unſrer gottlojen
Gelbfterhebung, darzuftellen. Es zieht der Glaube im Schifflein fin
nigen Betrachtens über alle jene Erniedrigungsftätten wie über dunffe
Meeresfluten hin, und wo er die unvergleichlihen Zugenden des
ſchwer geprüften Dulders heraufihimmern fieht, erfchaut er in dens
felben Perlen, die für ihn in Diefen nächtigen Tiefen glänzen. Er
wirft das Zueignungsneg nad ihnen aus, zählt fie zu den Stüden
feines Hochzeitoſchmuckes, und gehet fo, „wie ein Bräutigam geziert“,
aus der Puffionsgefchichte wieder hervor, und unter Elarfter Anfchaus
ung defien, was „Gerechtfertigt fein aus Gnaden“ heiße, ftunmt er
ein in Das vorausgenommene Jubellied des alten Sehers: „ch freue
mid) in dem Herrn, und meine Seele ift fröhlih in meinem Gott;
denn Er hat mich angezogen mit Stleidern des Heild und mit dem
Node der Gerechtigkeit mich gekleidet.”
Hannas fchreitet mit dem Verhöre vor, und fragt den Herm um feine
Jünger und um feine Lehre. Er hofft, Daß die Ausfage Jeſu ihn im
den Stand feßen werde, gegen jene als gegen eine politifch geführs
liche Meutererbande, gegen dieſe aber ald gegen eine gottlofe Keperei
die Anklage zu erheben. Er vermißt fih, in feiner Frage den ale
ein verfapptes Sectenhaupt und als einen Geheimbündler zu behans
dein, der doch fo offen, wie niemald Einer, mit feiner Sache hers
austrat, und überall am hellen Zage wandelte. Aber die Welt vers
fährt heute noch, wie Damals Hannas. Weil fie nicht anerkennen will,
daß wir die allgemein gültige, ewige Gotteswahrheit wirflih haben,
ftempelt fie dieſe, fich felbit befügend, zu einer Winkelanficht, und uns
zu einer Secte. Daß ſich die Gläubigen mit Betonung „Die Ehris
fen“ nennen, ift der Welt unerträglich. Sie erklärt diefelben viel⸗
mehr für eine in baroden Privatanfichten befangene geheime Körpers
fchaft, und unterläßt es nicht, bald diefen, bald jenen-Schimpftitel
ihnen anzuhängen. Wie unverholen wir nun auch unjre Sache von
den Dächern predigen, und wie gründlich wir beweifen mögen, daß
wir nichts Anderes glauben und befennen, ald was je und je bie
2 Dei Hip.
gene qͥcitiche Airche vor wud mit und ajaubte und befanuie, und
felig gelebt Hätten ud geiiorben fein: die Welt bebarıt doch babe,
und wenn fie ſichs auch abſichtlich weiß machen follte, daß wunfer
Glaube nichts als eine Bintelreligien, uud wir unr befungene
Sanatiler ſeien. Eie bemüht ſich, duch Diele erzuungene Berdächti-
geng mit quier Manier die VBahrheit mit ihren Spießen md Nägeln
von ſich fern zu halten, und ührem gotivergefteuen muD fleifchlichen
Treiben wenigfiens einen Schein von Berechtigung zu leihen.
Der Herr thut dem Hebenprieiier auf die Frage um feine Lehre
Beſcheid; denn hier galt es weniger die Ehre feiner Perfon, als
diejenige feiner Sache zu wahren, welde Die Sache Gottes war,
und der er darım eine Verantwortung zu ichulden glaubte. Zugleich
wollte er es für alle Zeiten volltommen Mar geftellt wiſſen, daß er
verurtheilt und gefrenzigt worden fei. „Ich habe,” ſpricht er, „frei
Sffentlich Cbuchfläblih: mit Parrhefie, Das iſt mit freudigem Auf⸗
than meines Mundes) geredet vor der Belt.” — Ya, das hatte
er. Allem, was er redete, fühlte man die tiefe Sicherheit und Die
mächtige Ueberzeugung des Herm vom Himmel au, der da offenbar
machte, was er felbft gefchant und betaftet hatte, und nicht, wie die
Beifen nach dem Fleiſch, darauf erpicht war, feine Säge mit vielen
Argumenten und Beweidgründen gegen etwaige Einwürfe zu verpan-
zern, fondern wußte, daß, wer aus der Wahrheit fei, feine Stimme
hören, und fein Wort als das Wort des lebendigen Gottes erken⸗
sen werde. Und er verrechnete ſich Darin nicht. Roch heute, wo
ein Menſch nüchtern wird aus des Satans Strid, und zur Erkennt
niß feiner Bedürfniffe gelangt, bedarf er feiner Beweife mehr für die
Begründung der Worte Jeſu, indem fein Herz fie wie unmittelbar
vom Himmel nieder tönen hört, und zwifchen den Worten Jefu und
den finnreichften Menfchenworten eine Kluft des Unterſchiedes entdedt,
die fo ungeheuer ift, daß es ihm unbegreiflich bleibt, wie es Diefelbe
nicht laͤngſt fchon erfannte. Der Herr Jeſus fährt fort: „Ich habe
allezeit gelehret in der Synagoge und in dem Tempel,
da alle Jıden zuſammenkommen.“ — Er hatte es, und Ries
mand hatte ihm auch nur etwas nachzumeifen vermocht, Das dem Worte
der Offenbarung im alten Bunde wicht auf Das welllommenfte ent-
ſprochen, und mit dem Wefen eines heiligen Gottes wicht im aller⸗
Jefed vor Saunas, 208
ſchoͤnſten Einfiange geſtanden hätte. Die Meifter in Ifrael mußten
vor feiner Predigt verſtummend Die Waffen fireden. Was will denn
Hannas feiner Lehre? Treffend bemerkt hier ein Auslegr: „Man
kann bier am Jeſu alle Merkmale eines wahren Lehrers finden: Zus
verficht, welche vor der Welt zeugt, beharrliche Fortführung des Zeugs
niffes zu aller Zeit, Anfchluß an beftehende göttliche und menfchliche
Ordnung.“ — „Nichts,“ ſpricht der Herr weiter, „redete ich im
Berborgenen.” Nein, auch das Räthſelhafte, Das Dunkle, Das Ges
heimnißvolfe nicht. Vieles davon hat erft im Laufe der Jahrhunderte
feine Deutung gefunden. Anderes ſteht bis zur Stunde noch theil⸗
weile verfchloffen und verfiegelt vor uns, und harrt feiner Entzifferung;
Er wußte, dab Solches den Seinen lange.ein Räthjel bleiben würde;
aber das hinderte ihn nicht, e8 dennoch auszufprechen. Es war Dies
ein Zeichen mehr, daß er fich feiner Lehre als einer göttlichen und
darum bis an das Ende der Tage bleibenden Far bewußt war. „Was
fragft Du mich?“ fchließt der Herr; „frage Die darum, die es
gehört haben, was ich zu ihnen geredet habe; fiehe, dieſelbi⸗
gen wiffen, was ich gefagt habe.” Wie konnte der Herr ftärfer
für die Reinheit und Göttlichkeit feiner Lehre zeugen, als eben dadurch,
daß er feinen Richter aufforderte, alle Diejenigen, Freunde oder Feinde,
die jemals ihn reden gehört, wor feine Schranken laden, und fie fra
gen zu wollen, ob fie irgend etwas wider ihn auszufagen vermöchten,
das eine Anklage begründe. Und noch heute fcheut er feine Zeugen,
fondern beruft ſich vielmehr zu Gunſten feiner Sache nach wie vor
auf Alle, die fein Wort hörten und daſſelbe annahmen; und dieſe
verfiegeln’8 einmüthig aus eignem Innewerden, und werden's ewig
verfiegeln, daB Jeſu Lehre von Gott fei, und er nicht von ſich felber
geredet habe.
3.
Der Herr ift noch im Reden begriffen, da erhebt ſich der hohen⸗
priefterlichen Diener einer, und verießt ihm mit den Worten: „Ants
worteft du fo Dem Hohenpriefter?* einen Schlag in's Angeficht,
Sept mögt ihr erkennen, worauf e8 abgefehen ift. Mit diefer erften
Mißhandlung mar das Signal zu hundert nachfolgenden gegeben, Deu
ſuechte war ed nicht entgangen, wie vollftändig fein hoher Herr durch
Die einfache Entgegnung des Verklagten in die Enge getrieben war,
und da erbot fich denn als einziges und letztes Mittel, denfelben feiner
peinlichen Berlegenheit und Beſchaͤmung zu entreißen, nur och jener
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Ver Her, ber kbersll, zuB ınch um Werfebe mir den Momichen,
wie Reiner wuäte, was üch ;ieme, Der ter zewteiiber Bürte zeirübs
en nen genen wire: per wie ert werkibet nam
in ätufiher Beiie ab m uns, were mm wie die Sabrbeit,
De wir den Kindern der Lüge gegenüber vertreten, nicht mehr am
fann. Hei heihen auch wir dann frech, uumıkent, itmerüch ıL 1. w;
und wehe und vollends, menu mu gu rer Bürderãägern ud Ber
eßten bei mnierm Glauben ren zu verbarren, und ter Babr⸗
heit nichts vergeben zu wollen, und vermaßen. Bie ſpreizt ſich un
auch gegen uns der erheudelte Eifer um die Wabrung der Ebre
Der Autoritäten, umd mie ruft Derfelbe uns, dem Gelüſte nah uns
gleichfalls mit Badenftreihen tractirend, fein vornebmes: „Antwor⸗
tet Du alfo dem Hohenpriefter?”" Was bleibt aber auch uns
in ähnlicher Lage übrig, als die Entgegnung unfres Meifterd ıms ans
zuelgnen: „Habe ich übel geredet, beweife, Daß es übel jei;
habe ih aber recht geredet, was fhlägft du mich?“ Wie
wernichtend war diefe Rede für den Kuecht umd zugleich für feinen
Criſtuz vor Hannes. u
Herm! Ein Hammerfchlag, der den Stachel ihres böfen Gewiſſens
nur noch tiefer in ihr Mark hinein trieb. Der Backenſtreich ſammt
dem ihn begleitenden Trotzwort war ja wirflih nur ein klarer Bes
weis dafür, daß die Elenden fi) außer Stande fühlten, dem Herm
beweisbar auch nur irgend etwas anzuhängen. Nur fich felbft ſchlu⸗
gen fie in's Geficht, indem fie durch ihr Verfahren nur offenkundig
Zeugniß gaben, wie tief und empfindlich die Wahrheit fie getroffen
habe.
So ging denn unfer Herr und Meifter auf das volllommenfte ge
rechtfertigt aus dieſem erften Berhör hervor, und allein der Hohe
priefter und feine Trabanten waren es, die geächtet am Pranger der
Schande ftehen blieben. In ihrem Loofe fpiegelt ſich dasjenige als
fer derer, Die wider die Sache des Herrn den Schild zu erheben ſich
vermefjen. Seine Sache wird in ftillem Siegesgange vermöge ihrer
innern Wahrheit alle Angriffe vernichten. Was auch wider fie ges
rathfchlagt und unternommen werden mag, fie wird immer wieder zu
feiner Zeit, wie die Sonne aus ihrem Scheitelpunft auf die an dem
Zuß der Berge binabgebannten Nebel, fo auf alle Widerſprüche und
Gegenſaͤtze als auf überwundene Mächte in jtolzer Ruhe niederfchauen.
Des getröften wir und, und find’8 gewiß, und fingen darum im
Glauben fröhlich:
Hein Reich ift nicht von diefer Melt,
Doc endlich, wird e8 überwinden!
Der Wahrheit bleibt zulegt dad Feld,
Und Lug und Irrthum mäflen ſchwinden
Die Finfterni befteht ja nicht
Bor Deiner Gnadenfonne Lit;
Und geht e8 aud durch Schmach und Leiden,
Für Dich muß fid) der Kampf entiheiden!
Und wann der letzte Feind einſt fällt,
Dann ift Dein Reich die ganze Welt. Amen. —
— —
ans Da
XXIV.
Der Gerichtsprozeß.
Eine erſchütternde Wahrheit iſt es, Geliebte, daß am Zielpunkt
unſerer kurzen irdiſchen Laufbahn nicht fofort, wie Manche ſich träu⸗
men laſſen, der Himmel mit ſeinen ewig grünen Auen ſich aufthut,
fondern zunaͤchſt jener Richterthron ſich erhebt, „vor dem“, nad
der Verficherung des Apofteld 2 Eorinth. 5, 10 „wir Alle offen>
Bar werden müffen.” Daß dem alfo fet, wird von Dielen bes
zweifelt. Aber ift’8 zu verwundern? Was man nicht wünfcht, pflegt
man nicht gern zu glauben. Wer aber geneigt ift, Das Dafein jes
nes Bottesgerichts am Schluffe unferer Wallfahrt zu verneinen, fehe
wohl zu, wie er mit dem Herm Ehrifto, der daffelbe aufs unum⸗
wundenfte behauptet, fo wie mit den Propheten und Apofteln
ſich auseinanderfege, die alle im Namen Gottes diefe Behauptung
wiederholen und befräftigen; und thue dar, Daß diefe durch Zeichen
und Wunder beglaubigten Zeugen feinen Glauben verdienen, fons
dern als Lügner und Betrüger erfunden worden feien. Bezweifelt
Jemand, bevor ihm dies gelungen, die Exiſtenz jenes Gerichtes, fo
fhelten wir ihn einen verdüfterten, unverfländigen, ja böswilligen
Menfchen, und geben ihm Schuld, daß er nur leugne, um fi) dem
Eindrude jener Wahrheit zu entziehen, und defto ungeftörter fein
gottvergeffenes Sündenleben fortzuführen. Ja, ein Gericht, wie
Das befagte, gibt’, oder es Iebt Fein perfönlicher Gott im Himmel,
was wir unfer Gewiffen nennen, it ein Selbftbetrug und Wahn,
von der Eriftenz einer höheren Weltordnung träumen wir nur, und
was wir von einem Leben jenfeits reden, üt eine Phantaſie,
ein Mährlein.
„Offenbar werden” ift ung nichts Angenehmes und Erwünfchtes,
Wir lieben von Natur die Finfterniß und Mummerei, und nicht das
Licht. Winkt uns nur einmal ein Menſchenkind bei Seite, weil er,
wie er fagt, „in guter Meinung unter vier Augen uns was zu fagen
habe”, wie pflegen wir dann ſchon zu erfchredten! Gleich erwacht in
ums der peinigende Argwohn, er möchte an uns etwas wahrgenommen
haben, Das und zum Tadel gereihe. Und ergibt ſichs wirklich fo,
wie wird uns dann! Gin arner Menſch iſts, der uns hinter bie
Larve fchaute, und ſchon kann uns fein, als fänden wir vor einem
peinlichen Halsgeriht. Was wird's erft werden; wen das Offenbar⸗
werden vor Demjenigen anhebt, der Augen bat, wie Feuerflam⸗
men, und für den es keine Hüllen und Schleier gibt? Ihr erbebt
vor dieſem Gedanken? O, daß ihr nur recht gründlich erzittern moͤch⸗
tet! Den wahrhaft Erfchrodenen foll id) heute das Geheimniß ent
fiegeln, wie man dahin gelangen könne, auch an die Schauer bes
jüngften Gerichts mit Frieden zu denken. Großes hat es gelo⸗
ftet, dieſe Möglichkeit zuwege zu bringen. Aber, gelobet jei Gott! fie
ward ermittelt!
Iohannes 18, 24. 14. Matthäus 26, 57—61. Marcus 14, 53,
55—59, $£ucas 29, 54,
-Sannad fandte ihn gebunden zu dem Hohenpriefter Kaiphas. Es war aber Kaiphat,
der den Juden rieth, es wäre gut, daß ein Menſtch würde umgebracht für dad Bolt.
Die aber, die Iefum gegriffen hatten, führeten ihn bin, nnd brachten ihn in beß
Hohenprieſters Kaiphas Haus, dahin zuſammengelommen waren alle Hobenpriefter
und Aelteiten und Schriftgelehrten. Die Hobenpriefter aber und elteften und ber
ganze Rath ſuchten falih Zeugniß wider Jeſum, auf daß fie ihn sum Tode brachten,
und fanden nichts. Und wiewohl viele falſche Zengen berzutraten,, fanden fie doch
Keines; denn viele gaben falſcheß Zengniß wider ihn, aber ihr Zeugniß ſtimmte nicht
überein. Zuletzt traten herzn zween ſalſche Zeugen, und ſprachen: Diefer hat gefagt:
Ich fanın und will den Tempel Gotteß, der mit Händen gemacht iſt, abbrechen, und
in dreien Tagen einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht if. Aber ihr
Zengniß ſtimmte noch nit überein. Und der Hohepriefer Rand auf unter fie, und
fragte Iefum, und ſprach: Anworteſt du nichts zu dem, was dieſe wider dich zeu⸗
gen? Jeſus aber ſchwieg ſtille und antwortete nichts.
Ehriftus vor den Schranken des geiftlihen Gerichts! Dies Die
Scene, in die wir uns heute zu vertiefen haben. Die fcheinbaren
Widerfprühe im Lebensgange Jeſu mehren und fteigern ſich, je
näher fie ihrer fchließlichen Loͤſung rüden. Man dene: der
Gottes auf der Verbrecherbank; der Richter der Welt von den Sün⸗
dern gerichtet! Wo ift ein fhreienderer Mißton je verlautet, ala
biefer? — Und was auf dem Schauplaß der irdiſch⸗menſchlichen
Geſchichte fich entwidelt, iſt noch nicht einmal das Erftaunenswerthefte
und Befremdendſte, was fi) bier ereignet. Die uns zugelehrte bifto-
riſche Außenfeite Der Begebenheit vertritt wur, wie und ſchon bewußt
2 De Gele. -
iR, die Stelle eines mit finmwollen fumbefiichen Figuren durchwirkten
Borhangs, hinter welchem erſt der eigentfihe, Durch jene nur ans
dentend vorgebildete, und nur vermittelt de8 Glaubensauges mahr-
yenehmende Gerichtsäkt fi) vollzieht; ein Aft, bei welchem wir Alle
tu hohen Grade betheiligt find, und der vor einem wmendfid böbern
Zribunale feinen Verlauf hat, als die Verfammlung ift, welche wir
in dem jüdifchen Synedrium vereinigt fehen.
Das öffentlihe Verfahren gegen Jeſum bildet den Gegen⸗
Rand unferer heutigen Betrachtung. Wir richten unfer Augenmerk zu:
vörderft auf den Gerichtshof; dann auf das FZeugenverhör; md
endlih auf das Verhalten des Verklagten.
Gefälle es dem Herrn, auch hier in die Geheimniffe feines Marter:
weges uns einzumweihen.
1.
Es iſt noch Nacht. Die Stadt Jeruſalem liegt größtentheils noch
in tiefem Schlummer, und ahnet nicht, was innerhalb ihrer Mauern
Schauerliches und zugleih Heilvolles fo eben in die Weltge-
ſchichte fich verwvebt. Nur bin umd wieder hört man einzelne Fuß⸗
teitte durch die Straßen raufchen, und ihre Richtung nad) dem hohen⸗
priefterlihen Palafte nehmen, deffen zur ungewohnten Stunde durch
Lampen und Zadelfchein erleuchtete Fenfter auf Vorgänge außerge-
wöhnlicher Gattung fchließen laſſen. Auch wir begeben uns dorthin.
Eine im geräumigen Sigungsfaal vereinigte hohe Verſammlung nimmt
uns auf. ES ift der Sanhedrin, der Rath der fiebenzig Obern in
Iſrael, mit dem Hobenpriefter, als feinem Vorfigenden, an der
Spige. Ein der Beftallung nah hochwürdiges Kollegium; das
mgefehenfte und ehrfurdhtgebietendite der ganzen Welt, indem es,
figend auf Mofis Stuhl, inmitten des auserwählten Volks nad)
dem Geſetzbuch und im Namen des allerhöchiten Gottes Recht ſprach.
Bir erbliden zur Seite des Präfidenten die Männer, welche früher
Die hohepriefterliche Würde beffeideten. Hinter diefen gewahren wir
zunaͤchſt die Vorfteher der vierundzwanzig Priefterflaffen. Dann
folgen die Aelteften, oder die Häupter der Synagogen; und den
übrigen Theil der Berfammelten bilden auserlefene Schriftgelehrte, ge⸗
feßesfundige Männer, wohl bewandert in den mofaifchen Rechten und
ben Meberlieferungen und Satzungen der Rabbinen.
Diefen Herren lag es als Hütern des Heiligthums vor Allem ob,
Die Ordnungen Jehovas zu handhaben im Bolte, die Nechtshändel
Der Gerihtiprme. os
der einzelnen Stämme zu fehlichten, über die Reinheit der Lehre und
des GBottesdienftes zu wachen, und auftauchende Keßereien zu prüfen
und zu richten. So gehörte es allerdings zu den Befugniffen,
ja zu den Pflichten dieſer Behörde, einen Mann, der ſich für den
Meiflas ausgab, zur Verantwortung zu ziehen, und auf das Schärffie
zu verhören. Und daß es auch dem Heiligen Iſraels nicht einflel, ihr
das Necht hierzu ftreitig zu machen, erhellt Ddeutlidy genug aus der
Ehrerbietung, die er, abfehend von der fittlichen Befchaffenheit
ihrer einzelnen Mitglieder, während des ganzen Berlaufes der Ders
handlungen ihr zu beweifen nicht verfehlte. Er fieht in dem Syne⸗
drium das Tribunal des richterlihen Gottes; nur erblickt er dieſes
Darin in einer noch höheren und zwar in folher Weife, daß Er
ah da Gottes Stimme durch daffelbe vernimmt, wo die Raths⸗
herren für ihre Perfonen aus Eingebungen des Teufels reden, und
daß die ungerechten Urtheile der Zebteren für Ihn in gegründete
und gerechte des jenfeitigen Gerichtshofs ſich verwandeln.
Das Gefchlecht unfrer Zeit will von einem göttlichen Gerichts
hof nicht mehr wiffen Dan fpricht lieber mit dem Dichter der
„Götter Griechenlands”: „die Weltgefchichte ift das Weltgericht”, als
mit dem Pfalmenfänger: „Herr, gehe nicht in's Gericht mit deinem
Knechte, denn vor dir ift fein Lebendiger gerecht!“ Man läßt alles
Gericht einzig darin aufgehn, daß Das Gute in der Freude des fitt-
lihen Bewußtfeins ſich felbft belohne; das Böje dagegen in der Neue,
die ihm folge, feine Strafe finde. So löſt man dad Gericht von
Gott dem Allmächtigen ab, wie man Gott felbft von der Welt und
dem Leben der Menfchen nblöft; und fchreit in feiner Thorheit: „Friede,
Friede, es hat nit Gefahr”, als ob, was wir leugnen, darum, weil
wir &8 leugnen, aufhörete, zu exiſtiren. Wer aber feinen Kopf dars
auf gefeßt hat, an eine Juſtiz jenfeitS der Wolken nicht zu glauben,
der möge denn noch eine Weile warten, um fi fühlend von deren
Dafein zu überzeugen. Es ift noch um eine furze Spanne Zeit zu
thun, fo wiffen wir Alle, ob das Wort Gottes Recht hatte mit feinem:
„Bir müflen alle offenbar werden vor dem Richterftuhle Ehrifti«, oder
die fleifchliche Vernunft mit ihren kecken VBerneinungen. Wir unires
Theils glauben mit der Schrift, daß „Gott feinen Thron errichtet hat,
zu richten die Menfchenkinder,* und „Gerechtigkeit und Gericht feines
Thrones Beten” feien. Bir ſehen ihn ragen, diefen Thron, auf den
brandenden Todeswogen der Sündfluth, wie auf den Ajchenhaufen
19
300 Das Heilige.
Sodoms und Gomorrha und den Trümmern Serufalems; ımd uns
fteht nicht mehr in Frage, weder, was Salomo fagt, daß Gott alle
Werke vor Gericht bringen werde, ſammt dem, Das verborgen ift, es
fet gut oder böfe; noch was der Apoftel: „Siehe, der Herr fommt
mit viel taufend Heiligen, Gericht zu halten über Alle!" — Es exi⸗
flirt ein Sottestribunal, e8 harret unfrer ein pofitives, göttliches Ges
richt; und dies fo gewiß, als Gott wahrhaftig heilig und gerecht
iſt; als Er die Schleier, in denen diefleitS des Grabes Seine Gerech⸗
tigkeit noch verhüllt geht, einft Tüften muß; als Die Stimme unfres
Gewiſſens, dieſes Heroldes des richterlichen Gottes nicht als eine
Lüge erfunden werden wird, und der Sohn Gottes, der König
der Wahrheit, die erfchütternden Worte uns binterlaffen hat: „Als⸗
denn wird Er fagen zu denen zu feiner Linken: „Gebet hinweg von
mir, Derfluchte, in das ewige Feuer, das dem Zeufel und feinen
Engeln bereitet ift!“
Was muß das aber fein, vor jenem Richterftuhl erfcheinen müſſen!
Sein Stuhl, jagt die Schrift, „bremt in eitel Feuerflammen.“
„Unfer Gott”, ruft nicht blos Mofes, fondern mit ihm auch Pau⸗
Ius, „ift ein verzehrend Feuer." „Es ift ſchrecklich,“ fpricht der-
felbe Apoftel, „in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ Bor
den Schranken dieſes lebendigen Gottes wird nit nad) Gunft ent:
fehieden, fondern nah Recht. Hier ift maßgebend das Wort: „Ber:
flucht fei Jedermann, der nicht blieb in Allem.” Hier geht's nach dem
Grundſatze: „Und fo Jemand das ganze Geſetz hält, und fündiget
an Einem, der ift e8 ganz fchuldig.* Und hier wird nichts abge-
dungen und erlaffen. „Es ift leichter,“ fpricht der Herr, „daß Him⸗
mel und Erde zergehe, denn daß ein Strichlein vom Geſetze falle.“
Für Bemäntelungen und Entfchuldigungen bleibt hier fein Raum. Die
Bücher find aufgethan, und des Richters Augen „Zeuerflammen, und
„prüfen Herz und Nieren.” Hoffe auch Niemand, mit Bitten oder
Thränen hier etwas auszurichten. Nicht nah Gefühlen wird bier
gerichtet, fondern nad) unmwandelbaren ewigen Prinzipien, Kein
Zummelplag iſt bier mehr für biendende Vertheidigungstünfte. Wer
will Den zu berüden hoffen, vor deffen Augen Alles bloß und ent»
det ift? Kein Raum bleibt hier mehr für Appellationen und Re-
curſe. Man fteht vor der hödhiten, und allerlebten Inſtanz. Wie
hier entfchieden wird, fo bleibt's entfchieden. Nicht blos der
Mund des Nichters urtheilt umd richtet hier, ſondern feine ganze
Der Gerichttvrozeß 291
Natur, fein ganzes Weſen. Er kann keine Sünde unverdammt
bingehn laffen; Er zerfiele, wenn er es tbäte, mit fich ſelbſt. Um
Gott zu bleiben, muß er Finfterniß als FZinfterniß behandeln und
nicht als Licht, und Verwerfliches verwerfen, nicht überfehn, gefchweige
befchönigen.
Bor diefem allerhöchiten Zribimale nun fteht der gebundene Mann
unfrer Geſchichte; denn, wie ſchon gefagt, nicht im Sichtbaren nur müßg
ihre den großen Gerichtsprozeß fuchen, um den es fich hier handelt,
fondern vorzugsweife in Unfihtbaren. Es ſteht der Herr auch
nicht als Heiliger vor den Schranken, fondern als Sünder Un⸗
fer Schuldbuch wird als das feine vor ihm aufgethan. Ihm wer
den unfre Sünden vorgerüdt: denn er trägt fie. Mit unfern Miſſe⸗
thaten wird er in Die richterliche Wage gelegt: denn Ihm find fie
zugerechnet. Was mag da zwifchen Ihm und dem auf dem Stuhl der
Majeftät vorgegangen fein? Die Schleier der Ewigkeit bedecken's.
Das Eine aber ift uns unverborgen, daß er unfre Stelle dort
vertrat. Wie er, fo hätten wir einft Dageftanden, wenn er nicht ers
fhienen wäre; und wehe uns, hätten wir felbft für unfre Schulden
haften müffen! Sept aber darf uns ein folder Gedanfe nicht mehr
erfchreden. Nein, Brüder, jebt nicht mehr, wenn wir anders Chrifti
eigen find. Was uns oblag, hat Er erledigt. Wir kommen nicht mehr
in's Gericht, feitdem Er ſprach: „Sibet, und laſſet mich hingehn. *
Wir finden in Chrifto im Verhör, vernahmen in Ihm unfer Urtheil,
mußten vor dem Angeficht des Richters in Ihm verftummen, und haben
in Ihm den blutigen Sold bezahlt, den wir der ewigen Gerechtigkeit
fehuldeten. Nun ift der Nichter uns verföhnt. Bis in's Innerſte des
Heiligthums hinein fehen wir nun Die Straße uns eröffnet. Keine
Schranke eines verdammenden Gefeßes verfperrt uns den Weg zum
Himmel mehr. Heiter fchauen wir in die Wolfen, und der Donner,
der fie Durchrollt, tönt uns nicht mehr wie der Klang einer Armen-
fünderglode, fondern wie ein grüßender Friedensglodenhall aus lies
ber und erfehnter Heimath. Zudt ein Racheblif vom Himmel; uns
trifft er nicht. Schilt der Herr aus Seiner Höhe, uns meint ex
nicht. Ertönt die Poſaune des Gerichts; uns ladet fie nicht vor die
ſchauerlichen Schranken. Fährt Das Schwert des Zorns aus Gottes
Scheide; wir find es nicht mehr, auf die es abgefehen it. Werden
die Bücher aufgethan; wir dürfen gelaffen ihre Blätter raufchen hören.
Bir wiffen von feinem Richter mehr; der Richter ift unfer Freund
19*
2 Das Geige.
und Bater. GEntzüdendes Bewußtſein dies! — Preis Dir, gerich⸗
teter Jeſu, dem wir es danken!
a.
Zurüd in den Eigungsfaal! Der hohe Rath fucht Zengniß wider
Jeſum. Er fucht’s, weil umgefucht ein ſolches fich nicht darbeut.
Bas ungefucht ſich bietet, ipricht Alles für Ihm. Er foll aber aus
dem Mittel, er foll. Barım? Beil er den flolsen Herren, die Ihn
goifcjen haben, ihr Spiel verdirbt, und ihrem ſeibſtiſchen Thun umd
Trachten überall den Weg vertritt. Ihr Kopf iſt weniger mit Ihm
entzweit, als ihr Herz. Anders aber hat ſich's insgemein bei feinen
Feinden nicht. Sie mögen Ihn nicht, weil er ftörend in ihre Suͤn⸗
denwinkel fchaut, Die Wege der Eitelkeit, die fie wandeln, nicht genehm
halt, ihr gottvergefines und fleifchliche® Treiben richtet, und die Ges
rechtigkeit, die vor Gott gült, ihnen abfpricht. Und weil fie aus fol-
herlei Gründen Ihn nicht mögen, ſuchen fie Zeugniß wider Ihn,
und müffen vor allen Dingen feine Gottheit leugnen, denn wäre
ee Gott, wer entbände fie von der Pflicht, Ihm zu buldigen, und
feinem Worte zu glauben, das fie verdammt? Geid deshalb ver:
fihert: der ganze Rationalismus ift ein Pila, der auf dem Boden des
gottentfremdeten Herzens, und nicht auf dem der redlich forſchenden
Vernunft erwachſen if. Glaubt nur, die mehrften unter denen, Die
unfre Lehre verwerfen, verwerfen fie nicht, weil fie etwa zu pbilofo-
phifche Köpfe wären, um dergleichen glauben zu können, fondern aus
Motiven, denjenigen ähnlich, aus welchen einft ein Felix jene Lehre
ms dem Munde Pauli nicht weiter hören mochte. Sie fühlen fidh
durch Diefelbe in ihrem eitlen und weltlihen Sinn und Weſen be⸗
helligt. Was hilft's aber, daß fie verneinen, was wir bejahen und
befiegeln? Wahrheit bleibt Doch Wahrheit, troß ihres Kopfichüttelns
und Negirens. Chriftus bleibt der Herr vom Himmel und ihr Richter;
Ehrifti Blut, das fie mit Füßen treten, das einzige NRettungsmittel
für fie, wie für uns; Chrifti Wort, das alleinige Licht, das in die
Finſterniß fcheint. Und wie ſteht's um die Zeugen, die fie wider Je⸗
ſum aufzuftellen haben? O diefer windigen und armfeligen Schwäger,
auf welche fte fi) berufen, und die unausgefeßt nicht einer dem an⸗
dern bios, fondern auch allaugenblicklich ſich felber widerfprechen!
Die Zeugen, die dagegen wir für unfern Glauben aufzurufen haben,
find die gottgeweihten Seher und Propheten, die heiligen, herrlichen
Evangeliften und Apoftel, die Taufende von Blutzeugen, die in feiner
Der Gerichtprozeß. 293
Kraft auch in den Flammen der Scheiterhaufen Ihm ihre Pfalmen
fangen; ja auf die ganze Geſchichte Seiner Kirche berufen wir ung,
wie auf die tagtägliche Erfahrung aller Gläubigen, als auf ein fort
laufendes Zeugniß für den, der unfre Xiebe ift, und für die Wahrs
heit Seiner Sache. —
Die Näthe des Synedriums, denen um des Volfes und wohl auch
um ihres eignen Gewiffens willen daran liegt, ihren Juſtizmord wer
nigftend mit einem Schein des Rechtes zu befleiden, find andauernd
bemüht, Zeugniß zu fuchen wider Jeſum. Aber ein erfolgloferes Jagen
iſt wohl niemals unternommen worden, als das ihrige. Sie ſchmach⸗
ten darnad), in Seines Lebens Garten auch nur einen Dom und
eine Diftel zu entdeden, woraus fie den Zodtenfranz Ihm flechten
könnten. Aber fie finden Blumen zu einer Ehrentrone für Ihm
genug; aber Unkrauts auch nicht ein Hälmlein. Da räth denn die
Berzweiflung zum Neußerften. Erkaufte Zeugen treten auf, ein ganzer
Haufe; Buben, die in allen Berdächtigungskünften wohlerfahren find,
die fi) bemühen, dies und jenes dem Heiligen anzulügen. Aber was
erreichen fie? — Sie ftellen ſich felbft, fammt denen, die fie ge
dungen, aufs ärgfte bloß, und unterbreiten der Unfchuld des Ber
Hagten nur eine neue Folie Was fie vorbringen, richtet fich felbft
als eine Abfurdität; und nicht einmal das wird erzielt, daß, was
nah dem Mofaifchen Geſetze unbedingt erforderlih war, ihre Zeug⸗
niffe übereinftimmen. Sie gerathen aus einer Berwirnng in die
andere, widerlegen wider ihren Willen ſich unter einander felbft, und
mahnen an das Wort des Herrn bei Sacharia: „Ich will alle Roffe
ſcheu umd ihre Reiter unfinnig machen.“ Die hohe VBerfammlung bes
findet fih fchon in der peinlichften Verlegenheit. Da treten zuletzt
noch zwei Zeugen vor, und hoffen, vermittelt eines Wortes, das der
Herr vor Zahresfrift einmal gefprocdyen, und welches fie ihm natürlich
in böswillig verdrehter Geftalt jet wieder vorrüden, die gar zu tiefe
Scharte ihres Berflägerfchwertes wieder auszuwetzen. Es ift das bes
fannte Wort Joh. 2, 19: „Brechet diefen Tempel ab, und am
dritten Tage will ih ihn wieder aufrichten.“ Schon damals
wurde Ihm dieſes Wort, das Er durch die auf fich deutende Bes
wegung feiner Hand, womit Er es begleitete, gewiß jedem ernftlichen
Mißverftändnig entzog, von den Juden auf's böslichite mißdeutet.
„Diefer Tempel” fprachen fie, „ift in ſechs und vierzig. Jahren ers
baut, und du willſt ihn in dreien Tagen aufbauen?!” — „Er redete
294 Dad Heilige.
aber," bemerkt an der befagten Stelle der Evangelift, „vom Zempel
feines Leibes.“ Daß er von dem geredet, mußten auch Die beiden
Beftochenen gar wohl. Nichtsdeſtoweniger erjcheint ihnen das Wort
fehr geeignet, um damit den Schein nicht blos einer gottlofen Groß⸗
fprecherei, fondern aud) des Majeftätsverbrechens einer Zempelläfterung
auf Zefum zu wälzen; und fo hören wir fie denn fagen: Er hat ſich
gerühmt: „Ich will den Zempel abbrechen und in dreien Tagen den-
felben bauen.” Doch gerathen auch fie wieder, wie Dies ſchon in etwa
aus den evangelifchen Berichten hervorgeht, von vorneherein in Die
grellften Widerfprüche mit einander. Der Eine behauptet, Jeſus habe
geſagt: „Ich will,“ der Andere: „Ich kann”; der Eine: „den Tempel
Gottes will ich zerbrechen und ihn in dreien Tagen wieder aufridhten, “
Der Andere: „den Tempel, der mit Händen gemacht ift, will ich ab-
brechen, und einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht ift.“
Genug, das Gerede der Beiden macht das Maß der Verwirrung voll;
und ſelbſt der Hohepriefter ift noch nicht ehrlos und unbefonnen ge
ang, um auf folche all’ zu jämmerlihe Verdächtigung hin fein ridy-
terliches Endurtheil zu füllen. So fcharf war immer fein Gewiffen
noch, daß er das Klägliche und Nichtswürdige diefer letzten Ausfagen
febhaft fühlte; und wäre es auch nicht ſchon die Stimme feines inne:
zen Richters geweien, die gegen ein ernſtes Eingehn darauf Gegen⸗
ſpruch erhoben hätte, jo hätten fchon eines Theils die heimliche Be
forgniß, es möchte auch dem Volke ein ſolcher Rechtsgrund wenig
einleuchtend erfcyeinen, und dann die bedeutungsvoll erhabene und
imponirende Ruhe, welche der Berklagte der elenden Fälſchung jener
beiden Zeugen entgegenfebte, davon ihn abgehalten. So gereichte denn
am Ende das ganze Inquifitionsverfahren jener im Aufſchüren von
fittlihen Schwächen und Blößen fo geübten Keßerrichter nur zur Ver⸗
berrlichung unfers Herrn, indem dadurch deffen mafellofe Unfchuld in
das allerhellite Licht geftellt ward. Sa, Brüder, Er ift das Lamm
ohne Fehl, das Er nothwendigerweile fein mußte, um unfre Schuld
zu zahlen.
Ah, wenn einmal gegen uns die Zeugen aufgerufen werden, wie
fo gar anders wird dann das Ergebniß fein An der erforderlichen
Uebereinftimmung wird’8 alsdann nicht mangeln. Unfer Gewiffen wird
da nichts Beſſeres von uns zu fagen wiſſen, als der Berkläger aus
dem Abgrund; nichts Beßres die Umgebung, in der wir lebten, als
Moſes, der Sachwalter der Heiligkeit Gottes auf Erden. Und wehe!
Der Gerihiäprogeh,. | 295
Der Hauptzeuge wider uns ift dann der erhabene Richter felbft, defien
Auge uns überall gefehen, und unfer Innerſtes bis in feine geheim⸗
ften Falten hinein ergründet hat! Und wie wird da das Zeugniß
wider uns anders lauten können, ald „Tekel“ d. i. „Ihr feid ges
wogen und zu leicht befunden!” — „So wird es lauten?" — Ber
fragt’8? | Solche etwa, die in Ehrifto find, fo antworte ich: Nein,
e8 lautet anders einft. Keine Zeugen werden gegen euch mehr zu⸗
gelaffen. Das Zeugniß, das euch galt, hat wider euren Bürgen fi
gewendet. Die Verkläger zu Zerufalem lügen in ihren Ausfagen gegen
Sefum, und fprechen Doch auch wieder die Wahrheit. Web fie den
Herrn beichuldigen, deß ift er fhuldig, weil er uns vertritt. Wenn
uns Jemand hinfort in Liebe unfre Sünden vorhält, nehmen wir es
dankbar an, und beugen uns foldyem Gerichte. Wenn Einer zu uns
ſpricht: „Siehe, bier noch ein Gebrehen an dir, und dort eins, fo
ſchlagen wir in uns, und entgegnen: „Ach, möchte ich meinem Herm
ganz zu Ehren leben!” Macht aber Jemand, jei er Menſch, fei er
Dämon, etwa Miene, in feindlicher Weife, und vor Gott uns vers
Hagend, gegen uns einzulummen, fo thun wir Einfpruch, und ent
gegnen: „Du verirrt Dich!” Denn was würde ein Richter fagen,
wenn gegen einen Dieb, der feine Strafe bereitö verbüßte, noch nach⸗
träglich ein Zeuge feines Vergehens ſich melden wollte? „Freund, *
würde er fprechen, „behalte dein Zeugniß fein für dic. Der Prozeß
ift entfchieden, und die Akten find gefchloffen.* In ähnlicher Weife
würden Seitens des himmliſchen Richters die Zeugen abgefer-
tigt werden, die, nachdem auch unfer Prozeß in Ehrifto zum Schluß
gekommen, noch wider uns fich melden wollten. Seliger Umſtand
dies! Da mag ja wohl das alte Verslein feine volle Berechtigung
haben:
Chriſt gerihtet? Sagt doch am,
Wo find Ehrifi Sünden?
Kaiphas, der Huge Mann,
Weiß fie nicht zu finden.
Ah, er ſucht nur all zu weit,
Mas ich näher finde:
Wie ih Chriſti Heiligkeit,
Ward Er meine Sünde!
3.
Wie benimmt ſich aber der Berklagte, während das gerichtliche
Verfahren über Ihn ergeht? Höchk bedeutſam iſt fein ganges Ver⸗
296 Das Heilige.
balten. — „Antworteft Du nichts zu dem, was Diefe wider
Dich zeugen?” hören wir den Hohenpriefter mit einer Richtermiene,
die feine Berlegenheit nur fchlecht werdet, ihm zuherrſchen. „Aber
Jeſus“, erzählt die Gefchichte weiter, „ſchwieg ftille.” Höchit be
redtes Schweigen Dies; für die Kinder des Liigenvaters vernichtender,
als es das fchärfite Strafwort geweſen wäre! Wozu doch auch hier
noch viele Worte machen? Zeugten Doch, ob auch wider ihren Willen,
Die Feinde felbft fo kräftig für Ihn, daß es einer weiteren Recht⸗
fertigung für Ihn nicht bedurfte. Er ſchweigt. Wie ein Geringes
wäre e8 Ihm gewefen, mit wenigen Worten der Entgegnung Die hohe
Berfammlung auf das empfindlichite bloßzuftellen, aber Er ehrt in
ihr, welcher Ungerechtigfeiten fie fih auch fchuldig macht, nad) wie
vor die „von Gott geordnete Obrigkeit,” und in Diefer Anfchauung
erachtet er's für geziemend, daß er ſchweige. — „Er ſchweigt,“ be-
merkt hier ein Nusleger treffend, „wie ein mißhandeltes Kind vor
feinem ungerechten Bater fchweigt.” Doch liegt die weientlichite Bes
Deutung feines Schweigens tiefer. Es ift nicht das Schweigen eines
guten Gewiſſens blos, fundern, die Sache recht verftanden, das Ge:
gentheil eines folhen. Sein Schweigen ift das in die Erfcheinung
tretende Abbild eines geheimnißvolleren Berftummens vor einem ans
dern und höhern Gerichtshof, als der menfchliche war; und aus dieſem
Geſichtspunkt daſſelbe angefchaut, iſt's allerdings auch ein Schweigen
des Zugeftehens und der Bejahung. Wenn ein Verklagter zu
den Anklagen, die gerichtlich wider ihn erhoben werden, ſchweigt, fo
gilt dies für ein beſtätigendes „Ja“. Als ein foldyes Schuldbelennt-
niß haben wir auch das Schweigen Jeſu aufzufaffen. Nachdem er
fraft geheimnißvoller Zurechnung vor Gott die Sünden feines Volles
übernommen, erachtet er fi) auch des Todesurtheils und des Fluches
würdig. Diefe wahrhaftige Dargabe feiner felbft als eines Schuld:
ners an unfrer Statt will er dadurch auch äußerlich andeuten und
befunden, daß er eben die Anklage feiner Richter ohne irgend einen
Verſuch von Selbftentfchuldigung fehweigend hinnimmt. So fchweigt
er alfo nicht blos wie ein Lamm, fondern auch als das Lamm, das
der Welt Sünde trägt. Sein Berftummen aber macht uns im Ge-
richte reden, und gewährt uns Vollmacht und Freimuth, geftüßt auf
überfhwänglic vorhandenen Rechtfertigungsgrund allen Berfläs
gem gegenüber getroft unfer Haupt zu erheben. —
Die Erinnerung an den redenden Herrn ift mir koͤſtlich. Das Bild
®
Der Gerichttprozeß. 297
des verfiummenden Bürgen ift mis nicht minder. Zum Helden
macht Sein Verſtummen mich, wo die Eichen von Bafan zittern,
und ftellt, wo die Lenden der Starken erbeben, meine Füße auf
einen Felfen. Ich ſchweige, wenn mein Gewilfen mich einen Sün;
der fchilt; denn ich bin ein folcher. Aber will midy8 verdammen,
fo rede ich, und fpredye: „Gott ift größer, als du mein Herz; Er
iſts um Ehrifti willen!” — Ich ſchweige, fagt mir das Gefep, daß
ich den Fluch verdiene; denn ich verdiene ihn. Will aber das Geſetz
mir drohen, Daß mich der Fluch auch treffen werde, fo erhebe ich
Widerſpruch, und rufe: „Chriſtus erduldete die Verfluhung!” Ich
ſchweige, rüdt mir der Satan meine Miffethaten vor; id) verhülle
mein Haupt, und gebe ihm Necht in Allem. Berfucht er aber, mit
Gericht und Hölle mich zu üÄngftigen, fo fpreche ih, und zwar mit
Michael: „Der Herr ſchelte Did, du Satan!” Ich fchweige,
wenn ein Elend mich traf, und man zu mir fügt: „Dies ward dir
um deiner Sünden willen!” Sagt man mir aber: „Dies ift die
Strafe für deine Sünden,” fo ſpreche ih und entgegne: „Mit
Nichten; Verdammliches ift nicht mehr an mir!“ Und wenn ich vor
dem Thron des Allmächtigen einft erfcheine, und in das Licht feines
Angefichtes treten muß, werde ich verftummen, wenn Er nad) meinen
Tugenden mich fragen follte, weil ich deren feine habe. Ich werde
verfiummen, follte Er zu mir fagen: „Um deiner Thaten willen bit
Du des Todes fchuldig, und haft nur Anfpruch auf die Hölle!’ Am
Staube verftummen werde ich, wenn Er etwa mir eröffnete, es fei
nichts in mir, das ihn bewegen könnte, mich von der Verdammmiß
loszufprechen; denn wirklich bin ich mir nicht bewußt, daß in mir
felber etwas fei, das de mich würdig machte. Gewänne e8 aber
den Anfchein, als folle das Urtheil der Verwerfung wirflich über
mich ergehn, fo würde ich nicht mehr ſchweigen, fondern auf Grund
des Blutes, des Gehorfams, des unendlichen Verdienftes meines Bürs
gen mit aller Beugung und Ehrerbietung, aber auch mit aller Beherzt⸗
heit fogar an die Gerechtigkeit Gottes appellicen, Daß fie mir Die
Perlenthore des Paradiefes oͤffne. Und was gilts, ich werde mich
nicht abfchläglich befchieden fehn! —
Dies Schweigen und Reden zur rechten Zeit Ichre uns Alle
denn der Herr: das Erftere durch einen himmlifhen Zadelwurf
in die Finfterniffe unfrer Natur; das Andre durch eine göttliche Bes
leuchtung des troſtvollen Geheinmiſſes der.Marter Jeſu. Es gibt
298 Das Heilige.
aur einen Weg, deu Schreien des zufünftigen Gerichtes zu entfliehen :
die gläubige Ergreifung deſſen, was der Bürge an unfrer Statt voll-
bracht hat. Hiezu flärfe uns denn Gott je länger, je mehr die
Blaubenshand, und lehre uns fingen aus unſres Herzens Tiefe:
Peg nun Kurt und Tranerflor!
Ich hab’ mich befonnen:
Seit Chriſt den Vrozeß verlor,
Hab’ ich ihu gewonnen.
Sein Gericht hub meines auf;
Ich hab’ offue Gaflen;
Und darf, wenn vollbracht mein Lauf,
Boy mic ſehen laffen! — Amen. —
— — rR —
| XXV.
Petri Fall.
„Du ſteheſt durch den Glauben: ſei nicht ſtolz, ſondern
fürchte dich!“ So der Apoſtel, Röm. 11, 20. Er ſpricht es zu-
nächſt zu den Brüdern aus den Heiden, die er umter dem Bilde eines
Der Wurzel des gefällten Iſraelitenthums aufgepfropften, aber dadurch
veredelten „wilden Delbaums” in eins zufammenfaßt. Was er aber
dieſen fagt, fagt er zugleich jedwedem einzelnen Chriſten. Wie
weit auch immer ein Jünger des Herm im Werke der Heiligung
gefördert werden mag, nimmer gelangt er zu einer fo ſelbſtſtaͤndi⸗
gen Stellung, daß er hinfort „ein Leben habe in feiner Hand,”
und aus einem ihm zu beliebiger Verfügung geftellten Vermögen
die Koften feiner geiftlichen Unternehmungen beftreiten könne. Einen
Stand der Mündigkeit, in welchem er die Gängelbande Jeſu end-
lich von fi) werfen, und des Schöpfens aus Seiner Kraft» und
Gnadenfülle ſich überhoben glauben dürfte, gibt es für den Ehriften
nicht. So wenig die Rebe abgefondert vom Weinftod für ſich bes
ſtehen und in felbftftändiger Vereinzelung grünen, blühen und Früchte
treiben kann, fo wenig ift der Ehrift außerhalb der Glaubensgemein⸗
ſchaft mit Chriſto zu irgend einem Guten fähig, Nur in der Verei⸗
Vetri Tall 2%
wigung mit Ihm iſt er ſtark; nur auf Seine Schultern gelehnt, trogt
er dem Satan und der Welt. — So , ſteht“ er „Durch den Glau-
ben“, d. b. durch die Macht des Herrn, den er durch den Glauben
ergreift. Ehriftus it und bleibt die Quelle aller jeiner Staͤrke.
— Bo ift nun fein eigener Ruhm? — Er ift aus! — — Hätte
Simon Petrus dies auf dem Oelbergsgange fchon bedacht! Aber
ihm war e8 aufbehalten, die Wahrheit jenes apoftoliihen Spruchs
auf ſchmerzlichem Erfahrungswege zu erproben. Wir werden
defien heute Zeugen fein. Befeftige unfre Betrachtung auch in uns
die Ueberzeugung, daß wir nur „durch den Glauben“ ftehen!
Sohannes 18, 15—18. 25—27. Matthäns 26, 69—75.
Marcus 14, 54. 66—72. $Sucas 22, 54—62.
Simon Petrus aber folgte Iefus von ferne nad), und ein andrer Jünger. Derfel-
bige Sänger war dem Hohenpriefter bekannt, und ging mit Iefu hinein in des Hohen⸗
priefters Palaſt. Petrus aber ftand draußen vor der Thür. Da ging der andre Fün-
ger, der dem Hohenpriefter belannt war, hinaus, und redete mit ber Xhürhüterin, amd
führete Betrum hinein. Es flanden aber die Knechte und Diener, und zünbeten ein
Kohlfeuer an mitten im Palaft; denn es war falt, und fehten ſich zuſammen umd
wärmten ih. Petrus aber ſaß draußen im Palafte bei den Knechten und wärmie
fh am Fener, anf daß er fehe, wo es hinaus wolle. Da kam des Hobenpriefters
Maͤgde eine, die Thürhüterin, und da fie fahe Betrum fi wärmen, und bei dem
Lichte ſitzen, trat fie zu ihm, ſchante ihn an und ſprach zu ihm: Und du wareft au
mit dem Jeſus von Nazareth aus Galiläa? Bin du nicht auch diefes Menſchen Jün-
ger einer? Gr leugnete aber vor Allen, verleugnete ihn und ſprach: Weib, ich bin’s
nicht; ich femme ihu nicht; weiß nicht, was bu fagefl. Und er ging binand in dem
Borhof; und es trähete der Hahn. — Alb er aber zur Thür hinaus ging Äber eine
Weile, ſah ihn eine andre, und ſprach zu denen, die Dabei flanden: Diefer war an
nit dem Jeſn von Nazareth. Da ſprachen fie zu ihm: Biſt du nicht feiner Jünger
einer? Du bift deren einer! Und Petrus leugnete abermals, und ſchwur dazu, umd
ſprach: Menſch, ich Hin’& nicht! ich kenne des Menſchen nicht! — Und über eine Heine
Weile, bei einer Stunde traten hinzu, die babei flanden, und fpradhen zu Betro:
Wabrlich, du biſt and einer von denen, denn beine Sprache verräth dich; denn du HIR
ein Galiläer. Und ein andrer befräftigte es und ſprach: Wahrlich, diefer war au
mit ihm! Spricht des Hohenprieſters Knechte einer, ein Gefrenndeter deß, dem Petrus
das Ohr abgehauen hatte: Sah ich dich nit im Garten bei ihm? Da verleuguete
Vetrus abermal, und hub an fich zu verfluchen und zu fhwören, und ſprach: Ich
fenne des Menſchen nicht, von dem ihr fagt! Menſch, ich weiß nit, was du Tage!
Zu allen übrigen Marten wird dem göttlichen Dulder nun auch
noch das, von einem aus der Heinen Zahl feiner Vertrauteften, auf
deren Zreue er unter allen Umftänden hätte rechnen dürfen follen, fich
300 Das Heilige.
verleugnet zu fehen! Kein Leid, kein Schmerz follte feinem Herzen
fremd bleiben, Damit er uns überall ein „mitleidiger Hoherpriefter *
werden möge. Wie wäre aber auch die Schrift erfüllet worden, wenn
er nicht auch das Loos feiner lebendigen Vorbilder: Joſephs, des
Preisgegebenen von feinen Brüdern, und Davids, des zur Zeit Des
Unglüds Berlafjenen, im Gegenbilde wirklich ausgekoftet, und die meſ⸗
ſianiſchen Pfalmklagen: „Meine Liebften weichen von meiner Seite; *
„meine Rächiten treten ferne und entziehen ſich mir,” wahr gemacht
hätte? Zudem mußte es ja auch zu unferm Zrofte irgendwo einmal
thatfächlich Fund und offenbar werden, daß Er auch „Gaben empfan-
gen habe für die Abtrünnigen“; und mo träte dieſe Wahrheit heller
zu Tage, als in der Begebenheit, deren wir jeßt, freilich nicht ohne
tiefe Wehmuth, Zeugen ſein werden.
Die Verleugnung Petri führt unfre Betrachtung für eine Weile aus
dem Tumulte des äußerlichen Gerichtöverfahrens gegen Jeſum in das
Innere der menfchlichen Gemüthswelt zurüd. Eine Herzensgeſchichte ent-
ſchleiert fi vor uns; eine Gefchichte, in der wol manche unfrer Freunde
wenigftens Bruchftiide ihrer eignen erfennen werden. Der Fall des
armen Yüngers ift der Gegenftand unfres Diesmaligen Nachdenkens.
Bir betrachten denfelben zuerft nach feinen innern Urſachen, und
fodann nad feinem gefhichtlihen Verlauf.
Ein gewaltiger Warnungsruf fchlägt aus der heutigen Scene an uns
fer Ohr. Finde er eine gute und bleibende Stätte in unferm Herzen!
1.
Gefellen wir uns denn im Geifte zu unferm Simon. Ich fage „zu
unferm.” Er ift’s ja vor allen übrigen Apofteln. Bor einem Pau⸗
Ins und Johannes treten wir ehrerbietig zurüd, und achten uns
“nicht werth, die Schuhriemen ihnen aufzulöfen. Einem Petrus ge-
genüber entdeden wir in und verwandtichaftlichere Züge, und nennen
ihn traulih unfern Freund und Bruder. Er ift uns wol auch in
glänzendern Lebensmomenten begegnet, als heute; aber auch Da vers
mochte feine Erfcheinung in uns das Gefühl einer gewiffen Ebenbür-
tigkeit nicht zu unterdrüden. Welch' ein Belenner war er z. B., als
er, feine Mitapoftel weit an Glauben überflügelnd, fein „Du bift
Ehriftus, des lebendigen Gottes Sohn“ daherriefz aber fo
etwas Großes deucht uns diefes Zeugniß nicht, dag wir nicht auch
uns dazu befähigt halten follten. Wie herrlich fland er da, als er
feine Anhänglichleit an Jeſum mit Dem Ausruf bezeugte: „Herr, wos
Rn.
Beiri Fall. 301
hin follen wie gehn? Du Haft Worte des ewigen Lebens!" Doch
wiffen auch wir gehobener Augenblicde uns zu erinnern, in denen Aehn⸗
fiches auf den Flügeln der Begeifterung von unfern Lippen tönte. Wie
tapfer Hang auf dem brandenden See fein „Herr, heiße mich zu Dir
fommen auf dem Waſſer!“ Aber auch diefes kühne Wort riß keine
allzuweite Kluft zwifchen uns und ihm; denn wie bald flieg er von
der Höhe feines Heroismus zu uns in unfre Niederung zurüd, als
jener Wirbelwind daherblies, und das riefige Wogengrab vor ihm ſich
aufthat! Wie hochtönend nahm fi) der Warnung des Meifters auf
dem Wege zum Delberge gegenüber Simons Betheurung aus: „Und
wenn fie fi) Alle an dir ärgern, fo Doch ich nicht!” Aber auch diefe
feine Heiligfeit imponirt ung nicht allaufehr; vielmehr will ſich gerade
bier ein tiefes Berwandtichaftsgefühl zu Simon in uns geltend machen.
Wenn Jemand den Herrn feurig liebte, dann unfer Zünger. Wen
er aber eigentlich in dem Meifter liebte, das war ihm nur erft theil⸗
weile Kar bewußt. Namentlich war ihm das Geheimniß der pries
fterlihen Stellung Jeſu, und die daraus für Ihn hervorgehende
Notwendigkeit, fein Leben als Schuldopfer für die fündige Welt das
hinzugeben, noch ganz verfiegelt. Nur im Allgemeinen erft fühlte und
ahnte er, daß feine Seligfeit irgendwie durch die Gemeinfchaft mit
Jeſu bedingt, und er ohne diefen Heiland unfehlbar verloren fei. In
Petrus waren, wie dies häufig bei Ehriften namentlich folcher Ge⸗
meinden zutrifft, in welchen wohl Evangelium, aber noch nicht Das
Evangelium nad) der ganzen Fülle feines feligen Inhalts verkündet
wird, der Glaube und die Liebe der chriftlihen Einfiht und Er⸗
fenntniß vorausgeeilt. Mehr ein Empfindungsjünger erft, als
ein Zünger des Haren, das ganze Leben beherrfchenden und beftims
menden göttlihen Gedanfens, gemahnt Simon an diejenige Klaffe
unfrer Brüder, von denen wir zu jagen pflegen, daß ihnen dus „brens
nende Herz“ zwar ſchon gegeben fei, aber das „Licht des heis
ligen Geiftes” noch mangle. Das neue Leben ift dem Keime nach
gepflanzt, und die Entwidlungsfähigkeit zum Ziel der himmliſchen
Berufung vorhanden; aber die Entwidlung felbft noch weit zurüd,
und dem heiligen Geifte noch Vieles zu ergänzen und auszubilden
übrig,
Daß unferm Simon die Hauptabficht des Kommens Jeſu in die
Belt noch fo wenig erfchloffen war, das findet feinen Erflärungsgrumd
nur in der Mangelhaftigkeit feiner Selbfterfenntnig. Er wußte
302 Das Heilige.
Ah freilich als einen armen Sünder, der der Gnade bedürftig fet;
aber wie unermeßlich weit des Menfchen fittliche DBerderbtheit und
Ohnmacht reiche, ahnte er noch nicht. Sein reges, in den fchönften
und täufchendften Farben fchillemdes Empfindungsleben breitete
ihm darüber einen Schleier. Er fühlte ſich von einer jo feurigen Liebe
uud Degeifterung für Jeſum befeelt, daß ihn der leijefte Zweifel fchon,
womit man nad) Diefer Seite hin ihn etwa anfehn zu wollen ſich
vermaß, auf das tieffte entrüftete. Ach, Petrus kannte noch nicht Die
unbegrenzte Abhängigkeit auch der edelften menſchlichen Erregungen
vom Wechſel der Umftände, der Verhältniſſe und der Zeiten. Des
Jeremias Sprüchlein vom menfchlichen Herzen als einem „troßigen
und verzagten Dinge” war feinem Verftändniß noch nicht aufge-
gangen. Er wußte nicht, daß, wer einmal für den glanzumftrahlten
Sefum des Berges Tabor zu fhwärmen im Stande war, in dieſem
feinem Gefühlsauffchwunge noch feine Bürgfchaft befike, daB er eine
gleiche Begeifterung auch für den Schmachbededten am Kreuze empfin-
den werde. Eben fo wenig ahnte er noch, daß, was unter dem Klange
der ersreifenden Abfchiedsreden des Meifters in der feierlich ftillen
Mitternachtſtunde fein Gemüth durchwogte, keineswegs fchon nothwen-
Dig ihn befähige, auch damn noch bei Ihm auszuhalten, wenn über
Ihn die jedes begeifternden Elemente ermangelnde Profa einer po:
lizeilichen Gefangennehmung und einer Thimpflichen Hinführung vor
die richterlichen Schranken hereinbrach. Ein menfchlicher Entfchluß,
wie freudig aud) vor dem Treffen gefaßt, wagt immer zu viel, wenn
er auch für die Stunde für fih gut fagt, da wirklich die Geſchoſſe
ſchwirren werden. Wie manchen Helden, zu dem man ſich des Größten
verfehen zu dürfen glaubte, ſchuf die veränderte Sachlage plötzlich
zum verzagteften Seigling um. Ein Glaubenszeuge, der feinem Ges
föbniffe, daß er für die Sache, die er vertrete, fein Leben laſſen wolle,
auf offnem Blutgerüfte vor dem verfammelten Volle unfehlbar ſtehen
würde, wird vielleicht kläglich zu Schanden, fobald ihm, von Zeugen
fern, in einem entlegenen Winkel die Befleglung feines Bekenntniſſes
mit feinem Blute abgefordert wird. Bon Gideon lefen wir, der Herr
babe ſich zu ihm gewandt und zu ihm gefprochen: „Gehe hin in Die-
fer deiner Kraft;” und freilich ift e8 bis zur Stunde noch nur die
Bnadenzuwendung des Herrn, die wahre Helden zeugt. Aber
Yes waren unferm Simon noch unbelannte Dinge. Statt an allem
eignen Heldenthume zu verzagen und ſich lediglich auf Die Schultern
Getri dal 308
bes Herrn zu lehnen, vertraute er in Mägficher Selbſtüberſchätzung dem
eignen Muth; ımd flatt Den um die Rüſtung feines Geiſtes anzugehn,
der da ſprach: „Ohne mich Lönnt ihr nichts thun,“ mwähnte der thö⸗
richte Juͤnger, im Harnifch feines eignen Liebeögefühles Manns genug
zu fein, dem Satan und feinen liftigen Anläufen Stand zu halten.
Simon war der Mann im Evangelio, der in den Krieg zog, ohne
vorher gefeflen und die Koften überfchlagen zu haben. Er hätte es
- fon merken follen, daß er diefer Thörichte fei, als nach feinem uns
befonnenen Schwertftreichh wider des Hohenpriefters Knecht und nad
der darauf folgenden Selbftübergabe des Herrn an die Feinde, feine
Begeifterungsglut im Nu dergeftalt erlofchen war, daß er nicht einmal
Muth genug befaß, um nicht mit den Uebrigen in ſchmählichſter Weiſe
die Flucht zu ergreifen, Freilich befann er ſich nad) einer Weile wieder;
aber was da ihn wieder bewog, dem gefangenen Herrn „von ferne”
nachzufolgen, war im Grunde mehr mır der Sporn eines jämmerfis
hen Ehrgeizes, als der edle Antrieb einer todesmuthigen Liebe. Er
hatte num einmal fo offen und laut von einem „Rimmermehr verleug
nen“, ja, von einem „mit Jefu in den Tod gehn“ geſprochen; md
wie würde er daftehn, wenn er nun, da e8 galt, fein Gelübde bräche,
und vom Kampfplatz verfchwände! Nein, man fol ihn nicht als
einen Zeigling erfinden. Wo fein Meifter ift, da muß aud er fein.
Er folgt einem gegen den Wind anfteuernden Schiffe vergleichbar im
gehöriger Entfernung dem Zuge der Bewaffneten. Mit geknicten
KAnieen folgt er, und mit inmerm Widerftreben. Was hätte er darum
gegeben, wenn ein unabwendbared und augenfälliges Hinderniß ihm
den Weg verſperrt, und am WBeiterdringen ihn gehindert hätte, In
der That ſcheint ſich ſolch ermünfchtes Hemmniß dadurch einzuftellen,
daß, da der Schergenzug mit dem Verhafteten eben in den Hof des
bhohenpriefterlichen Palaftes eingezogen ift, die Pforte hinter ihm zu⸗
fallt, und von innen verriegelt wird. Nun wäre Simon ja ent
ſchuldigt, wenn er wieder von dannen zöge; er konnte ja nicht weiter
folgen, wie gem er auch wollte. Ja, irren wir nicht, fo fchidt er fi
fhon zum Rüdzuge an. Aber, als ob Alles zu feinem Sturze ſich ver
ſchworen hätte, muß ſich's, wie man fagt, „zufäflig” ereignen, daß
er vor dem Eingang auf einen Freund und Genoffen feines Glaubens
trifft, der dem Hobenpriefter befannt war, und als ein Befreundeter
deffelben zu feinem Haufe frei aus umd einging. Diefer richtet einige
Worte an die Thürhüterin, und auch Simon wird, er mochte wollen
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der Herr Riemanden zum Boͤſen verfucht, geſchweige denn
ihn ſtraucheln und fallen macht, fo verhängt ex doch nicht ſelten
ſchwere Prüfungen über diejenigen, die er lieb hat, und hinderts auch
wicht, daß fie fallen, wenn fie auf Sein Wort nicht achten, feinen
Bamungen nicht glauben, umd in audrer Weiſe, als durch bittere
Erfahrung, von ihrem hochfahrenden Zrog auf eigues Sein und Kön⸗
nen, nicht genefen wollen. Auch Petri Zull, der, was die Verſchul⸗
Dung angeht, rein auf des Gefallenen Rechnung fommt, und der feis
sen ganzen Erflärungsarund in der Selbflüberhebung des Jüngere
findet, war zugleich nach des zulafienden Gottes Abficht eine ſeelen⸗
ärztliche Maßregel, welche die durchgreifende Heilung Simons von
feinem thörichten und blinden Selbfivertrauen zum Ziele hatte. Hatte
doch der Herr hierauf, wie auch auf die heilſame Frucht des be
agenswerthen Falles ſchon unzweideutig hingewinkt, als er fo mütter
lich fürforgend am feinen Petrus die Worte richtete: „Wenn du dich
dermaleins befehreft, fo ftärke deine Brüder! *
it ſchwankendem Zritte überfchreitet Simon die Schwelle des ge
öffneten Thors, und jeßt damit feinen Fuß auf den verhängnißvollen
Kampfplag. Wenn er nur jetzt noch betend an den Hals ſeines Gottes
fidy geworfen hätte! Aber nein; er verläßt fi) immer noch auf ſich,
oder doch auf die Gunft der Umſtände und des Ungefährs. Satan
und Welt ftehen bereits wider ihn gerüftet anf dem ‘Plan. Er hätte
fih vor ihnen nicht zu fürchten gebraucht, hätte der Harniſch des Glau⸗
bens um feine Bruft gelegen. Jetzt können wir für den armen Mann
nur zittern, ja, würden ihn verloren geben müſſen, wüßten wir nicht
nm Die treffliche und treue Hut, in der er, ohne daß er felbft es ahnt,
—.
11
bi
Betri Fall. 308
borgen if. Das „Wahrlich, wahrlich!“ mit welchem der Herr
ihm auf dem Gange zum Delberge vorherverfündete, was ihm bevor:
ftehe, hängt, wenn auch einftweilen fchweigend noch, gleich einer Glocke
in feinem Gedächtniß, die ihm im rechten Momente das Signal zur
MWiederermannung geben wird. Der Hahn, Ddiefer göttlich beftellte
Weder, fteht ſchon auf feinem Poften, und fein Ruf wird zu feiner
Zeit feine Wirkung nicht verfehlen. Die priefterliche Fürbitte, daß
Simons „Glaube nicht aufhoͤre“, ſchwebt einem ſchützenden Schilde
gleich über unfres Jüngers Haupt; und Der felbit, welcher „den glim⸗
menden Docht nicht auslöfcht“ und „das zerftoßene Rohr nicht zers
bricht”, bleibt glüdlicherweife in Simons Nähe, und wird, wenn Notly
an Mann geht, bülfreich zur rn fein,
Beobachten wir num den beträbtrn Vorgang im Hofe des Hohen-
priefters, In dem Augenblide, da Simon auf Verwenden des Freun-
des zum Thore eingelaffen wird, leuchtet ihm die Pförtnerin mit ihrer
Laterne unter die Augen, und fteht ihn mit einer Miene an, als ob
fie ihn erfennete, aber doch ihrer Sache noch nicht ganz gewiß wäre.
Er merffs, wendet das Angeftcht, und hufcht fo fehnell wie möglich
an der fpähenden Berrätherin vorüber. In der Mitte des Hofraums
haben fih die Waffenfnechte zum Schuß gegen die Morgenkühle ein
euer angezündet, und vertreiben fth, um daſſelbe hergefchnart, mit‘
Plaudern und Scherzen die Zeit, während im Innern des Haufes die
Gerichtsverhandlungen gegen Jeſum gepflogen werden, Simon, dem’
e8 in diefer Atmofphäre unheimlich genug zu Muthe ift, nähert fich
dem lärmenden Troß, und nimmt, den Umnbefangenen fpielend, und
mit der Miene, als begehre auch er nur ſich zu wärmen, inmitten
der lärmenden Gefellen Pla. Im Grunde hatte hiemit die Ver:
leugnung bereit8 begonnen; denn offenbar ging feine Abfiht da-
hin, vor den Söldlingen fi den Schein zu geben, als gehöre er mit
zu ihrer Horde, und theile ihre Gefinnungen gegen den Nazarener.
Nicht wenig befriedigt, fo ein Doppeltes erreicht zu haben: Die
Sicherftellung feiner Perfon, und eine gewiſſe Berechtigung, ſich fagen
zu dürfen, daß er ja Muth genug beweife, indem er ſich mitten uns
ter die Feinde mifche, und dag er fein Verfprechen, den Meifter nicht
zu verlaffen, ja num wirklich halte, figt der bejammernswerthe Held
denn da, und meint, den weiteren Gang der Ereigniffe ohne Ger
fährde abwarten zu können. Da plöglich wird ihm ein verdrießlicher
20
wie des Gefindes fich zu entziehn; aber das Drohende feiner Lage nimmt
alle feine Sinnen und Gedanken dermaßen gefangen, daß wir der Hoff:
nung nur entfagen können, er werde fich jetzt Darauf befinnen, bis zu
welchem Punkt der Wind der Berjuchung ihn bereit verfchlagen habe.
Wie ein Taumelnder, der feiner felbft nicht mehr mächtig ift, ſchwankt
er dahin; da, nach Verlauf einer Stunde etwa, umzingelt ihn ein neuer
Haufe, welcher nach forgfältiger Erwägung aller Umftände doch hinter-
ber nody zu dem Schluß gelommen ift, der Fremdling müſſe dennoch
den Jüngern Jeſu beigehören. „Wahrlich“, fprechen fie, mit größerer
Sicherheit jebt, als früher, „Du bift auch einer von denen; und wie
er abermals ſich zu vertheidigen anhebt, trafen fie ihn aus feinem
eignen Munde Lügen, indem fie ihm zufchreien: „Deine Sprade
verräth did; du bift ein Galiläer!“ — Ein andrer Waffen⸗
knecht, durch den Lärm berbeigelodt, fieht ihm unter die Augen und
ruft befräftigend darein: „Freilich war dieſer auch mit ihm!” —
Endlich tritt gar auch noch der hohenpriefterlichen ‘Diener einer heran,
und noch dazu ein Gefreundeter defien, dem Petrus am Delberge das
Ohr abgehauen hatte, und ſpricht: „Höre, habe ich dich nicht im Gar-
ten bei ihm geſehn?!“ — Nun fieht Petrus vollends das Ne über
fih zufammenfchlagen. Was beginnen? Zwei Wege mur ftehen ihm
noch offen: entweder er widerruft feine fehmählichen Berleugnungen
durch einen unverholenen Belenntnißaft, und zeigt um Jeſu willen
den Feinden frei die entblößte Bruſt; oder er fpielt zum Triumph der
Hölle feine traurige Rolle in folgerechter Weife durch, und iſt in die—
fem Zalle genöthigt, Die Frechheit der Lüge bis auf's Außerfte zu
treiben. Er entjcheidet ſich in feiner Verzweiflung für das Letztere.
Ich weiß nicht, was er im Gewirre dieſes verhängnißvollen Augen-
blicks mit halbem Bewußtfein eilends zufammengerafft haben mag, um
fid) damit wenigftend momentan vor feinem Gewiflen zu rechtfertigen.
Ob er zu dem Vorwand feine Zuflucht genommen, es fei ja dies Ges
findel nicht werth, daß man, die Perle vor die Säue werfend, den
heiligen Jeſusnamen vor ihm befenne; oder ob er fich felber mit dem
Berfprechen zu belügen gefucht, daß er fein Blut für den Moment
verfparen wolle, der ihm Die erwinfchte Gelegenheit bringen werde,
dafjelbe öffentlich vor allem Volke zur Befiegelung feines Glaubens
zu verfprigen: wer mag es entfcheiden? — Genug, ganz wieder der
alte Zifcher, ganz der ehemalige rohe Matrofe wieder, ja als ein viel
Aergerer noch, denn er je vorher gewefen, fteht er.da, und häuft Schwur
Petri Fall, 309
auf Schwur, und Fluch auf Fluch, daß er „den Menfchen” nicht
tenne. a, unter Herabrufung des Schredlichiten auf fein Haupt, und
unter Verſchwoͤrung feiner Seligkeit, betheuert er: „Ich bin kein
Ehrift! — Ich kenne des Menfchen nicht, von dem ihr fagt!” Und
mit einem Zone, und unter Geberden gibt er diefe Verficherung von
fih, al8 ob ihm unter dem Himmel verädhtlicher Niemand wäre,
als „dieſer Menſch“; ja, als hätte ein himmelfchreienderes Unrecht
ihm nicht widerfahren können, als es in jener Verdächtigung ihm ans
gethan werde. Er ift fcheinbar außer fich über die fchwere Uns
bilde, die er erleide. Je heftiger er aber proteftirt und fchreit, um
defto deutlicher kommt fein Galiläerdialekt heraus; und je mehr dies
geichieht, um defto gewifler werden am Ende doch die Söldner, daß
fie fi) an dem Manne nicht verfehen haben. Das Maaß feiner Suͤm⸗
den ift nun voll, Die Kriegsfnechte überlaffen ihn, ohne ihm weiter
ein Leides zuzufügen, ſich felbft, und ehren, fei e8 aus Verachtung,
indem fie einen Renegaten, wie Diefen, nicht einmal für werth halten,
ihn zum Märtyrer zu ſtempeln; oder ſei es, weil ſich eben die Pforte
des Richtſaals öffnet, und ein neues Schauſpiel in höherem Grade
ihre Aufmerfjamfeit in Anſpruch nimmt, ihm den Rüden.
Mit tief erſchüttertem Gemüthe brechen wir hier für heute ab. „Bis
zu ſolchen Rüdfällen in das alte Weſen alfo,” höre ich fagen,
„kann es auch noch mit Kindern Gottes kommen?“ Ya, Brüder,
wenn die Kinder Gottes, ftatt in wahrer Herzensbeugung der göfts
lichen Gnade fich anzubefehlen, in vermeffenem Vertrauen auf eigene
Kräfte den Kampfplab betreten, und fich felbft in Gefahr begeben. In
dieſem Falle kann nicht für fie eingeftanden werden, Daß es bis zu
ſolchen Niederlagen mit ihnen nicht fommen werde, Es gelangt hie⸗
nieden auch in den Wiedergeborenen der neue Menfch zu einer fo
unbedingten Obmacht über den alten nicht, daß es zur Ueberwindung
und Zügelung des letztern überall der fortdauernden Geifteseinflüffe aus
der Höhe nicht mehr bedürfte. Zwar wird jener bleibend dem Fleiſche
nicht mehr das Feld belaffen, fondern zu feiner Zeit daffelbe wieder zum
Scemel feiner Füße legen; aber gefchehn kann es, — deß ift Petrus
Zeuge, — daß der alte Adam in unbewachten Stunden unter dem Ans
drang verführender und verwirrender Höllenfräfte für eine geraume Weile
abermals durch Zaum und Zügel reißt, und, vor Gott und Menfchen in
310 Das Heilige.
‚der Schande feiner Blöße offenbar werdend, auf weite Streden hin dem
neuen Id) den Borfprung wieder abgewinnt. Darum fehrieb der
Herr den Seinen vor Allem die Mahnung in den Schild, „Wachet
und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!” Simon ge-
lobte und verhieß nur, und allerdings in der lauterften Gefinnung;
aber das Wachen und Beten blieb dahinten. Was war die Folge?
Der erfte Windftoß der Verfuchung ſtreckte ihn jämmerlich dahin; und
bedeutungslos, ja wie zum Spotte nur, flatterte über ihm fein Kam-
pfesbanner mit der Infchrift: „Und wenn ich mit Dir fterben
müßte, fo werde ich Dich nicht verleugnen!” —
Wohlan denn, „wer da zu ftehn meint, ſehe wohl zu, daß er nicht
falle!” Zwar ift es wahr, daß im Reiche Gottes ein Fall größeren
Segen bringen kann, als ein Sieg; und aus Straudelungen er-
wachſen dort mitunter viel Löftlichere Früchte, al8 aus den fcheinbar
gelungenften Heiligungsbeftrebungen. Aber wehe Dem, der diefe Wahr:
heit „auf Muthwillen ziehen” möchte! Ein Solcher könnte Gefahr
laufen, daß fich feine Gnadenhand mehr regte, von feinem Falle ihn
wieder aufzurichten. Und hübe er ſich wieder empor, fo liegt e8 doch
außer aller menfchlihen Berechnung, wie weit ein NRüdfall in die
Sünde wenigftens für das zeitliche Leben mit feinen verderblichen Zol-
gen greifen Tann. In Simons Auge, fagt die Legende, fei, fo lange
er lebte, die Thräne der Wehmuth nicht mehr verfiegt,; und Dapid
vollends flieg, ob auch wieder zu Gnaden angenommen, nad) feiner
Berihuldung an dem Weibe Uria’s und an Uria felbft, zu der frü-
ber von ihm eingenommenen Höhe ungemifchter Freudigfeit zu Gott
nie mehr empor. Darum ftehe obenan in unferer geiftlihen Gedenk⸗
tafel das apoftolifhe Wort: „Ziehet an den Harnifch Gottes, daß ihr
beftehn könnet gegen die liftigen Anläufe des Teufels; und auf Schritt
und Zritt umtöne uns der andre Zuruf: „Leide dich als ein guter
Streiter Jeſu Ehrifti! ”
Anf denn, Streitgenoffen, geht
Muthig durch des Lebens Wiüfte!
Seht auf euren Führer, fleht,
Das er ſelbſt zum Kampf euch rüfte.
Seine Gotteötraft allein
Kann in Schwachen mächtig fein. — Amen. —
— —
Das große Bekenntniß. | 311
XXVL
Das große Bekenntniß.
Ihr erinnert euch, Geliebte, wie Paulus einmal feinen Zimothens
„bet Gott, der alle Dinge lebendig mache”, umd „bei Chrifto Jeſu,
welcher unter (nicht: vor) Pontius Pilatus bezeuget habe das gute
Bekenntniß“, feierlichſt befchwört, daß er getreu bis in den Tod
bei feinem Glauben verharren wolle. (1 Timoth. 6, 13.) Es bedarf
wol feines Beweifes, daß dem Apoftel bier ein beftimmtes Belennt-
niß vor Augen fchwebt. Er bezeichnet e8 als ein wohlbefanntes; und
indem er ed mit Nahdrud „das gute” oder „das fehöne” nennt,
hebt er es als ein folches hervor, das alle andern Bekenntnifſe
Jeſu mit befonderm Glanze überftrahle. Wir errathen, welches Be⸗
fenntniß er meint, und überzeugen uns bei Diefer Gelegenheit aufs
neue, für welch' einen hohen Schatz die Kirche daffelbe von Anfang
an erachtet habe,- Und wahrlich ift e8 das Bekenntniß werth, daß es
bis zur Stunde noch den thenerwertheften Vermächtniſſen beigerechnet
werde, die uns Chriſtus hinterlaffen hat. Dies verdient e8 nicht blos
als ein umübertreffliches und ewig vorleuchtendes Mufter todesmuthig-
ſter Glaubenszeugenfchaft, fondern vor Allen als der mächtigften Grund-
pfeiler einer, auf welche die Gemeine fich mit ihrem Glauben ftügt,
der die Berheißung gilt, daß die Pforten der Höllen fie nicht über-
wältigen follen. Heute tönt das unter der Statthalterfchaft des Pi⸗
fatus abgelegte „gute Bekenntniß“ in unfre Mitte herein. Wie
Manchem ſchon hat dafielbe ſturmwindaähnlich im Nu den geiftigen Ho⸗
rigont von allem Zweifels gewölk gefäubert! Jagen auch an unferm
Glaubenshimmel noch verdunfelnde Schatten folcher Art, fo gebe Gott,
daß e8 uns heute Diefelben Dienfte erweifen möge!
Matthãus 26, 63—66. Marcus 14, 61—64.
Da fragte ihn der Hohepriefter abermals und fprach zu ihm: Ich beſchwoͤre dich
bei dem Iebendigen Gott, daß du und fageft, ob bu feift Ehriftus, der Sohn Gottes,
des Hochgelobten? Jefuß fprach zu ihm: Du fageft es; Ich bin ed. Doch 4 ich F
Bon nun am wird e& geſchehn, daß iht ſehen werdet der Menſthen Schr fihen
neh >12 Zeue au Eicit Beau das Ce femme. Tue deens-
frage des Eis terssıns Index Te Dre Imiohhe Erben.
Ber Scsäser te Gızcjez Is Renietuies nd MU 2eTIetmer
wagt, 3e;15: Anz Bas scumeintrzende Munurtiei Je} uber Aue,
It, der Zn:-fe. zu we am Mizeıiıc, Mer Gıglıııe m
Mersihre. „Keeuzige, !rerzige.? ur weder ums une dine-
yayı, talen wu Bas „zesge Deiezıtı:a Ierı' zu Gegen-
Imte cha site Darıkanyz mie S ter ut. zeturh
ed serzaiıht mare; mir erzrindex Bamz te-ıeaı Ziıı aıd Ie=
Yalı; zu2 rıkızı eutich ten Piul uf Veine nihtıen Felgen
Bitte der Ger, tus das Erzekunij rear Dunafurız SS Dura
befuzte, tab zu mu Scham derelben hm Kimaılub MO tun oB2-
ſchiedenen· Bit baben zezlaubt uı? erkanat, das da bil
Chrinns, ber Sobr des lebendigen Gettes?“ zu zupen allen!
1.
Ir tem Angenblicke, in reſchen wir beute in den Gerichtsiaal des
Eynedriums yrilnam, baridı daſelbũ ane ufralaate ni mabrim-
liche Ztille. Alles jdreeizt. Aber auch Dieie Rute bur ibrex Jabau.
Ta Seit ter Wabrbeit ichreiet richtend durch die Berkmmimg
Echam und Verlegenbeit balım die Germuber umiangen. Die jalichen
Zengen haben ihre Rollen auf's Mäglichite geivielt, ımd ñebu eutlaret.
Ihre von Wideriprüchen winmelnden Ausizgen dienten wur dazu, lie
ſelb ſt zu Schanden zu machen und zu vernichten. Das erbabene, nur
von jener Unſchuld zeugende Verhalten des Verklagten band und
laͤhmte die Widerlaher vollends. Aller Augen baften an dem vers
figenden Kirchenhaupte. Jeder Blick icheint verwundert ibn zu fragen:
„Wo geräthft du hin, du Priefter des Allerhoͤchſten? — Bo it deine
Weisheit? Was wird aus deiner Würde?“ — Gr aber befinder id
felbft in der peinlihften Lage von der Belt. Die ernſtlichſte Be
ſorgniß ſowol um die Wahrung feiner amtlichen Ehre, als um den
Ausgang des ganzen Handels foltert jeine Seele. Da fipt der ſtolze
üV
Das große Delenntniß. 313
Hierarch, und feine Gedanken pflegen hımultuarifchen Rath, wie diefer
Knoten zu löfen, wie aus diefer Klemme zu entrinnen fei? Sehet,
Dies das Ende des Gerichtsverfahrens gegen den Heiligen in Sfrael!
Ich frage: Wer verlor den Prozeß, Jeſus oder feine Richter? Seid
aber verfihert, daß in gleicher Weife einft auch der große welt⸗
biftorifhe Prozeß gegen Chriftum enden wird. Enden wird er
mit der äußerten Beftürzung, ja Verzweiflung Aller, die Ihm
entgegenftanden. Haltet darum eure Akten noch ungefchloffen, ihr feine
Widerfacher |
Die Bedrängniß des Hohenpriefters ift groß. Was beginnt er nur,
um feine Verlegenheit zu verbergen? Es muß der Sache eine neue
Wendung gegeben werden; aber welche? — Er finnt und finnt, —
Wie ein Feuerrad freifen die Gedanken ihm in feinem Hirm. Da ge
räth er auf einen Einfall, und, wie er meint, auf einen glüdlichen.
Und in der That fommt ihm diefer Gedanke auch nicht von Unges
fähr. Ein Größerer webt und waltet über der Scene. Krampfhaft
rafft der Prälat feine bingefunfene Würde gleichfam vom Staube wies
der auf; und mit fichtlicher Anftrengung in die Gravität feines Amtes
fi) verhüllend, tritt er in feierlicher Haltung einige Schritte vor, und
gibt die Abficht zu erkennen, den Verklagten jet vor den Thron des
Almächtigen zu laden, und ihn aufzufordern, hier, und zwar eids
lich, unter Anrufung des hochheiligften Namens, zu bezeugen, wer er
fei: ob wirklich der, für den er von feinem Anhang gehalten werde
und ſich halten laſſe, oder ob ein falfcher Prophet und ein Betrüs
ger? — Wir freuen uns diefer allerdings mehr von der Verzweiflung
als von ruhiger Ueberlegung ergriffenen Maßregel. Es kommt Die
Sache nun zur Entfcheidung. Man denke: ein eidlich Zeugniß Jeſu
von fich felbft! Dies fehlte nur noch, um auch dem legten unfrer
Wünſche genug zu thun. —
Hört nun! Der größte und feierlichfte Moment des ganzen Prozeſſes
ist berbeigefommen,. Der Hohepriefter, wirklich wieder mit dem vollen
Schein feiner großen Würde angethan, öffnet zu der erhabenften aller
„Bragen feinen Mund, „Ich beſchwöre dich", fpriht er, „bei dem
lebendigen Gott, daß du uns fageft, ob du ſeiſt Chriſtus,
der Sohn Gottes, des Hochgelobten?“ Er bedient fich der
in Iſrael gefeglic gebräuchlichen Befhwörungsformel. In diefer
Form wurde der Eid zugeihoben und abgenommen. ‘Der Schwörende
antwortete, ohne die Formel felbft zu wiederholen, mit einem einfachen
314 Dei Heilige.
„Za* oder „Rein“, und war fi dabei bewußt, Daß er Diefes „Nein“
oder „Ja“ bei dem lebendigen Gott, und umter dem zwar ſtillſchwei⸗
genden, aber feierfidhen Anerfeuntniß ausſpreche, Daß, falls er von der
Wahrheit weiche, der Erhabene, den er zum engen angerufen, ihn
ewig jtrafen uud im feinem gerechten Zora für immer der zufünfti-
gen Seligfeit verfuftig erflären werde. Unter jo feierlich ernftem, die
Srundfrage des ganzen Chriſtenthums auf die Spike ftellenden
Aufruf, fordert der Hobepriefter dem Herm Jeſu gleichſam fein Bes
glaubigungsichreiben ab; und im jeiner amtlichen Stellung beſitzt er
andy vollfonımen die Befugniß und das Recht dazu. Er ift zum Wäch⸗
ter beftellt, daß nicht irgend ein falfcher Meffias in Iſrael fich geltend
mache; und wo ihm bedünken will, Daß von Jemandem durch Anma-
Bung göttlicher Bevorrechtungen Jehova geläftert worden fei, da ziemte
es ihm, zu Gericht zu fihen und mit unnachfichtiger Strenge die goͤtt⸗
lichen Geſetze zu volljiehen. -
Was ift es alſo, das Jeſus beichwören fol? Werden wir und
hierüber vor Allem Elar! Zuvoͤrderſt joll er bezeugen, ob er Ehris
tus, d. i. der Meffias fei. Kaiphas, der Haushalter über Gottes
Geheimnifje, bezeichnet mit jenem Namen die Blüthe der Prophetie,
und faßt hier in erinnerndem Geifte alle Verheißungen und Vorbilder
des alten Teſtaments zufammen, aus denen, wie aus geheimnißvollen
Hüllen und Windeln eine erhabene Geſtalt hervorſteigt, welche als
Prophet das Licht der Ewigkeit zur Erde niedertragen, als Hoher:
priefter Das eigne Leben zum Sühnopfer für die Welt dabingeben,
und als König ein ewiges Reich der Gnade und des Friedens grün⸗
den werde. Dieſe PBerfönlichkeit heißt der „Sefalbte Gottes” oder
„Chriſtus“. Kaiphas aber weiß, Ddiefer Ehriftus werde fein ein
Menſch, der zugleich, wie David und Daniel ihn fühen im Geftchte,
„Gott in der Höhe”, und ein Herr, „deffen Ausgang“, wie
Micha verfindete, „von Anfang und von Ewigkeit ber gewe—
fen ſei.“ Es ift ihm bewußt, der Mefftas werde in einen Sinne
„Gottes Sohn” heißen, wie fein Anderer im Hinmel und auf
Erden fo heißen könne. Er werde nicht blos Jehova ahnlich, ſon⸗.
bern Jehova gleich, alfo felbft Jehova fein. Aus diefer erhabenen
Anihauung heraus fragt Kaiphas: „Bift du der?“ und glaubt ſich
für den Fall, daß Jeſus dies bejahen follte, volllommen berechtigt,
für einen Gottesläfterer ihn zu erflären, umd ihn als foldyen zu
verdammen. Erhabene Frage, die dem Herm zur Beauntwortung
Das große Belenntniß. 315
vorliegt! Größte und inhaltreichfte, die je in der Welt verlautet ift!
— Mein Gott, wenn auf diefe Frage ein „Nein erfolgte! Dieſes
„Rein” bejahte unfere ewige Verdammniß! — Durch alle Zeiten
bindurdy Freifcht eine wüfte Brut: „Nein, nein, er ift e8 nicht gewe-
ſen!“ Aber fehen wir näher zu, von wannen dieſe Verneinung
kommt, jo find e8 Unken im Schlamm der Sünde, flügellofe Kreatu⸗
ren, Ebenbilder der Schlange, die auf dem Bauche Friecht und Erde
frißt, die alfo fchreien. Ein Ehor von Adlern dagegen jauchzt Durch
alle Zeiten: „Ia, ja, Er war, Er ift es!” — Ueberblickt nur einmal
flüchtig die Gefchichte der Abftimmungen über Ihn. Wer ſtimmte:
„Rein*? „Nein“ ftimmten Heiden, die in thierifchen Xüften verfoms-
men waren; „Nein“ ein Rebellengefindel, das vom Blute der Brüder
trunken war; „Nein“ ein Voltaire, der im Rachen der Berzweiflung
endete; „Nein” ein Roufleau, der feinen Gott im Himmel glaubte;
„Rein“ ein Philofoph, der Sodom nad Halle trug; „Nein“ em
Anderer, der zulegt feinem Chriftusleugnerifchen Leben als Selbft-
mörder ein Ende machte; „Nein ſtimmt in unfern Tagen eine Däs
monifirte Rotte, die es feinen Hehl mehr Kat, daß fie darüber aus
fei, das durch das Ehriftenthum gekraͤnkte Fleiſch in feine Rechte
wieder einzuſetzen; „Nein“ ein Bölklein, das ſich feiner Schanden
in öffentlichen Schriften rühmt; „Nein“ eine Weisheitsfchule, die
überhaupt die Lehre von den überfinnlihen Dingen für ein Mährlein
hält. Dies ift die linke Seite der Stimmenden. Dies find die
Häupter und Kohortenführer der Verneinenden. Wer find aber die Bes
jahenden, die Jefu die Ehre geben? „Ja“ ſtimmten alle heiligen
Apoftel, die Ihm die Welt erobert haben; „Ja“ die Märtyrer, die
um Chrifti willen ihr Leben nicht Tiebten bis in den Zod; „Ja“ die
Reformatoren: ein Luther, Melanchtbon, Calvin, Knox und wie fie weis
ter heißen. „Ja“ die in fpütern Zeiten hochragenden, ehrwürdigen
Männer, die noch immer in jeglicher Beziehung als Sterne erfter Größe
am Himmel der Gefchichte glänzen: ein Pascal in Frankreich, ein
Haller in der Schweiz, ein Newton in England, und in Deutfch-
land ein Haman, ein Frande, ein Spener, und wie viele fonft!
„Ja“ flimmten zu allen Zeiten die Beften und Trefflichiten der Erde,
fie, „deren die Welt nicht werth war”. Go fagt denn, auf welche
Seite gedenkt ihr euch zu fchlagn? Wo iſt's am wahrfcheinlid-
fen, daß die Wahrheit ſei? Unter welchen Paniere fidy mit zu
befinden, ericheint als Das Ehrenvollſte? Ich meine, es bebürfe nicht
316 Das Hellige.
viel Sinnens, um hierüber zur Klarheit zu gelangen. Ded mas auch
Diejer oder jener zeugen mag; Men ſchenzeugniß aibt bier nicht den
Ausihlag. Bas hat Er jelbii von ſich bezeugt? Dies ih’, worauf
bier Alles anlonmt. Der Hobepriefter fragte: „Biit dx Ebriftns,
Gottes Sohn?” Wie höchſt erwünſcht, daß Diele Frage je einmal
fo beitiumt, fo ernſt, jo feierlich au Ihn ergangen it! br fühlt ja
Alle Das ungeheure Gewicht derfelben. — Rod) einmal füge ib: Ben
auf fie ein „Nein“ erfolgte; — mein Gott! Unglückliche Belt als-
Daun! Bellagenswertie Menjchheit! Geichlagenes Sünderwolk! Möchte
Dann Jeſus fonft auch fein, was immer er wollte: der weiſeſte Phi⸗
lojoph, der erfte Prophet, das glänzendfte Zugendmuiter, ja, ein Engel
und Seraph höchfter Ordnung: es wäre damit uns nicht geholfen, und
Die Hölle bliebe das Ziel unfrer Wallfahrt. — Erfolgte ein „Rein“
auf des Hohenpriefterd Frage, es verwüſtete dieſes „Nein“ unfern
ganzen Troſt; als Brandfackel fiele es in das Schloß unſrer Hoff⸗
nungen; dad ganze Haus unſeres Heils würfe es als fundamentlos
über den Haufen, und ſchleuderte uns in den offnen Rachen der Ver⸗
zweiflung. Denn was Alles umfchließt die eine Frage: „Bift du
Ehriftus, der Sohn des hodhgelobten Gottes?" Es fragt
Kaiphas damit nach der Stunde unfrer Erlöfung, ob fie geichlagen
babe; nad) der Möglichkeit, daß ein Sünder felig werde; nach dem
Gehorſam Jeſu, ob eine verfühnende Kraft ihm zugufchreiben fei; nach
Chriſti Bürgſchaft, ob fie den Uebertretern in Wahrheit etwas nüßen
fönne? Diefe Fragen alle, und wie manche fonft, find verneint,
wenn aus dem Munde Jeſu auf die eine Frage: „Bilt du Gottes
Sohn?” ein „Nein“ erfolgt. Erfolgt aber auf fie ein „Ja“, dann
find fie für alle Ewigkeit bejaht. Wer follte denn nicht gefpannt
fein, wie die Antwort lauten werde? — Wohlan, fpigt eure Ohren;
und mit den Ohren öffnet eure Herzen!
2.
Die große Frage ift erfchollen. Tiefe Stille herrſcht in der Ver⸗
fammlung. Aller Gemüther find auf's höchfte gefpannt. Aller Augen
haften an dem verklagten Manne. Und auch unfre Herzen, nicht
wahr, bleiben hier nicht unbewegt. Auch wir ftehn in diefem Augen⸗
blife vor Erwartung zitternd dem hoßenpriefterlichen Tribunale gegen⸗
über. Wir wiffen freilich um die erftaunenswürdigen Wunder, durch
welche Jeſus fich bereits verherrlicht hat. Wir waren Zeugen, wie Er
am Sarge des Jünglings zu Rain und am Grabe des Lazarus feine
Das große Bekenntniß. 317
übermenfchlihe Herrlichkeit entfaltet. Wir haben Ihn gefehn im
fhwanfenden Schifflein, da die Wuth der Elemente fich feinem Winke
neigte; und auf dem fturmbewegten Meere, da die wilden Wogen uns
ter feinem Fuße ſich feftigten, und dem Könige der Natur den Kryftalls
teppich unterbreiteten. Aber diefes Alles konnten ja auch Thaten eines
von Gott gefandten Propheten, nur Wunder eines menfchlichen Trägers
göttlicher Kräfte fein. Ein Solcher aber war unferm Jammer nicht
gewachſen. — Wir hörten Ihn fagen, wer Ihn fehe, fehe den Bas
ter, denn Er und der Bater fein Eins; und ehe denn Abraham
war, ſei Er geweſen; und was cr diefem Aehnliches fonft bezeugte,
Aber auch im Bli auf diefe Ausfprüche könnte der Verfucher uns
noch einreden wollen, daß fie nicht buchſtäblich aufzufaflen, fondern
nur von der fittlichen Herrlichkeit Jeſu zu verftehen feien. Ja, es
fehlte an einem Ausſpruche noch, an welchem alle Künfte des Wort-
verdrehers aus der Hölle zu Schanden würden. Ein Zeugniß über
Jeſu Perfon blieb noch zu wünfchen übrig, an deffen feuerfetem und
probehaltigem Kern der letzte Zweifelspfeil zerfplittern müßte. Für eine
hoöchſt begehrenswerthe Sache mußte e8 erachtet werden, daß der Herr
einmal ganz unzweideutig, mit dürren Worten, für jedermann vers
ftändlih, und wo möglich in feierlicher Eidesform frei heraus er⸗
öffnete, wer er fei, und wer nicht. — Und fiehe, eben Dies foll jetzt
gefchehen. Er ift gefragt, ob er Jehova fei, der wahrhaftige Gott
und das ewige Leben; denn nichts Geringeres bedeutete der Titel:
„Ehriftus, der Sohn des Hocdhgelobten” in eines bibelgläus
bigen Ifraeliten Munde. Wer denn nun Ohren hat, der höre, was
Angefihts des Allmächtigen Der Mann von fich bezeuget, in deſſen
Munde, auch nach dem Zugeftändnig feiner Mörder, nie ein Betrug
erfunden ward! —
Da fteht Er vor den Schranken des Gerichts, dem Anfehn nad)
ein „Wurm“, und „Fein Menſch“. Größe und Hoheit feheinen nur
auf feiner Umgebung zu ruhen. An Ihm felbft erfchaut ihr nichts,
als Niedrigkeit und Armuth. Da fteht Er, gefenkten Haupts und
blaffen Angefihts, die Hände gebunden, von Bewaffneten umgeben
wie ein Räuber. Zum Umfinfen ermattet von allem Leid, das Ihn
bereits betroffen, fteht Er da, von feinen Freunden verlaffen, von den
Feinden verfchrieen; ein Fegopfer der Welt, ein Elender ohne Gleichen.
Und an diefen gefchlagenen und gebeugten Mann im ärmlichen Kleide
ergeht nun ans dem Munde des Erſten und Angefehenften der Nation
31% Dei Sep
Die feieriuhe Iurrerterum;, da cr bei Dem leſerdige Ger beumsen
weiße, eb er ſei „Ehriuns, Des begelskren Settes Schw“?
Es muß er denn aus jener legare Berballum: jeyt beramd: und gerne
iii Er uns zu Su ten Schleier. Se km es ah um diente Au⸗
Wpaltizungen jener Beriäulichleit banteie, idwiea er. fur wir um
Gbriurht, Die ver dem beifigen Namen, bei weichem er beihmos
wird, iein Herz erm̃li. Es ring Ibn Nie Unterwürigfeit Dazu,
deiten zu ichulden glaubt, Der Im zum Gifte for:
dazu feine Liebe, und ſein beiliger Eifer für Die
r Allem jeine zartfihe Zürierge für uns, die armen
Gute Er im Gerichte ſtebt. Es tt ja nicht der
allein, vor den Er ſich geſtellt weiß; feine gunze Kirche
er im Geifte um ſich ber veriammelt. Gr flieht, wie eine ganze
eilt in dieſem Augenblide vor Spammmng den Athem umbält, und
Geſchlechter der Erde erwartungsvoll fi um Ibm ſchaaren. Das
feiner ganzen Gemeine bis an das Ende der Zuge fiebt er an
Munde bangen, ımd ift fi bewußt, Daß Der Augenblid ges
kommen fei, da er dem Glauben derfelben für Jahrtauſende einen neuen
nnd unerfchütterlihen Pfeiler und Felſen unterfcbieben fol. So thut
er denn feinen Mund auf, und vor dem Throne des lebendigen Got-
tes, mit klarem Bewußtſein, befonnen, förmlich und feierlich bezeugt,
verfidert und betheuert er: „Du jagft’s, ich bin es!” Da habt
ihr das große Bekenntniß! — Welch' ein „Ja“ dies! — Diefes
„Ja“ hebt uns über alle Sorgen hinweg. Tiejes „Ja“ untermauert
unfern Glauben mit einem Fundamente der Ewigfeit. Diejes „Ja“
begründet und befiegelt die ganze Erlöfung, und iſt das Grab aller
unfrer Zweifel. Auf daß aber fein Schatten der Duntelbeit über dem
wahren Sinne feines Zeugniffes fchweben bleibe, fügt er jeinem Ja
noch ein Weiteres hinzu. Gr lüftet die Schleier der Zuhmft, und
fpriht: „Ich fage euch: Bon nun an wird es gefhehn, daß
ihr fehen werdet des Menfhen Sohn figen zur rechten
Hand der Kraft, und fommen in den Wolken des Himmels!”
Dem Anfange nach geſchah es bereits. Mit feiner Auferftehung und
Sit rar
HUFR
Kill:
zrisz
ES
a
Das große Belenntniß. 319
Himmelfahrt beganı das große Wort ſich zu erfüllen, Die Erfüllung
fchritt fort mit der Ausgießung des heiligen Geiftes und der Grün⸗
dung feiner Kirche. Und in umunterbrochenem Siegesgange ihrer
Vollendung entgegeneilend, wird Ddiefelbe einſt unter dem millionen-
flimmigen Lobgefang: „Nun find die Reiche diefer Welt unferes Gottes
und feines Chriftus worden” ihren Zielpunft erreichen. —
Es war nidyt möglich, daß es ungweideutiger bezeugt wurde, wer
Jeſus fei, als es nun durch Ihn felbft gefchehen iſt. Iſt num fein
Zeugnig wahr, wahr iſt's dann auch, daß ihr verloren feid, die ihr
an Ihn nicht glauben wollt; wahr, daß euch, die ihr die Kniee Ihm
zu beugen anfteht, nichts übrig bleibe, als eim fchredliches Warten
des Gerichts und des Zeuereifers, der die MWiderwärtigen verzehren
wird; wahr, Daß, wer unter eudy von neuem nicht geboren wird aus
Waſſer und Geift, als legten Urtheilsſpruch wider fi) das furchtbare
Wort vernehmen wird, welches die Verfluchten in das Feuer weifet,
das den Teufeln und feinen Engeln bereitet ift. Denn dieſes Alles
bezeugte ja ebenfalls derſelbe Mann, der dort fein „Sch bin’s
gefprochen; und fprach er Lebteres, wie Er es that, in Wahrheit,
fo bezeugte aud) jenes Alles „der Held in Zfrael, der nicht leugt.“
Wie könnt ihr denn noch eine ruhige Stunde haben, bevor ihr dars
über in's Klare kamt, ob jenes fein „Ich bin’s!” der Annahme werth
fei, oder nicht? Kommt zur Entfheidung! War es ein falfches Zeugs
niß, das Er zeugte, und ift Ehriftus nicht der, für den Er eidlich ſich
erklärte, warum feßt ihr dann noch einen Fuß in eine Kirche, wo —
Er vergebe den Ausdruck! — der größte Lügner, den die Welt gefehn,
zum Gott gemacht wird? Warum fchleppt ihr dann den Chriftennamen
noch mit euch herum, der in jenem alle nichts beffer ja, als ein
Brandmal ift? Warum beeilt ihr euch denn nicht, von einer Re
figionsgemeinjchaft euch loszuſagen, Die euch zumuthet, vor einem fals
fhen Propheten als vor einem Gott das Knie zu beugen? Eure
heiligſte Pflicht ift e8 ja dann, unverzüglich von den Bänfen, die ihr
eben einnehmt, aufzuftehn, und für immer dieſen Götzentempel
zu verlaſſen. — Iſt's aber gegründet, was der Herr vor Kaiphas bes
theuert, warım dann, du toll und thöricht Volk, zauderft du, vor einem
Könige hinzuftürzen, welcher Macht hat, feine Feinde nad) Leib und
Seele „in die Hölle zu verderben?“ Warum, du wahnfinnigee Ge
fchlecht, machſt du dann nicht Anftalt, dich in die Hände deſſen zu bes
fehlen, außer dem kein Helfer tft im Himmel und auf Erden? Warum
= 2as Seller
wa
du Dame dir ſelba ie feind uub grau. daeß De Alu ud Tod
ã währen? Das Lebern dir erichienen ut? X Berl auf
|
|
Siume anzebeten würd, die Hölle ım ſich reißt, ud ſich als ewige
. Beute tem Satan widwerrt.
3.
„Ib bin’s!” — Er ſvrachs. Und müre Pieter Gettmenjch wicht zu⸗
gleich dus u Schmach uud Marter auseriebene Opferlamm gemweien,
Stimmen würden fein Zengniß mit ihrem Amen befiegelt ba-
ben. Tie Serapbinen wären mit ibren goldnen Hurfen über ibm erfchie
wen, und bitten Ihm zugejandzt: „Iern, du biit s!“ Ans den Grimden
der Erde, die Er legte, würde dus „Nein, du biffs!“ beraufgeſchollen
fein, und der ewige Pater bitte mit jener Stinme, ver der die Berge
erzittern, vom Himmel berabgerufen: „Das iſt mein lieber<obn,
an dem ih Wohlgefallen babe!” Aber kunm bleibt’s über Ihm,
ſtunm un Ibn ber; ſtumm in der Höbe und in der Tiefe. Der Prie⸗
fler Gottes ift im Heiligthum, und mit feinem Opferwerk beichäftigt.
Da galt es ſchweigen. Rur den Feinden iſts vergomt, u to⸗
ben. Wie Kaivbas das imumwnndene Bekenntniß vernemmen but, zer⸗
reißt er zur Beurkundung einer freilich mur erbeuchelten Entrüftung
über den vorgeblichen Frevel feine Kleider: weiſſagt durch Diefe
Geberde, aber nur ohne es zu abnen, indem er inmboliich die bevor:
ſtehende Auflöfung des vorbildlichen Prieftertbums fignalifirt, Das
jet, nachdem der wahrhaftige Priefter in Chriſto erichienen war, als
inhaltiofe leere Schale dahinfanf. Nur einige Stunden noch, Damm
ift der Zempel zu fchließen, und das Opfern der Lämmer und Böcke
hat feine Endichaft erreicht vor Gott. Der Herr Himmels und der
Erden hat dann das Allerheiligfte, das „mit Händen gemacht iſt“,
für immer geräumt, um fortan in den Hütten und Kammern der ars
men Sünder feine Wohnung zu nehmen, — Ueberdied gibt uns der
Priefter durch feine Zrauerceremonie eine beachtenswerthe Lehre. Es
ziemt uns, geiftliher Weiſe vor dem Angefichte Jeſu ein Gleiches zu
thun, wie er. Mit zerrißnen Kleidern gilts, vor Ihn binzutreten ;
denn anders will er uns nicht fehn. In Stüde mit dem erträumten
|
Das große Velenntniß 331
Schmuck unfrer eignen Gerechtigkeit! In Zehen mit aller Kleiderpracht
eingebildeter eigner Tugend, Kraft und Weisheit! Unſre Blöße bloßs
gegeben, und unfre Schande in feiner Augen Licht geftellt! Hinein in
die Nadtheit, in's Armefünderthum, in's Bettlerwefen, wenn wir ung
Ihm zu empfehlen wünfchen! Alles Vornehmthun iſt Ihm ein Greuel.
Weg mit den Flittern; Er will uns ſchmucken. Gemachte Blumen
begehrt er nicht. Er pflüct nur Lilien fi) zum Strauße, die er felbft
gekleidet.
Der Hohepriefter zerreißt fein Gewand und fpridt: „Was bes
dürfen wir weiter Zeugniß?“ Der Mann bat Recht. Wenns
in der That eine unbefugte Anmaßung war, daß Jeſus ſich file
Gottes Sohn und den Richter der Welt erflärte, fo hätte er feiner
ärgeren Gottesläftermg ſich ſchuldig machen können, als es hiemtt
gefhehen war. Warum aber, ihr Richter Iſraels, muß es durchaus
eine Lüge fein, was Er eben von ſich bezeugte? Warum ſchlecht⸗
bin undenkbar, daß er der verheißene Herr vom Himmel ſei? Iſt
e8 fein Leben etwa, Das dem widerfpräche? Was vermochtet ihr
trog aller eurer Bemühungen Verwerfliches daran zu entdecken? Nichts
habt ihr Ihm Schuld zu geben, als daß er mit feiner eben ausges
fprochenen Erklärung fih — was ihr doch erft beweifen müßte —
ungebürlich überhoben, und in umbefugter Weiſe göttliche Ehre fich
beigemeſſen babe. Müpt ihr’s doch unverholen anerfennen, daß er
aus eurer Unterfuchung rein wie das Licht des Himmels hervorgegan⸗
gen fei. Und fagt, fleht etwa das Zeugniß von feiner Sohnfchaft,
das er eben abgelegt, fo vereinzelt und ohne weitere Stügen da?
Dient demfelben nicht vielmehr feine ganze Erfheinung auf Ers
den als befräftigendes Siegel? Ward es nicht durch Stimmen aus
der Höhe beftätigt? Umgeben e8 nicht Die Hunderte von unerhörten
Wundern und Zeichen als eben fo viele Beläge feiner Wahrheit; und
bat e8 nicht den gamzen Chor aller prophetifchen Weiffagungen, Die
fh auf's buchftäbfichfte in Ihm erfüllten, als mächtige Zeugen auf
feiner Seite? — So möchten wir euch fragen, ihr Richter zu Jeru⸗
falem. Aber ihr wollt nicht, daß Diefer über euch herrſche; und
darum muß und foll er Der nicht fein, für den Er eidlidh fi
erklärte. Wehe euch, ihr Erempelbülder aller richterlichen Ungerechtig-
fett — Wie wird es eud) ergehen, wenn der Zag daherfaͤllt, der
euch ſelbſt vor die Schranken ftellen und Alles an's Licht bringen
wird, was im Finftern verborgen war?
21
32 2 Ga.
„Bis tiılcı eaht“ Tax Ir Dabei Te mi, IB
Ber Im row ter rer sehnurei. Ye Berrmmufumg wir einet
Erzm: „Er ia tes Istes IS © Re ie Bu Der,
Sr a ma Zeh urn cn ei „J das „Cr ie des
Zetes iAzitız'" zucrser &5 met me m? cchabere Smmmen,
ld Tirjezigen jener Rıchsberre Bas Wis abe ür cu Ist, defien
„Bene Zede Sorte rei Tedes rer Gecko IT mea Gute ſei
wie tier Exte” Re ter, zeu im ter Prediger nube: „Der
Tag des Istes it berer, tes ter Iaz ter Genu.- Eben ie we
mis ber, tem Baufz! arımdu: „et, we u ter Scabel?“ und
Der, Dem Zimeen zu jeimem „fr. ze Liwet tu deinen Dieser
mis Zrieden iabten?“ im tie Arme il. ah es wide der Ted,
weichen Zterbaund mis iendheenten Gaxläsnyei eye. De
Zod, ven ber Durze eins icaſdia wur, UI Per, dex wu Onenb. 6
auf einem iablen Pierde rasen, mb dem zur dert tie umge Holle
folgen ichen. Der Ted ifs, der die Lifternte Sterabrenie arfahse, als
unter ibr die Erde ng auiikat. Ver Ze, der jeinen Siachel ned
hat, und fein Stachel in Die Zünte; Der Zed, Der m und mm
mit Fluch umfıngen it, und den die Schritt „den Seld ter Simie”
mennt. Ter Tod tes Gettleien, des Gehumuten, des Berwerienen,
Dieier furchtbare Schreckenskoͤnig, dieſer Zed, mit Grauen und Büter:
feit um- und angetban, Der it's, dem der Vürge bier im Namen
und Auftrage Gottes feierlib ven dem Zpnetrum geweibt wird.
Jun glaubt, der wird den Zod nicht ſeben ewiglich.”
Bir ſchließen. Doch vorab noch einmal das große „Entweder,
Oder“ euch vergegenwärtigt, das nach dem heute von uns erwogenen
Auftritt für euch Alle jet eingetreten it! Ihr ſeht euch die Alter:
native geftellt, entweder mit Jeſu als dem verwerflichiten Schwaͤr⸗
mer, den Die Welt gefehn, für immer brechen, und das Bluturtheil
Des hohen Rathes wider ihn aut heißen, oder mit und dem Naza⸗
rener ner Hoflanna fchreien, und Ihm, als dem „Gott, geoffenbart
im Fleiſch,“ in Huldigender Anbetung zu Zuße fallen zu muͤſſen. Für
—
Das große Belenntniß 3%
ein Drittes und Mittleres bleibt hier fein Rum. Das Gerede
von dem blos „vortrefflihen Menfchen” Zefus zeugt nur von
unerhörter Gedanfenlofigfeit, und birgt, bei Licht befehn, nichts als
einen Verrätherfuß in ſich. Wohlan, wie entfcheidet ihr euch? Schon
die gefunde Vernunft ertheilt euch den Rath, unfre Partei zu ers
greifen. Seht euh nur noch einmal in der eidlichen Betheuerung
Jeſu vor dem Hohenpriefter den mächtigen Felfen an, von welchem
unfer Glaube an Ihn geftüßt und getragen wird; und dann gebt ber
Wahrheit Raum, und fprechet mit uns:
Ja, Du bift unfer Gott,
Der Bräutigam der Seelen!
Die fih mit Dir vermählen,
Erfahren Di in Noth
Als Freund, ald Arzt, ald Gott! —
Nun Iefu, Du mein Alles,
Du einz’ger Troft bed Falles:
Nimm mid denn gänzlich hin;
Dein bin ich, wie ich bin.
Dein Geift mid) ſtets regiere,
Bis ih dort jubilire:
Mein Freund ift Gottes Sohn,
Und ich fein Schmerzenslohn! — Amen.
xxvi.
Petri Thranen.
Auf der Höhe feines geiftlichen Lebens fand der König David,
als er an der Spite feines Volkes, unter Harfens, Pfalter- und Pau⸗
Tenklang, die Bundeslade aus dem Haufe Obed-Edom, des Gathiters,
abholte, um fie in Ierufalem einzuführen. Seine Seele ſchwebte auf
Flügeln des Dankes und der Freude; und der Rhythmus feiner Empfin⸗
dungen theilte ſich harmonifch allen Geberden und Bewegungen feines
Körpers mit. Bekleidet mit dem leinenen Bruftfleide eines Leviten
„tanzte er, mit aller Macht vor Dem Gnadenthron des derm ber“, d. h.
21
ss vab Heli.
unter feierlichen, den Tönen der Juſtrumente und den Liedern der Saͤu⸗
ger bedeutfam entfprechenden Befticulationen ſchritt er dem Heiligthume
voran. Ob Michal, Die Tochter Sauls, am hoben Fenfter des Palas
fies über ihn die Rafe rümpft, und böhniſch ausruft: „Wie herrlich
iſt heute der König von Sfrael gewefen, der ſich vor den Mägden ſei⸗
ner Knechte ermiedriget hat;* — was fümmert’3 ihn? — „Ich will”,
entgegnet er frendigen Trotzes voll der haͤmiſchen Königstochter, „vor
dem Herrn fpielen, der mich erwaͤhlet hat vor deinem Vater, und vor
alle deinem Haufe, daß er mir befohlen hat, ein Zürft zu fein über
Das Haus des Herrn; und will nod geringer werden, denn
alfo, und will niedrig fein in meinen Augen, und mit den Mägden,
Davon du geredet haft, zu Ehren werden!“ — 2 Sam. 6, 21. 22.
Welch' ein Löftlicher Sinn, den diefe Worte atmen! Aber David
ahnet nicht, was er mit Dem „Ich will noch geringer werden,
denn alfo,* fich felber weiffagt. Es hat eine eigenthümliche Bewandt⸗
niß mit der Demuth. Sie ift im Hergendgarten der Gläubigen die
Blume, die Gott alleine fennen umd pflegen will; die aber ihr zar⸗
te8 Leben aushaucht, fobald das Selbftbewußtfein fie berührt,
und fie in feinen Zugendfranz vermeben will. Es ift wol kaum zu
bezweifeln, daß felbft jener gehobenfte Moment in Davids Glaubens:
leben infofern mit Dazu beigetragen hat, feinen nachmaligen Fall
herbeizuführen, al8 er, vom Zleifche gemißbraucht, das Vertrauen auf
die eigene Frömmigkeit in ihm weden und nähren half. Ach, in wel-
chem Maße war David „geringer geworden, denn alfo,” da er,
nachdem er in fo hohen Bahnen der Gottjeligfeit und des Glaubens
die Flügel gefchlagen hatte, ſpäter urplößlich im- Unflath eines Ehe⸗
brechers, ja in der Blutichuld eines Mörders fich wiederfand!
Da ging, was irgend von Selbſtruhm in ihm war, auf ewig zu
Grabe, und die Demuth kehrte bei ihm ein, die für ihre Hoffnung
außerhalb der freien Gottesgnade feine Handbreit Ankergrunds
mehr findet. Freilich Hat fi David nad) feinem Fall, wenn ihm gleich
die göttliche Vergebung auf fein zerbrochenes, thränenweiches Herz
verfiegelt ward, nie wieder zu feiner frühen Freudigkett und Kindes⸗
unbefangenheit vor Gott erhoben. Er blieb vielmehr, fo lange er noch
anf Erden Iebte, ein gefchlagener Mann, weil der Gnadenthron
Damals no verfchleiert und „Der Weg zum Heiligthbum“ nad
apoftofifchem Ausdrud „noch nicht offenbar“ war. — Anders ſtan⸗
den die Sachen, als Davids fpäterer Geiftesnerwandter, Simon
Zean oͤren hun.
Petrus, mit rothgeweinten Augen von feinem Falle wieder fidh er-
hob. Da hatte die göttliche Sünderliebe in Ehrifto ihrer legten
Hüllen ſich entfleidet, und auf dem Grunde des blutigen Derföhnungse
geheimniffes fand der gefallene Jünger einen Frieden, wie er ihn nie
vorher gekannt. —
Matthãus 26, 74 u. 75. Marcus 14, 72 Fuces 22, 60-62.
Und alfobalb, da er noch redete, Frähete ber Hahn zum andern Mal. Und ber Ger
wanbte fih, und fah Betrum au. Da gedachte Betruä an bad Hort Sein, ba er zu "
ihm gefagt hatte: Che denn der Hahn zweimal krähet, wirft bi mid dreimal ver-
leugnen. Und Petrus ging hinaus, verhäßete fein Haupt umd meinte bitterlich
Ihr ſeht, wir ſollen uns heute wieder von der Beftürzung erholen,
mit der wir unfre vorlegte Betrachtung fehloffen. Weber dem Nacht⸗
flüd der Niederlage Petri geht mit holdem Glange der Stern der gött-
lichen Gnade auf. Wir fehen die Thräuen fließen, welche nächft des
nen, die einft vom Auge des Heren f elbſt an Lazari Grabe, über
das gottvergefjene Serufalem, und im Getpfemanes -Rampfe thauten,
die denfwürdigften heißen dürfen, die je im Pilgerthal der Erde
vergoffen wurden. Die „Ihränen Petri” haben fprüchwörtfiche
Bedeutung gewonnen, und brauchen, etwa mit den Thränen Mag⸗
dalenen's vereint, nur genannt zu werden, um und eine wefentliche
Durchgangsſtufe in der evangelifhen Heilsorduung zu veranfchaus
fihen. Nicht umfonft, noch ohne Tiebreiche Abficht, hat uns der im
Schriftwort zeugende Geift die Petrustkränen in der evangelifcen
Geſchichte wie in einem goldnen Krüglein aufbewahrt, Wie Manchem
find diefelben ſchon wie lindernde Balfamtropfen in's verwundete Herz
gefallen. Mögen fie auch heute unter uns ihre gefegnete Wirkung
nicht verfehlen, und in vielen der lieben Augen, die eben aus dieſer
Berfammlung mich anfehn, fih thatfächlih erneuern.
In dem unfceinbaren Vorgange, deſſen wir heute Zeuge find, tft
Alles fo fehr der Beherzigung werth, daß wir es uns nicht verfagen
können, jeden einzelnen Zug deffelben befonders in's Auge zu faſſen.
Wir richten demnach, dem Faden der Gefchichte folgend, den beſchau⸗
fichen Blick zuerft auf den Hahnenfchrei; Daun auf die Zukehr
des Herrn; nach dieſem auf des Herrn Gnadenblick; Dann auf
Simons Gedenken; und endlich auf ſeine Thränen. —
„Sende der Herr Sein Licht und Seine Fa daß ſte ung
eifen, und. Bringen mp zn Seinen heiligen Bergel' mm . n
1.
Bir fuchen den Simon in dem entfegfihen Momente wieder auf,
da er, die Verleugnung vollendend, feine Jefusjingerfhaft un-
ter fihweren Fluͤchen fürmlih abfhwört Denkt, Solches thut
der Jünger, von deffen Lippe einft das große Bekennmiß erfcholl:
„Bir haben geglaubt und erkannt, daß du bift Ehriftus, der Sohn
des Iebendigen Bottes;* umd der feuriger wol und aufrichfiger, als
jemals wir, fein „Wenn Alle untreu werden, fo bleib’ ich dir Doch
treu” daherriefl — Aber was ift der Menfch, felbft der befte, wenn
er auch auf Momente nur fich felbft gelaffen wird! Und was wird
aus dem treuften der Chriſten felbft, genehmigt der Herr, daß er
auch nur für Augenblide die Gängelbande Seiner Gnade von fi
flreife! O Thorheit, einem wenn auch noch fo fchönem Gefühle ver:
trauen zu wollen, über das man nicht einmal eine Secunde Herr ift!
Kindifches Wagftüd, mit irgend einer Siegeshoffuung fich auf die Iuf-
tige Rüftung zu ftüßen, die man an feinem fogenannten „guten Willen“
und feinen „edlen Borfägen” zu befigen wähnt. — Immerhin möchte
man dies thun, ginge dem „willigen Geifte“ nicht das „ſchwache
Fleiſch“ zur Seite, und fchliche „der Teufel nicht umher wie ein
brüllender Löwe, fuchend, welche er verfchlinge”. — Aber nun — —
Dod in der Schule der Erfahrung erft mußte Simon, wie wir
alle, zu der Einficht gelangen, daß der Menſch auch ſchon der unbe
Deutendften Anfechtung gegenüber fi) zu viel vermeffe, indem er
feldft für fein Beitehen haft. Die Liebe Chrifti dringet, das
Schwerfte für Ihn zu wagen; aber ftark zum Ueberwinden macht nur
der Glaube an Ehrifti Liebe zu uns, und der Troß auf Seine
Gnadenfraft und Stärke. Derjenige, welcher vor ſich felbit als vor
einem der Verleugnung des Meifters vor Andern fähigen Menfchen
erzittert, wird größere Siege erfechten, als der fih Manns genug
Dünft, fprechen zu dürfen: „Wenn fie Dich Alle verlaffen, fo doch ich
nit!" — „Dur den Glauben ftehft du”, ruft Paulus; „fei nicht
flog, fondern fürchte dich!“ — „Darum“, fpricht derfelbe Apoftel,
„will ich mich am allerliebften rühmen meiner Schwachheiten, auf daß
Die Kraft Chrifti bei mir wohne.”
Simon liegt darnieder, Die Hölle triumphirt, Wie follte fie nicht?
War je eine Seele ihr verfallen, dann die jenes Abtrünnigen, wel
der des Fluches, den er ſelbſt auf fich herabbefchworen, fo würdig
war; und erlitt je die den Mächten der Zinfterniß fo verhaßte Sache
Petri Thraͤuen 327
des Chriſtenthums einen empfindlichen Stoß, dann bier, wo ein
Apoftel deffelben der erften Gefahr, die einem freimüthigen Be⸗
tenntniffe droht, fchmählich erliegt, und nicht hoch genug zu bes
theuern weiß, daß er „dieſen Menſchen“, nämlidh Jeſum, nit
kenne. Nichtsdeftoweniger ftimmt die Hölle ihre Siegestieder zu frühe
am. Mit dem Fluche, der Petrum treffen müßte, hat's gute Wege,
Hort in den Gerichtsfaal des hohenpriefterlichen Palaftes hinein.
Unter großem Getümmel verlautet da eben die erfchütternde Sentenz:
„Bas bedürfen wir weiter Zeugniß? Er bat Gott geläftert, und tft
des Todes ſchuldig!“ — „Wer?“ fragen wir erfchroden; — „Si⸗
mon Petrus?" — Nein, ein Andrer, und — dent! — ein Hets
figer gar; ja derfelbe, der einft mit der Eröffnung auftrat: „Ich
laffe mein Leben für die Schafe!“ — Seht will ers Taffen;
und zu feinen Zimmern gehört auh Simon, von dem der Fluch alfo
auf Zenen, feinen Bürgen, übergeht, und über deffen Haupt darım
hinfort der bfutgenegte Schild ſchwebt, der die Inſchrift trägt: „Ste
werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird fie aus meiner
Hand reißen!” — Was aber den „Stoß“ betrifft, den durch Simons
Berleugnung die Sache des Evangeliums erlitt, fo wird Diefes
denfelben auch fehon überleben. Geduldet euch nur; Einer wird
dem Handel eine folhe Wendung zu geben wiffen, daß derfelbe dem
Evangelium eher zur Berherrlihung, als zur Verdächtigung wird ges
reichen müſſen. Es ift hiezu Alles ſchon angebahnt und vorbereitet.’
In dem Momente, da Petri Sünde eben in einer förmlichen Abs
fhwörung feines Meifters ihr Maß erfüllet, rähet der Hahn. —
Was gibt e8 nun? Emüchterung von Taumel, Buße, Thränen?
— Gott weiß es, mit was für einem Getöfe der Teufel des Juͤn⸗
gers Ohr betäubte, daß der erfte Ruf des gefiederten Waͤchters zu
ihm nicht durchdrang. Simon gerieth nur immer tiefer noch in fein
Wirrfal hinein, und finftre Nacht, nur von einzelnen Blitzen feines
fich regenden Gewiſſens durchzuckt, umzog fein Beſinnen.
Irgend ein Hahn ward jedem Menſchen zum Wecker beſtellt. Ja,
faſt wo wir gehen und ſtehen, umſchreien uns Stimmen, die zur Buße
rufen. Die Natur iſt voll davon, wie unſer ganzes Leben; nur daß
unfre Ohren „dicke“ find, und nicht hören wollen. Es iſt Hahnen⸗
fehret in dem Donner, der, ein Herold der unendlichen Majeftät,
durch die Wolfen rollt; in dem Blitzſtrahl, der vor dir niederzudt
und ſpricht: „Hter bin ih;* — in den Sternen, bie fo flarr und
24 du Oli
fremd aus entlegener Ferne auf dich niederfchauen, als wollten fie zu
Dir fagen: „Wie weit, o Menfch, bift von deiner Heimath du verfchla-
gen?” — in der Blume des Feldes, die in ihrem flüchtigen Erblühn
und Verwelken deines eigenen Dafeins Bud Dir vormalt; — in den
Schlägen der Thurmuhr, wenn fie zur Mitternachtsftunde wie Die
Pulsſchläge der unaufhaltſam enteilenden Zeit in deine Kammer fallen,
und dir zurufen: „Eile, und rette deine Seele.“ Ja, wo wären wir
nicht von krähenden Hähnen diefer Art umgeben? Auf den Leichen:
feinen unfrer Gottesäder fiten fie, und rufen in die Stadt herein:
„Es ift dem Menfchen gefeßt, einmal zu fterben, und damad) das
Gericht.“ Bon jedem TZodtenwagen herab, der an dir vorüber rollt,
fhlägt ihre Wächterſtimme an dein Ohr. Diefe Stimme ift in jeg-
lihem Geburtstage, den du feierft, in jeglihem Kranfheits-
anfall, von dem du betroffen wirft, in jeglicher Gefahr, die dein
Leben bedroht, fo wie in der verborgenen Unruh, die unabläfftg dein
Inneres durchfchleicht. Und wen wäre außer diefen allgemeinen Weck⸗
flimmen nicht noch irgend ein befondrer Hahn in Haus und Hof
geſetzt? Dir liegt eine ungebüßte Sünde auf der Seele; wann wird
Diefer fchreiende Hahn dir die Thränen in die Augen frähen? Dir
tritt feit Kurzem ein Unglüd um das andere über die Schwelle O,
wie viel Hahnenfchrei für Dich in diefen Authenfchlägen des allmäch-
tigen Gottes! Du fühlft, daß deine Kräfte fchwinden, und deine Le⸗
bensfonne anhebt, fid) zum Untergang zu neigen. Menſch, hörft du
nicht des Hahnes Krähen? — Za, von allen Seiten werden wir ans
gefräht: in Träumen bei der Nacht, in Erlebniffen bei Tage, in ernften
Gedanken, deren wir uns nicht erwehren können, in Predigten und
Mahnungen, die an uns ergehen, Aber was frommt's? Es muß die:
fem Gefchrei noch etwas Anderes fi) beigefellen, ein Höheres und
Mächtigeres, als es felbft; oder nimmer wird es ihm gelingen, fo
„Unbefchnittene an Herzen und Ohren“, wie wir alle von Haus aus
find, aus ihrem Zodesfchlafe wach zu rufen.
Sehet euch den Petrus noch einmal an, wie er, der Fels, auf wel⸗
hen Ehriftus feine Kirche bauen wollte, im Hofe des Hohenprieiters
jänmerlich darniederliegt, und die Mächte der Hölle triumphirend über
ihn mit Händen klappen. In Diefer Lage ift er ein Bild der Ge-
meine Des Herrn auf Erden in ihrem gegenwärtigen Zuftande Wer
find wir? Ein Städtlein, um das man eine Wagenburg gefchlagen,
ein „ Würmlein Jakob“, das man anpfeift auf den Gaffen, einge „ Selte“,
ir Died. en
der „in aller Welt widerfprochen wird”, eine „&lende, über die alle
Wetter gehen“, umd der ſchon prophezeiht wird, Daß e8 „bald um fie
geſchehen“ fei. Aber nur guten Muthes, Lieben Brüder! Hört ihr
die Hähne nicht krähen an allen Enden und Orten, und in allerlei
Zönen und Melodien? In Krieg und in Gefchrei von Kriegen? In
Bewegungen der Völker und im Herauftauchen falfcher Propheten? In
dem ängftlichen Warten der Dinge, die da kommen werden, wie es
fteigend überall ſich kundgibt, und fonderlih in der Predigt des
Evangeliums unter „aller Kreatur”, und in dem lauten Wächterrufe,
mit dem der „Engel“, der das „offne Buch” trägt, „mitten durch den
Himmel fliegt”? Berfteht ihr diefe Signale nicht? — Diefes Hahnen-
gefchrei weit und breit deutet auf Anbruch des Morgens. Gemeine
Gottes, es verkündet dir, wie weiland dem Petrus, — vorab noch
eine furze Zeit der Thränen und des Kampfes; — aber darnach die
Nähe eines Triumph⸗ und Auferftehungstages. In dem Mos
mente, da die Hölle ihre Siegesfahnen auf die Mauern Zions wird
pflanzen wollen, wird „erfcheinen das Zeichen des Menfchenfohnes am
Himmel“, und „alle Gefchlechter der Erde werden fehen, in welchen
fie geftochen haben.” —
2
Der Hahn im Hofe des Hohenpriefters kräht zum andern Mal,
und diefer Ruf dringt Durch und findet Wiederhal, Dem Simon
beginnt’8 unter dem Wiederfchein der in ihm wach gerufenen Erin-
nerungen an des Meifters Warnung, über dem Abgrunde, in den er
hineingerathen ift, zu tagen. Fährt aber er entjeßt zufammen, fo mag
die Hölle nur fein Erſchrecken theilen, indem ihr diefer zweite Habs
nenfchrei, wie die Joſuaspoſaunen einft die Mauern Serichos, die
flogen Siegestrophäen, die fie ſchon aufgerichtet, mit einem Male
wieder über einander wirft. —
Laſſen wir uns jedoch um einige Augenblide vor den Moment, in
dem der zweite Hahnenruf erfcholl, zuruͤck verſetzen. Was ereignet fi)
da im Innern des Rathsſaals? Ein wüfter Lärm dringt aus dem⸗
felben uns zugetragen. Großes hat ſich eben dort ereignet, Der Ber
klagte legte das eidLiche Belenntmiß ab, daß er der Sohn des les
bendigen Gottes ſei. Der Hohepriefter zerreißt in erheuchelter Bes
flürzung fein Gewand; unter wilden Gebrüll wird das Todesurtheil
über den Heiligen Iſraels qusgefprochen, und die Schergen ergreifen
den Berurtheilten, um ihn in den Hofraum abzufuͤhren, und Dort ihre
2 Bei Selig.
entzäzeke Burb au ibm zeimizäre — Eben mu ter aittfide Dul-
der zı Hertbür berami, als der Reczun des Habas zu jenem Ohr
Brizzt Und „Der Herr wautıe ji um,‘ mrfter die Geſchichte.
— Rıb zen! — Bu wire. Jener Sazı rerfüntete ie ten Fall
feines Xümzers: md ibe Ea ice Anae. ib fee miileiteellch Gen.
En Solcher 4 &. Ru mehr als erſiber Zärffichlenr umfaßt
Er die Seinen, ud ibre Untrene kehrt Seine Irene nicht uf.
Belche Leidenswogen geben eben über Sein Haurt! Uber Gr famı
veraeñen über der Serge Tür iein zetallenes Kind. Ja, cher
& müste Gins veraenen werden, das Regiment ter Belt,
Böller ibre Vege achen, che Er eins ſeiner „Kleinen“
—e— <e — eine Neie, Ne Er plante,
X dieſe Büite ein licher Gurten teim, md
um Dieies Tlin;lein zu murten um? zu pilegen.
unter Den Seinen, ibr ver Andern Hülse
me! Es icheimt, als lãget ibr Abm zu allermächft
.
in
2
s}
4
ETRRE
Hi
I
am Kerzen.
Zief, tief Hal Simon im Ehlamm ter Sim, „Da,“ erzäblen
gm? — Ja, wären dergleichen Leute an uns gewieſen, fie fübren übel.
Bie fchnell find wir bereit, Hraudelnde Brüder m Hendlern zu
ſtenweln, ımd zu verwerfen. Statt auch nur einen Zinger zu rübren,
um fie wieder aufzurichten, tauchen wir fte nicht selten lieber ned
tiefer in den Kot hinein, umd verfolgen ie ſchärfer als die Welt;
und es erfüllt fidy geiitlicher Weiſe, was geichrieben itebt: Wenn Je:
rufalem belagert wird, wird Juda mit blofiren belien. Der Herr
Dagegen, dem Doch allein in ſolchen Fällen dus Richteramt zuſteht,
ſchaäͤmt ſich nicht, zur Rolle jenes Weibes im Eangelio ſich berabzu-
lafien, die, wenn fie einen Groſchen verloren bat, ein Licht anzindet
und zum Befen greift, und nicht aufbört, im Staube herumzukehren,
bis der verlome wieder da iſt; und wenn fie ihn gefunden, ihre Rad)
barinnen zufammenruft, und zu ihnen fpricht: „Freuet euch mit mir,
Denn ich habe meinen Grofchen gefunden, den ich verloren hatte. —
Ihm figen feine Kinder fo Iofe am Herzen nicht, wie häufig uns die
Brüder. — Sagt doch, ihr Väter und Mütter, hörten eure verirrten
Söhne und ungehorfamen Zöchter durch ihre Berimmg auf, eure Kin-
der zu fein? Fühlt ihr es nicht vielmehr alsdann nur tiefer noch, Daß
Petri Thraͤnen —
fie „Fleiſch von euerm Fleiſch, und Bein von euerm Beine” find?
Steigert fi) nicht eure Liebe gar durch die Gefahr, in der ihr fle
fchweben feht? Ja, tritt e8 euch nicht, wenn ihr um fie weinen
müßt, viel mächtiger noch in's Bewußtfein, daß ihr ein Leben mit ih-
nen lebt, als da ihr harmlos ihrer euch nur freuen durftet? — So
denn ihr, „die ihr arg feid“, euern Samen nicht verleugnen Tönnt,
wie follte Der Seines „Fleiſches und Blutes“ je vergeffen können,
der da fpricht: „Wie mich mein Vater liebt, fo liebe ich euch;” und
der uns zuruft: „Kann auch ein Weib ihres Kindes vergeffen, daß
fte fi) nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob fie des-
felbigen vergäße, fo will ich Doch dein nicht vergeffen. Siehe, tn
meine Hände habe ich Dich gezeichnet!” — Auch der gefallene Pe-
trus blieb fein Petrus. Wie arg er's gemacht hatte, Jeſu Herz ver-
änderte fich gegen ihn nicht. Seht, wie mütterlich beforgt Er fich
nach ihm umfieht. Zum zweiten Male hieß es jet zu Simon:
„Ich aber ging vor dir über, und fahe dich in deinem Blute Tiegen,
und ſprach zu dir, da du fo auf's Feld geworfen in deinem Blute
fageft: Du follft Teben; ja, zu Dir ſprach Sch: Du follft leben!“ —
Fürwahr, wenn der Herr nicht gewollt hätte, daß wir glauben follten,
der Bund der Gnade ftehe auf Seiner Seite unverbrüchlich feft, fo
würde er gewiß Bedenken getragen haben, und Erempel in den Ge
fichtskreis zu rüden, wie das eine8 David, des Mörders und Ches
brechers, der nichtödeftoweniger ‚ein Mann nad) Seinem Herzen“
blieb, und das eines Simon Petrus, von dem es heißt: „Und
er hub an, ſich zu verfluchen und zu fchwören: ich fenne den Men-
fhen nicht; und bald darauf: „Und Jeſus wandte ſich um nach ihm,
und fah ihn an.” — — Ja, „glauben wir nicht, fo bleibet Er treu;
Er kann fich felbft nicht leugnen; — und „der feite Grund Gottes
befteht, und hat diefes Siegel: Der Herr fennet die Seinen,” —
„Der Herr wandte fih um.” — Jede Sünderbefehrung be
ginnt damit, daß das gefchieht, um was David bittet: „Siehe dich
um nad mir.” Bon Natur find wir verdorrete Gebeine auf einem
großen Zodtenader, und können zu Ihm nicht kommen. Hebt aber der
Herr an, fih nach und „umzuſehen“, fo wird dies bald verfpürt. —
Man kommt, ehe man noch will, in nähere Berührung mit Ihm,
Man hört gleihfam Seine Fußtritte um ſich rauſchen. Man fühlt
fi) tief und wunderfam bewegt durch Dinge, die man fonft faum bes
achtete. Bei tauſenderlei Umftänden drängt ſich dem Herzen gleich
— * Das Geige
der Gedanfe auf: Siehe, Gott will dich biedurdh zur Buße rufen. —
Man hatte einen ängftlichen Traum, oder es fällt unverſehens ein
Bild und von der Wand, oder ed verdorrt uns plöglich ein kraͤfti⸗
ger Baum im Garten, oder ein Leichenzug begegnet uns, wo wir ihn
nicht vermuthet, oder man fehlägt zufällig einen nadhdenflidhen Spruch
im Bibelbuche auf: überall fagt uns ſogleich ein Gefühl: „Du wirft
zur Befehrung aufgefordert”; und oft möchte man mit Jakob fprechen:
„Gewißlich ift der Herr an diefem Orte!” — Da wohnt uns denn der
Allmächtige nicht mehr fern und fremd in entlegener Höhe, fondern
Er wandelt durch unfre Kammer, Er begeguet uns innerhalb der engen
Grenzen unfres Lebens. Kein Tag vergeht, oder irgend etwas tritt
ein, wobei wir fagen müffen: „Siehe, der Herr!” — Doc in fol-
chem Verhältniſſe zum Herrn kann man fich lange bewegen, ohne daß
ed darum ſchon zu einer wirklichen Befehrung mit uns kommt, Nach
wem er aber erft in Liebe ſich umfieht, der treue Hirte, an Dem wird
Er auch no ein Weiteres thun,
3.
Der Hahn allein Frähte den Jünger von feinem Falle noch nicht auf.
Das Ummwenden des Her nad) ihm erzielte eben fo wenig noch Die
erwünfchte Wirkung. Es fam aber zu jenem und zu dieſem nod) ein
Drittes, ein Wirkſameres, hinzu. Was wars? Ein Wort! Gin
Zuruf? Eine Predigt? — Nein, ein Blick, den das Auge des „Hüters
Iſraels“ dem am Rande des ewigen Berderbens taumelnden Junger
zuwarf. Diefer Bid thut Wunder, — „Jeſus wandte fi, und fah
Petrum an.” — Was für ein Blid dies gewefen fei, und welche
Fülle göttlicher Wehmuth und Liebe fich in ihm gefpiegelt habe, wird
einft Petrus felbft unter den bimmlifchen Friedenspalmen uns erzäh-
len. So viel aber wiffen wir ſchon jeßt, daß jener Bli nicht leer
daher kam, fondern angethan mit Funken des Geifted und Strahlen
der Gnade. Beides, ein Schwert zum Berwunden, und zugleich den
Balfam zum Heilen führte er mit fih. Wie ein zerfchmetternder Blitz
ſchlug er ein; und zugleich ergoß er ſich wie ein erquidender Thau.
O, welche Macht in den Bliden des Herrn ruht, ift nicht zu fagen.
— Mit dem Blide der Majeftät fieht Er die Erde an, und — fie
erbebt, Mit feinem Richterblid ereilt Er den Sünder, und es
verlautet die Hiobsklage: „Deine Augen fehen mich an, darüber vers
gehe ich.” Sein brechender Zodeshblid vom Kreuze her ſchmelzt
fleinerne Herzen, und fänftigt Löwen zu Laͤmmern. Aus feinen Tau⸗
Ketri Thränen. 383
benangen, hervorleuchtend aus Windeln und Krippe, trinfen ein Si⸗
meon und eine Hamna fi ewige Jugend. — Mit einem Blicke vers
gebender Gnade macht Er eine zerfnirfchte Seele „Himmel md
Erde vergeffen” über ihrem Glücke, und vermittelft eines Anblicks wehs
muthsvoller Liebe holt Er zerfprengte Lämmer feiner Heerde aus jahres
langer Berirrung wieder zurüd, — Aber,” höre ich fragen, „Tann Er
fo au heute noch uns anfehn?” — Ein Geheimniß iſts; aber
die Seinen ftehen feinen Augenblid an, jene Frage zu bejahen.
Sie fühlen noch von Seinen Augen fi bewacht; und in Gemäßheit
defien, was fie in denfelben zu leſen glauben, fteigt oder fällt ihr
Friede md ihre Freude. Iſt e8 Entfremdung, fo ſenken fie das
Haupt, und um ihre Ruhe iſts gefchehen; ift es aber Gnade, fo
geben fie, wie Gideon, freudig hin in diefes Blickes Kraft, und froh⸗
locken mit Maria: „Der Herr hat die Niedrigfeit feiner Magd, feines
Knechtes angefehenz von nun an werden mic, felig preifen alle Mens
ſchenkinder!“ —
4
Der Anblid des Herrn verfehlte auch an Simon feine Wirkung
nit. So wie des Yüngers Blid dem Seinigen begegnet, ift der
Zauber geldft, der ihn gefangen hielt, der dämoniſche Rauſch verflos
gen, Das Ohr ihm aufgethan, die Befinnung zurüdgelehrt; ja, die
Sünde erfannt, das Herz zerſchmolzen, der „Strick zerriffen” und „der
Bogel frei”, — „Mein Gott,” hieß e8 in feinem Innern, „wohin
ward ich verfehlagen? — Unglücfeliger ich! — Wurde mir nicht Alles
fo vorausgefagt? Sprach Er nicht auf dem Wege: Ehe der Hahn
zweimal Trähet, wirft du mich dreimal verleugnet haben? — Wehe
mir, daß ich in thörichter Selbftüberhebung diefer Warnung mich vers
ſchloß, und erft jeßt, nachdem es zu fpät ift, ihrer gedenfe! — In
Gefaͤngniß und Tod gelobte ich mit Ihm zu gehen, und bin der erfte,
der Ihn verleugnet und abfhwärt! — Wie, daß die Erde mid) noch
trägt, und nicht ein Blitz vom Himmel mich zerfehmettert; fondern ftatt
deffen Der noch mich Kind des Todes eines Blicks des Mitleids und der
Erbarmung würdigt, der fo mütterlich treu mich gewahrfchaut, und von
dem ich nichtödeftoweniger wegwerfend zu fagen vermochte: Ich kenne
den Menſchen nicht!“ — — So mochte feine Seele fprechen, als
er, wie die Gefchichte meldet, „an das Wort des Herrn gedachte,
das Er zu ihm gefagt hatte,“ Unfehlbar wäre er jeßt eine Beute
der Verzweiflung geworden, hätte die Mutterliebe Jeſu nicht vermit⸗
&
4
—X
2
Rz
gr
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B
Milde uud Gnade buzulam, die Baliamfrafi aller der Worte, die der
mütterlihe Zünderftemd zu ibm geipredhen batte; und wie durfte Be
tms jet mit Der Braut im Hobenliede jagen: „Ta der König fid
berwandte, gab meine Rarde ihren Geruch!“ — Freilich but fh
I
Da fleht umjer Simon, durdy des Meiſters Blick vollig in Beugung
und Zrauer aujgelöft. Als dürfe er vor Gott und Menſchen ſich wicht
mehr ſehen lafjen, hüllt er jein Haupt in den Mauntel, und „bebt
an, bitterlih zu weinen.” — Und dies find nım die Thränen,
von denen geidjrieben ftebt, „Der Herr faſſe fie in feinen Sud“, und
deren „Ausſaat“ eine ewige „Zreudenernte” verheißen wird. Sie
zeugen, wie jener perlende Zhau, der beim Beginn des Frühlings aus
den Reben des Weinſtocks dringt, von noch vorhandenem Leben, ımd
verfimden im Auge des Sünders dem Satan den Berluft feines Pro
zefles, das Ende feines Triumphs. — D, was Alles ſpiegelt ſich in
diefen Zahren! Wie Edelfteine ihre reinen Lichter, ftrahlen fie welche
gründliche Zerfnirfhung vor Gott, welch' heiliges Ergrunmen wider
die Sünde, welch' einen brünftigen Gnadendurft, und welche Fülle ins
niger Liebe zu dem Herm aus! — ‚Sei du mir nur nicht ſchrecklich,
meine Zuverfiht in der Noth;” — „Verwirf mich nicht von deinem
Angeſicht;“ — „Wenn ich nur dich habe”: — das find die Klänge,
die fein Herz durchziehen. AU fein Sehnen und Verlangen beſchränkt
fid) auf das Eine, daß er der Huld des Herrn ſich wieder getröften
dürfe. Ob er ein Geächteter fei vor der Welt fein Leben lang, und
dem Zleifche nach nur Hiobs⸗ und Luzaruswege gehen müfle: er will
ſich dem gerne unterziehen, wenn er nur wieber auf Gnade hoffen
Betri Tränen. 335
darf. — Seine Thränen fünden die Geburt eines neuen Petrus
an. Der alte, vermefjene, fich felbit vertrauende und das Eigne ſu—⸗
chende ftarb; und ein Mann der Demuth, der findlichen Hingegeben-
heit an Gott, und des Tauterlichen Begehrens, daß nur der Name
des Herrn groß fei und verherrlicht werde, erhub ſich phönizartig
aus feiner Aſche. —
Man fagt, daß dem Petrus, fo lange er gelebt, das Auge nicht
wieder troden geworden fe. Wenn dies mehr als eine Legende ift,
fo war die Thräne, die man an feiner Wimper fortzittern ſah, feine
reine Schmerzenszähre, fondern eine Thräne der Freude über
die erfahrene Erbarmung, nur gedämpft dur eine unauslöfchliche
Wehmuth. Die Nüderinnerung an feinen Fall verließ ihn kei
nen Augenblid mehr, und fchärfte ihm in demfelben Maße, in wels
hem fie ihn niedrig erhielt, den Blick feines Geiftes für das Ges
heimniß des Kreuzes und der freien Gnade. — Mehr als ein
Mal fehen wir fie unverkennbar namentlich in feiner erften Epiftel
wiederfcheinen. Er tröftet Die Gläubigen mit der herzerhebenden Er⸗
öffnung, daß fie „aus Gottes Macht durch den Glauben bewahret
würden zur Geligfeit.” Er fordert fie auf, „ihre Hoffnung ganz auf
die Gnade zu ſetzen.“ — Mit großem Nachdruck mahnt er fie an
die Hinfälligkeit und Ohnmacht der menfchlichen Natur, indem er ihnen
Das Wort des Propheten in's Gedächtniß zurüdtuft: „Alles Fleiſch
ift wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menfchen wie des Grafes
Blume. Das Gras tft verdorret, und die Blume abgefallen.” — Er
fpriht von dem „theuern Blute Ehrifti als eines unfchuldigen
und unbefledten Lammes“ mit einer Innigfeit, die fogleich den
Mann verräth, der die Balfamkraft dieſes Blutes tief an fich felbft
erfahren hat, Er ift es, aus deffen Munde das Wort der Warnung
an uns ergeht: „Seid nüchtern und wachet; denn euer Widerfacher,
der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe, und fuchet, wel-
hen er verſchlinge.“ Und wenn er die Pfalmftelle citirt, in der
e8 heißt: „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten; das
Angeficht aber des Herrn ftehet auf die, fo Böfes thun,“ ift e8 da
nicht, als deute er gefliffentlich auf jenen Blick feines Meifters bin,
der ihn einft fo tief zermalmte, und fo allgewaltig ihn zu Boden warf?
Ich fchließe. — Wer, Freunde, ift unter uns, der dem gefallenen
Petrus gegenüber fich erfühnen möchte, wie weiland der Pharifäer zu
886 Das Heilige,
fprehen: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie Diefer da”?
— D, wie viel Berleugnungsfähuld, grobe ımd feine, ruht auch
auf uns! Wie reiche Urfache haben auch wir, vor dem Worte: „Wer
mich verleugnet vor den Menfchen, den will auch Ich verleugnen vor
meinem himmlifchen Vater“, ernftlichft zu erfchreden! — Hüllen denn
auch wir unfer Haupt in den Mantel, und gehen mit Simon hinaus,
und weinen bitterlich, damit, wie ihm, auch uns ein Oftern der Gnade
tagen könne, und auch auf uns der apoftolifche Zuruf 1 Eor. 6, 11 eine
Anwendbarkeit erlange: „Solche find Etliche unter euch gewefen;
aber ihr feid abgewafchen, ihr feid geheiliget, ihr feid gerecht gewor⸗
den durch den Namen des Herm Jeſu, und durd den Geift ımfers
Gottes!” — Ja kommt, und flimmen wir mit voller Aufrichtigkeit des
Sinnes ein in des Sängers Wort:
Hat Petrus dreimal Did aus Furchtſamleit
Berleugnet, und damit Dein Herz durchſtochen:
Ach, wie viel öfter hab’ ich Treu gebrochen,
Doc ed ift mir, o Herr, wie Betro, leid.
Und darum haft Du den treulofen Knecht
Beitändig noch zu lieben fortgefahren.
AA! bring mich auch, wenn ich verirrt, zurecht.
Laß Deinen Geift dies ſchwache Rohr bewahren. — Amen.
— 0 0 0ů—
XXVIII.
Weiſſage uns, Chriſte!
So find wir denn wieder vereinigt, Geliebte, um uns in finniger
Betrachtung auf den Opferplägen unfres Mittler zu ergehn. Sei
denn auch diefe Stunde und eine gefegnete und geweihtel Ich beginne
damit, daß ich euch an ein wohlbefanntes einfältiges Verslein mahne,
Es Tautet:
„Können Jalobs Söhne zwingen
Joſephs gar fo harten Sinn,
Wenn fie vor fein Antlik bringen
Ihren jüngften Benjamin;
Weiſſage uns, Ehriftel 337
Wie ſollt' ih Dein Angeſicht,
O mein Gott, erweichen nicht,
Wenn ich auf zu Dir mich ſchwinge,
Und Dir meinen Jeſum bringe?!⸗
Unſcheinbar fteht fi) dieſes Verslein an; doch iſt's Tieblich und
voller Tiefe. Ja, mit unferm Jeſus richten wir Alles aus bei Gott.
Iſt Er unfer, fo raufchen uns Gottes Erbarmungen entgegen wie ein
Strom. Bellagenswerth aber ift ed, daß unter den Ehriften nur fo
wenige recht gründlich wifen, was fie an ihrem Zefus haben. Eins
ſonderlich beherzigen fie nicht genug: die Wahrheit, daß Gott ung
feine Huld und Liebe zuerfennt in Gemäßheit deffen, was Jeſus für
uns that und vor ihm gilt, und nicht nach Maßgabe der Gefins
nungen, die wir zu Jeſu hegen. Die Gefinnungen des Glaubens
und der Liebe find uns freilich unentbehrlich als das Band, das uns
mit Jeſus eint; nimmermehr aber werden fie zu einem Theil der Ur⸗
ſache, um derer willen Gott fein Herz und ſchenkt und die Seligkeit
uns zumißt. Die alleinige, ausfchlieglich Gott beftimmende, aber auch
überfchwänglich ausreichende Urſache unfrer Annahme an Kindes Statt
bleibt Chriftus. Wie fteht gefchrieben Ephef. 1, 6% Der Apoftel
fagt: „Gott hat uns Ihm (d. i. Seinen Augen) angenehm ges
macht.” Wie aber that dies Gott? Machte er uns Sich angenehm
in uns felbft? Nein, fagt der Apoftel, „in dem Geliebten“
hat Er's gethan. Wie dies gefchehn, zeigt und die Paffionsgefchichte,
die denn auch in dem Auftritte, den fie heute vor ums enthüllt, jenes
wunderbare Gotteswerf uns auf’8 neue zur Anſchauung bringen wird,
Matthãäus 26, 67. 68. Marcus 14, 65.
Die Männer aber, bie Jeſum bielten, verfpotteten ihn und ſchlugen ihn, und fin-
gen an etliche, ihn zu verfpeien in fein Angeficht und zu verbeden fein Angefiht, und
mit Fäuften zu ſchlagen und zu ihm zu fagen: Weiffage uns, Ehrifte, wer ift ed, ber
dich ſchlug? Und viele andre Läfterungen fagten fie wider ihn. Und bie Knechte
gaben ihm Badenftreiche.
Wir kommen heute zu einer Scene, meine Brüder, die an Schauern
und Schreien in der ganzen Paffionsgefchichte kaum ihres Gleichen
hat. Man weiß auf den erften Anblick nicht, was man zu ſolchem
Auftritt fagen fol, Man erſchrickt, fährt beftürzt zufammen, zittert,
möchte wegfehen von folhem Vorgang, und, das Haupt verhüllend,
22
388 Das Heilige.
mit einem: „O mein Gott, wer erträgt dieſe Dinge?“ im Fluge von
Dannen flürzen. Aber enteilen wir nicht, jondern bulten wir aus, und
beleuchten die Anfangs fo unbegreiflich erfcheinende Gefchichte mit der
Fackel des feſten prophetiichen Bortes, fo wird das ſcheinbar undurch⸗
dringliche Dunkel ſich ſchon lichten, und das unheimliche Räthfel in
überrafchend tröftlicher Weile feine Löjung finden. Wir richten unfer
Augenmerk heute vorzugsweije auf Die an Jeſum geitellte Frage:
„Beiffage, Ehrifte, wer iſt es, der Dich ſchlug?“ und fchauen
an die Schreden, welde dieje Zrage begleiten, und die bedeutungs⸗
volle Antwort, die auf fie erfolgt.
Möge unter den erichütternden Bildern unirer heutigen Betrachtung
wie unfer Abfcheu gegen die Sünde, fo unfre Liebe zu dem, der und
von ihr erlöfte, einen weſentlichen Zuwachs erfuhren!
1.
Das Urtheil ift über Jeſum gefällt. Es Tautet auf nichts Gerin⸗
geres, ald auf Tod. Die richterliche Berfammlung bat ſich nach ihrer
erften Sigung, Die noch bei der Racht begamı, für eine kurze Weile
mit wilder Siegesfreude vertagt. Unterdefien ift der göttliche Dulder
der Willfür der Schergen und Lanzenfnechte preisgegeben, Die dem
ein gräßlich Spiel mit ihm treiben, und dies um fo ungefcheuter, du
es mit Zuſtimmung und auf Rechnung ihrer hohen Gebieter geichieht,
und fie fi bewußt find, daß fie Diefen damit nur gefallen werden.
Er befindet fih nun einmal in ihrer Macht, und jebt foll er Alles,
Alles büßen. Aber was büßen doch? Was that er ihnen je zu Lei-
de? O, beim allerbeiten, treuften Willen viel! Hatte er ihnen doch
in feiner heiligen ‘Berfönlichkeit einen Spiegel vorgehalten, aus wel-
chem ihnen das ſchwarze Bild ihrer eignen Gottlofigkeit grell entgegen:
trat; — und ſolche Begegnung war ihnen unbequem! — War ihnen
durch fein leuchtendes Exempel doch der thatfächliche Beweis geführt,
daß fie auf verfehrtem Wege fid) befinden; — und Ueberführung
ſolcher Art jchneidet in's Herz. — Hatte er ihnen doch durch feine
Aufforderung an fie: „Laffet euch verföhnen mit Gott!” unzweideutig
por die Stimm gefagt, daß fie bisher in Gottentfremdung dahingelebt;
— und folde Eröffnung beleidigt und fchafft Pein, zumal wenn das
eigne Gewiſſen in die Beichuldigung mit einftimmt. — Nannte er
isnen Doch wiederholt eine „neue Geburt“ als die unerläßliche Be⸗
Dingung, an welche für fle die Aufnahme in’s Himmelreich gefnüpft
fei; und was ward ihnen hiedurch bezeugt, als daß fie in ihrem ges
Weiſſage uns, Chriſte! 839
genwärtigen Zuftande verderbt umd verloren fein? Wer aber hört
dergleichen gern! — So hatte fi} denn auch in ihnen nach und nach
ein ganzer Sud von Grimm und Xerger angefammelt. Ein entjeß-
licher Umftand, der aber nur für Jeſum zeugt. Glaubt’s, auch Die
Widerſacher des Herrn und feines Worts unter uns find größtentheils
wie ein angefchoffeneds, und vor dem Jager flüchtiges Wild. Sie
fühlen, daß diefer Jeſus ihnen an ihren falfchen Frieden will, ihr
fleifchliches Gefuch verdammt, und ihre Göken zum Opfer fordest;
und darum find fie Ihm gram und abhold bis zur Läſterung. Mit
Freuden begrüßen fie jeden Verfuch, der darauf abzielt, Jefum zu einem
bloßen menfchlihen Rabbi zu emiedrigen; denn ihr ganzes Dichten
ift nur darauf gerichtet, feiner als eines Mannes, dem fie verpflichtet
feien, mit guter Manier ſich zu entfchlagen, Faſt immer läßt fich, wo
Ehriftusfeindfchaft fich zeigt, diefelbe auf jene trüben Motive zurüde-
führen. Das Ehriftenthum ftört in Wespenneftern, reißt von geheis
men Schäden die Hüllen und Pflafter weg, und wedt die durch aller
lei Zaubertränfe eingefchläferten Gewiffen; und daher der Haß und
Unmuth wider daſſelbe!
Ehe wir der Schredensfcene in hohenpriefterlihen Palaft uns naͤ⸗
bern, vergegenwärtigt euch noch einmal, wen wir in dem fchauerfich
Gemißhandelten unfres heutigen Auftritt vor uns haben. Eine uns
erhörte Gefchichte, der wir nahen! Ein Borgang, welcher vor Entfeßen
die Felfen koͤnnte zerfpringen machen! Als in dem lebten Jahrzehnt
des vorigen Jahrhunderts jene ruchlofen Buben dem unglüdlichen Kö-
nige von Frankreich unter gellendem KHohngelächter die rothe Rebellen
fappe auf's Haupt drücken, und damı mit feiner Herrfcherwürde ein
teuflifches Gefpätte trieben, ging ein Schrei der Entrüftung und des
Entjegens durch die Welt, und wen nur ein Funke noch von Pietät
und NRechtögefühl im Herzen glomm, der wandte mit einem: „Dies
einem gefalbten Haupte!“ empört von ſolchem Schredensfchaufpiel ſich
hinweg. Was war aber jene, und was find alle Begebenheiten ähn-
licher Art, von denen die Weltgefchichte Kunde gibt, gegen den Auf—⸗
tritt, deffen wir heute Zeugen find? Wäre der Mann, auf den unfre
Blicke fid) richten, gleichfalls nur ein irdifcher Würdenträger: Fürft,
Priefter, oder was der Art fonft, auch dann fchon würde uns der
entfegliche Gegenfag feines grauenvollen Geſchicks zu feiner erhabes
nen Stellung in unausfprechliche Beftürzung verfeßen. „Das geht zu
weit] * — würden wir rufen; „haltet ein! So verführt man nicht mit
22*
844 Das Heilige.
fpöttifch Ihm zugerufen: „Weiffage, wenn du noch lebſt, und hörft und
fiehft; wer ſchlug dich?“ Ich könnte euch aber davon erzählen, wie Er
Solchen wenigftens theilweife fchon geweiffagt hat. Den Einen hat Er
Befcheid gethan, indem Er fie in's Armenhaus verwiefen, Andern, in
dem Er ihren Namen vor der Belt gebrandmarlt hat; Andern, indem
Er fie mit Wahnſinn flug; wieder Andern, indem Er fie endlich
ganz in ihren Sündenweg dahingab, und es zuließ, daß fie fittlich
auf's äußerſte verfamen; und noch Andern, indem Er die Bernveiflung
zu ihren Sterbelagern entfandte, und den Umſtehenden das furdhtbare
Scaufpiel zufehends zur Hölle fahrender Verworfener vor die Blicke
rüdte. D wie Diele auch von denen, die wir beute noch unter un
fprechen hören: „Wer ift der Jeſus, dag wir vor Ihm uns fürchten,
oder gar vor ihm uns beugen follten?* werden einft, wenn er ihnen auf
ihr hoͤhniſches „Weiffage, Ehrifte, wer hat dich geſchlagen?“ Beſcheid
hun wird, mit jenen Gerichteten Offenb. 6 zu den Bergen fprechen:
„Ballet auf uns!" umd zu den Hügeln: „Bedecket uns vor dem An⸗
gefichte deß, der auf dem Stuhle fikt, und vor dem Zorn des Lam⸗
mes!" Ach, irre fich Keiner, als laſſe der Richter aller Welt fi) ſpot⸗
ten! Küſſet lieber den Sohn, auf daß er nicht züme, und ihr um⸗
fommt auf dem Wege; denn fein Zom wird bald entbrennen!
„Beiffage, Ehrifte, wer iſt es, der dich fhlug?* Die
Spötter dort erhielten auf dieſe Frage Feine Antwort. Jeſus
ſchwieg. Hätte ein unter feinem Schuldgefühl damieder gebeuater
Sünder weinend die Frage mitgeftammelt, der Herr würde ihn zu fei-
nem Zrofte nicht ohne Befcheid gelaffen haben, Mit Heuchlern aber,
mit Bedürfnißlofen, mit Solchen, die unzerbrochnen Herzens find, Täßt
er ſich nicht ein. Nur die Heilsbegierigen finden der Wahrheit Spur,
und erfahren’8 gründlich, wer Jeſum gefchlagen hat.
„Weiffage, Ehrifte, wer ift es, der Dich ſchlug?“ Wie jene
läfternd es fprachen, fo fprih Du es mit betendem Ernfte Eine
wichtigere Frage, als Diefe, kannft du nicht thun. Höre denn nicht
auf, mit ihr vor den Herm zu treten, bis du den begehrten Aufichluß
empfangen haft. Anfänglich wird diefer Auffchluß Dich erfchreden. „Nicht
Diefe hier,“ wird es lauten, „nein, du machteft mir Arbeit mit dei⸗
nen Sünden, und Mühe mit deinen Uebertretungen! Um deiner
Miffethaten willen bin ich verwundet, um deiner Sünden willen zer:
Ihlagen.” Und wenn Er dir felbft dies weiffagt durch feinen Geift,
wie leuchtet e8 Dir dann ein, wie finfft du vor Ihm zufammen, wie
Veiſſage und, Chriſte 346
vergeht dir die Luſt, ferner auf Kaiphas, Hannas und die Lanzenknechte
zu ſchelten, wie lebendig durchdringt dich die Ueberzeugung, daß jene
dich nur vertraten, und deine Sünden offen zur Schau ſtellten, und
wie ſenkſt du gebeugt dein Haupt, wie lernft du an deine Bruft ſchla⸗
gen mit dem Zöllner, wie für deine Seele zittern, und wie angelegents
lich nad Erlöfung und Vermittlung fragen!
Wiſſe aber, daß du auf dein „Weiffage, Ehrifte, wer ſchlug
Dich?” in dem „Du haft mir Arbeit gemacht”, nur erft die halbe
Antwort auf jene Frage empfangen haft. Frage weiter; und fiehel
nicht lange wird e8 währen, fo fchwebt, nicht wie rollender Donner
mehr, fondern wie fanftes Saufen auf den Flügeln der Huld die Bots
haft zu Dir nieder: „Mich fchlug die Hand, die Dich zerfchellen mußte;
mich traf der Fluch, der Dir befchieden war. Ich trank den Zornes⸗
feld, den deine Sünde dir gefüllt, Ich trank ihn, auf daß er fi für
Dich mit ewiger Gnade fülle!” Und wenn Solches dein Inneres
durchtönt, zweifle nicht, ob's wirflih Seine Nede fei. So wahr der
Herr lebt, es ift Seine eigne Eröffnung! Und wollteft du es
noch nicht glauben, fo treten ehrwürdige, heilige Männer zu dir bin,
Männer, längft verflärt und mit weißen Kleidern angethban, und reis
hen dir die Hand, freundlich fprechend: „Ia, Gott machte Den, der
von feiner Sünde wußte, für dich zur Sünde.“ „Ehriftus erlöfete
uns vom Fluche, da er ward ein Fluch für uns.” Und ehe du dichs
verfiehft, fteht der große König felbft vor dir, und ſpricht, dich gris
Bend mit dem Friedensgruße: „Sa, ich bezahlte, das ich nicht geraubet
hatte.” So weißt du dann, wer Ehriftum gefchlagen habe, Es ſchlug
ihn ein Andrer nod, als die Rotte, und in ihr Du und ich und uns
fre Sünden, Erhellt es nicht ſchon aus allen Zügen der Paſſions⸗
aefchichte felbft, daß dem alſo fei? Fällt es euch nicht auf, daß Jeſus
unter den fehweren Unbilden, die er erleidet, fo ftille und hingebend
fih verhält? Erfcheint e8 euch nicht wunderfam, daß jene Beiniger
folche Frevel ungeftraft verüben dürfen? Befremdet's euch nicht im
höchften Grade, daß fein Blik aus den Wolfen niederzudt, diefe Rotte
zu zerfchmettern, fondern vielmehr der Heilige in der Höhe ein Schwei⸗
gen beobachtet, als gefchähe nichts, das nicht ganz in der Ordnung
wäre? Die Rotte Korah und Abiram taftete empörerifch nur die Prie⸗
fterwürde Aarons an, und alfobald riß Gott den Erdboden unter
ihnen auf, und bei lebendigem Leibe verfchlang fie der Schlund der
Hölle. Uſa machte fi nur einer unfcheinbaren Ehrerbietungslofigfeit
346 Das Heilige.
gegen die Bundeslade fchuldig, md fofort ergrimmte des Herrn Zorn
wider ihn, und ſchlug ihn, Daß er entjeelt zu Boden fanl. Wie viel
mehr aber ift bier, als die Bundeslade, und der Priefter Aaron!
Hier treten fie den Augapfel des Allmächtigen in den Koth; und Der
Richter der Lebendigen und der Zodten ſchweigt, als gefchähe nur,
was recht fei. Sagt, dünkt euch dies Alles nicht erſtaunenswürdig?
Erregt es nicht in euch Die bangften, oder doch die großartigften Ver⸗
muthungen? Gebt diefen Bermuthungen nur immer Raum; fie find
in der That nicht ımgegründet. Gott felbft, wenn ihr's recht vers
ftehen wollt, fchlägt den verfpienen Mann, auf dem die Strafe liegt,
und was demfelben widerführt, find die Streiche jenes Schwertes, zu
welchem Jehova ſprach: „Mache dich auf über meinen Hirten, und den
Mann, der mir der nädhite iſt!“ Ihn treffen fie, damit uns Sündern
ewige Schonung werden könne. Seht, Freunde, dies ift des dunkeln
Räthſels Löfung, und die volle Antwort auf die Frage: „Wer fchlug
dich, Chriſte?“ Sobald die Sonne der Stellvertretung in’d Dun⸗
kel der Baffionsgefchichte hineinfcheint, verflärt fich Alles, und die tiefs
ſten Geheimniſſe find entfiegelt! —
Machen wir denn immerhin die Frage jener verruchten Rotte auch
zu der unſern; nur daß wir betend und in heiligem Ernſte
ſprechen, was jene läſternd und in wüſtem Hohne. Nur im Lichte
Seines Geiſtes gelingt uns eine Heil bringende Entzifferung der
blutigen Hieroglyphe Seiner Marter. Hören wir darum nicht auf in
Einfalt zu ſtammeln:
Meiffage, Chriſte, wer Dich flug? —
Meiffage, daß ich's tief empfinde,
Mas Du erduldet, fei mein Fluch;
Was Dich getödtet, meine Sünde! —
Meiflage, dis in Scham verhülit,
Ih mid) in Petrusthränen bade,
Und nichts mein armes Herz mehr ſtillt,
Als, Herr, Dein Bint und Deine Gnade! — Amen.
— —
Chriſtus ver dem Spuebrinm. 247
XXIX.
Chriſtus vor dem Synedrium.
„Wer ſaget denn ihr, daß ich ſei?“ So der Herr Matth. 16, 15
zu feinen Zwoͤlfen. Nie hat ein Weiſer dieſer Erde fo feine Schüler
zu fragen fich vermeflen. Hätte Einer ſich's getraut, er würde denfelben
als ein Narr erfehienen fein. Es ziemte den menschlichen Philofophen,
am diejenigen, welche fie hörten, nur die Frage zu richten, ob ihre
Lehre ihnen eingeleuchtet habe, Ihre Berfon that zur Sache nichts,
fondern ging in ihrer vorgetragenen Weisheit auf. In unerhörtem
Mißverftande des ganzen Chriſtenthums hat man num aber auch Jeſum
jenen zur Seite ftellen, und ebenfalls, weil fich's ja nur um die Wahrs
heit feiner Zehre handle, feine Berfon vergleihgültigen wollen,
Aber man hat nicht bedacht, daß Chriſti Lehre durchweg nur Lehre von
feiner Berfon if. Er ſelbſt mit feiner Erlöfungsthat ift nicht der
Gewährsmann blos, ſondern der Inhalt und Kern des Ehriftens
thums. Das Ehriftenthum ift feine Doktrin, fondern die welthiftos
rifhe Thatfache der durch Vermittlung des Sohnes Gottes zu Stand
und Weſen gebrachten Entfündigung der Menfchheit; und wo es aud)
Lehre ift, iſts nur Botſchaft von diefer großen Begebenheit, und
Anweifung, wie man des Segens Derfelben theilhaftig werde.
Die erjte Bedingung darum, an welche der Eintritt in Die Gemein⸗
ſchaft der Ehriften gefnüpft iſt, ift die, daß man inne werde, wer
Ehriftus fe, — Aller Fragen des evangelifchen Katechismus erfte
tönt dort von der Lippe des Herrn felbft und an: „Wer faget ihr,
Daß ich ſei?“ Bei einem Menfchen, der auf fie die Antwort noch
nicht fand, kann von Ehriftenthum überhaupt noch nicht die Rede fein,
Die ganze chriftliche Frömmigkeit ift nicht Beitreben, den Sittenge⸗
boten eines Rabbi von Nazareth nachzuleben, fondern gläubige Hin-
gebung an den perfönlihen Chriftus als an den Sohn des
lebendigen Gottes und den einigen Mittler zwifchen Gott und
den Menfchen. —
Sede Gelegenheit, in der Erkenntniß Jeſu Ehrifti zu wachen,
muß uns mithin überaus willlommen fein, Eine folche wird uns auch
348 Des Hellige.
heute wieder geboten. Gereiche fie ums zur Stärkung mb Beleki-
gung unfres Glaubens! —
Matthãus 27, 1. 2. Sucas 22, 67—71. 23, 1.
Und ald es Tag ward, fammelten ſich die Aelteſten des Bells, die GHebenpeiche
und Schriftgelehrten, und führeten ihn hinaus vor ihren Rath, umb beriefben übe
ihn, daß fie ihm tödteten. Und ſprachen: Biſt du Chriſtus? Sage ed ums. Er ſycch
aber zn ihnen: Sage ich's eu, fo glanbet ihr's nicht; frage ih aber, fo antmerkt
ihr wicht, und laſſet mich aud nicht 108. Bon nun an wird des M Ep
zur rechten Sand der Kraft Gottes. Da ſprachen fie alle: So biſt Du denn Get
Sohn? Gr fprad zu ihnen: Ihr ſagt's, denn ih bin’. Sie aber fpradken: Bei
bedürfen wir weiter Zeuguiß? Wir haben es ſelbſt gehört aus feinem Runde. Un
ihr ganzer Haufe land auf, und banden ihn, führeten ihn bin, und überamtwerteien
ihn dem Landpfleger Bontind Pilatus,
Zum andern Male foll die Welt vernehmen, weldye Erklärungen
Ehriftus felbit über die Würde feiner Perfon auch gerichtlich, ja,
wie wir zu fagen pflegen, „zu den Akten” abgegeben hat. De
Prozeß, deſſen wir im hohenpriefterlihen PBalafte Zeugen waren, er
neuert fich jet in förmlicherer und folennerer WBeife. — Ruhe dem .
unfer betrachtender Blick auch diesmal vor Allen auf dem Herrn,
und fehen wir, wie Er feine Richter zeichnet und befhämt;
fodann, wie Er Das Bekenntniß feiner Gottesfohnfhaft er;
neuert; und endlich, wie Er den Armenfündergang zum heid—
nifhen Gerichtshof antritt.
Ihr ahnt bereits, wie es auch unferm heutigen Gefchichtsahfchnitte
an großer Bedeutung und reihem Zrofte nicht gebricht. Möge es
und gegeben werden, im Wege unfrer Betrachtung alle feine göttfichen
Schäße zu heben! —
1.
Die Morgendämmerung graut nach fchauerlicher Nacht herauf, und
verkündet den Anbruch des größten und verhängnigvolliten aller Er
dDentage. Der heilige Freitag iſt's, Der furdhtbarfte Verkläger der
fündigen Welt; aber zugleich der Geburtstag ihres Heils, der Wiegens
tag ihrer ewigen Erlöfung. Es ift der Tag, der, ſchon in demjenigen
der Ausführung des Bundesvolfes aus Aegypten vorgebildet, feit
länger als einem Jahrtaufende alljährlich in dem „großen Berföhs
nungstage” den Gläubigen Iſraels ſich angefündigt hatte, und der
der Hauptgegenfland ihrer gemeinfamen Hoffnung und Sehnfucht war,
Criſtus vor dem Spuebrium. 349
Alle Sonnenblide der Gnade, die je und je fle angefchtenen, waren
nur vorlaufende Ausftrahlungen diefes damals noch im Schooße einer
fernen Zukunft fhlummernden Zages; und wo irgend Gott einem
Sünder in Huld begegnete, gefchah es lediglich auf Grund der blus
tigen Bermittlung, die an dieſem Freitage thatſächlich zu Stand
und Wefen fam.
Zroß der hohen Morgenfrübe find die Rathöglieder zu Jeruſalem
fhon auf und in voller Thätigfeit. Sie bereiten ein zweites Verhoͤr
mit Jeſus vor, „auf daß fie ihn zum Tode brächten.“ — Aber has
ben fie nicht feine Schuld fchon feftgeftellt, und das Urtheil über
ihn geſprochen? — Freilich haben fies. Aber fie finden Dabei noch
feine Ruhe, fondern wären gerne noch anderer und entjcheidenderer
Beweismittel gegen ihren Verklagten fich bewußt, als derjenigen, auf
welche fie ihr Urtheil gründeten. Unverkennbar hat Die ganze Haltung
des Herrn während des eriten Verhörs, und namentlich fein großes,
mit fo majeftätifcher Beftimmtheit und Zuverficht ausgefprochenes Bes
fenntniß mächtige Eindrüde in ihnen zurüdgelafien,; und was etwa
von Gewiffen noch in ihnen übrig war, vom Schlummer geweckt,
und wider fie aufgeftachelt. Das unftäte Weſen, das wir an ihnen
gewahren, fowie die Hoffnung, Die fie verrathen, im Wege erneuers
ter Berhandlungen zu neuen und erheblicheren Redhtfertigungss
gründen für ihr mörderifches Vorhaben zu gelangen, feßt dies außer
Zweifel. —
Sie treten jet, und zwar in ihrem amtlichen Sigungsfanle, der in
einem der Tempelgebäude fich befand, zu einer ordentlichen Plenars
verfammlung zufanmen, während ihr erfter Zufammentritt in der
Wohnung des Hohenpriefters, abgefehen davon, daß einzelne Räthe
bei derfelben fehlten, mehr den Charakter des Zufälligen und Tus
multwarifchen an fih trug. — Der „hohe Rath“, oder das „Sys
nedrium“” war, wie ihr wißt, der aus 71 Gliedern, den Oberpries
ftern, Aelteften und Schriftgelehrten, zufammengefeßte, und von dem
Hohbenpriefter, als feinem Präfldenten, dirigirte oberfte Gerichts
hof der fpätern Juden, welcher, dem Collegium der 70 NRäthe, das
Mofes auf dem Zuge durdy die Wüfte fich beigefellte, nachgebüldet,
in allen national jüdifchen, und namentlich in den dem Gebiete
des Kirchlichen beigehörigen Angelegenheiten richterlich zu erkennen
und Urtheil zu fprechen hatte. Chriftus betrachtete nad) Matth. 23, 2
diefe Gerichtöftelle als eine göttlich fanctionirte, und unterzog ſich
350 Ä Das Heilige.
ohne Widerfpruch, „der Obrigkeit untertban,* ihrem Borlabungs
befehle. Später ftanden vor den Schranken diefes Hofes auch Petrus,
als „vorgeblicher Bunderthäter“, dann wiederum er gemeinfchaftlich mit
Sohannes, als „Volksverführer”, ferner Stephanus, als „Gottes:
fäfterer*, und Paulus, als „falfcher Prophet” angeflagt. Seit der
Einnahme des Landes dur die Römer ging diefer Gerichtshof des
Rechts, gefällte Zodesurtheile auch in eigner Vollmacht zu voll:
ziehen, verluftig, und bedurfte hiezu fortan, wie aus Joh. 18, 31
erhellt, der Genehmigung des kaiſerlichen Procurators. Daß bie
Steinigung des Stephanus ohne eine foldhe vor fih ging, war
wol eine Befugniß⸗Ueberſchreitung der Juden, für welche fie allen
falls eine Entfchuldigung in dem Umftande finden Eonnten, Daß der
Zandpfleger, der gewöhnlich in Cäſarea am Meere refidirte, Damals
von Jeruſalem abwefend war.
Bor diefem Gerichtshof fehen wir num den Herm zum zweiten Male
erfcheinen. Unter bewaffneter Bedeckung wird er den Tempelberg hits
angeführte. Zum legten Male wandert er diefe Straße. Er zieht
fie, — bedeutfames Zufammentreffen! — zugleich mit den Paſſa⸗
lämmern, die an demfelben Tage dein Priefter zur Schladhtung vors
geführt wurden. Welche Empfindungen mögen auf diefem Gange Ihn
begleitet haben! Gewiß fchwebte Ihm der vorbildliche Moria’sgang
des Vaters Abraham vor der Seele, der jebt fo augenfällig in dem
feinigen feine Erfüllung fand. — Chriftus ift ja der gegenbüldfiche
Iſaak, der jebt an feines himmlischen Vaters Hand auf Demfelben
Pfade, auf dem einft fein menjchlicher Typus, von feinem irdifchen
Vater geleitet, demfelben Ziele entgegenfchritt, zu Gottes Altare wars
delt. — Freilich fragt Ehriftus nicht, wie der Sohn Abrahams:
„Mein Bater, bier ift Zeuer und Holz; wo ift aber das Lamm zum
Brandopfer?* — Er weiß, was für ein Lamm ſich Gott erfehen bat,
und beugt ſich williglih dem erhabenen Rathſchluß. Auch ift er fi
bewußt, daß es mit Ihm nicht blos zu emem Willengopfer kom
men, und, nachdem Er den Altar beftiegen, ein Engel vom Himmel
rufen werde: „Lege deine Hand nicht an den Knaben;“ fondern daß
Er fein Bild, wie in Iſaak, fo zugleih in dem „Widder“ zu er⸗
fennen habe, der fih mit den Hömern in den „Dornen“ verwideln
mußte, und melden Abraham auf Jehovas Wink hinnahm, um ihn
an feines Sohns Statt zu fchlachten.
Die Sigung des Synedriums ift eröffnet, Der Angelingte fteht
Chriſtus vor dem Synedrium 351
vor den Schranken. Da ergeht denn an Ihn aufs neue die richters
liche Zrage: „Bift du Ehriftus? Sage es uns!“ — Als hätte
er es nicht ſchon deutlich genug gefagt, daß er es ſei! Aber es ifl,
als ob fie noch Bedenken trügen, Ihn deßhalb ohne Weiteres als
einen Lügner und Gottesläfterer dem Zode zu überanhworten; ja, ale
fuchten fie unwillfürlich die Sache in die Länge zu ziehen, weil ein lets
fer Nachhall der übertäubten Gewifjensftimme ihnen fagte, nicht zwar,
dag Er der wirklich fei, für den Er fi ausgegeben, aber doch, daß
Er der möglicher Weife wohl fein könnte. Der Herr nimmt das
Wort; und nun gebt Acht, wie das Blatt fi) wenden wird, und der
Berklagte zum Richter, die Richtenden hingegen zu Delinquenten
werden. „Sage ich's euch,” ſpricht Er, „To glaubt ihr's nicht;
frage ih aber, (d. i., fchide ich mich an, disputirend, und durch
Beweife euch überführend mich mit euch einzulafen,) fo antwortet
ihr mir nicht, und laffet mich auch nicht Los.“
D, wie Biele werden audy heute noch durch dieſes Wort gefchlagen !
Nicht gänzlich religiös gleichgültige Leute find es, Die ich im Auge habe,
Auch fie fragen, wer Ehriftus fei, und es ift, als ob fie nicht Ruhe
fänden, bis fie es in Erfahrung gebracht. Aber obwohl, wer Er fet,
ihnen bald fo, bald in einer andern Form eröffnet wird, glauben fte
doch nicht. Die Kirche ſagt's ihnen in dem zweiten Artikel des apoftos
liſchen Bekenntniſſes; aber „Die Kirche”, fprechen ſie, „Tann irren; was
fagen die Zeitgenoffen Jeſu?“ — Die Apoftel rufen um die
Wette: „Er ift das Wort, das von Anfang bei Gott, und felbft Gott
war, der Abglanz der Herrlichkeit Gottes, der Sohn, in wels
hem die Fülle der Gottheit feibhaftig wohnte;” aber num
beißt es unter Adhfelzuden: „Liebe tft blind, und Begeifterung
fieht Geſichte!“ — Nur, was Yefus felbft von ſich bezeugte, wol
ten fie gelten laſſen. — Und Zefus fchreitet vor, und fündet fidh
ihnen an, nicht allein als das „„Xicht der Welt”, als „die Wahr⸗
heit” und „Das Xeben”, fondern als einen Größeren, denn die
ſes Alles: al8 den, der „mit Dem Bater eins”, der „eher, denn
Abraham war”, und dem „alle Gewalt im Himmel und auf Ex;
den gegeben’ ſei. — Glauben fie jept? — Sie ſtutzen; aber ehe
man fich's verfieht, biegen fte mit allerlei Fragen, 3. B. ob die Bes
richterftatter Jeſum aud richtig verftanden hätten, ob feine Aus⸗
fprüche im buchftäblichen Sinne aufzufaflen feien, ob es überhaupt
im Bereiche der Möglüchkeiten Tiege, daß Gott Menſch werde u. ſ. w.
353 Dar Heilige
wieder aus. — Und wie ſich nun der Herr Beweis führend zu den
Zweiflern berabläßt, und, durch ummittelbare Einwtrfung auf ihre Ge
Danfenwelt, oder durch einen feiner menfchlichen Dolmetfher und Aus
walte fie zu fragen anhebt, wer Er denn fein könne, wenn Der nicht,
für den Er fich ausgegeben, nachdem eine zweitaufendjährige Weiſſagung
bis auf's Zota in Ihm ihre Erfüllung erreicht, feine Auferweckung von
den Zodten felbft in dem Zeugniffe feiner Feinde ihre Beſtätigung
gefunden, die Jüngerfchaar, die Ihn von Angeficht gefehen, mit Freu⸗
den Blut und Leben für Ihn in die Schanze gefchlagen, der heilige
Geift Seiner Verheißung gemäß mit feiner wiedergebärenden Macht
wirklich die Erde begrüßt, der Kern des Menfchengefchlechts durch
“achtzehn Jahrhunderte hindurch Ihm huldigend die Ehre gegeben habe,
und lauter, al8 irgend ein Wort und eine vereinzelte That das
lebendige Denkmal Seiner Kirche für Ihn zeuge: da ftehen fie zwar
betroffen, und fehen ſich am Ende ihrer Entgegnungen angelangt; aber
glauben darum Doch nicht, und Lafjen den Herrn infofern auch „nicht
108”, als fie nicht ermüden, feine übermenfchliche Hoheit anzuzweifeln,
und aud) Andern Diefelbe zu verdächtigen. Ste wollen nicht glaus
ben; — dies ift des Räthſels Deutung. Es graut ihnen vor dem
Gedanken, die Idole ihrer eigenen Weisheit und Gerechtigkeit, wie
diejenigen der Luft und Ehre dieſer Welt, um Jeſu willen an's Kreuz,
nageln zu follen. Sie fehen zwifchen fih und dem Herrn einen Ab:
grund offen, der ihnen nichts Geringeres, als die ganze Herrlichkeit
und Selbitftändigfeit ihres Ich zu verfihlingen droht; und .vor dies
fem Zode fohreden fie zurüd. Zwar haben fie noch Gewiffens zu
viel, um fih von Ihm, wie jener Gadarener, mit einem: „Was has
ben wir mit dir zu fhaffen, Jeſu?“ entichieden loszufagen; aber doch
Gewiſſens zu wenig, um der auf fie eindringenden Wahrheit Raum
zu geben. Sie lafjen lieber Die Sache auf ſich beruhn, und verfchies
ben die Entſcheidung.
2.
Der Herr befennt auf’s neue. — Die ihm vorgefehte Obrigkeit
fordert’, und Er gehorcht. Zudem liegt ihm daran, daß die Welt
mit Beftimmtheit wiffe, wer Er fei, und wen fie gefreuzigt babe,
Bon der Höhe des Tempelberges überblicdt er im Geifte die Men ſch⸗
heit und die kommenden Jahrhunderte. „Bon nun an’, beginnt
Er, noch einmal den Schleier feiner Knechtögeftalt lüftend, und den
Adelftern auf feiner Bruft entblößend, „wird des Menfchen Sohn
Griſtus vor dem Syuebrinm. 353
fißen zur rechten Hand der Kraft Gottes!" — Ein großes
Wort; unverkennbar auf Daniels, des weitfchauenden Propheten, Aus-
ſpruch Kap. 7, 13 binüberdeutend: „Es fam Einer in des Himmels
Wolfen wie eines Menfchen Sohn.” Nicht- einen Augenblid konnte
es den Prieftern und Schriftgelehrten zweifelhaft fein, daß er biemit
fowol für den durch Die Seher Gottes verheißenen Meſſias ſich er-
klaͤre, als göttlihe Natur und Wefenheit fi beilege, Schon
durch den Namen: „des Menfhen Sohn”, mit dem er ſich ge
wöhnlich zu bezeichnen pflegte, deutete er an, daß feine Menfchheit
nur ein in außerordentlichem Wege zu feiner Perfon Hinzugelom-
menes fei. Denn wäre er fich feiner nur als eines Menfchen be
wußt gewefen, was hätte dann jene auffallende Benennung für einen
Sinn gehabt? Daß er aber ein nahe bevorftehendes „Siben zur
rehten Hand der Kraft” oder „der Majeftät Gottes” von
fih ausfagt, ift nichts Anderes, als eine beftimmte Eröffnung, er werde
mit feinem himmliſchen Vater den Stuhl der Ehren theilen, und in
gleiher Machtvolllommenheit und Glorie mit Ihm die Welt regies
ren. — Der Hoherath, mit den Redeweifen der Propheten wohl ver:
traut, verftand auch die Worte in dDiefem Sime „So bift du
alfo Gottes Sohn?” fehreien fie ihm wie aus einem Munde zu.
— „Ihr faget’8”, entgegnet Er mit majeftätifcher Feſtigkeit und
Ruhe, „denn ich bin's!“
Es dürfte hier an feinem Orte fein, die biblifche Begründung
der Lehre von der Gottheit Ehrifti noch weiter und umfaflender
nachzuweifen. — Sie verdients, weil von ihr als von feinem wefents
lichten Grundpfeiler das ganze Ehriftenthum, fofern daffelbe nicht
Doctrin und Gefeg, fondern Thatſache der Erlöjung ül, ge
tragen wird, Es fällt die befagte Lehre mit derjenigen von der Prä-
eriftenz, oder dem Vordaſein Ehrifti, in eins zufammen. Unter
diefem VBordafein verftehen wir aber weder das Sein der Chriſtus—
dee im Bemwußtfein und Rathſchluß Gottes; noch das Dafein des
Ehriftus-Zdeals in der Weiffagung der Propheten, bevor es ſich
verförperte; noch endlich gar das Vordaſein Chrifti ald einer Po⸗
tenz oder Möglichkeit der menſchlichen Natur, fo Daß in dem
Herrlichen von Nazareth nur ein diefer Natur inwohnende8 Gute zu
feiner erfhöpfenden Entfaltung gekommen wäre, und Jeſus als Die
fittfiche Blüthe der menfchlichen Gattung angefehen werden Dürfte;
eine Borftellung, die wir in das Gebiet träumerifcher und von aller
23
356 j Das Heilige.
thun und gewähren wolle, was man in feinem Namen bitten werde;
und Joh. 20, 28 beftegelt er das anbetende „Mein Herr und mein
Gott“ des Thomas mit feinem: „Jetzt glaubeit du. Selig find, die
nicht fehen, und Doch glauben!” —
Sämmtlihe VBerfaffer der neuteftamentlihen Schriften er—
fennen in Jeſu den Kyrios, d, i. den „Herrn, und gebrauchen
diefe Bezeichnung als gleihbedeutend mit dem altteftamentlichen
„Jehova“. 1 Cor. 8, 6 fagt Paulus: „Wir haben Einen Gott,
den Vater, von welchem alle Dinge find, und Einen Herrn, Jeſum
Ehriftum, durch welchen alle Dinge find.” — Col. 1, 15 heißt Chri⸗
ſtus das „Ebenbild” oder „die Sichtbarkeit” des „unfidts
baren Gottes”; und Hebr. 1, 3: „der Abglanz Seiner Herr:
lichkeit“, und „der Charakter (der lebensvolle Abdruck) Seines
Weſens.“ Nichtig bemerkt ein erleuchteter Schriftausieger, es fei hier
nicht die Nede von der Gegenftändlichfeit und Abbildung Gottes im
dem Menfch gewordenen „Wort“, und in den menfchlich vermit-
telten Erfcheinungen deſſelben; fondern in beiden obigen Stellen werde
weit mehr auf Die Vermittlung der Weltfhöpfung und Welt:
erhaltung, al8 auf die Erlöfuug hingeſehen. Und alfo ift es.
Es handelt fid) hier mehr von dem Verhältniß des Sohnes zu Gott,
als von feinem DVerhältniffe zu der Welt, — Phil. 2, 6 heißt es von
Ehrifto, daß er urfprünglih „in Gottes Geftalt“, d. i. „Gott
von Art” gewefen fei; und Vers 11: daß ihm „ein Name über
alle Namen gegeben” fei, und daß „in Seinem Namen Aller
Knie fi beugen” follen. — In der Offenbarung Zohannis wer⸗
den ihm alle Prädifate der Gottheit zuerfannt. Er ift dort das „Alpha
und Omega”, der „Erfte und der Letzte“, der „Allmächtige”,
der Ewige, „der da tft, der da war, md kommt“ u. ſ. w.
Ya, die Apoftel nennen ihn gerade „Gott“. Roͤm. 9, 15 fagt
Baulus: „Chriftus fommt her von den Vätern nach dem Fleiſch.“
Diefer Sag fordert einen Gegenſatz; und die apoftolifche Antithefe
lautet: „Chriſtus ift Gott über Alles, gelobet in Ewigkeit.“
Alfo nad der einen Seite ift Er jenes, nad der andern dieſes.
— Col. 2, 8 u. 9 leſen wir: „Laffet euch nicht berauben durch Phi-
Iofophie und lofen Trug; denn in Shm wohnt die Fülle der Gott-
heit leibhaftig,” d. i. wefentlid. — 1 Tim. 3, 16 heißt Ehri-
ftus der „im Sleifch geoffenbarte Gott“, — Tit. 2, 13 fagt der
Apoftel: „Wir warten auf die felige Erfcheinung der Herrlichkeit unfres
Ghrifhus dor dem Gpnebrium. 357
großen Gottes und Heilandes Zefu Ehriftt.” 1 Joh. 5, 21
fteht: „Diefer (Chriftus) ift der wahr haftige Gott und das ewige
Leben.” — Hebr. 1, 8 wird Pf. 45, 7 u.8 auf Chriftum bezogen,
und Diefer angeredet: „Dein Stuhl, o Gott, währet von Gwigfeit
zu Ewigkeit. Du Tiebeft Gerechtigfeit; darım hat Dich, o Gott,
Dein Gott, gefalbt” u. f. wm. — Hebr. 7, 14 wird es zu den Prädis
caten des Meſſias mitgezählt, daß Er „höher, denn der Himmel“
fei. — Alle Paulinifchen Briefe wünfchen und erflehen den Gemeinen
Segen von Ihm als von Gott in der zweiten Perſon. Daß Chri⸗
ſtus mit dem Vater und dem heil. Geifte in gleicher Reihe er
“ Scheint, bezeichnet Gleichartigkeit und Wefens-Einheit. —
Diefe Wefens-Einheit Ehrifti mit dem Vater, d. h. feine Gotts
heit im fubftanziellen Sinne des Wortes, fteht alfo biblifch uns
beftreitbar feft, und fchließt natürlich die Bräeriftenz, oder das pers
fönlihe Vordaſein des Sohnes, fehon in ſich. Es wird aber diefes
Bordafein des „Eingebornen“, als des „Ebenbildes Gottes”, in wel
chem Gott fich felber gegenftändlich wurde, und fich von Gott
als feinem andern Ich unterfcheidet, auch ausdrüdlich in der
Schrift gelehrt; und es ift auch dieſes unwiderleglich nachzumweifen.
Schon beim Propheten Micha, Kap. 5, 2, wird von dem Mefftas
gefagt, feine „Ausgänge fein von Anfang und Ewigkeit ber
geweſen.“ — Der Herr felbft bezeugt Joh, 3, 13: „Niemand fährt
gen Himmel, außer dem, der vom Himmel gelommen tft, des
Menfhen Sohn;“ — 6, 38: „Sch bin vom Himmel gekom—
men, nicht, daß ich meinen Willen thue,” — V. 46: „Niemand hat
den Bater gefehen, ohne der von Gott ausgegangen tft, der fah
ihn;“ — V. 505 „Ih bin das lebendige Brod, vom Himmel ge-
kommen;“ — 23. 62: „Ihr werdet fehen des Menfchen Sohn auf:
fahren dahin, da er zuvor war; — 8, 23: „Ihr feid von unten
her, ich bin von Oben her; ihr feid von diefer Welt, ich bin
nicht von dDiefer Welt. — Ich gebe hinweg.” Alſo örtlich
ist fein „Sch bin von Oben her” zu verftehen, und nicht ehwa ſpi⸗
ritualiftifch, oder fittlih; — 3. 58: „Ehe denn Abraham
ward, bin ich.” Die Juden wollten ihn dieſer letztern Aeußerung
wegen fteinigen, woraus erhellt, daß fie feine Rede buchſtäblich
nahmen. Gr aber tadelt diefe ihre Exegefe nicht, fondern beftätigt
fie fchweigend, — Endlich bezeugt der Herr in feinem hohenpriefters
fihen Gebete Joh. 17 zuerft, V. 5: „Verklaͤre mich, Vater, bei Dir
358 Das Heilige.
ſelbſt mit der Herrlichkeit, die ih bei Dir hatte, ehe Die Belt
war;“ und V. 8: „Sie haben erkannt, daß ih von Dir ausge:
gangen bin, und Du mid) gefandt haſt.“ — Beides kann nicht
ein und daffelbe fein; die Schrift macht fich folcher Tautologien nicht
fhuldig. Die erftern Worte bezeichnen den Weſensausgang vom
Baterz die andern feine Sendung vom Himmel auf die Erde,
Johannes der Täufer fpricht Joh. 1, 15: „Der nad) mir fomanıt,
ift vor mir gewefen; denn er war eher denn ich.” Es hätten Diele
Worte feinen Sinn, wenn fie ſich nicht auf das VBordafein Sen
bei Gott bezögen, — V. 18 ſpricht er: „Niemand hat Gott je ges
fehen; der eingebome Sohn, Der in des Vaters Schooße iſt, der
hat es uns verkündigt; — V. 27: „Er ift vor mir geweien; er
war eher, denn ich;“ und oh, 3, 31: „Der von Oben ber
kommt, ift über Alle, und zeuget, was er gefehen und geböret hat.“
Paulus nennt Ehriftum Col. 1, 15. 16 „den Erfigebornen
aller Kreatur“, d. i. den vor aller Kreatur Geboren, „In Ihm“,
fährt er fort, „Dur Ihn und zu Ihm ift Alles gefchaffen. Und
Er ift vor Allem, und es beftehet Alles in Ihm. * — Johannes
fagt in feinem erften Briefe 4, 2: „Ein jeder Geift, der da bekennt,
Jeſum Chriftum in's Zleifch gekommen, der ift von Gott.* —
Hebr, 1, 2 wird geichrteben: „Durch Ehriftum hat Gott die Aeonen
gemacht;“ — 2, 9: „Ehriftus ift eine Meine Zeit unter Die Engel
erniedriget;" — V. 14: „Er ift des Fleifches und Blutes theilhafs
tig geworden.“ Kap. 7 wird er auch darin dem Melchiſedek ver-
glichen, daß Er „weder Anfang der Zage, noch Ende des Lebens
bat." — Die Hauptbeweisftelle aber für das perfönliche Vor⸗
dafein Chrifti bei Gott tft in dem Eingang des vierten Evangeliums
enthalten. Hier wird aud abgefehen von Ehrifti Menſchwer⸗
Dung und den Reichsverhältniſſen, in die er trat, in der Lehre
von dem ewigen „Logos“, oder „Wort“, Gott von Gott unters
ſchieden. Hier haben wir in gedrängtefter Kürze die vorweltliche
Geſchichte Ehrifti vor und. Hier begegnet uns ein vorgeſchöpf—
liches Sein eines Subjects, das ein Andrer ift als Gott, und Doch
wieder Gott gleich, und mit Ihm eins. — Hier haben wir den
Sohn nur als „in Beziehung ftehend zu Gott“, und noch nicht in
Beziehung zur Welt. Der Menfhwerdung geſchieht erſt ſpäter
als einer im Lauf der Zeiten in die Gefchichte eingetretenen Thatſache
Erwähnung, nachdem es vor dem; „Und das Wort ward Zleifch“
Chriſtus vor dem Spuebrinm. 399
in feierlicher Weife geheißen hat: „Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei (oder: hingeneigt zu) Gott; und Gott
war das Wort,“ —
Nun, Brüder, ift es euch kund und offenbar, wer Ehriftus fei
nach der Schrift. Wehe euch, wenn auch jetzt noch das Wort euch
träfe: „ Sage ich's euch, fo glaubet ihr’s nicht!“ Fürwahr,
ihr hättet faft weniger noch zur Entfchuldigung eures Widerftrebens
vorzuwenden, ald die Richter, vor deren Schranken wir heute den Ges
rechten ftehen fehen. Hellere Xichter beleuchteten euch feine Berfon,
als jenen, denen nod Das Dunkel feiner Snechtögeftalt im ZBege
ſtand. —
3
Der Herr hat fein großes Belennmiß wiederholt. „Ihr fagt’s*,
ſprach er, „Ich bin es!“ Da fährt die Verſammlung theils in wirk⸗
licher, theils in erheuchelter Entrüſtung und Beſtürzung auf, und der
Eine ruft lauter, als der Andre: „Was bedürfen wir weiter
Zeugniß? Wir haben es felbft "gehört aus feinem Munpel*
— Ja wohl, aus feinem eigenen Munde vernahmen fies. Don dies
fen ihrem Zugeftändniß ift im Hünmel Aft genommen. Es wird
nicht fehlen, daß es ihnen am Zage des Berichtes vorgehalten werden
wird; und womit wollen fie e8 dann rechtfertigen, Daß fie dem Herm
dennoch die Huldigung vorenthielten, fie, die in der That eines „weis
teren Zeugniffes“ über ihn, als das ihnen wurde, nicht bedurften.
— Im jenes feines Zeugnifjes willen haben fie Jefum zum Zode vers
dammt, und dadurch, zur Befeftigung unfres Glaubens, nur beftätigt,
daß das Zeugnig wirklich aus feinem Munde gegangen fei, a, bis zu
diefer Stunde lebt unter den Juden die Ueberlieferung, daß Chriſtus
gefreuzigt worden fei, weil er ſich Gott gleich geftellt, und damit
einer Blasphemie ſich fehuldig gemacht habe. Nichts in der Welt fteht
darım fo außer Zweifel, als daß Yefus einft wirklich jenes gericht
fiche Bekenntniß von feiner Gottesfohnfchaft abgelegt habe, Wer ihn
nun für weniger halten will, als für den ewigen Sohn, flempelt
ihn zum Läfterer, und fehreit mit den Juden: „Kreuzigel” —
Nachdem denn das Todesurtheil über den göttlihen Dulder nen
beftätigt worden, treten Die Schergen auf ihn zu, um Die für eine
Weile ihm abgenommenen Bande ihn wieder anzulegen, Willig
reicht er ſeine Hände Das, auf daß erfüllet wende, was Jeſaias ba, 7
gefchrieben fteht: „Da er gequält und gemartert ward, that er gig
360 Das Heilige.
Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbant geführt wird,
und wie ein Schaf, das vor feinem Scherer verſtummt.“ Der eben
erft unter Genehmhaltung des ganzen Himmels feierlich feine Gott⸗
gleichheit bezeugte, erfcheint jeßt in Fefleln wie ein Meuterer. Un⸗
geheurer Contraft und Widerfpruh! ber wie handgreiflich tritt es
gerade hier wieder zu Tage, daß es ein freier Opferaft ift, zu
dem wir den Herrn gegürtet fehen; und wie deutlich Iefen wir hier
wieder aus feiner heiligen Dulderfeele die Worte heraus: „Ich muß
bezahlen, das ich nicht geraubet habe!“ Seine Feſſeln haben uns
Erlöfung ſchaffen helfen; denn ewig hätte der Satan uns gehalten,
hätte Jeſus die Freiheit den Banden vorgezogen. Entſetzlich und berg
ergreifend ift e8, Die Hände, Die nur im Dienfte der Barmberzigfeit
ſich rührten, von derfelben Welt, über die fie nur zum Segnen fi
ausgebreitet, wie Frevlerhände mit Striden gebunden zu ſehen. Aber
gelobt fei Gott, daß Er, da Die Häfcherrotte zu Werke ging, den Blik
feines Zorns über den Meuterern zurüchielt, und fie gewähren ließ;
denn verhüllt in jenen Striden fchlangen diejenigen fih um Jefn
Glieder, die uns Sünder ewig in der Hölle binden follten. Mit
Recht fingt darum das alte Lied: „Du wurdeft, Jeſu, ganz und gar
umringet von der Feinde Schaar, gebunden und gefangen: Daß wir
von Satans Strid befreit, die wahre Frei⸗ und Sicherheit
Durch Deine Kraft erlangen. “
Die Gerihtödiener haben ihr Amt getan. Da bricht Die ganze
hohe Verfammlung auf, un, gegen Sitte und Gewohnheit, perfön-
lich ihren Verklagten dem römifchen Lundpfleger zuzuführen, und
Durch ihr mafjenhaftes Auftreten dieſem die Beftätigung ihres Todes:
urtheild abzutrogen. So erfüllte fih denn aud das Weiffagungs:
wort des Herrn, daß er „den Heiden überantwortet werden“
würde, — Es gehört dies mit in die Symbolik der Paffionsges
ſchichte. Die ganze Welt follte Anlaß finden, in ihren Vertretern
ihre innere Stellung zu dem „Heiligen in Iſrael“ an den Tag
zu geben, und ihre Mitfhuld und Erldfungsbedürftigkeit zu
beurfunden, „Man fchleppt dich frühe vor Pilatus Haus! Weil Du
auch willit für Unbefchnittne leiden, gibt man Di) hin an Sünder
aus den Heiden.” — So fingt ein kirchlicher Dichter; und Wahr⸗
heit it e8, was er fing. Wir Alle find der Sünde und dem
Fluch, aber auch der Berufung zur Gnade nad, in Iſraels Gemein⸗
ſchaft. —
Ghriftus vor dem Spnebrium. 361
Brüder! Der, welchen wir dort gebunden den Schranken des zwei⸗
ten Gerichtshofs entgegenfchreiten fehen, fißt jetzt, nach längft voll-
brachtem Werfe, ein „Bfleger der heiligen Güter“, die Er uns er-
warb, zur Rechten der Majeftät in der Höhe. — Neigen wir Ihm
anbetend Haupt und Knie, und laſſen wir Ihn nicht, bis Er auch
auf uns den Segen feiner Paſſion gelegt. Hüten wir uns, Ihm
auf's neue dur Unglauben die Retterhände gegen ung zu bin-
den; und fehen wir, die wir nad) Seinem Namen genannt find,
uns wohl vor, daß wir nicht durch unmwürdigen Wandel Ihn aber-
mals den getauften und ungetauften „Heiden’ überantworten, und
Shn der Mißachtung derfelben überliefern. Binden wir Ihn mit den
Seilen dankbarer Liebe an uns; führen wir Ihn auf dem Triumph:
wagen freudiger Bekenntniffe denen zu, die Ihn noch nicht ken⸗
nen; ftellen wir Ihm unfern Frieden, die Heiligkeit unfres Wans
dels, und unfre Treue in Seinem Dienfte, zu Zeugen, die Ihn vor
der Welt rechtfertigen, und lernen wir durch des heiligen Geiftes
Grleuchtung ſchon unter den Gebrechen diefes Lebens und troß ders
felben zu Seines Namens Preis frohloden:
Wohl mir, wohl mir! Meine Ketten
Sind entzwei, und ih bin los!
Chriſti feliged Erretten
Macht mir Muth und Freude groß.
Ach, wie tief lag ich gefangen !
Run bin ic beraudgeyangen,
Und das füße Tageslicht
Strahlt in's Herz und Angefiht!
Wohl mir! denn der Hölle Flammen
Sind durd Chriſti Blut erftidt.
Mer will mich binfort verdammen,
Da mid Jeſus angeblidt?
Heil! ih hab’ in feinen Wunden
Ew'ge Freiheit nun gefunden!
Diefe bleibt mir allezeit,
Diefe gilt in Ewigfeit! — Amen.
— 0 —
362 Das Heilige.
XXX.
Des Verrathers Ende.
„Iſrael, du bringeft dich ins Unglüd; denn dein Heil fteht allein
bei mir!“ — So beim Propheten Hofen Kap. 13, 9 der Herr.
Die thatfächlichen Beſiegelungen find nicht zu zählen, welche Die Wahr⸗
beit dieſes Zurufs in der Geſchichte der Menfchheit gefunden hat, und
fortgehend findet. Wer von Gott weicht, gibt demfelben, bevor noch
eine pofitive Strafe ihn ereilt, Durch das Verderben, Das er an ſich
reißt, das Zeugniß, daß Er die einige Quelle alles Heil und Fries
dens fei. —
Gedenkt an den König Saul, Wie war er gebenedeiet nad) Leib
und Seele, fo lange er vor dem Herrn wandelte, und Defien Straße
zog. In einem Mißtrauen, welchem er gegen Die Treue Gottes bei
fih Raum gab, that er den erften Fall. Eine uneingeflandene
Sünde veranlaßte feine weitere Entfremdung von dem Angeficht Je⸗
hova's. Eine fnechtifche Furcht trat hinfort an die Stelle feiner kind⸗
lichen Unbefangenheit. Ein dunkler Geift des Unmuths verdrängte
den der Zuverfiht und des Friedens. Da ihn fein gefchlagenes Ges
wiffen von Gott nichts mehr erhoffen Tieß, fchlug er jo verzagt, wie
troßig, die Wege der Selbſthülfe ein. Sein innerer Zwieſpalt mit
dem Herm fteigerte ſich bis zu einer ohnmächtigen Kriegserflärung ges
gen Ihn, und feine Schritte verirrten ſich bis zu Der Zauberin von
Endor. — Wider den Allmächtigen ift aber mißlich und gefährlich
ftreiten. Gott überließ den bethörten Mann, der auf Seine Stinme
nicht mehr achtete, fich felbft, Damit er der Welt ein warnendes Exem⸗
pel gebe, wie, wer von Ihm fich fcheide, nur an feinem eigenen Vers
derben baue, Eine im Berlaß auf eigene Kunft und Stärfe wider die
Amalekiter eingegangene Schlacht endete mit der Niederlage feines, des
ifraelitifchen, Heeres, Da er „Fleiſch für feinen Arm“ gehalten hatte,
war mit Diefem Arme auch fein Muth gebrochen. Zum Aufblick zu
Gott gebrady es ihm eben fowol an Zuverfiht, als an Liebe. Er
wußte fih verdammlidh vor Ihm, und Buße thun wollte er nicht.
In raſendem Bettelftolge fleift er feinen Naden, während in demfelben
Des Berräthers Enbe. 363
Momente fein inneres Zagen feinen Höhepunkt erreicht, und die Ver-
zweiflung ihre Krallen nad) ihm ausftredt. Zroß Zeuter und Krone
deucht ihm das Dafein eine unerträgliche Laſt. Er bittet feinen Waf-
fenträger, daß er ihn erfteche; und da diefer fich weigert, ftürzt er fi
felber in fein Schwert, und röchelt unter dem Selbftmörderfluche feine
Seele aus. Ihr kennt das rührende Xied, das ihm die Liebe Davids
fang. Aber auf feinen Leichenftein gehört die Inſchrift: „Iſrael,
Du bringeft dich felbft ins Unglüd; denn Dein Heil fteht
allein bei mir!“
Auf einem andern Grabmal ſteht's mit noch gehobnerer Schrift.
Wir treten demfelben heute nahe, Sei unfer Gang gefegnet, und treibe
er uns an, „mit Furcht und Zittern zu fchaffen, daß wir felig werden |“
Matthäus 27, 3—10. Apoſtelgeſch. 1, 18—20.
Da das fah Judas, ber ihn verratben hatte, "daß er verurtheilet mar, gerenete es
ihn, und brachte wieder die dreißig Silberlinge den Hobenprieftern und den Aelteſten,
und ſprach: Ich habe übel gethan, daß ich unſchuldig Blut verrathen habe. Sie ſpra⸗
chen: Was gebet das und an? Da fiehe bu zu. Und er warf die Silberlinge in den
Tempel, bob fi davon, ging bin, und erhenkte ſich ſelbſt. Und ift herabgeftürzt, und
mitten entzwei geborften, und alle feine Eingeweide auögefchüttet. Aber die Hoben-
priefter nahmen die Silberlinge, und ſprachen: Es taugt nicht, daß wir fie in den
Opferfaften legen, denn es ift Blutgeld. Sie hielten aber einen Rath, und kauften
den Zöpferdader darum, zum Begräbniß der Pilger. Und es ift fund worden Allen,
bie zu Serufalem wohnen, alfo, daß derſelbe Ader genannt wird bid auf den heutigen
Tag auf ihre Sprache: Hafeldama, das if, Blutader. Da ift erfüllet, dad gejagt iſt
durch den Propheten Ieremiad, da er ſpricht: Sie haben genommen die dreißig Sil-
berlinge, damit bezahlet ward der Berlaufte, welchen fie fauften von den Kindern
Iſtael; und haben fie gegeben für ben Zöpferdader, wie mir der Herr befohlen hat.
— Und ſtehet gefchrieden im Pſalmbuch: Ihre Behaufung müffe wüfte werden, und
fei Niemand, der darin wohne; und: Sein Bisthum empfange ein Anderer.
Einem graufigen Dunkel nahen wir heute. Doch ftrahlt auch aus
Diefer Schauernadht ein lichter Schein uns an, Dieſe Glorie ums
leuchtet das Haupt des Herm, dem, — denkt nur! — zu guter Letzt
auch noch das „Kind Des Verderbens” in feiner Art Apoftels
dienfte thun muß. Jeſus wird Durch Judas verherrlicht, und feiert
Zriumphe, wie fie glänzender kein andrer Apoftel ihm bereitete. —
„Triumphe?“ — So iſt's! — Laßt mid) euch zeigen, wie Jeſus
hier triumpbirt: zuerft als Heiliger, dann ald das Heil, und
endlich als der Heiland,
364 Des Heilige.
Ter Herr aber iegne unire Betrachtung, und laffe ans dem Tede
Des Verräthers eine Frucht zum Leben und ermadien!
l.
Bie viel Daran gelegen ſei, daß umier Heberprieiter im rechten
Schmucke das Werk der Veriöbnung rellführte, RM eu bewußt. Ein
zebl an dem Summe, ımd es taugte nice mebr zum Opfer. „Einen
teldben HSobenpriener mußten wir baben“, iagt die Schrift, „der
da wire heilig, umberledt, und ven den Zünien abgeſendert.“ Und
einen ſolchen haben mir. Die üttliche Beräbinmg SIummamuels zu
teinem Mittlerwerke itebt außer grage. Gott bat nichts geivart, wm
bierüber jeden Zweifel zu zeritreuen. Gr gab den Bürgen zu Ne
fem Ente ein um Das andere Mal der Prüfmg der fchurffichtigften
Zplitterrichter der Erde preis. Dieſe aber baben alle zu ibrem nict
geringen Verdruß umienit auf Zleden an Abm Jagd gemacht, und
bald gerade heraus, bald vermittelit ihrer Handlungsweiſe bezeugen
münen: „Bir finden feine Schuld an dieſem Menſchen!“
Zen bebem Belanae its, daß ſelbſt Die Argusaugen Der Priefter
und Schriftgelebrten nichts Verdammliches an Ibm entdeckten. Bid
ſchwerer aber füllt Der Umſtand ins Gewicht, Dub eben fo wenig
dem Munne, den wir in unirer heutigen Geſchichte zur Hölle fahren
feben, dergleichen an dem Herm Jeſu fih bemerkbar machen wollte.
Ihm mußte viel mehr noch, als jenen, Daran liegen, den Herrn irgend
einer Zünde zeiben zu fönnen, Da er nicht, wie fie, in Denen dus Ge;
wiſſen ichlief, wenn er eine wirflibe Schuld an Ibm nicht fand,
durch Andichtung einer erlogenen fi beiten fonnte. Hätte er zu
ſolchem Mittel feine Zuflucht nehmen wollen, der Richter in feiner
Druft würde dieſes Kunſtgriffs geſpottet haben, wie der Leviathan „der
bebenden Lanze”. — Ad, wenn Judas nur mit balber Bahrbeit
fib bäͤtte ſagen dürfen: „Gr, Den du verrietbeit, verdiente es, daß er
den Gerichten überliefert wurde”; was würde er Darım gegeben bu;
ben! Um der Rube jeines Gemütbs, ja um feiner zeirfihen und ewi-
gen Seligkeit willen, mußte er feidenichaftlich wünichen, Jeſum irgend»
wie als einen Webertreter zu erfinden. Schon eine un Jeſu ent
dedte Sünde würde ibm unter der Qual, Die er in feinem Innern
empfand, ein großer Troit, ein jüßes Labſal geweien fein. Aber wie
emfig er darnach fuchte, wie angejtrengt er ſich befann, wie gründlich
er mit dem erinnernden Geiſte feines Meijters Leben durchmurfterte :
Zugenden boten fih ihm darin in Zülle Dur; ein Lichtmeer von
Det Berrätherd Ende 365
Heiligkeit ſchimmerte ihm daraus entgegen; aber auch nicht ein dun⸗
feler Punft wollte fich zeigen; auch nicht ein Makel, und wäre es
der Teifefte, begegnete feinem forfchenden Auge. Bernichtendes Er-
gebnig! Judas muß feinem Gewiffen Recht geben, das ihn einen
Verräther des Heiligen fhilt, ja, als einen Mörder der Unſchuld
ihn verdammt. Gr findet nichts, das ihm diefes Urtheil entkräften
hilfe, und muß den fchauerlichiten Fluch über fich ergehen laſſen, der
je eine Menjchenfeele beben machte, — -
Sonderbar, daß Judas Sünde an Zefu fuchte, um aus ihr Be
rubigung zu fchöpfen; vor Jeſu Heiligkeit aber ſcheu zurüdfuhr!
Hätte ihm das Licht des Evangeliums gefchienen, fo würde er
umgefehrt der Unfträflichfeit Zefu fi gefreut, vor dem Ges
danken aber, daß an Sefu irgend ein Flecken entdedt werden könnte,
zufammengefchaudert fein und gezittert haben. — Seltſam indeß, daß
wir darin auch wieder mit Judas eins find, daß wir, wie er, nur
in einem anderen Sinne, zur Crleichterung unferer Gewiffen an
Jeſu Sünde fuhen. Wir aber finden fie an dem Heiligen in der
. That, wenn auch nur als eine im Wege der Zurechnung und des
Uebertrags an Ihn gelommene, und gehen unfern Weg mit Fries
den.
Judas befindet fi in grauenvoller Lage, Er hatte, der Wunder:
macht Jeſu als eines Deckmantels für feine Bosheit fi) getröftend,
fein erwachendes Gewiffen immer noch mit der Borfpiegelung hinge-
halten, der Meifter werde ja nur zu wollen brauchen, um, wenn Noth
an Mann gehe, fi den Händen feiner Feinde wieder zu entwinden,
Wie er nun aber den Meifter wirklich verurtheilt, ja, gebunden im
Geleite des ganzen Hohenrathes zur Hofburg des Landpflegers fchlep-
pen fieht, bricht der legte Anker, der den unglückſeligen Mann bis
dahin noch vor dem Verzweiflungsfturm gefichert hatte. Jetzt bat der
unbeftechliche Richter in feiner Bruft für feine Anklagen freien Raum,
„Dein Bubenſtück“, donnert er ihm zu, „ist dir gelungen! — Dein
Meifter gehet hin, und du warfit Ihn in dieſe Bahn hinein! —
Auf Deinem Schädel Taftet die ganze Schuld des blutigen Untergan-
ges dieſes Gerechten. Du, der du fein Brod aßeft, bift Die Natter,
die ihm den Todesftih gegeben! — Wie, dag dich Abſchaum der
Menfchheit die Erde noch trägt, die Sonne noch beſcheint? Wehe,
wehe dir Verräther, Mörder, Sohn des Fluches!“ — — O Schauer
der Angit, die .unter diefem Gemurmel in feinem Bufen ihn überfallen!
366 | Das Heifige.
O ungeheure Noth, die wie ein gewappneter Mann über ihn berfällt!
D Graus und Schreden, die ihm Nerven und Gebeine erfchütten!
— Nicht anders iſt ihm zu Muthe, als raufchten die Füße des Blut
rächers ſchon in feiner Nähe, als hörte er bereits das ZTodesurtheil
vom Himmel auf fein Haupt hernieder Donnern, und als fühe er den
Feuerſchlund der Hölle zu feinen Füßen offen. Die Verzweiflungsnacht
eines Kain, eines Saul, eines Ahitophel Tagert ſich gewitterfchmäl
über feine Seele. D, wie ihm das Blutgeld auf dem Gewiffen brennt!
Wie ihn der Klang der Silberlinge in feiner Tafche fo gräßlich antönt!
— Als fchleppe er daran einen Satansfold, eine Höllenlöhnung mit
fih, jo ift ihn; ja, als hätte er feiner Seelen Seligkeit dafür ver-
handelt. — Und er hatte Dies ja wirklih! — — Dort ftürzt er, von
den Rabenfittigen der Angſt getragen, hin. Gott hat ihn verlaflen;
der Zeufel aufgehört, um die Zröftung feiner Seele fi) zu bemühen.
In den Tempel flürzt der Jammervolle. Warum? Will er beten?
— Nein, beten kann er nicht mehr. — Er muß des verfluchten Sur
dengeldes fich entledigen, Die Hohenpriefter und Schriftgelehrten, Die
Nichtöwürdigen, fucht er auf; und wie er fie gefunden, tritt er verftört,
wie eine Leiche blaß, und voll grimmen Haffes wider Diefe Werkzeuge
feines Falles, auf fie zu, und legt vor ihnen laut und unmmwunden
das Bekenntniß ab: „Ich babe übel gethban, daß ih unfdhul:
dig Blut verratben habe!“ —
Hört diefe Worte! Cie find von größter Bedeutung. War Judas
Jeſu Freund? — Mit nichten; fein Herz war wider Ihn erbittert.
Brachte es ihm VBortheil, das Zeugniß von Jeſu Unfhuld? Im
Gegentheil: er zog fich dadurch nur die Ungnade feiner hohen Gönner
zu, und fteigerte damit felbft das Gräßliche feines Verbrechens. — In
feinem Intereſſe hätte e8 gelegen, fich in Die Lüge hineinzuraifonniren,
daß Jeſus einer andern Behandlung, ald fie Ihm widerfahren, nicht
werth gemefen fei. — Wie ftarf und fiegreich alfo mußte felbft in dem
nächtigen Spiegel feiner Verrätherfeele noch der bimmelreine Licht:
glanz der Unſchuld Jeſu wiederfcheinen, Daß er troß der eben erwähn-
ten Nachtheile, die er fid) Dadurch zuzog, doch nicht umhin fonnte, mit
ſolchem Bekenntniſſe Ihn zu ehren! Zürwahr, kaum je ift ein gewal-
tigerer Lobgeſang auf die Heiligkeit des Priefters Gottes laut ges
worden, als er in jenem Verzweiflungsfchrei feines Verräthers am unfer
Ohr tönt; und wo ift der Unfchuld Jefu je ein gewichtigeres Atteft
ertheilt, al8 dasjenige, welches bier, von feinem Gewiffen gezwungen,
Deb Berrätherd Ende. 367
wider fich felbft und fich felbft zum Fluch, das ungfüdfelige Mord-
find ihr ertheilen muß, So feiert Jeſus, wie wir fagten, inmitten
des tiefiten Emiedrigungsdunfel8 den glüänzendften Triumph. Gr
triumphirt als der Mann, den „Niemand einer Sünde zeihen konnte”,
als „das Lamm ohne Fehl”, als „der Heilige Iſraels“. Wünfchen
wir uns Glück zu diefer neuen Beftätigung der Wahrheit, daB an uns
ferer Gerechtigkeit fein Makel haftet. Denn die Gerechtigkeit des
Bürgen iſt auch diejenige feines Bolts. — Die Jefum loben, das
lihtumfloffene Haupt, die loben auch uns, des Hauptes Glieder.
Auch Ehrifti Feinde, die Seine Gottheit leugnen, aber doch das
Tugendmufterbild in Ihm begeiftert ehren, find „Gehülfen unfrer
Freude”. Ihre Lobpreifenden Ergüffe befingen im Grund nur unfre
Schöne Sie wollen felbft davon nicht wiffen; aber wenn uns einſt
Gott vor aller Welt in Seine Arme fchließen, und das Erbe Seines
Sohnes uns überweifen wird, werden fie inne werden, daß in der
That das Lichtgewand Immanuels fih auf uns vererbte, und unfre
Blöße deckte.
2.
Den zweiten Triumph feiert in unſerm heutigen Auftritt der Herr
als das Heil, und zwar als das einzige, das den Sündern berei⸗
tet iſt. Auch in dieſer Eigenſchaft wird er, — wunderbar genug!
— durch feinen Verräther verherrlicht. Judas verrichtet hier, frei⸗
lich nicht nach ſeiner, wohl aber nah Gottes Abſicht, Apoſtel—
dienſt. Er ſtellt uns ein erſchuͤtterndes Exempel auf, wie Jemand
Alles unternehmen koͤnne, um der Sünde und des an fie gefnüpften
Fluches los zu werden, und doch nicht zum Ziel gelangt, fo lange
nicht der Herr Jeſus fein, und er des Herrn Jeſu eigen ward.
Seht den Unglüdfeligen! Die gräßlihe That ift vollbracht; aber
er felbft hat fie auch fchon al8 eine Unthat erkannt. Wir haben’s
in dem Manne mit feinem fchon ganz verhärteten Böferwicht zu thun.
Er fühlt noch die Größe feiner Schuld, bekennt fie, und empfindet
darımter bittere Reue. Was hätte er nicht darum gegeben, wenn er
das Verbrechen ungefchehen hätte machen können! Manches ver:
ſucht er, was zu diefem Ziele führen könnte, und wozu ihn ficher
auch unfre heutigen modernen Sittenlehrer geratben haben würden,
Er eilt zu den Menfchen, in deren Dienften er gefündigt, wieder hin,
bringt ihnen den verfluchten Sold zurüd, will lieber Schmach, Hohn
und was Alles fonft noch, auf ſich nehmen, als länger diefes Blutgeld
368 Das Heilige.
in feinen Händen dulden, befennet frei und unverhofen den begange⸗
nen Frevel, entfchuldigt und beſchoͤnigt an demfelben nichts, ſprichts
geradezu aus: „Ich habe übel gethan, daß ich unfhuldig Blut ver
ratben habe’, und beurfundet's zur Genüge, daß der Abfcheu, de
er wider den begangenen Greuel an den Zag lege, ein ernſter md
aufrichtiger jei. Und als die Priefter die Zurüdnahme ihrer Silber
finge verweigern, und mit Dem vornehm falten und fohneidenden: „Bas
gehet Das uns an? Ta fiebe du zu!” ihm den Rüden fchren,
fehleudert er die Silberſcherben von fi in den Tempel, und gibt
damit zu verjteben, Daß er fie den Armen beftimme, oder fonft einem
heiligen Zwede weihe. Cine furdhtbare Ironie des Schickſals fieht
und aus Diefer Scene an, gedenken wir zurüd an das heuchleriſche
„Dieſe Salbe hätte beifer verkauft, und Das Geld Den Armen
gegeben werden mögen,” womit der unglüdjelige Jünger eink
das ſchöne Liebeswerk der Maria zu verunglimpfen fi) vermaß. Seht
muß er, wenn auch mit einem andern Gelde, in fchauerlicher Weiſe
wahr machen, was er Damals log. Was follte man aber mehr verlans
gen, als was bier der Sünder that? Hier war Selbſtgericht, Buße,
Sündenbekenntniß, Befirungsvorfag, und fogar ernſtes Bemühen, wie
der gut zu macden, was er fehlte. Und doch, — was frommte dies
jes Alles? Die Sünde haftet, der Himmel bleibt über ihm vers
riegelt, Das Herz Des ewigen Richters von ihm abgewandt, und
des Satans Kette ungebrochen. Das Zittern des armen Jüngere
it umfonjt, wie es feine Reue, fein Belenntniß, und feine fittfichen
Entſchließungen und Gelübde find. Alle dieſe Lauge reicht nicht, Die
Schuld von ihn abzuwaſchen. All' dieſes edle Thun erwirkt ihm Feine
Gnade. Zudas gebt in fürchterlicher Weife unter. Warum? — Etwa,
weil feine Sünde das Maß der göttlichen Vergebung überſtieg? — O,
nicht doch! — Weil er ein Dieb und Gamer war? — Tas war der
Schächer am Kreuz in böberm Grade, und er hat den Weg zum Paradies
gefunden. — Weil er den „Heiligen Iſraels“ verrieth? — Es thaten
Tauſende Daffelbe, und wurden dennoch felig. — Weil er Hand an
ſich ſelber legte? — Ih füge euch: hätte er Dies auch nicht getban,
fondern nod) Jahre lang gelebt, und mit erniten Befferungsvers
ſuchen bingebracht: verloren gemefen wäre er Doch, und zwar aus
der einen Urſache, weil Jeſus nicht auf feiner Seite ftand, noch
mit Seinem Blute ihn vertrat, So muß der Untergang Juda,
wie feine andere Begebenheit, der Unentbehrlichkeit Jeſu zur bes
De Verraͤthers Enbe. 369
benden Folie dienen, und Jefus triumphirt darin, wie faft nirgends
fonft, als das einige und ausfchließlihe Heil der Sünder,
Es hilft und rettet Nichts, wenn Jefus nicht unfer wird. Hättet
ihr eine Ahnung davon, wie blutnöthig er euch fei, ihr machte
Thüren und Thore hoch, um Ihn zu euch einzulaffen. Euer Liebftes
und Theuerftes ſchlüget ihr freudig für Ihn 108. Ja, euer Leben
fegtet ihr daran, gefchweige die ſchaale Luft und eitle Ehre diefer
Welt, um Ihn zu gewinnen. Ein Surrogat für diefen Jeſus und
fein Blut ift nicht vorhanden. Das gleißendfte Gewebe von Buße,
Sittfamkeit und gottesdienftlihen Bemühen erfegt Ihn nicht. Es
tft nur ein ſchmuckerer Anzug für den Delinquentengang zum Hochge⸗
richte. Zur Gnade und zum Himmel verhilft allein Jefus. Iſt Er
dir nicht gewogen, umfonft iſt's dann, daß du „frühe aufftehft“, und
hernach „lange fißeft“, deine Seligfeit zu fchaffen. Du arbeiteft, und
bringft nichts zu Wege; du fammelft, und legſt's in einen „löcherichten
Beutel”; du wirkt, und hebft „Spinnewebe, Das zu Kleidern
nicht taugt,” von deinem Webftuhl; du füllt an einem Faſſe, dem
der Boden ausgefchlagen ift, und bift verurtheilt, einen Stein bergam
zu wälzen, der, wenn Du ihn oben zu haben meinft, dir wieder ent-
Ihlüpft, und unaufhaltfam zur Ziefe niederrollt. Steht aber Jeſus
auf deiner Seite, fo bift du am Ziele, ehe du noch wanderft; fo fallen
Dir die Friedensfrüchte in den Schooß, bevor du den Baum gepflanzt;
fo ftrogeft du von Gerechtigkeit, während du mit der Sünde nod im
Kampfe Tiegft, und bift verföhnt, ohne daß ein Sühnopfer von deiner
Hand gefordert ward. — Was füumeft du denn, Ihn zu umfaflen,
der dir „Alles“ ift „in Allem”? — Sprid mit dem Apoftel: „Was
ich noch lebe im Fleifch, das Tebe ich im Glauben des Sohnes Got-
te8”; und für Zeit und Ewigfeit ift dir geholfen!
3.
Yudas wandelt durch die Pafftonsgefchichte, auf daß an ihm eins
mal die Sünde mit allen ihren Schauern und Schreden recht zu
Tage trete, der Sünde gegenüber aber zugleich die Erlöfung in ih—
rem vollen Glanze erfcheine, und Jeſus nicht allein als der Hei-
lige, und als das einige Heil, fondern auch als der Heiland
recht augenfällig ſich verffäre. Ja, wenn das Entfeßliche der Sünde
an irgend Jemandem je zur Erfcheinung gekommen tft, dann an dem
Berräther, Hier kehrt fie zunörderft ihre ganze Häßlichkeit und
24
310 Das Geige.
Edwärge ver, weile gegen das Himmeldliht, das Die Perſon Ehifi
umfliegt, nur um io greller abitidht. Hier gibt fe ſich als Die greie
Berrügerin kund, die ibren Tienimwilliyn geldne Berge verfprik,
aber mir Schanern und Schrecken fie ablöbnt. Hier trüt fie auf au
die Ausgeburt der Hölle, welde nur Frucht des Zodes bringt, m
niemald andere Kinder, alö Die der Angü, der Berzweiflung m
der Verdammniß acberen bat. Hier offenbart fie fich als die ärgke
FZeindin united Geſchlechts, die das Bund, das uns mit Gott ver
fnipft, zeribneider, den Zorn des Allmächtigen gegen ums emtilanm,
Die There zu den „ewigen Büren” uns entriegelt, und eine mit Rick
zu überbrüdende Kluft zwiichen uns und der bimmliichen Gottesftan
befeitigt. Ueberdies murs euch tbanichlich bier vor Augen, wie ſie
jedes menſchlichen Verſuches, te ibres Stachels zu berauben, fpotte,
mü feinen Berenungen jib bannen, mit feinen Thränen ſich hinwez
waſchen, mit feinen auten Vorſatzen fich vernichten läßt; fondern dem
Allem zu Trog burmädig buften bleibt, ibre Untergebenen dem Zeufel
in die Hände ipielt, und, nachdem fie ibnen dDiefieits Das Leben
vergällt, fie endlich einer ewigen Todesnacht überweilt, und einem
endloſen Verderben preisgikt.
Schauet euch Den Verräther an in ſeinem Summer, und gewaht,
wie ibm die Sünde gleih einem Geſpenſte auf Dem Raden fit.
Seht, wie er ſich ſchüttelt unter Dieter Zait, und büumt; aber das
gräuliche Ungetbüm nicht ven ibm weichen will. Bemerft, wie er m
fiat und flüchtig dahin jagt; aber Das Geipenit jagt mit ibm, md
wird nur gräßlicher auf Dem Wege. Turb Rüdzablung der Süber
linge gedenft er von dem Scheuſal fich wieder zu befreien; aber ver
gebens find Die Verſuche, vermittelit ſolcher Preite mit der Sünde ſich
abzufinden. Zu Prieitern und Pharifiern nimmt Judas jeine Zuflucht;
aber mider Die Sünde wiſſen Diele feinen Ratb. Er flürzt ſich end
ih, von namenlofer Angit gejagt, Dem Tode ſelbſt in die Arme;
aber auch der nimmt ibm den Brait nicht von der Seele. Seines
Leibes fann Judas ſich entledigen; aber er entledigt fi) Damit nicht
feiner Schuld. Bon feinem Leben kann er jcheiden; aber die Sünde
ſcheidet darum nicht von ihm. Dieſe Erde kann er räumen; aber
fein Frevel folgt ihm über deren Gränzen nad. Gr wirft ſich einen
Strick um den Hals; aber würgt derſelbe ihn, je nicht jeine Miſſe⸗
that. Dieſer wird vielmehr dadurch nur Raum gemacht, ihre ganze
Macht und Herrſchaft zu entfalten. — Sie laͤßt es geſchehen, daß ſein
Des Berräthers Ende. 371
Leib zerberfte, und fährt dafür mit der Seele ab, um fie in das
ewige Feuer zu begleiten. O, tretet bin an Judä Gruft. Nein, an
diefem Grabe wachen feine Engel, und fein Hüterauge Gottes fteht
darüber offen. Keine Hoffnungsrofen blühen auf feinem Hügel. Nacht
hatten nur und Difteln ummuchern ihn. Und die Infchrift auf dem
Leichenſteine? — Sie lautet kurz und fchaurig: „Und Judas ging
an feinen Ort“, und deutet in erfehütternder Weife an, wie weit
die verwüftende, Unheil gebärende, Zod bringende Macht der Sünde
fich erſtrecke.
Wer war dieſem Ungethüm gewachſen? — Einer nahm es mit
der Sünde auf: Der, den man dort in Feſſeln vor den Richterſtuhl
des Heiden ſchleppt, und bei deſſen Anblick Judas verzweifelt, ſtatt
in Jubel der Freude auszubrechen. Chriſtus ward im Zured-
nungswege das Lamm, das der Welt Sünde auf fih nahm, um
Diefer in fiellvertretender Erduldung des ihr gebührenden Fluchs,
für Alle, die an Ihn glauben würden, den Stachel auszubredhen,
Er hat's gethan; und wenn wir vorhin behaupteten, Er triumphire
in unferm heutigen Evangelium auch. als der Heiland, fo meinten
wir zunächft, daß Seine Erlöferthat eben darum bier in um fo
hehrerem Glanze erfcheine, weil hier das Scheufal Sünde allfeitiger,
als irgend wo, feine wahre Natur enthüllt, und feine Schreden zu
Zage treten läßt. Es wird aber Chriſtus ald der Heiland auch in-
fofern bier verherrlicht, al8 ſich hier Jedem unabweislich die Uebers
zeugung aufdrängt, daß das verlorene Kind einzig Darum den furdht-
baren Schiffbruch erleidet, weil er verfchmäht, demfelben Manne, den
er verrieth, reuig und glaubend in die Arme ſich zu werfen. Wie
grauenvoll der Sturm ift, der die ganze Flotte aller menſchlichen Hül-
fen verfenft; eine Netterbarke ift ned) übrig. Hätte er auf Diefe
fich geflüchtet, fie würde ihn unfehlbar in den Hafen des ewigen Fries
dens hineingetragen haben. „Aber warum beftieg er fie nit?" —
Theild war er auch inmitten feines namenlofen Jammers noch zu ſtolz
dazu, um Dem, der ihm die Heuchlerlarve abgeriffen hatte, und wi-
der den feine Seele auf's tiefite erbittert war, die Ehre anzuthun,
Seine Gnade fich zu erbetteln; theild war er Dazu auch wieder zu
verzagt, indem der Satan nicht abließ, zum Lohn für die Dienfte,
die Zudas ihm geleiftet, ihm zuzuraunen, wie für ihn irgend eine
Hoffnung nicht mehr vorhanden fei, und überdies durch Vorgau⸗
felung allerlei grauenhafter Höllenbilder jede Ruhe und Klarheit des
24
372 Des Heilige.
Befinmens ibm benabm. Kütte Judas Demurb ud Muth gem
geminnen koͤnnen, um, wie nachmals der Schächer, Sein das thri
nenfeuchte Auge zuzumenden, er würde nur Dem Blide vergebender
Huld begeamet fein: ımd e, wie te ganz andere Laute, als das ent
feglihe „Was gebet Das uns an? Ta ſiebe du au!“ der Hohen
priefter, bätten hier ibn angekllungen! — Denn an Gnade gebrah
es much für einen Menſchen teiner erderbensitufe nicht; und ob
feine Sünde „blurretb“ wur, das Mur der Berföbnung hätte binge
reicht, fie „ichneeweiß“ zu waichen. Aber wie ein Geier mit dem er
bafchten Lamme, fuhr der Teufel mit ihm im Cturme Davon, md
rubete nicht, his er feinen Triumph über ibn vollendet batte, umd Ne
Eeele dieſer feiner jelmen Veute in fiberm Verwahrſam wußte.
Tie Erde bat ein tragiſcheres Schauſipiel nicht geieben, als das
jenige, vor welchem wir mit unierer Betrachtung weiln. Ein Mam,
zu einem ausgezeichneten Gefäße Des Heils und Segens für Die Menid-
beit verordnet und angelegt, verzweifelt Angefichts des Netters der
Belt, und ftürzt fi, ſtatt Die nad ihm ausgeitredte Erlöferband zu
ergreifen, in dem unſeligen Wahne, als betrete er fo den Weg, auf
dem er die Erlöfung von den Foltern feines Gewiſſens finden werde,
in den Abgrund der ewigen Verdammniß. — Und es iſt, als ob ſelbſt
Tod und Hölle, wie vorbin ichen in den Perionen der Priefter und
Aelteiten die Welt, ven dieſem Fluchkinde fi losjagen, ımd mit
Gott an ibm Gericht üben müßten. Der Strang, mit dem ber
Bejammernöwertbe fib aufgefnüpft, reißt. Der Baum, den er au
feinem Eterbebert ſich eriehen, ſchüttelt ibn mit Grauen wieder af.
„Mitten entzwei beritend“, ſtürzt der Ermürgte herunter, und jein Ein
gemweide rollt ausgeichürtet über die Erde.
Während dieſe haarſträubenden Dinge ſich begeben, ftehen die Prie
fter und Aelteften beratbichlagend zufanmen, was mit den dreißig
Eilberlingen anzufangen ſei, Die Indas verzweifelnd in den Tempel
zurüdgeichleudert hatte. „Es taugt nicht“, ſprechen die Schein:
heiligen, unbewußt fich felber brandmarkend, „Daß wir fie in den
DOpferkfaften legen, denn es ift Blutgeld.“ Ein foldes
wars; und allerdings Tollte nach 5 Mof. 23, 18 durch Blutgeld und
„Hundelohn”“ der Tempelſchatz nicht verunreinigt werden. — Aber wie
trifft die „ übertünchten Gräber * bier wieder Das Wort des Herm
Matth. 23, 23: „Wehe euch, ihr Schriftgelebrten und Pharifäer, ihr
Heuchler, die ihr verzehntet Münze, Till und Kümmel, und Iaffet
Des Berräthers Ende. 373
dahinten das Schwerfte im Geſetz, nemlich das Gericht, die Barm⸗
berzigfeit und den Glauben, — Ihr verblendeten Leiter, die ihr Muͤcken
feiget, und Kameele verfchludt! *" — Waren doch diefe Menfchen an
der Greuelthat, die fie mit jenen Süberlingen bezahlten, nichts weni-
ger, als der Verraͤther felbit, fchuldig, und, obwohl mit dDiefem in
gleicher Verdammniß, werfen fie ſich nicht allein zu deſſen Richtern
auf, fondern fpielen ihm gegenüber fogar mit vornehmer Miene Die
Hüter des Gefeßes und die Heiligen. Wer empfände nicht faft noch
mehr Sympathien für den verzweifelnden Jünger, als für diefe Mei- -
fter in aller Züge und Berftellung? — Wer weiß, ob e8 jenem am
jüngften Tage nicht erträglicher ergeben wird, als diefen hochfahren-
den und herzlofen Gleißnern. — Die Herren fommen denn überein,
für den „Lohn der Ungerechtigkeit” den „Töpferacker“, ein bis da-
hin einem Zöpfer zugehöriges Grundftüd anzufaufen, und daffelbe zum
Begräbnißplage für Pilger, die in Serufalem etwa farben, und dort
feine eigene Gruft befaßen, zu beftimmen. So mußte felbft der ‘Preis,
um den Jeſus verhandelt war, noch einen Segen ftiften. Ja, fpielt
nicht aud) in Diefem Zuge wieder ein Bild, welches befagt, DaB
Ehriftus eben darum fich hingegeben habe, daß wir Pilgrime im To⸗
desthal in Frieden ruhen möchten? — Der erfaufte Adler erhielt tm
Munde des Volks fortan den halbfyrifchen Namen: „ Hakeldama”,
das ift, Blutader. Ein trauriges Denkmal, das hiemit dem ver-
lorenen Jünger und feiner Unthat errichtet wurde, und das heute noch
dem Wanderer zuruft: „Wer den Sohn Gottes mit Füßen tritt,
dem ift fein andres Opfer für die Sünde mehr übrig!”
Der Evangelift fügt feinem Berichte von jenem Kaufakte die Be
merkung bei: „Da ift erfüllt, das gefagt ift durch den Pros
pheten Jeremias, da er fpricht: Sie haben genommen die
dreißig Silberlinge, damit bezahlt ward der Verkaufte,
welchen fie fanften-von den Kindern Iſrael; und haben
fie gegeben für den Töpfersader, wie mir der Herr befoh-
len bat.“ — Matthäus vereinigt hier ihrem Hauptinhalte nach zwei
prophetifche Stellen, von denen die erftere dem Jeremias, Die an-
dere dem übrigens nicht namhaft gemachten Sacharja angehört. —
Die Worte ded Jeremias Iefen wir Kapitel 19, 11—13, wo fie alfo
lauten: „So fpriht der Herr Zebaoth: Ehen wie man eines Töpfers
„Gefäß zerbricht, das nicht mag wieder ganz werden, fo will ich Dies
„Volt und dieſe Stadt auch zerbrechen; und follen in Thopheth bes
374 Das Heilige.
„graben werden, weil fonft fein Raum fein wird, zu begraben. So
„will ich mit diefer Stätte, fpricht der Herr, und mit ihren Cinwoh⸗
„nern umgeben, daß Ddiefe Stadt werden foll, glei wie Thopheth
„Und es follen die Häufer zu Jerufalem, und die Häufer der Könige
„Zuda eben fo unrein werden, al$ die Stätte Thopheth; ja alle Haͤn⸗
„Ter, da fie auf den Dächern geräuchert haben allem Heer des Himmels
„und andern Göttern Trankopfer geopfert haben.” — Des Sacharja
Ausspruch findet fid) im 11. Kapitel der Weiffagungen diefes Pre
pheten, und lautet dafelbft im 13. Verfe alfo: „Und der Hear
„ſprach zu mir: Wirf es hin, daß es dem Zöpfer gegeben werde! Ei,
„ein trefflicher Preis, deß ich werth geachtet bin von ihnen! Und id
„nahm die dreißig Silberlinge, und warf fie ind Haus des Herm,
„daß fie dem Töpfer gegeben würden.“
Suchen wir nun zuerft den Worten des Jeremias auf den Grund
zu Dringen. Der ‘Brophet verkündet dem Volke Iſrael und der Stadt
Serufalem ſchwere Strafgerichte, und hat dabei zufolge göttlicher Wei⸗
fung feinen Standpunkt nahe dem Ziegel» oder Töpferthore an der
Stelle Thopheth genommen, die zum Thale Ben-Hinnom gehört,
und Diefelbe ift, wo Iſrael einft in Tagen fchredlichen Verfalls dem
Götzen Molody feine Kinder opferte. In Gegenwart von Aelteften
und Prieftern, in deren Geleite er auf göttlichen Befehl hinausgezogen
war, nimmt er einen mitgebrachten irdenen Krug, zerfchmettert ihn an
dem Boden, und begleitet dieſe fumbolifche Handlung mit der Weiſſa⸗
gung, To folle Volk und Stadt zerbrochen werden, und man werde
in Thopheth, dem unreinen und fluchbededten begraben, aus Mans
gel an Raum für die Leichen, und die Stadt felbft folle werden wie
Thopheth, und ihre Häufer unrein. Thopheth, wo einft das Molochs⸗
bild ftand, war zugleicd) das Grundftüd, wo die Töpfer in Serufalem
den Lehm für ihre Fabrifate zu graben pflegen. Indem nım der Bro:
phet gerade an diefem Orte den irdenen Zopf zertrünmerte, und
Denfelben alfo wieder in jeinen Urftoff verwandelte, bildete er fehr
bedeutfam und ergreifend Dasjenige ab, was gleicherweife die hei-
lige Stadt und das Volt der Auswahl betreffen werde. — Jenes
Zhopheth war der „Zöpferader “, den wir in unferm heutigen Aufs
tritt die Nelteften um die dreißig Silberlinge faufen fehen. Wenn
nun aber Matthäus fpricht: „Da ift erfüllt, was gefagt ift durch
den Propheten Jeremias“, fu ift des heiligen Geiftes Meinung,
ber dem Evangeliften die Feder führt, dDiefe: „ Indem Gott es
Des Berrätperd Ente. 375
fügte, daB die Väter Iſraels um den «Lohn der Tingerechtigleit» den
Ader, auf dem der Fluch des Jeremias ruhte, als Eigenthum des
jüdifchen Staats erwarben, und damit gleichfam felbft jenen Fluch auf
fi) und ihr Volk herübernahmen, bezeugte er, und zwar wiederum in
ſinnbildlicher Weiſe, daß die damals gedrohte Heimfuchung zum
andern Male, und zwar in um fo fchredlicherer Geftalt über Iſrael
bereinbrechen würde, ein je ſchwereres Verbrechen der an dem Sohne
Gottes ſelbſt verübte Mord, als der Molochs dienſt und der mit
demfelben verknüpfte Opfergreuel, fei.” Nicht alfo der Ackerkauf
felbft, fondern vielmehr die durch denfelben ſymboliſch gethätigte
Aneignung des auf dem Thopheth Taftenden göttlichen Fluchs, wel
cher in der Verſtoͤrung Jeruſalems durch die Römer feine fchließliche
Bollziehung fand, bildet dasjenige Moment, in welchen die Jeremias⸗
ftelle fich bier erfüllte. —
Die Stelle aus Sacharja dient derjenigen des Jeremias nur zur
Ergänzung; und weil die letztere dem Evangeliften als die wefents
lichere gilt, nennt er den Sprecher der erftern nidht einmal mit
Namen. Jeremias bezeichnet ihm den erfauften Ort; Sacharja den
Preis, um den die jüdifche Obrigkeit denfelben kaufte. Zreten wir
den Worten Sacharja's näher. Der Herr fpricht dort zu feinem uns
dankbaren Bolfe, und ftellt Sich dar als deflen Hirten, der bad
mit dem Stabe Beh, bald mit dem Stabe Sanft fie, die Kinder
Iſraels, geweidet habe. — Aber dieſe erkannten feine Hirtentrene
nicht an, fondern traten immer wieder ab von feinem Wege, und vers
achteten feine Unterbirten, die Propheten, und unter Diefen na
mentfich auch den Sacharja, weldyer Elagt, Daß er, und in ihm der
Herr felbft, der ihn gefendet, ihnen „mehr nicht, als den ges
ringften Knechtswerth gelte: Dreißig Silberlinge, und
Daß fie ihn Hiemitabzuläöhnen glaubten.” Für diefes frevle
Berhalten droht ihnen Zehova Unheil. Er ſpricht zu Seinem Seher:
„Wirfes hin, daß es dem Zöpfer gegeben werde, d. h.
ichleudere e8 als einen Sündenlohn in den Koth jenes verfluchten
Aders, wo der Zöpfer fein Werk hat, des Aders Thophethl! —
„Et,“ fügt der Herr in heiliger Ironie hinzu, „ein trefflicher
Preis, dep ih werth geachtet bin von ihnen!” — „Und
ih”, fährt der Prophet fort, mm von ſich felber redend, „nahm
die dreißig Siiberlinge, und warf fie in das Haug des
Herren, Daß fie dem Töpfer gegeben würden,” — Alſo Des
376 Das Heilige.
Tempel wird, und zwar auf göttlichen Befehl, behandelt, als ob er
der Ader Thopheth wäre. — Eine furdhtbare prophetifche Berfinn-
bildlichung der Wahrheit, daß felbft der Tempel zu feiner Zeit un-
ter dem Fluche Gottes zufammenbrechen werde. —
Die Stunde diefes angedrohten Zorngerichts war nahe herbeige-
kommen, als fogar auch Der, in welchem die Hirtentreue Gottes fich
aipfelte, Seitens Iſraels einer Spottfumme von dreißig Silderlingen
gleichgefhäßt wurde. Für dieſen Preis fchlug Judas in Ber:
tretung feines Volkes feinen Antheil an dem Heiland los, —
und die „Kinder Ifrael” in ihrer Obrigkeit erhandelten hiefür den
Heiligen, um ihn zu erwürgen. — Dadurch aber, daß der Berräther
verzweifelnd den Mörderlohn. wieder von fich fehleuderte, und in dem
Tempel warf, fiel das Blutgeld — (ein fhlimmes Zeihen!) —
der Gemeine Iſraels wieder zu. — Jener nicht ohne Fügung des
richterlichen Gottes fich ereignende Akt der Zurüdichleuderung des Blut-
geldes in das „Haus des Herrn‘ mahnte fchon fchauerlich bedeutfam
an die dreißig Silberlinge des Sadarja, und fonnte nur da⸗
hin auögelegt werden, daß Gott der Herr feine damals in der ſym⸗
bolifchen Handlung feines Propheten über Jeruſalem und deſſen Hei-
ligthum musgefprochene Drohung mit verftärktem Nachdruck jetzt
erneuere; umd der Umſtand, daß die ifraelitifhe Obrigkeit fogar auf
den Gedanken fam, für den „Lohn der Ungerechtigkeit” das mit dem
Fluch belegte Aderfüd Thopheth anzufaufen, drückte jener Deutung
vollends das Siegel auf. — Es liegt fomit Far am Tage, daß der
Geift der Weiffagung fowol die Worte bei Sacharja, als diejenigen
bei Jeremias mit bewußter Beziehung auf die erft nad Jahrhun⸗
derten in Jeruſalem eintretende Begebenheit ſprach und faßte; und
daß Gott den Handel zwifhen Judas und den Oberen Sfraels
nur Darum die in fo auffallender Weife jenen alten Prophetenfprüchen
entfpredhende Geftalt gewinnen ließ, weil Er der undankbaren
Heerde feines Volks ein neues handgreiflihes Wahrzeichen geben
wollte, daß die Zeit ihrer Berderbensreife, aber auch die ihres
lange vorher gedrohten Untergangs mit Schreden nun herbei-
gefonmen fe. — Mit vollem Rechte durfte darum Matthäus ſchreiben:
„Da it erfüllet, das gefagt iſt. — Wirkliche Prophezeiun—
gen fanden ihre fchließliche Verwirklichung. — Wie der heilige Geift
bei Sacharja beftimmt an die Silberlinge des Judas, fo hatte
er bei Jeremias eben fo beftimmt an den Kauf des Töpferaders
aan, \
Des Berräfpers Ende. 377
durch die Priefter und Nelteften gedacht. Der Vorwurf blos will⸗
fürlider und allegorifirender Anwendungen altteftamentlicher
Ausſprüche und Vorgänge auf neuteftamentliche Ereigniffe trifft die
Evangeliften und Apoftel nirgends, —
Wir fcheiden mit tieferfchütterter Seele von der graufigften Stelle
der ganzen Baffionsgefchichte, und rufen mit größerm Rechte noch, als
der Prophet einft dem Könige von Babel, dem unfeligen Jünger das
Wort des Abjchieds nah: „Wie bift du vom Himmel gefallen, du
heller Morgenſtern!“ — Wie nahe fann man doch dem Herrn ftehn,
und dennoch, wenn man fein Herz nicht bewacht, eine Beute des
Zeufeld werden! Wie Vieles kann man an Gnaden und Gaben von
Ihm empfangen haben, und durch treulofes Haushalten mit Denfelben
doch den furchtbarften Bankbruch erleiden! — Wer Chrifto ſich ergibt,
daß ers nur thue ohne Vorbehalt! Wer Gemeinfchaft mit ihm
begehrt, daß er mur mit allezeit offener Seele vor Ihm wandle!
Wer von einem Zehltritt übereilt wird, daß er nur ohne Verzug den
Thron der Gnade fuche! Und wer von einer Sünde fich beherrfcht
weiß, daß er um Alles nicht ablafje zu wachen und zu beten, bis durch
die Gnade deffen, der der Schlange den Kopf zertritt, die Macht der-
felben gebrochen ift! — Der Keim, aus welchem, wenn er von der
Hölle befruchtet wird, ein Judas erwachfen kann, liegt in uns Allen,
Geben wir dem heiligen Geifte Raum, daß er ihn zerftöre; und beten
wir täglich mit dem alten Kirchendichter:
Wenn Teufel, Höfe, Tod und Welt,
Und Sünde, eb’ ich's merfe,
Mir taufendfahe Netze ſtellt,
Sp gib mir Sieg und Stärke!
Lehr’ mi, o mein Herr Iefu Chriſt, —
Du kannſt's, weil du allmächtig hit, —
Den Satan untertreten. — Amen.
878 . Das Hellige.
XXXI.
Chriſtus vor Pilatus.
Wenn Paulus Apoſtelgeſch. 14, 16 zu den heidniſchen Lyſtrenſern
ſagt: „Gott habe in vergangenen Zeiten alle Heiden
ihre Wege wandeln laffen“, fo geht feine Meinung keineswegs
dahin, es habe Gott ſich um die Heiden nicht befümmert, noch ihrer
Führung und Erziehung fi angenommen, Vielmehr fügt der Apoftel
ſelbſt gleich nachher hinzu, Gott habe ſich aud an ihnen nicht unbe-
zeugt gelaffen. Sein Gedanke ift vielmehr der, der Allmächtige habe
im Intereſſe eines die Welt umfaffenden Heils- und Friedensplanes
den Völkern außer Ifrael für eine Weile Raum zu dem Verſuche ges
ben wollen, wie weit fie e8 aus eigenem Dermögen im Werke fittlicher
Vervollkommnung und wahrer Selbftbeglüdung bringen könnten. Zur
Zeit der Erfcheinung Ehrifti hatte die Welt in diefen Verſuchen ihre
Kraft erſchöpft; und nicht zu leugnen iſt's, daß in Gewerbsfleiß,
gemeinnügigen Erfindungen, gefellfchaftlichen Organifationen, fo wie
in Staatsverfaffungen, in Kunft und Wiffenfchaft Großes genug ges
eiftet war, um in dem Menfchen immer noch den gefallenen König,
den einftmaligen Beherrſcher der Erde zu verrathen. Das römiſche
Reich bildete gleichfam den Vereinigungspunft und Stapelplag alles
Hehren, Glänzenden und Schönen, was die menſchliche Schöpferfraft
im Laufe der Zahrtaufende zu Stand und Weſen brachte.
War aber das römische Weltreih nun ein Gottesreih an Er-
leuchtung, Sitte und innerer Befriedigung? Fragt die Gefchichte, und
fie wird euch fagen, daß in dem Momente, da man hätte denken follen,
es müffe jegt ein ſolches fein, ftatt der Wahrheit der folternde
Zweifel, ftatt der Sittlichkeit das raffinirte Laſter, und ftatt des Frie⸗
dens ein allgemeines inneres Mißbehagen die Menfchheit beherrfchten,
und der mit dem Beften und Köftlichiten aller Nationen ausgeftattete
Rieſenſtaat gerade auf dem Gipfelpunfte feiner Herrlichkeit alle Symp⸗
tome einer nahen Auflöfung an ſich trug, und wirklich unaufhaltfam
feinem Untergang entgegenreifte,
Wir werden fihon heute, jedoch noch gründficher im ferneren Ver⸗
lauf unferer Betrachtungen, Die Belanntichaft eines Mannes machen,
Chriſtuß vor Pilatus. 379
der, als geborner Patrizier der Blüthe feines Volkes, des römifchen,
angehörig, und auf der Höhe der Bildung feines Jahrhunderts ftehend,
das damalige Heidenthum nad) allen Seiten hin vertritt, und unfre
fo eben ausgefprochene Behauptung durchaus beftätigt. Diefer Mann
it Bontius Pilatus. Als ein lebendiger Spiegel feines Volkes
und feiner Zeit durchfchreitet er die PBaffionsgefchichte; und bedürften
wir etwa fr unfere Ueberzeugung von der Nothwendigfeit einer
Welterlöfung, oder der Rechtzeitigfeit der Erfcheinung Chrifti, einer
neuen Stärkung und Befeftigung, fo wird eine nachdenfende Betrach⸗
tung jenes Mannes, der den interefjanteften und bedeutfamften Ziguren
der Leidensgefchichte beigehört, auch Diefe uns gewähren.
Johannes 18, 28 -30.
Da führten fie Iefum von Kaiapha in dad Richthaus. Und es war früh. Und fie
felbft gingen nicht in das Richthaus, auf daß fie nicht unrein würden, fondern Oftern
eſſen möchten. Da ging Pilatus zu ihnen heraus, und fprah: „Was bringet ihr für
Klage wider diefen Menſchen?« Sie antworteten und ſprachen zu ihm: „Wäre dieſer
nicht ein Mebelthäter, wir hätten ihm dir nicht überantwortet.“
Wenn in einer leife bewegten Waflerfläche die Sonne wiederfcheint,
fo tritt und an einem Punkte diefes Naturfpiegels ihr volles Bild
entgegen, und faft will uns bedünfen, die Königin des Himmels fei
von ihrem Wolfenthrone in die Ziefe der blauen Fluth herabgeftiegen.
Zugleich aber ftrahlt in verjüngterem Maaßſtabe das majeitätifche
Geftin uns auch wieder aus jedem kraͤuſelnden Wellchen an, und
Alanzdurchwoben und fonnendurdwirkt erfcheint, fo weit Das Auge
reicht, Das ganze Gewäfler. In ähnlicher Weife wirft uns die heilige
Paffionsgefhichte als Ganzes den vollitändigen Umriß des .
göttlichen Erlöfungsplanes zurück; jedoch fpiegelt ſich der Friedensrath-
fhluß des Allerhöchiten auch wieder in jedem einzelnen Zuge dieſer
Geſchichte, wie geringfügig und unfcheinbar derfelbe audy immer fein
mag. Wir werden heute Gelegenheit finden, und auf's neue hiervon
zu überzeugen, Für wenig bedeutend möchte man den hiftorifchen Ab-
ſchnitt halten, vor dem wir mit unferer Betrachtung ftehen; und doch
iſt aud) er wieder ganz dazu angethan, uns das Bürgen- und Mittler
thum des Herm mit den hellften Schlaglichtern zu beleuchten.
Wir richten den betrachtenden Blick zuerft auf die Abführung
Jeſu zu Bilatus; dann auf den Cintritt Deffelben in das
380 Das Heilige.
Richthaus; und endlih auf den Beginn der rihterliden
Verhandlungen.
Gebe auch zu der heutigen Paſſionsſtation der Geiſt der Wahrheit
uns das Geleite, und lehre er uns ausbeuten zu unſerm Heil, was
wir ſchauen und vernehmen werden!
1.
Der Tag iſt eben angebrochen; und ihr wißt, was für einer! Der
verhängnißvollfte, entſcheidendſte und folgenreichſte Tag der Welt. Mit
ſchauerlichen Inſignien begrüßt er unſern Herrn. In blutigem Ge⸗
wande, den Dornzweig zum Kranz für ſeine Stirne in der einen, in
der anderen Hand die Geißel, den Todesbecher und das Fluchholz,
naht er ihm. Ueber uns aber geht er auf, mit der Friedenspalme,
dem göttlichen Freibrief und der himmlifchen Lebenskrone. O heilger
Freitag, Zag der Erbarmungen Gottes, Geburtstag unferer ewigen
Erlöfung, fei uns gefegnet, fei auf den Knieen von uns gegrüßt! —
Mir treffen die heilige Stadt in ungewöhnlicher Bewegung. Auf
den Straßen wogt's von Menſchenmaſſen. Ein Schaufpiel, wie Das
eben fich entfaltende, erlebte man noch nie. Der ganze hohe Rath
hat fih in feiner Gefammtheit aufgemacht, um in feierlicher Progeffion
einen zum Zode verdammten Delinquenten dem römifchen Gerichts⸗
bof zuzuführen, und diefem die Beftätigung des Urtheils abzutroßen.
Und wer ijt der Dahingefchleppte? Derfelbe, welcher einft in der nem-
lihen Stadt unter gleihem Zufammenlauf des Volks mit raufchendem
Hofiannaruf empfangen, und wie niemals Einer zuvor erhoben und
gefeiert wurde, Jeſus von Nazareth it's, welchen damals der Jubel⸗
hor umklang: „Gelobet fei, der da kommt im Nanıen des Herm!“
und welchem felbit die Feinde das Zeugniß nicht verfagen fonnten,
daß in ihm ein „großer Prophet” unter ihnen aufgeftanden ſei. Jetzt
begegnet er uns als ein Fluch- und Zegeopfer defjelben Volkes, Das
ihm einft Palmen geftreut und Kränze gewunden! So hat fih8 mit
der Gunft der Welt, und fo viel Wahrheit ift an dem Sprichwort,
daß „die Stimme des Bolfes Gottes Stimme” fei.
Nach dem Palaſte des Herodes geht der Zug. Hier nemlich pflegte
der Zandpfleger zu refidiren, wenn ihn fein Amt von Cäſarea am
Meere, wo er feinen regelmäßigen Wohnfiß hatte, nad) Jeruſalem
führte. Es ift bekannt, daß die römischen Kaifer die verfchiedenen
Landestheile ihres weiten Reichs durch Prokonfuln oder Statthalter
verwalten ließen. Diefen aber waren für Die einzelnen ‘Provinzen
Chrikus vor Pilatus. | 381
ihrer Negierungsbereiche Profuratoren oder Landpfleger beigegeben,
welche die Steuern zu erheben hatten, und in Gerichtöhändeln in
höchfter Inſtanz entfchteden. In kleineren Landfchaften vertraten Letz⸗
tere nicht felten ganz die Stelle jener Gouverneure; wie dies unter
anderen auch in Ju däa der Fall war, welches man fammt Samarien
der Provinz Syrien einverleibt hatte. Diefen Männern wurde ins»
gemein nachgefagt, daß fie gewohnt feien, ihre einflußreichen Stellungen
im Intereſſe ihrer Habfucht auszubeuten, und an ihrem Namen hafs
tete Darum der Ruf der Ungerechtigkeit und Härte. Wo fie erfhienen,
begegneten ihnen nur das Mißtrauen und die geheime Erbitterung
ihrer Untergebenen; und lediglid durch Anwendung militärifcher Ges
walt gelang es ihnen, ihren Befehlen Nachdrud zu verfchaffen, und
die immer drohenden Volksaufftände niederzuhalten. Pontius Pis
latus war nad Abfekung und Verweiſung des Vierfürften Archelaus
(im Jahre 6 nach Ehrifti Geburt) der fechste Landpfleger in Yudän,
Aus Lulas 3, 1 erhellt, daß er bereits, als Johannes der Täufer in
der Wüfte auftrat, fein Amt bekleidete, und fomit in Paläftina die
ganze dreijährige Wirkſamkeit des Herrn erlebte. Zehn Jahre hindurch
wußte er fich, und zwar unter dem Kaifer Tiberius, auf feinem Poſten
zu behaupten, was, da es einen fehwierigern wohl im ganzen römifchen
Reiche nicht gab, feiner Herrfcherfunft alle Ehre macht. Denn abge
fehen davon, Daß er's mit den Juden, der klügſten, aber auch der
intriguanteften aller Nationen zu thun hatte, gab es Fein anderes Volt
auf Erden, dem die Zremdherrfchaft in folhem Maaße ein Greuel
war, ald eben diefem. Wie weit auch das Volk der Juden feine einft
malige Herrlichkeit fchon hinter ſich hatte, fo blieb es troß aller feiner
Verkommenheit fi) doc, feines Adels als des auserwählten Volkes
Gottes nach wie vor bewußt, und glaubte ſich, allerdings auf große,
jedoch fehr mißverftiandene Verheißungen geftüßt, berufen, dereinft die
ganze Welt zu beherrfchen. Und fie, dieſe freigeborenen Kinder Abras
hams fanden fi nım in ein fremdes Joch, und noch) dazu in ein heid⸗
nifches gefchmiedet! Was Wunder, daß fie ed nur mit verbiffenem
Ingrimm, wie ein gefangener Löwe fein eifern Halsband, trugen, und
der, der zunächft die Gewalt über fie übte, von vornherein ein Ges
genftand ihres bitterften Haffes war! Daß aber auch Pilatus feiners
ſeits feine fonderfiche Liebe für dieſes Volt empfinden konnte, umd
demfelben, wo Gelegenheit dazu fi) bot, gerne feine Oberhoheit fühl
bar machte, ift ebenfo begreiflich; fo wie es auch fehwerlich Jemanden
882 Das Heilige.
befremden wird, daß Pilatus lieber das meift von Heiden beimohnte,
und durch feinen Hafen mit der übrigen römifchen Welt um lebhaf⸗
teften Verkehr ftehende Caͤſarea zu feinem feften Wohnftg wählte, als
die Metropole der hochmüthigen und immer zum Aufruhr geneigten
Hebräer. Zu verfchiedenen Malen kam es unter feiner Statthalter
[haft in Jeruſalem zu ernftlihen Volksaufläufen, weiche nur durch
Aufgebot der in der Burg Antonia einfafernirten roͤmiſchen Befakung
gedämpft werden fonnten. Solche erneuerten Vleberwältigungen aber,
denen dann natürlich nur eine um fo ftrengere Handhabung der Re
gierungszügel Seitens des Landpflegeramtes zu folgen pflegte, er
bitterten das Voll nur noch immer mehr. Uebrigens gehörte Pilatus
noch nicht zu den härteften und ftrengften der Profuratoren ; und wem
er, wie unter Anderm aus Lucas 13, 1 erhellt, zuweilen blutige Yuftiz
geübt, fo mag er dazu wohl Anlaß genug gefunden haben. — Könnten
wir den Juden, und namentlich ihren SPBrieftern und Aelteſten, bei
ihrer Prozeffion zum Prätorium des Nömers in die Herzen ſchauen,
fo würden wir eine lodernde Hölle von Wuth und Aerger darin er
bliden. Es war ihnen entjeglich, zu diefer offenen Kundgebimg ihres
Unterwürfigfeitsverhältniffes unter die fremde Herrichaft fih gezwungen
zu fehn. Aber der Blutdurft, mit welchem fie nad) der Vertilgung
des verhaßten Nazareners lechzten, überwog diesmal felbit ihren maaß⸗
loſen Ehrgeiz und unbegrenzten Nationalftog. Schäumend vor Uns
muth, ja gefeflelten Hyänen gleich in ihre Bande ftürmend, ziehen
fie mit ihrem Schladhtopfer hin, und müffen, ohne e8 zu wollen, durch
diefen ihren Aufzug thatfächlich bezeugen, daß „das Scepter von Juda
entwendet” und mithin Die bereitS von dem fterbenden Jakob mit
Beftimmtheit vorher verfündete Zeit der Erſcheinung des „Helden,
welchen die Völker anhangen” würden, nunmehr herbeigelommen fei.
Ja, fie müffen ein Mehreres noch beurfunden denn dies, und vermittelft
ihrer Bosheit die Nothwendigkeit einer VBerföhnung außer Frage ftellen,
wie eben der gebundene Mann, der an ihrer Spike ging, fie ins
Werk zu ftellen hinzog.
Gewiß wird ein Jeder hier etwas davon fühlen, daß Gott eine
wiifte Srevlerrotte, wie wir fle hier vor uns haben, nothwendig auf
ewig verfluchen mußte, wenn nicht ein ftellvertretender Bürge den
Fluch derſelben auf fi) nahm, und der göttlichen Gerechtigkeit an
ihrer Statt genug that. Dem Allerhöchften die Zumuthung machen
wollen, daß er auch eine folche Belialsbrut ohne Weiteres begnadige,
Coritus vor Pilatus. 383
hieße den Umſturz aller fittlichen Weltordnung fordern, und von Bott
nichts Geringeres begehrten, als daß er mit ſich felbit zerfalle, und
aufhoͤre Gott zu ſein. An die Moͤglichkeit eines Seligwerdens fuͤr
ein Geſchlecht, wie das adamitiſche, ohne daß eine Sühne vorherging,
fann Die Bernunft nur glauben; und faum erfcheint irgend Etwas
in der Welt vernünftiger, als die biblifche Lehre von der Erlöfung der
Sünder durch den vermittelnden Daywifchentritt des Sohnes Gottes,
Ich geftehe, Daß ich Alles, was in mir ift, in die namenlofefte Aufres
gung und Beftürzung verfeßt fühlen würde, wenn id) plößlich den drei⸗
mal heiligen Gott ohne eine Dazwifchenkunft, wie die befagte, um den
nichtöwürdigen Haufen Dort zu Serufalem den Arm der verzeihenden
Liebe fchlingen ſähe. Es würde mir in diefem Falle nichts übrig blei-
ben, als entweder an Gott, oder an meinen eignen Augen irre zu wer:
den. Nun ich aber inmitten jener Uebelthäter das Lamm erblide, Das
der Welt Sünde trägt, dürfte Gott felbft den Verſunkenſten unter je
nem Natterngezüchte die Pforten des Paradiefes öffnen, und ich würde
darin weder etwas Näthfelhaftes erblicken, noch irgend Anftoß daran
nehmen, So ift Das Lamm gegenwärtig fehon die Leuchte im Haufe
und im Regimente Gottes, und das Kreuz der Schlüffel zu den tiefften
Geheimniffen Seiner Führungen und Wege. — Dort kommt er her, der
hehre Friedensfürft, gebunden und über und über mit Schmach bes
dedt. Wer vermöchte in diefes Schaufpiel fih zu finden, und ferner
noch an das Walten einer göttlichen Gerechtigkeit über der Welt zu
glauben, wenn wir in Zefu hier nur den Jeſum an und für ſich,
und nicht zugleich den Mittler und Hohenpriefter erfchauen
dürften. Nun wir aber um feine Bürgenftellung wiffen, fühlen wir
und von feiner unendlichen Emiedrigung nach wie vor wohl aufs
tiefite erfchüttert und bewegt; aber nicht mehr betroffen nod be>
fremdet. Sa, wir ertragen es fogar, daß man uns fage, Die ficht-
baren Marter, die ihn überfluthen, feien nur die ſchwachen Wieder:
fpiegelungen ungleich jchauerlicherer Foltern, die er im Verborgenen
erleide, und die Schaar, die mit Schwertem und Spießen ihn ums
gebe, bilde nur einen Theil der ihn geleitenden Eskorte, indem ein
anderer Theil, ein umfichtbarer, hinter den VBorhängen unmittelbar vom
Satan jelbit befehligt werde. Denn wollte Chriſtus unfer 2008
erfüllen, fo wiffen wir ja, daß Diefes jene Schrecken alle in fih
barg. Es traf ihm nichts mehr noch weniger, als was um unferer
Sünden willen uns zugemeflen war. Wie unausipreihlich Großes
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am Zede, wıd werden ıdan überaurrerten Deu Heiden, im
m vericetten, u acheln und m Famumr* Die legtere Ueberan⸗
were ieben ir jegr sur Veliierung femme In ibr macht Jirael
Das Mrs teuer Stuten ee Ira wetteamal liefets, um ge
Heizerten GSegenbude. ſetren Bruder Jeiſerb u Me Unbeidwürenen
mm? Aremter aus. Jualeih rerimbudishes im Dieter lleberweiiung
ven eigenes Stifii Gs tritt das Seil der Bel seht ibm u
gedacht, m areaulıttn Undank oı die Heiden ab, ım felbit fortan
m Finſterniß ımd Schatten des Tedes zu verihmachten!
2.
Ter Zug lanat ver dem Palaſte des Profuraters m. Was begibt
ih mm? Sie ergreiien ihren Gebundenen. und toben ibn gewaltjam
in das geörmete Portal des Hauſes hinein, mübrend fie jeiber draußen
por der Pforte iteben bleiben. Warum dies? „Auf daß tie,“ meldet
Die Geichichte, „Da fie am Abende dieſes Tages das Diters
lamm eiien wollten, ſich nicht verunreinigten.“ Cie
glaubten nemlich, mit in Gemäßbeit des richtig verſtandenen göttlis
hen Geiepes, iondern auf Grund willtürlich erfumdener rabbinifcher
Chris vor Pilatus, 385
Sapungen einer ſolchen Verunreinigung dadurch fich auszufehen, daß
fie ein Haus betraten, und obendrein ein heidnifches, in welchem ſich
Sauerteig finden möchte. Daß ihr Gefangner fi) befudle, dawi⸗
der haben fie nichts. Ja, fie flürzen ihn gefliffentlich in die Verun⸗
reinigung hinein, umd floßen ihn damit in einer handgreiflichen Syms
bolik als einen Zöllner und Sünder aus der Gemeinfchaft der Kinder
Iſraels aus. Dies Alles mußte fih aber alfo fügen, damit die
GSeftalt des Sünderbürgen immer ausgeprägter zu Zage träte,
und ein Jeder in ihm den allgemeinen Miffethäter erfennete, der kraft
eines geheimnißvollen Uebertrags Alles auf fich genommen, was ung
verdammte. Kein Zug der Paifionsgefchichte iſt bedeutungsleer. Ue⸗
berall ift Abficht, höherer Plan, göttliche Tiefe. Entſetzlich ift Die
Scene diefer gewalfamen Hineindrängung . des Heiligen Iſraels in
das Haus des Heiden. Eine Bosheit gibt fi) darin fund, die des
abgefeimteften Damons würdig wäre. Wie würde, wenn ſich's bier
nicht um die Erlöfung der Welt gehandelt hätte, der Himmel dazu
haben ſchweigen, und feine Zomesfchalen zurüdhalten dürfen? Aber
e8 handelte fich hier eben um die Rettung der Welt, und darım ges
fhieht es, daß das Lamm fi Alles, auch das Unwuͤrdigſte und
Schmaͤhlichſte, ſchweigend gefallen läßt. Man möchte blutige Thränen
weinen, wenn man den Mann, der die Liebe jelber war, fo von den
toben FZäuften der undankbaren Menge bingeftoßen fieht. Doc weinen
wir nicht über Ihn, ſondern über uns und unfer Gefchlecht, das
ſolcher Scheußfichkeiten und Zeufeleien fähig ift. Ueberſehen wir aber
auch das chriftliche Sinnbild nicht, das auch in diefem gefchichtlichen
Zuge wieder und entgegen tritt. Nicht dahin blos, wo fcheinbar
nur, fondern auch wo wirkliche und ernſtliche Gefahr uns drohte: in
die Schauertiefen de& Gefehesfluhs, in den Kerker des Todes, ja,
in den Abgrund der Hölle ift Chriſtus allein für uns. hineinge-
gangen, um alle die Schreden, die dort uns bereitet waren, an feiner
gebenedeieten Perfon ihre Macht erfchöpfen, und uns nur Frieden,
Segen, Heil und Freiheit zurüd zu laſſen.
Was aber wollen wir zu dem Beginnen der Suden fagen, die ‚mäh-
rend fie fich fein Gewiflen daraus machen, des Sauerteigs aller Gott-
Ioflgfeit voll die Meutererhand an den Heiligen Gottes zu legen, zu
gewiftenhaft ſich gebährden, um das Haus eines unreinen Heiden zu be-
treten, weil fie Dafelbit mit natürlichem Sauerteige in Berührung fom-
men Lönnten? Welch grelles Exempel ftellen diefe übertünchten Gräber
25
386 Das Heilige.
hier uns zu den Worten Des Herrn Watt. 23, 23 auf: „Wehe euch,
ihr Heuchler, Die ihr verzehntet Münze, ZH und Kümmel, und laſſet
dahinten das Schwerfte im Geſetz, nämlich Das Gericht, Die Barmber-
zigleit und den Glauben!” Und welchen erjchöpfenden Kommentar
liefern fie uns zugleich zu dem darauf folgenden Ausſpruch: „Ihr
verblendeten Leiter! Müden feiget ihr, und ihr verſchluckt Kameelel!“
Doch wollte Gott, Diefe Elenden wären die Einzigen ihrer Art ge
blieben! Aber in den mannigfaltigften Zärbungen und Geftalten bes
gegnen fie uns felbft inmitten der Ehriftenheit immer wieder. Wer
fennt fie nicht, die Leute, welche zwar auf das ängftlichfte von den
Sammelpläpen der Welt fi fen halten, umd von jeder gejellichafts
lichen Berührung mit derfelben fich forglichft hüten; aber Darüber
mit leichter Mühe hinwegzukommen wiffen, daß fie in allen Künften
unlauterer Berftellung, liebloſen Splütterrichtend und gehäffigen After
redens nicht nur wetteiferu mit der Welt, fondern Die Welt fogar
noch überbieten? Wer kennt fie nicht, Die, wer weiß, wie ſchwer ſich
zu verfündigen glauben würden, wenn fie am Sonntage auch nur Die
geringfte Arbeit verrichten, oder bei irgend einer gottesdienftlichen Feier
nicht Die erften fein wollten, während es ihnen nicht in den Sinn
fommt, fi) den geheimen Mammonsdienft, dem fie ergeben find, ale
Sünde anzurechnen? Gie, die um feinen Preis in den Räumen
eines Schaufpielhaufes, oder auf den Brettern eines Ballfaals ſich
blicken ließen, — woran fie übrigens immerhin wohl thun; aber unbe
denflich fich’8 vergeben, daß fie für jene Enthaltung durch Theilnahme
ihrer Bhantafie an allen Genüffen und Freuden der Welt fi) reich-
lichſt ſchadlos halten, und in ihrer Weife nicht minder, als die luf—⸗
tigften Kinder der Zeit, auf die fie vornehm herabfchauen, von Eitel-
feit jtrogen? Sie, die bei Stiftungen wohlthätiger Anftalten und Vers
eine nimmer fehlen zu dürfen, und ihre Namen in vuorderfter Reihe
den Lijten der Beitragenden einzeichnen zu müffen vermeinen, während
fie fid) aus dem verſteckten Lug und Zrug, den fie in ihrem Handel
und Wandel treiben, oder aus ihrer Ungerechtigkeit und Härte gegen
ihre Ilntergebenen, oder aus ihrem Geizen und Jagen nad) vergäng-
lichen Chrentand durchaus fein Gewiffen machen? Eine liftige Art,
an den fittlichen Anforderungen, die Gott an unfer Verhalten ftellt,
ohne Gewiſſensbeſchwer fich vorbei zu machen, ift Die, daß man flatt
dein göttlichen Joche fich zu beugen, ein anderes, das dem Sleifche
mehr behagt, ſich felber formt und auflegt, und dadurch fich fogax
Chriftus vor Pilatus, 387
den Schein gibt, als vollbringe man noch mehr, ald man nad
Gottes Gebot zu thum ſchuldig ſei. In diefer Weife eniftanden die
Satzungen der talmudiftifchen Rabbinen, welche, obwohl fie nichts als
leicht zu verrichtende Epercitien find, denen, die fie üben, den Schein
einer ganz befonderen Frömmigkeit, Gewiffenhaftigkeit und Pflichttreue
leihen. In diefem Wege entftand ebenfalls die feichte und fentimentale
Moral unferer neueften Aufgeklärten, dieſes Gewebe allerdings ans
fprechender, aber nur von der Oberfläche des fittlichen Bewußtfeins
abgefchöpfter Lebensregeln, die fich ebenfo bequem befolgen lafjen, als
ihre Befolgung wohlfeilften Kaufes zum tugendlichften Anftrihe ung
verhilft. Aber es irrt, wer da wähnt, durch ſolche Heiligkeitfurrogate
mit dem Allerhöchften ſich auseinanderfegen zu können; und es ver-
mehrt und läftert Ihn, wer Seine heiligen Augen mit „Bechern und
Schuͤſſeln“ zu beftechen hofft, die „auswendig” zwar „rein gehalten”
aber „inwendig voll Raubes und Fraßes find.” Der in der Höhe
wohnt, begmügt fi) ebenfowenig mit bloßen Abfchlagsfummen auf
das Ganze des Gehorſams, das wir ihm fchulden, als er an Stelle
des gediegenen Goldes der von feinem Geſetze erforderten Gerech⸗
tigkeit, die Nechenpfennige unferer felbftbeliebten Werke annimmt.
„Des Herrn Augen“ fprady der Prophet Hanani zum Könige Aſa,
„Ihauen über alle Lande, daß er zur Seite ſtehe denen,
fo von ganzem Herzen an ihm find.” „Wer böfe tft,” ruft
der Herr, „fet immerhin böfe; und wer fromm ift, fet immerhin
fromm!“ Er will den ganzen Menfchen haben, und nicht Bruchtheile
nur von ihm. Wer fich nicht entfchliegen kann, ohne irgend einen
Vorbehalt Seinem Dienft fi) zu bequemen, der verliert nichts, und
büßt nichts ein, wenn er fih ganz wieder zunidnimmt, und der
Welt und dem eigenen Belüfte zur Verfügung ftellt. Zwifchen Glau⸗
ben und Unglauben eriftirt fein Mittelding. Man gibt im Glauben
ſich felber auf an Gott; und wo Dies nicht gefchieht, da glaubt
man auch nicht, wie fehr man auch in Kirchlichfeit und gottesdienft-
lichen Werfen gleige. Die Belehrung ift eine neue. Geburf, und
nicht ein Flickwerk nur am alten Weſen. Ein harmoniſcher Organis-
mus ift Das Leben der Bottfeligfeit, und nicht eine Zufammenftüdelung
frommer Eingelnafte.
3.
Pilatus hats bald heraus gewittert, warım die Juden ihm ihren
Angellagten allein durch die Pforte fchieben; fühlt ſich aber Dadurch)
235*
388 "DaB Heilige.
fo wenig beleidigt, Daß er es ignorirt, und großmüthig mit der Frage
nach dem Zwed ihres Erfcheinens vor fie heraustritt. Er denkt, es
feien ja nur befangene und Eleingeiftige Juden, mit denen er es hier
zu thun habe, und eradhtet8 feiner Bildungsftufe wie feiner Würde
angemeffen, ihre befchränkten Vorurtheile zu tolerirn. Nur weift
er mit ihren Vorurtheilen zugleich die ewigen Offenbarungen von der
Hand, in deren Befiß fich die Juden befanden. Brüder, es fehlt
auch unter uns an Leuten nicht, Die, freilich nicht ohme große Ber:
fhuldung, eine ähnliche Stellung wie die, in der wir den folgen
Römer den Kindern Abrahams gegenüber hier betreffen, zu allen le
bendigen Ehriften eingenommen haben. Nicht zu leugnen ift es,
daß es Gläubige gibt, die an einer gewiffen Einfeitigfeit und geift-
loſen Befchränftheit im Urtheil über Dinge der Wiffenfchaft, der Kunſt,
oder des Lebens, kränfeln. Ihr Gereifteren am Geift möat auf dieſe
Einfältigen und ihren engern Gefichtäfreis immerhin mit einem ges
wiffen Mitleid niederfchauen. Wir wollen euch daraus fein Verbrechen
machen; denn es ift oft ſchwer, Diefes enge und bornirte Weſen zu
tragen. Wenn ihr euch aber überhaupt über jene Leutlein erhaben
dünft, und mit ihren Befchränftheiten auch die Wahrheiten, deren
Zräger fie find, nur vornehm dulden zu müffen meint, fo thut ihr
daran im höchften Grade übel, und werdet euren Dünfel fchwer be
zahlen müffen. Seid ihr in der That über diefe „Armen am Geift“
in allen Beziehungen hinaus, fo bleibt euch, wenn ihr das höchfte
Ziel eures Dafeins nicht verfehlen wollt, nichts übrig, als in den
wefentlichften diefer Beziehungen von euren ftolzen Höhen zu jenen
wieder herabzufteigen. Ja, herab müßt ihr zu ihrem Armenfünder:
Scemel, zu dem Bettelftab des Gnadendurftes, an dem fle gehen,
und zu dem Lazaruslager vor des reichen Mannes, d. i. des Herru
Ehrifti, Thür, in welchem ihr fie liegen feht; und müßt erfennen, daß
fie in Allen, was einen wahren und bleibenden Werth bat, weit
über euch hinaus find, und ihr gen „Mitternacht“ wandelt, wenn
nicht der Glaube, die Liebe und der Himmeläfinn jener unfcheinbaren
Liebhaber des Lammes auch euer Erbtheil werden. Es fei euch nicht
verwehrt, an Bildung, Weitherzigfeit und Reife des Urtheils es ihnen
zuvor zu thun, und fo weit der Geift von oben euch Spielraun dazu
eröffnet, feffellofer und freier euch zu bewegen. Ihr müßt aber mit .
jenen Geringen aus demfelben Kern gezogen fein, und auf derfelben
Lebenswurzel grünen, oder ihr bleibt auf der Höhe eurer „ geiftis
Chriftus’vor Pilatus. 889
gen lieberlegenheit* umd „freieren Umſicht“ Kinder des Todes, mäh-
rend fie aus den dunkelen Puppengehäufen ihres Bildungdmangels
einft als herrliche Gottesfalter fih gen Himmel fchwingen werden.
Sehet euch darım wohl vor, daß ihr nicht im entfeßlichften Sinne
des Wortes „das Kind mit dem Bade verfchüttet.* In einer Stadt,
wo, wie in der unſrigen, die Gefahr fo befonders nahe liegt, der
weniger anfprechenden Form und Schale halber auch den göttlichen
Kern, den Ddiefelbe umfchließt, von fich zu werfen, finde ich mid)
veranlaßt und gendthigt, mit verdoppeltem Nachdrud euch ſolche Bars
nung ans Herz zu legen.
Pilatus, heraustretend vor das Volk, beginnt zu demſelben: „Was
bringet ihr für Klage wider diefen Menſchen?“ Er winmt
den Standpuuft des Unglaubens und des Indifferentismus ein; aber
er weiß den Handel vorurtheilsfreier zu würdigen, al8 Die Juden, und
vermag nad) alle dem, was er über den Nazarener bisher vernommen
hat, und in dieſem Augenblide ihm perfönlich abfühlt, ſich's nicht zu
denfen, daß man demfelben irgend etwas Erhebliches werde zur Laſt
legen können, Und wie dem Pilatus, fo ergeht e8 Jedem, der nur eins
mal fi) herzu läßt, unbefangen in die heilige Schrift hineinzuſchauen.
Auch er wird fih eines Eindruds von der Unfträflichleit Ehrifti nicht
erwehren Eönnen, den binfort nichts mehr zu entlräften und zu er
füttern vermögen wird, Daß aber einmal wirklih ein Heiliger
im vollen Sinne diefes Worts die Erde betreten hat, muß dies nicht
ein großes, erflaunenswürdiges Wunder heißen? Hat dieſe Thats
fache nicht viel anderes Großes zu ihrer nothwendigen Borausfeßung ?
Folgt aus ihr nicht unabweisbar, dag den Ausfagen dieſes Gerechten
weit eher Glauben beizumefien fei, als den Lehren aller Weiſen
nad dem Fleifh? Nöthigt fie uns nicht zugleich die Ueberzeugung
auf, daß diefer Mann, der von ſolchem Glanz umfloffen aus der
Reihe aller übrigen Sterblichen heraustritt, von Gott zu ganz beſon⸗
deren Zwecken verordnet fein müffe? Leitet dann diefer letztere Ges
danke nicht nothwendig zu dem anderen, daß es mit den Martern,
welche wir über diefen Heiligen fich ergießen fehen, eine ganz außer⸗
gewöhnliche und geheimnißvolle Bewandtnig haben müffe? Und flieht
man ſich nicht endlich, bevor einem noch eine pofitive Offenbarung‘
Darüber zugegangen, zu dem Schluffe hingedrängt, es müfle dieſer
Unvergleichliche zum Retter und Heiland der fündigen Welt erfehen
fein? Schon im Wege eines vorurtheiläfteien und folgerehten Nach⸗
390 Das Heilige.
denkens ift es unmöglich, an ſolchen Betrachtungen vorbei zu kem⸗
men, Aber freifich, wo findet fich dieſe unbefangene und gejunde Res
flerion? Des natärlicden Menſchen Lingelehrigleit und Stumpffinn im
Bereiche der überfinnlichen und göttlichen Dinge hat keine Grenzen.
Auf des Landpflegers Frage, weſſen man denn Jefum zu befchuls
digen habe, erfolgt nun Seitens der Berkläger die wahnſinnig ſtolze
Antwort: Wäre Diejer nicht ein Uebelthäter, wir hätten
ihn dir nicht überantwortet! ” Ihr ganzer Zroß gegen den
verbaßten Römer tritt in diefer frechen Rede fchäumend an den Tag.
Es ift der Troß gefeffelter Sflaven, der Ingrimm angeletteter Hunde,
Zugleich gibt fich hier wieder in großartigfter Weile der rafende
Pharijäismus jener Rotte fund; denn fie morden die Unſchuld, umd
vollbringen ein Werk der Hölle, aber weil fie dies thun, fo muß es
recht gethan und fonder Zadel fein Kann. ſich der Hochmuth weiter
verfteigen? Ueberſehen wir indeflen nicht, daß fie mit jenem vermeſ⸗
jenen Worte zugleich nur die Verlegenheit zu verdecken hoffen, in Die
fie troß alles Schein des Gegentheils fich hinein verwidelt Haben,
Sie find fid) feines Dings bewußt, woraus fie eine gegründete An⸗
lage gegen ihren Delinquenten formuliven Lönnten, und meinen nım,
daß die Dreiftigfeit ihres Auftretens ſchon erfeßen werde, was ikmen
an thatfächlichen Zeugniffen und Beweifen gegen Jeſum abgeht.
Leider! verfehlen fie auch ihren Zwed nicht ganz. Pilatus läßt ich
in der That Durch ihre Entjchloffenheit imponiren, und ſetzt den er-
ften Fuß auf jene abfchüffige Bahn nachgebender Schwäche, auf meis
her wir ihn wider feinen Willen von Verbrechen zu Verbrechen fort»
geriffen, und endlich unter dem Hohngelädhter. der Hölle in den Ab⸗
gründen des ewigen Verderbens werden enden fehen. „So nehmet
ihr ihn Hin,“ ruft er den Verklägern zu, „und richtet ihn
nah euerem Geſetz!“ Nichtswürdiges Verfahren eines Richters,
der Recht und Gerechtigkeit handhaben foll auf Erden! Wir fehen
ſchon, wie wenig ihn daran gelegen ift, vb Jeſus Ichen bleibe, oder
fterbe; nur möchte er nicht gerne eines Menſchen Bist auf feine Seele
laden, dem fein Gewiffen als einem Schuldlofen Recht fpricht.
Nuchlofer als jener Römer ſtehen diejenigen unfrer Zeitgenoffen da,
welche zwar darin auch dem Landpfleger gleichen, daB fie nicht gem
perſönlich die Hand an Jeſum legen möchten, weil aud fie eines
gewiffen Grades von Ehrerbietung gegen Ihn. fih nicht erwehren kau⸗
nen; Die; aber frecheren. Buben, ala fie. felber. find, wenn auch insge⸗
Ghrifins vor Bilatns. 301
beim und verfiohlen nur, in ihrem Sunern, wie Pilatus öffentlich,
zurammen:. „Rehmet ihr ihn bin, und richtet ihm nach euerem Geſetz;“
und die es dann mit jubelnder Schadenfreude begrüßen, wenn Sa⸗
tansapoftel den Heiligen in den Staub herinterziehen, fein Evange
lium mit ihren höllifchen Läfterungen begeifern, und feinen Gläubigen
mit der Narrenlappe oder dem Heuchlerbrandmal Iohuen. Ja, ihr mit
dem ftillen Ergoͤtzen an den antichriftifchen Unternehmungen und him⸗
melftürmerifchen Bewegungen der Zeit, ihr follt wiſſen, daß Pilatus,
mit euch verglichen, ein Ehrenmann geweſen ift, und ihr eben fo zur
verläffig eines zwiefachen Fluches vor ihm würdig fetd, als ihr das
Malzeichen dieſes Fluches ſchon an der Stine tragt,
„Nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach euerem Ge-
ſetze!“ Ja, von Herzen gerne hätte fi der Heide an der Mitſchuld
der Ermordung diefes Gerechten vorbeigemacht. In dem Gleiſe aber,
das er einfchlägt, wird’8 ihm nicht gelingen. Er muß entweder für
oder wider Jeſum fich entfcheiden. Er ift genöthigt, entweder unter
Hintanfegung aller Privatrüdfichten die Sache des Heiligen zu vers
treten, oder zu der graufigiten Blutthat, die die Welt gefehen, mit
handelnd auch feine Hand zu bieten. Ein gleiches Gefchid aber, ihr
Freunde, wultet auch über und. Für eine neutrale Stellung in dem
großen Handel ift uns eben fo wenig, wie jenem, ein Raum gelaffen,
Auch mit uns kommt der Heilige Iſraels in eine zu nahe Berührung,
als dag wir an ihm vorüberhufchen Lönnten. Wenn wir ihm nicht
huldigen wollen, fo find wir gezwungen, ihn zu kreuzigen. Nein, wir
umfchiffen die Klippe nicht, ihn verwerfen zu müffen, wollen wir
und nicht entſchieden ihm ergeben. Zu laut bezeugt Er. unferem
Gewiſſen: „Ich bin der Herr,” als daB es uns gelingen -Lönnte,
durch ein bloßes flüchtiges Compliment und friedlih mit ihm abzu⸗
finden. Begehren wir und von ihm zu Idfen, fo bleibt und nur übrig,
in pofitiver Widerfeglichkeit zu ihm zu fprechen: „Wir wollen nicht,
daß du über uns herrfcheft. Gehe hinter uns!“ Und wehe, daß ich
beforgen muß, e8 werde bis zu folcher energifchen Abfertigung ihres
einigen Seligmachers ſchon mit Manchen unter uns gelommen fein!
Gnade. Gott. Diefen armen, beflagenöwerthen Seelen !
Die Juden fehlagen dem Pilatus die Hinterpforte, durd Die er Dex
Mitbetheiligung an dem gräßfichen Verbrechen des Ehriftusmordes zu
entrinnen. hofft, nor. dem Angefichte wieder zu, indem fie ihm auf ſein
Bug, berechnetes: „Rüchtet ihr.ihn nad: eue rem Gepapy’. Die
392 Das Heilige.
für ihn fo tief befhämende Antwort geben: „Wir dürfen Rie-
mand tödten.” Pilatus wußte, daß fie das nicht durften. Weihe
bis zur Gedankewerwirrung gefteigerte Verlegenheit verrieth er alte
damit, daß er, der oberfte Richter, den Juden felbft Die Vollziehung
eines Zuftizaktes anempfehlen konnte, zu dem ihnen nad) dem beſte⸗
henden Rechte feinerlei Befugniß zuftand! Oder ließ fih Pilatus etwa
zu feinem thörichten Ausfpruch verleiten, weil er noch feine Ahmmg
hatte, daß es Seitens der Verfläger auf eine Hinrihtung Jen
abgefehen fei? Auch dies wäre denkbar. Genug, fein erbärmlicher
Ausweichungsverfuch fcheitert gänzlich, wie er e8 verdiente. Einen
wahrhaft tragifchen Anblic gewährt es, wie die Umftände fo fidy fü
gen und verflechten muͤſſen, als folle Pilatus in die Blutſchuld mit
hinein. Und allerdings foll er, wenn er ſich nicht entichließen kann,
dem Herm Jeſu huldigend fein Herz zu geben; fo wie auch ein Je⸗
der unter euch, der hartnädig dem Aufruf zur Belehrung widerfirebt,
je länger je mehr in Folge göttlichen Gerichts das Maß feiner Sür
den erfüllen muß, und gendthigt wird, feine Berderbensreife zu be
ſchleunigen.
„Wir dürfen Niemand tödten.“ Sie durften's freilich nicht.
Geſchah es einmal, daß fie tumultuariſch einen vermeintlichen Keßer
. zu Tode fleinigten, fo wurde Dies von der römischen Obrigkeit viel
Seicht mit Schonung überfehen. Zu einer förmlichen Hinrihtumg aber
und namentlich zu einem Kreuzigungsakte konnten fie die höhere Ges
nehmigung nicht entbehren. Offen, wenngleich mit verbiffenem In⸗
grimm, geftehen fie diejes ihr Abhängigkeitsverhältniß vor dem römi>
hen Zribunale ein. Ihr Rachedurft gegen den Nazarener überwiegt
diesmal felbft ihren Nationalſtolz. Gefreuzigt fol er werden, der
Mann ihres Hafles, und mit Eclat zu Grunde gehen. Das find
ihre Gedanken. Aber e8 denkt Dabei das Seine auch der Allmäch⸗
tige in der Höhe. Wie lefen wir in unferem Zerte? Der Evan:
gelift bemerkt, e8 habe der gerichtliche Handel jene Wendung nehmen
müffen, „auf daß erfüllt würde das Wort Sefu, das er
fagte, da er deutete, weldhes Todes er fterben würde!“
Sohannes meint das Wort, das er Kap. 12, 32 uns aufbewahrte:
„Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, fo will
ich fie Alle zu mir ziehen.” Der Evangelift begleitet dieſes Wort
an der befagten Stelle mit der erflärenden Bemerkung: „Das fagte
er aber zu deuten, welches Todes er flerben würde,” In dem Ti
Chriſtud vor Pilatus. 393
multe des Richthaufes zu Jeruſalem erfcheint alfo unverfehens über dem
Haupte Jeſu ein göttlich Zeichen. Der Ratbichluß des ewigen Vaters
thut fih auf; und auch auf feinem Gnunde erfiheint, wie auf dem
Grunde des Höllenplans, für feinen eingeborenen Sohn — ein
Kreuz. Schon um der tiefen Symbolik willen, die es in fich fchließt,
wurde in dem vorweltlichen Friedensrathe das Fluchholz zu des
Mittlers Sterbebett erſehen. Das eherne Schlangenbild in der Wüfte,
fo wie die „Webeopfer‘ der heiligen Hütte fehatteten dasfelbe fchon
frühe dem Volke Gottes ab. Die dort um Gabbatha Berfammelten
müffen, ohne ſich's bewußt zu fein, ihre Hände reihen, um es in
die Wirklichkeit einzuführen. Jetzt ſteht's in der Gefchichte, in der
Predigt vom Heil, und in der Gedankenwelt der Menichen aufgerichtet,
und bethätigt feine wunderwirkende Anziehungskraft in fteigendem Maße
bis zu diefer Stunde.
Wir jchliegen! Ich hoffe, neu beftärkt in der doppelten Ueberzeus
gung, daß unfere Entfündigung unbedingt eine blutige Vermittelung
forderte, und daß die ganze Paſſion des Herm, nur aus dem Gefichts⸗
punkte einer folchen angefchaut, Licht und Sinn erhält. Billig
ftaunen wir die Weisheit des Allerhöchften an, der das größte aller
Probleme, die Erhebung eines dem Fluche verfallenen Gefchlechts zum
göttlichen Kindfhaftsrechte, ohne dadurch feine Heiligkeit zu verleug-
nen, fo wunderbar zu löfen wußte. Im blutigen Gehorfam Ehriftt
wurde diefe Löfung gefunden. Beugen wir uns anbetend vor dem
Lamme, und flimmen wir dankbar gerührt und freudig ein in des
Dichters Worte:
Bon Deiner erften heißen Stunde,
Im blutigen Angſtſchweiß durchgewacht,
Bis zu der lebten Todeswunde
Haft Alles Du für und vollbradit!
D Held voll Blut, bis zum Berfiheiden,
Laß Deiner heiligen Menſchheit Thun,
Ihr Kämpfen, Weinen, Lieben, Leiden
Uns tief im inneren Herzen ruhn! — Amen.
— | [U | | U.
396 Des Heilige.
Anteriiiten!” Die Richeseürdigen, die felber von reueimiismären
Gecühen ſtrogten, und unıbliifiz darauf bedadkt waren, das Beil
gezen Die romiihe Oberbobeit axtumriegein! Zeh obre gend ei:
nen Schein von Begrandnung bürten fie eine Beichufbizumg,
wie die ausgeivrochene, gegen eium wohl wicht vorzabringen ge
wagt. Einen Schein Dieier Art bet ihnen aber die Ztellmy, aber
auch nur Diefe, die der Herr zu den Prieſtern ud Schrift:
gelebrten eingenemmen hatte. Tem was mei Me Prieſter
betrifft, io leitete der Herr feine Jimger allerdings dam nicht am,
auf fie als anf ibren mwirfliden Minler ihre Bertrauen zu feen,
bin ud wieder In Bilerfenih zen Is Bert Gates a Diefäe
angelegt hatten. Bo aber hätte er je dem “Prietertbum Ifraels die
Autorität einer göttlichen Stiftung abgeiprochen, und wo Demielben
die Ehrfurcht und Unterthänigfeit verjagt, oder verſagen beißen, bie
als einer ſolchen Gottesftiftung ihm gebührten? Seine Stellung zum
Priefterthume war freilich eine eigenthũmliche, ja einzigartige. Auf
Ihn hatte dasſelbe als ein prophetiicher Schatten bingedeutet, und im
Ihm ſollte es als in feinem weſentlichen Ur- und Gegenbilde jein
Ziel und jene Endichaft erreichen. Aber nicht vermütelit eined ge
waltſamen Umſturzes jollte dies geicheben, jondern in dem ehnen umd
geheiligten Wege einer allmäligen Entwidlung. Bon jelbit und
vermöge einer inneren Nothwendigfeit jellte Das Prieſterthum der
alten Hütte dem wahren und weſenhaften weichen, wie der
fih entwidelnden Frucht die Blüthe, oder wie dem hervorbtechenden
Zwiefalter das Raupengeſpinnſt, ſeine Windel. weicht. So lange Er
darum nicht ſäͤmmtlichen Anforderungen feines bobenpriefterlihen Bes
rufs entiprochen hatte, und namentlich das große Suhnopfer am Kreuz
noch nicht gebracht war, gab er dem levitiſchen Prieſterthume um
Gottes und der Verordnungen feines Wortes willen alle Ehre. Nicht
allein befuchte er den Tenppel als Gottes Haus, und feierte die Fefte
Ifſtaels als göttlich geheiligte. mit; fondern untenwarf fi) auch ges
horſam allen durch Mofes gebotenen Ievitifhen Sagungen von der
Die Auflagen. 397
Befchneidung und der Darftellung im Zempel an bis zum Eſſen des
Paflahlammes. Und nicht dies allein, fondern er verfehlte auch nicht,
Andere zur pünftlichften Erfüllung dieſer ihrer Firchlichen Verpflich⸗
tungen anzubalten; wie er e8 denn 3. B. den durch ihn geheilten Aus⸗
fäßigen nicht einmal erließ, ſich den Prieftern darzuftellen, und die
Gabe zu opfern, die Mofes für dieſen Zall befohlen hatte. So wenig
alfo traf ihn der Vorwurf, er feße die göttlich verordnneten Autoritäten
herab, daß Ddiefelben vielmehr an ihm ihre fräftigfte Stüße fanden;
und fo weit war er entfernt, das Band zwifchen dem Bolt und feinen
Oberen zu lodern, daß er vielmehr Allen, die ihm nahe famen, die
uubedingtefte Unterthänigkeit gegen diefelben, freilich unter Befeitigung
der abergläubifchen Beimifchungen, einzufchärfen pflegte.
Und wie zum ‘Priefterthume verhielt fih der Herr zu den Aelte-
ften des Volks, gleichviel, ob fie Pharifäer oder Sadducäer waren.
Freilich ftrafte er als der Meifter Aller ihre Berirrungen und Sünden,
und fprach, wie unter anderen aus Marc. 7, 13 erhellt, ihren menſch⸗
ih erfonnenen „Jufſätzen“ und „Ueberlieferungen “, durd
welche das Wort Gottes nur abgeſchwächt, ja aufgehoben werde,
jede Berechtigung ab. Nichtsdeftoweniger aber erkannte er ihre gött-
liche Beftallung unweigerlich an, wie ihr euch ja feines Matth. 23,
2—3 fowol an feine Jünger, al8 an das ganze Volk gerichteten Worte
erinnern werdet: „Auf Moſis Stuhl figen die Schriftgelehrten und
Phariſäer. Alles nun, was fie euch fagen, das ihr halten follt, Das
haltet und thut. Nur nah ihren Werken follt ihr nicht thun!“
Hieß dies das Anfehn der Autoritäten ſchwächen; oder nicht vielmehr,
dasſelbe ftüßen, jtärfen und befeftigen ?
Es wird aber heute noch wenigftens dem Ehriftus der evanges
liſchen Kirche, der als der biblifche allerdings ein etwas anderer
als der Ehriftus der römifchen ift, Seitens letzterer wirklich Aehn⸗
liche vorgeworfen, wie das, deſſen Damals die Juden ihn bezüchtigs
ten. Die Beranlaffung biezu giebt das von Ehrifto felbft begründete
und in unferer Kirche geltend gemachte „allgemeine Priefters
thum aller Gläubigen“, kraft deffen diefe zu einer unmittelbaren Ge⸗
meinfchaft mit Chriſto berufen find, und vermittelnder Vertreter zwi⸗
ſchen fih und Ihm nicht mehr bedürfen. Ein Priefterftand mit mitt
lerifchen Vorrechten findet hier allerdings ebenfowenig mehr Platz, als
zur Anrufung verklärter Heiligen um ihre Fürfprache hier noch irgend
Anlaß und Beweggrund bleibt. Wenn nun eine Abmahnung von dem
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Iw sweise Mulizze, Me rer den Suuträsser müter den em
abetes zut, ame: „Er rerbext, Den Karier ten Steh au
atter“ Aurzahı, ewe muarehen Peigaltiuee:, 28 Ned, baten
Ge wide wider ıka erimmeı Kemrn! Gö achride derieſben mb au
in defin Gun und Adamz fie felbü alleriinzs ichen bedentend zu
finten begannen. Ta fuchten fie denn, mas te im Wege ter Gewalt
nicht auszuführen wagten, durch Lin und umter dem Scheine des
Die autiagen. 3”
Rechts zu erzielen, und bewogen einige Nichtswürdige aus ihrer Mitte,
in die Larve der Frömmigkeit verhüllt, ja, zu heimlichen Juͤngern bes
Herrn verftellt, es darauf anzulegen, Jeſum irgendwie dergeftalt in
feiner Rede zu fahen, daß fie ihn mit einem oftenfibeln Grunde
dem Arm der weltlichen @erichtsbarkeit überliefern Lönnten. Die be
ftochenen Emiffäre treten denn wirflich wit dem Anfchein ehrerbietiger
Ergebung zu Zefu hin, und fprechen, die unfchuldige Miene raths⸗
bedürftiger Schüler affektirend: „Wir wiflen, Meifter, daß du auf:
richtig redeft, und lehreſt recht, und achteft Feines Menfchen Anfehn,
fondern lehreft den Weg Gottes nach der Wahrheit. Ziemt e8 ung,
dem Kaifer den Schoß zu geben, oder nicht?” Das Neg war fein
geftellt; «aber nur, damit e8 über fie felbft zufammenfchlage. Der
Herr hat ihren Anfchlag fofort durchſchaut, und reißt ihnen mit der
einfachen Frage: „Was verjuchet ihr mich?“ die Heuchlermaste ab.
Dann fährt er fort: „Zeiget mir einen Grofchen!* Dies gefchieht.
Da nimmt er den Denar, hält ihnen denfelben vor, umd fragt: „Weß
ift Das Bud und die Ueberfchrift?" Die Antwort lautet: „Des Kai⸗
ſers!“ Der Herr fchließt: „So gebet dem Kaifer, was des Kaifers
ift, und Gott, was Gottes iſt!“ „Sie aber,“ berichtet die Gefchichte,
„tonnten ihn in keinem Worte fahen vor dem Boll; und fie verwuns
derten fich feiner Antwort und fchwiegen ſtill.“
Jener eine Ausſpruch des Heren reicht volllommen hin, über fein
politifhes Princip, wenn ich e8 fo nennen darf, uns vollftändig
ins Klare zu ſetzen. Ein heidnifcher Kaifer herrfchte über Yudda,
ein Zeind Gottes und Seiner Sache; aber er herrfchte, er führte
das Zepter. Die Münze, die fein Bildniß trug, war deß Zeuge.
Der Herr hieß diefelbe ihm wieder geben, deflen fie fei. Was bes
zeugte er hiemit, als was fpäter in feinem Namen Römer 13, 1—3
in ansdeutender Form fein Apoftel uns zuruft: „Sedermann fei un⸗
tertban der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ift feine
Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ift, da iſt ſie von Gott
geordnet. Ber fi) nun wider die Obrigkeit feet, der widerftrebet
Gottes Ordnung. Die aber widerftreben, werden fich felbft ein Ur⸗
theil zuziehen!“ — Ehriftus ift alfo fo wenig ein Aufrührer, daß er
vielmehr jeder Auflehnung gegen eine beftehende obrigkeitliche Gewalt,
welche Diefe auch immer fei, als einer Empoͤrung gegen die. Majeftät
Gottes felber das Gericht droht, Er gebent uns in feinem Worte,
„watertban zu fein mit aller Furcht nicht allein den gütigen und gelin-
400 Das Heilige.
den, fondern auch den wunderlichen (d. i. den unbilligen umd ver:
fehrten) Herrn.“ Herrfcht ein Tyrann über uns, fo ſtehts nady unferer
Magna.Eharta, der heiligen Schrift, keinen Augenblid in Frage,
was ums obliegt. Wir haben in dem Treiber und Despoten eine
von der Hand Gottes wider uns gefchwungene Zuchtruthe zu en
fennen, und, unferer Sünden eingedenf, derfelben uns ſtill zu beugen.
Auch die fchreiendften Ungerechtigkeiten, die Seitens einer rechtmäßigen
Obrigfeit und widerfahren, entbinden uns nicht von der Pflicht des
Gehorſams gegen fi. Gebeut uns die Obrigfeit, was unferen Ge
wiffen und dem Worte Gottes zumider läuft, fo ziemt uns allerdings
ein leidentliher Widerftand ; aber ein Weiteres ift uns nicht geftattet.
Wir verfagen in aller Ehrerbietung den Gehorfam; nehmen aber um
des Herrn willen die Folgen dieſes unferes Schrittes geduldig hin.
Diefe Grundfäße ftehen als chriftliche unmwiderfprechlich fe. Der
Herr hat fie proclamirt, und durch perfönlihen Borgang ihnen das
Siegel aufgedrüdt.
3.
Die dritte und lebte Anklage wider Jeſum Tautet dahin, er habe
gefagt „er fei Ehriftus, ein König.” Sie wollen dies von Pila⸗
tus im politifhen Sinne verftanden wiffen. Wie weit aber der Gen
davon entfernt war, eine foldhe Borftellung von der Abficht feines
Kommens in die Welt zu veranlaffen, oder zu nähren, ift euch bewußt.
Dft legten es die Juden darauf an, ihn in die Nolle eines welt:
lichen Königs gewaltfam hineinzutreiben, und würden ihn als einen
Befreier feines Volks von dem fchmählichen Soche der Fremdherrſchaft
auf den Händen getragen und mit Huldigungen und Ehrenkränzen
überfchüttet haben. So oft ſich aber eine derartige fleifchlich enthu-
ftaftifche Bewegung unter ihnen bemerkbar machte, wich er ihnen aus,
und verbarg fich vor ihnen. Wenn fogar feine Jünger dergleichen
finnliche Begriffe von dem Reiche, das er aufzurichten erfchienen fet,
fund werden ließen, verfehlte er nicht, fie ernftlich deßhalb zu flrafen,
ihre Irrthümer zu berichtigen, und ihnen immer aufs neue einzu:
fchärfen, daß fein Reich „nicht mit äußerlichen Geberden“ komme,
fondern „inwendig in ihnen“ fe. Die Juden waren ſich's ebenfalls
fehr wohl bewußt, wie fern ihm je und je die Abficht gelegen hatte,
ein Königthum nad ihrem Sinn zu gründen. Daß er dies nicht
gewollt, war’8 ja eben, was fie vor allem Andern verdrofien, und
ihre Feindfchaft wider Ihn entzündet hatte. Nichtsdeftoweniger geht
Die Aullagen. 401
ihre Frechheit und Berlogenheit fo weit, das jebt als fein eigenes
Gelüfte ihm anzudichten, was fle, jedoch erfolglos, immer aufs neue
als Berfuhung an ihn beranzubringen ſich bemüht. Sie eröffnen
uns damit einen neuen Blid in die Schliche und Ränke des verderbten
Menfchenherzens, und erweifen fich als trefflich gefchulte und ausge
lernte Kinder des Lügenvaters.
Ihr wißt, Daß das Beftreben, Chriſtum zu einem weltlichen Könige
zu flempeln, mit den jüdifhen Schriftgelehrten und Phartfäern auf
Erden nicht ausgeftorben iſt. Es befteht eine Kirche, die bis heute
es nicht als eine Anklage, fondern als einn Ruhm dem Herrn nach⸗
fügt, Daß er ein Reich „von diefer Welt” habe gründen wollen. Sie
läßt Chriftum beide Schwerter, das geiftlidhe wie das weltliche, dem
Petrus, und durch diefen deffen vorgeblichen Nachfolgen, den Päp-
ten, als den Kirchenhäuptern, übergeben; und fo weit Fürſten und Koͤ⸗
nige in der Welt regieren, führen diefelben das obrigkeitliche Schwert
nur aus Uebertrag der Kirche, und von der Kirche zu Lehen. Sie
bleiben darum der feßteren frohnpflichtig und untergeben. Die Kirche
ift berechtigt, ihnen, falls fie ihr die beamfpruchten Dienfte verfagen
wollten, ihre Macht und Gewalt wieder zu entziehen und die Völker
von den denfelben gefchworenen Eiden zu entbinden. Nicht fpricht
dDiefe Kirche dem Apoftel nah: „Die Waffen unferer Ritterfchaft find
nicht fleiſchlich;“ fondern erachtet fich für berufen, vermittelit beider
Schwerter ihre Grenzen zu fehirmen und zu erweiten. Gie hat für
die Ungehorfamen ihrer Kinder Bannftrahlen und Interdikte, für
die Keber Kerker und Blutgerüfte. Sie erflärt in ihren Intereſſen
Kriege und ordnet Kreuzzüge an. Sie bat mehr als einmal den Auf-
ruhr heilig gefprochen, und den Zyrannenmord nicht mißbilligt. Zur
Beier der Pariſer Bluthochzeit ließ ſie Gedaͤchtnißmünzen fchlagen ;
und von einer Miffion durch Feuerſchlünde erzählt uns die Ge
fhichte der Inſel Dtaheity. Ob es im Sinne des Meifters gelegen
habe, daß feine Kirche, diefe Braut des Himmels, in folche Ge
wande fich Fleide, darüber benimmt uns nur ein Blick in die Evan⸗
gelien den lebten Zweifel. Der Herr gibt feinen Boten den Frie-
dendgruß mit auf den Weg, und nicht das Herrfcherwort und den
Bannſpruch. Mit der Sanftmuth gürtet er fie, und mit der die-
nenden Liebe, und nicht mit der Strenge ımd dem inquifitorifchen
Rigorismus. Er bezeichnet ihnen ihre Arbeit als einen Samariter-,
und nicht als einen Treiber⸗ und Kegerrichterdienft, und ſchildert das
26
402 Das Heilige.
Goangeſimm als einen Sauerteig: nit aber als einen Keil, der mit
ebenen Sammer eingetrichen werden müfle. „Beurige Kohlen“
für die Widerſacher fordert allerdings auch Gr; aber nur ſolche, de
ihnen durch Geduld und umermüdliche Helfertteue auf das Haupt za
fanmeln ſeien. Aud Er will, daß man Diejenigen, weldhe noch Draußen
find, „berein nörbige in fein Haus;“ aber Er will
Gaften und binter Den Zänmen lautielig aufgeſucht und mit
densbotſchaft: „Kommt, es it Alles bereit!“ gegrüßet |
begehrt, Daß man Gefallene und Abgewichene dem
Weges nicht überlafle; aber er verlangt, daß Die Zuch
damit eingeleitet werde, Dub man ihnen in Temuth die Füße
HINTER
PIrHENE
Ueberdies fordert Er ven den Seinen Denen gegemüber, die an ihnen
fündigen, ein „fiebenmalichenzigmaliges Verzeiben,“ und ruft ihnen
allen, inienderbeit aber Den Trägern des Hirtenamtes zu: Ihr wiffet,
daß die weltlichen Fürñen berriden, und die Großen haben Gemalt.
Se ſoll es nicht jein unter euch: ſondern jo Jemand wül unter end
groß ſein, der jei euer Diener; und wer da will unter cuch der Bor
nebmite ein, der jei euer Knecht!“
So gewiß aber Chriftus ein Reich im Sinne der Belt nit ya
Entwickelung von Innen beraus durch ſchẽpferiſche Bewirkung des
beiligen Geiſtes. Die Machtbhaber der Erde werden buldigend ihre
Zepter und Kronen zu Ebrifti Füßen niederlegen, um fie geweibt und
zu Leben aus Zeinen, Des Königs aller Könige, Händen zurückzu⸗
empfangen. Die Völfer, erleuchtet, und zu dem Hirten und Biſchof
ibrer Seelen bekebrt, werden mü Lurt und Liebe einem Regimente ſich
unterwerten, in welchem fich ihnen nur die ſanften Zügel ihres Fries
densrüriten füblbar machen werden. Tie Geiepgebung wird im Worte
des Ichendigen Gottes wurzeln, der Staatsbausbalt auf Grundlagen des
Granacliums ruben. Tie Cpfer, die das Gemeinwobl erferdem wird,
werden im range freier Siebe dargebracht, und die Schwerter in
Pñugſcharen, Die Spieße in Sicheln verwandelt werden. Auf Diele
Jubelperiode Des Reiches Ehrim ſchaut Daniel mu ſeinem Seberblick
binüber, wenn er froblockend auänıft: „Aber das Reich, die Gewalt
und Hobeit der Koͤnigreiche unter Dem ganzen Himmel wird dem beis
Die Aellagen. 403
figen Volle des Höchften gegeben werden, deß Reich ewig ift; und
‚alle Gewalt wird ihm dienen und gehorchen.“ Ebenfo deutet Sacharia
auf diefe Weltverflärung in Ehrifto Hin, wenn er bedeutungsvoll weif-
fagt: „Zu der Zeit wird auf den Schellen der Roffe ftehn: Heilig
dem Herr; und werden Die Keflel im Haufe des Herrn gleich fein,
wie die Beden vor dem Alter. Ja, e8 werden alle Keffel in Se
rufalem und Juda dem Herm Zebaoth heilig fein, alfo, daß Alle,
die da opfern wollen, werden kommen, und diefelbigen nehmen, und
darinnen kochen. Und wird fein Kanaaniter mehr im Haufe des
Serm fein zu der Zeit.” Der Lobgefang für diefe Tage des Triumphs
und dee Vollendung liegt im Archive der göttlichen DOffenbarungen
fon bereit und lautet: „Run find die Neiche diefer Welt unferes
Gottes und feines Chriftus worden!” Der Herr aber vertröftet und
auf dieſe Tage, indem er uns täglich in Hoffnung feltg beten ehrt:
„Dein Königreih komme!“
Wir haben uns überzeugt, Geliebte, daß ungegründeter nichts fein
könne, als die Anlagen e8 waren, die vor Pilatus wider den Herm
erhoben wurden. Jede gegen ihn eingeleitete Unterſuchung ſchlug nur
zu feiner größeren VBerherrlihung und Verklärung aus. Wie freuen
wir uns deß! Denn wie fehr wir perfönlich dabei betheiligt find, daß
er aus jedem Gericht gerechtfertigt hervorgehe, wißt ihr. „Er wird
den Schmud tragen,“ heißt ed von ihm bei dem Propheten. Er
trug und trägt ihn; aber nicht blos für ſich. Sein Schmud
ift der unfere zum Zage der Offenbarung und des Gerichts. Bon
ganzem Herzen getröften wir uns deß, und ſtimmen freudig ein in Die
Worte des Kirchenfängers:
Du, Iefu, giltft vor Gott allein
Pit deinem Thun und Leiden;
Hüuͤllt da der Glaube mi hinein,
Was will von Gott mid ſcheiden?
Du ſelbſt gibſt mir das Ehrenlleid,
Den Brautihmnd der Gerechtigleit;
Damit werd’ ich beftehen! — Amen.
—— I O äůů—
26°
404 Das Heilige.
XXXIII.
Chriſtus ein Koͤnig.
„Es iſt noch ein hoher Hüter über den Hohen!" Go der
Prediger Salomo Kap. 7, 5. Er ſpricht in diefen Worten eine mit
oder wider Willen von Jedermann anerkannte Wahrheit aus. Kein
Machthaber der Erde weiß fid) unbedingt ſouverain. Wie willkürlich
er auch fein Zepter führe, fo erlaubt er fich doch nicht Alles, weile
fih unverrüdt eines „Rechts“ bewußt bleibt, das über feiner Macht⸗
vollkommenheit ftehend, ihm wieder Gehorfam auferlegt, und welches
er ohne Gefahr für die eigene Perfon nicht verlegen zu können glaubt.
Es hat wohl fchon ein Despot in feiner Unbändigfeit verfucht, die
Zügel auch diefes höheren Regiments von ſich abzuftreifen; aber dam
fiel er unfichtbaren Rachegeiftern anheim, die ihm das Leben zur Hölle
machten, und unter deren Ruthenftreichen bei Tage die Luft, bei Nacht
der Schlaf von feiner Seite wi. Denn feine Gerichtödiener, feine
Kerker, Halseifen und Folterfammern hat auch der „Hüter über die
Hohen,” und nicht erft jenfeits überantwortet er denfelben feine
Delinquenten.
Jene Reichsordnung über allen andern, au von den Heis
den lebbaft geahnt, flieg in der Führung Iſraels in deutlicheren
Umriffen aus ihrer Nebelregion auf die Erde nieder. Seitdem aber
ihre Zügel in den Händen des Menfchenfohnes ruhen, ftebt ihr
erhabener Organismus vollftändig, Far und ausgeftaltet vor uns.
Geräufchlos aber fihern Ganges, fchreitet fie durch alle menjchlichen
Unternehmungen und Anfchläge dem Ziele ihrer Alleinherrfhaft
zu. „Die Völker toben, und die Gewaltigen der Erde lehnen fi
auf; aber der im Himmel wohnet, lachet ihrer, * und ſpricht, Die Ober:
gewalt über alle Gewalten fich refervirend: „Ih habe meinen
König eingefeßt auf meinem heiligen Berge Zion!*d. h.
„Er ſitzt im Regiment, ein unumfchränfter Herr; alle Welt fei Ihm
unterthänig, und diene Ihm!” — Bon diefem Könige und feinem
Reich vernehmen wir heute ein Mebreres.
\
Chriſtus ein König. 405
Matth. 27, 11. Marc. 15, 2. Ich. 18, 33—37.
Da ging Pilatus wieder hinein in das Richthaus, und rief Iefu und ſprach zu
ihm: Bift du der Iuden König? Iefus antwortete: Redeſt du das von dir felbft, oder
haben es dir Andere geſagt? Pilatus antwortete: Bin id ein Iude? Dein Bolt und
bie Hobenpriefter haben dich mir überautworter; was haft bu getban? Jeſus antwor-
tete: Mein Reich ift nicht von dieſer Welt, wäre mein Reich von diefer Welt, meine
Diener würden darob fämpfen, daß ich den Juden nicht äberantwortet würde, aber
nun ift mein Reich nicht von bannen. Da fprad Pilatus zu ihm: So bift du den⸗
noch ein König? Jeſus antwortete: Du fagft es; ich bin ein König, ich bin dazu ge⸗
boren, und bin dazu in die Welt gefommen, daß ich für die Wahrheit zeugen fol.
Wer ans der Wahrheit ift, der höret meine Stimme.
Ein neues Zeugniß Jeſu von fich felhft! Dean merkt, daß die Vers
hörsfchranken, vor denen er fteht, in feinem Gefichtsfreife ſich zu de⸗
nen der Welt erweitern. Bor diefer will er die Lehre von feiner
Perfon zu abfchließender Entfcheidung bringen, und wirft zu dem
Ende eine Hülle nad) der andern von ſich. Auf feinem eigenen
Worte, und nicht blos auf dem der Propheten und Apoftel, follte un-
fer Glaube an Ihn ruhn, und ruhet er. Sagen wir Ihm von Herzen
Dank für dieſe fürforgliche Berücfichtigung der Bedürfniffe unferer
zweifelmüthigen Natur und der Schwachheit unferes Glaubens!
In unferem heutigen Auftritte erflärt fih der Herr über feine Kö⸗
nigswürde, Sehen wir zuvörderft, wie er hiezu veranlaßt
wurde; und denken wir dann dem Inhalte feiner Erklärung
weiter nad).
Wolle Er felbft unfer Wort mit feinem Segen begleiten! Ein Aft
erneuerter Huldigung vor feinem Throne fet die Frucht unferer heus
tigen Betrachtung!
1.
Wir treten zu dem großen DVerklagten zurück. Er läßt ſich richten,
damit er uns, die dem Gericht Verfallenen, einft rechtskräftig und mit
Erfolg vertreten könne. Bet jedem Schritte feines Pafftonsganges ift
er der Mann, welcher „bezahlt, was er nicht geraubet hat.“ Er wäre
aber diefer Mittler nicht, wenn er nicht in feiner Knechtsgeſtalt zugleich
derjenige wäre,. der „höher, denn der Himmel iſt.“ Dieſe feine
übermenfchliche Glorie bricht, wie die Sonne durch Wollenſchleier,
immer wieder durch das Dunkel feiner Erniedrigung flegend durch.
Er kann fo mit ihr nicht an ſich halten, daß fie nicht wenigftens in
vereinzelten Schimmern ſtets in die Erfcheinung ſtrahlte. Der Blin⸗
406 Das Geige.
deite gewabrt ihren Wiberichein, und ſtugt. Zoch mit
kung fallen die Sonnenitrabln in einen Sumpf; mit
fhlummernden Keime eines beilellten Ackerlandes.
Zur Begeihunng der Gemüthöbeichatfenheit des Pilatas wi
dep ein Bild gefunden werden, das, wenn and minder
das legtere, doch aud weniger abichredend, als das erftere
BP, dus zwiſchen jenen Beiden die Mitte bielte. Begegnen
doch in dem Herzen des Roͤmers noch Humanität, Empfängfichleit
Berjeres, und mancherlei Anfmipfungspunfte für die Wahr
falte, Hlache und verlebte „ Weltmann,“ zu dem ibn Mandhe
unterdrücden wollen, it er nicht. Richten wird ihn Gott, dies
feit; aber nicht wird er ibm mit jenen, Lauen,“ vor Denen ihn
nad) dent Ausdrude des Sendichreibend an die Laodizier, aus
nem Munde jpeien.®
Tie Anklagen der Prieſter und Oberften find verlautet. Da trit
der Landpfleger nachdenklih in das Richtbans zurück, und beſtehlt
daß mm Jeſum aufs neue vor ihn führe Schweigend trift der
heilige Dulder in dus Gemach feines Richters ein. Man merlt e8
dem Römer an, dab er fidh einer gewiſſen Ebrfurdht vor Dem wun⸗
derbaren Manne nidyt erwehren kann; und wer fan das überhaupt?
Die wildeten Spötter felbft empfinden den Stadyel ihrer Ausfälle
gegen den Herm in ihrem eigenen Gewifien. Yu, fie verſuchen ver
mittelft ihres Spottes nur Das Gericht zu übertiuben, das ihrer Ehri-
flusfeindichaft wegen in ihrem Innern über fie ergeht. Es ift dies
ein entiegliher Zug; aber es beurfundet derfelbe auch wieder die
höhere Anlage und fittlihe Natur des Menſchen. Es müflen die
Leute ſich felbit befämpfen, um nicht von der Stimme der Wahr:
heit, die in ihrem Innern fich geltend macht, genöthigt zu werden,
dem Herm der Herrlichkeit wider ihr eigen Fleiſch und Blut zu hul⸗
digen.
Ich gedenke hier des bekannten Briefwechſels eines unferer großen
deutihen Dichter mit einer Gräfin, welde, in früheren Jahren die
Genoffin feines Sinnes, fpäter zu dem Herrn befehrt ward, und hin
fort Alles aufbot, um auch den alten, gut heidnifch gefinnten Freund
dem Evangelium des Friedens zu gewinnen. Der Freund fpottet und
fäftert in feinen Briefen freilich nicht. Davor ſchützt ihn die hohe
Bildungsftufe, auf der er ſteht, umd der feine, gefellfchaftfiche Takt,
der ihm eigen iſt. Aber ex erfcheint in jedem feiner Worte befan-
{
7;
Tisee®
&
—*
et⸗
—
Ehriäus ein König. 407
gen und verlegen, und fucht ſich, fo gut e8 geben will, durch al-
lerlei fophiftifhe Künfte und Winkelzüge aus feiner peinlichen Lage
berauszumwinden. Wohl möchte er fprechen: „Unſere menfchliche Be⸗
flimmung erftredt ſich über die Grenzen des diefjeitigen Lebens nicht
hinaus;” aber ein beſſeres Gefühl, mächtiger als alle Speculationen
feines Kopfs, unterfagt ihm gebieterifch ſolche Nede. Der ganzen
Sache wäre fchnell ein Ende gemacht, wenn er entfchieden erflärte:
„Ich erkenne in Jeſu nur einen Phantaften und keinen Gott;“ aber
unverfennbar macht ihm ein anderes, vom Glauben freilich noch
unterfchiedenes, aber nicht zu bewältigendes Bewußtfein ſolche un⸗
ee Erklärung zur Unmöglichkeit. Er bekehrt ſich nicht, fon-
dern ſchlägt, wie Saulus einft, nur leider mit befferem Erfolge
„wider den Stachel aus;” aber er fühlt den Stachel ebenfo wohl,
wie jener, und die Gewaltfamteit feines Widerftrebens dient nur zum
Zeugniß, wie nahe e8 ihm gelegt fei, daß er ſich befehre. Es Foftet
ibm Kampf, dem Rufe der befreundeten Evangeliftin nicht zu folgen.
Aus diefem Umftand aber erhellt, daß fich die Wahrheit deflen, was
fle ihm predigt, in fräftiger Weife in ihm geltend macht, und daß
das in feinen Geſichtskreis gerücte Chriſtusbild Eindrüde in ihm
hervorruft, in denen nur zu deutlich eine Wahlverwandtſchaft zwiſchen
ihm und dem Heiden Pilatus ſich kundgibt.
Der Landpfleger beginnt fein DVerhör mit der Frage: „Biſt du
der Juden König?” Mit der weichen Betonung wohlwollender
Gefinnung fpricht er fle aus, als wollte er fagen: „Legſt du es wohl
Darauf an, ein König der Juden zu fein?" Er erwartet die Antwort:
„Behüte! Wie follte ich nach fo hohen Dingen trachten?“ Biel gäbe
er darum, folche Erklärungen aus feinem Munde zu vernehmen, theils,
um daran einen Rechtsgrund zu gewinnen, die verhaßten Juden mit
threr Anklage amtlich abzumeifen, theils, um leichten Kaufs und
unverlegten” Gewiffens mit dem Nazarener, deffen Unſchuld ihm außer
Zweifel fteht, wieder auseinander zu fommen. Aber Jeſus erzeigt ihm
den gewünſchten Dienft, die Frage zu verneinen, nicht; fondern bejaht
fie vielmehr, nachdem er nur die falfchen Anfchauungen von feinem
Königthum abgewehrt, Wie Pilatus, fo pflegen übrigens Alle zu
fahren, die ſich mit Jeſu, ohne in Unterthänigfeit zu feiner Fahne zu
ſchwoͤren, friedlich auseinanderfegen möchten. Auch fle ſprechen zu ihm:
„Richt wahr, für den einigen Seligmacher gibft du dich nicht aus?“
Er aber erwiedert: „Niemand kommt zum Water, denn durch mich!“
408 Das Heilige.
Sie: „Wen ich nicht glauben kann, aber doch ſittlich Iebe, nicht wahr,
fo darf auch ich ja hoffen, das ewige Leben zu ererben!” Er: „Ber
an den Sohn Gottes nicht glaubt, wird das Leben nicht fehen, fon
dern der Zom Gottes bleibet über ihm!” Sie: „Richt wahr, mehr
als ein menfchlicher Sittenlehrer und ein Tugendvorbild willft du
nicht fein, und e8 genügt, daß wir in deinen Vorſchriften die m
trügliche Richtſchnur unferes Wandels ehren?” Er: „Ehe denn Abra⸗
ham wurd, bin ich; ich bin vom Himmel gekommen, und fie follen
den Sohn ehren, gleid) wie fle den Vater ehren!“ Sie: „Aber unfer
Bruder bift du Doch, und begehreft nur, daß wir dir nachfolgen,
nicht aber als einem Gott dir eben, und unfer Heil von dir ex
warten.” Er: „Mir ift gegeben alle Gewalt im Himmel und auf
Erden, und ihr werdet des Menfchen Sohn fihen fehn zur Rechten
der Kraft, und wiederfommen in des Himmels Wollen, daß er die
Böde von den Schafen fcheide!” Seht, fo gelangt man im Wege
einer halben Anerkennung zu einem Abfinden mit Jefu nimmermehr.
Alle, die im Bereiche geiftiger Anfchauungen mit ihm zufammentreffen,
werden auch mehr oder minder in ihrem Innern überführt, Daß er ei
nen unbedingten Rechtsanſpruch an ihre Huldigung und Unterwerfung
babe. Entweder geben fie fi ihm hin, und find dann felig in Sei
nem Frieden; oder fie verfagen ihm Herz und Hand, und nehmen
dann einen Bann und Stachel in ihrem Innern mit fid) fort, deſſen
fie fih auch unter dem ärgſten Sündentaumel niemal® wieder ganz
entledigen werden. Wie Viele ziehen mit folchem ftummen Fluch im
ihrer Bruft dahin! Ihr ganzer Unmuth gegen Zefum findet Darin
feine Erklärung. Bas that ihmen der Teutfelige Herr, daß es fo
peinigend auf fle einwirkt, wenn nur irgendwo fein Name mit Liebe
und Begeifterung genannt wird? Sagte ihnen nicht ein Gefühl, daß
die Anfprüche Jeſu auf ihre Unterthänigkeit in der That gegründet
feien, jo würden fie ihn ja unangefochten gehen laſſen, und ſich gleich
gültig und indifferent gegen ihn verhalten. Nun aber können fie Die
Berechtigung feiner an fle geftellten Forderungen nicht ſchlechthin leug⸗
nen, und wollen fi ihnen doch, um ihre Gößen nicht opfern zu müfs
fen, weder beugen noch unterwerfen. Daher ihre Verflimmung gegen
den Fürſten des Friedens! Daher ihr verftedkter, bitterer Haß wider
Alles, was Jeſum lieb hat und ihm von Herzen anhängt!
„Biſt Du der Juden König?” fo Pilatus. Der Herr eröffnet
wun feine. Erwiederung mit der Gegenfrage: „Redeft Du das von
Chriſftus ein König. 409
Dir felber, oder haben es dir Andere gefagt?” In Ddiefen
Borten lag für den Landpfleger etwas tief Beichämendes, das ihn
am feine Richterpflicht hätte mahnen follen, auf Verdächtigungen nicht
weiter einzugehen, die, gleich der von den Juden vorgebracdhten, fo
offenbar den Stempel des Erlogenen an der Stime trugen. ‚Aus
dir ſelbſt,“ wollte der Heiland fagen, „‚redeft du Solches ſicher nicht,
indem du, der du ja gleichfalls von meinem Thun Bericht empfangen
haben wirft, von der Abgeſchmacktheit der jüdifchen Anklage ficher
hinlänglich überzeugt biſt. Wie aber verträgt ſich das mit der Würde
deines Amts, daß du eine fo nichtige Befchuldigung nichtsdeftoweniger
einer fo ernften Behandlung würdigft?” — Tiefer gefaßt ergeht jedoch
in den Worten des Herm zugleich eine gnadenreiche Weckſtimme
an des Pilatus Herz, und der Frage ift auch dDiefe Deutung zu ges
ben: „Liegt dir für deine eigne Perſon daran, — und es follte dir
ja daran gelegen fein, — zu erfahren, ob und in welchem Sinne ich
ein König fei; oder gab dir nur ein fremdes Gerede den Anftoß zu
deiner Frage?” Wenn Pilatus das Erftere hätte bejahen können, fo
würde ihm die Stunde, die eben vorhanden war, zu einer Stunde
ewigen Heils geworden fein. Aber feine Antwort war nicht von der
Art, daß der Herr fi hätte bewogen finden können, ihn tiefer in
die Geheimniſſe feines Neiches einzuweihen. Es ergeht übrigens jene
Stage des Herrn auch heute noch an Alle. Don der höchſten Bes
Deutung ift es, ob man nur als In quiſitor durch Anlaß von Außen,
oder als Kundichafter und Schaßgräber aus Anregung inneren Bedürfs
niffes, dem Reiche der Wahrheit nahe tritt. Zaufende richten an
Ehriftus die Frage, wer er fei, nur, weil fie zu wiſſen begehren, ob
dDiefe oder jene Theologie richtig und biblifh von ihm und feiner
Sache lehre oder nicht? Leute diefes Schlages können es zu einer
gewiſſen Meifterfhaft in der Erkenntniß der göttlichen Dinge brin-
gen; aber nimmer wird ihnen Diefe Weisheit, wie umfaffend fie fei,
zu Zrieden und Heil gereichen. Diejenigen hingegen, die aus eigner
innerer Bewegung, und im Intreſſe ihrer perfönlichen Seelenwohlfahrt,
fragend zum Herm und zu feinem Worte fommen, werden „den Kö-
nig fehen in feiner Schöne,” und das Geheimnig der Gottſeligkeit
entflegelt finden.
Der Landpfleger hat die Worte des Herrn auch in ihrem tieferen
Sinne nicht völlig mißverftanden, und merkt gar wohl, daß Jeſus
ihm damit ins ‚Herz greift, und eine Anregung geben will, mit feiner
410 Dei Geige.
Irage nah dem Kimiskume, um das ũchs bandelt, Era zu machen,
Kımm aber wütert er, DR, eb am im den leileten Ichergängen cr,
um ibn ſelbi uud teine Huſdiging gererben wüud, fo weicht a
mern läßt, wie er in ter That GEmmus in ich zu belämmien babe, m
mit dem geheimmigrellen Manne nicht ix tiefere Derübrungen zu ge
raıben: „Din ich ein Aude? Zein Boll und Die Heben:
prieiter baben dDib mir überantmertet. So ipridh Denn,
was bañ du gerban?" Miu ſiebt, mie er ſich gefliitentfich von
ibm losrumachen iucht, als beicrge er, ed finme der Ebrfurcht gebie⸗
tende Einfluß, Den die Gricheimma Jein auf ibm übt, ein inımer für
terer, ja am Ende gar ein übermwältigender für ibn werden. „Bir
ih ein mPde?- fragt er, und will Damit lagen: „Kaumft du wen
mir erwarten, daß ich dich Daraur auiebe, ob du wirkiidh der ver
heißene Meſñas ſeiſt? Was chen ums, Die Reichöbürger Roms, Ye
Hoffnungen der Auden auf? — Bemerft bier, wie Pilatus der Er
finder jenes bis zur Stunde noch io bänfig angewendeten Kunftarife
der Ungläubigen it, Das alte, wie Das neue Telazment nur als „oriew
tafiiche Literatur” zu bebundeln, ımd ibre Entirendung vom Chriſten⸗
thum gleichfalls mit einem „mir find feine Juden!“ befchönigen zu
wollen. Ban pflegt zu lagen: „Ein jegliches Boll bat feinen refi-
giöien Ideenfreis; und was der Eigentbinmulichleit der einen Ratica
entipricht, if Darum noch nicht für alle.“ Mü den Propbeten, ja
mit dem Herm jelbit und deiien Anofteln gebt mam nicht anders um,
als mit den Weiſen des griechiichen Altertbums, oder den Suit’s Nr
Verier und den Brahmanen der Indier. Dort „prüäft” man eben
fo wie bier, mit Dem Borgeben, „Das Gute” Kebalten zu wollen.
As eine ungebörige Zumuthung aber weiit man's ab, daß man zu
Sahne einer „partifularen Religion,” wie Me Paläſtinenſiſche
fei, unbedingt ſchwören folle, als ſei fie die „uninerfale.” Die
. Thoren! ft die Sonne etwa auch ein purtifulares Licht, und für den
Rorden nicht müge, weil fie im Diten aufgeht?
Der Herr fieht wohl, wie wenig der Profurater geneigt ift, tieferen
Erörterungen fein Ohr zu leihen; umd fo beichränft er ſich denn dar
auf, weil der Richter es alfo fordert, Die Anklagen der Juden in’
rechte Licht zu flellen. „Mein Rei,” fpricht er, „tft nicht von
Diefer Welt. Wäre mein Reich von diefer Welt, meine
Diener würden darob kämpfen, Daß ih den Juden niet
Chriſtud ein König. 411
überantwortet würde; aber nun tft mein Reich nicht von
dannen.“ Wie einfach und zugleich wie fchlagend find Diefe Worte!
Wie fällt vor ihnen die rohe Beichuldigung dahin, als habe er es
auf eine politifhe Staatsummwälzung abgefehen gehabt! Laßt aber
auch nicht außer Acht, mit weldyer Sorgfalt er bei diefer Selbſtver⸗
theidigung feine Worte wählt, Damit er auch nicht anftreifend nur,
noch durch eine bloße Auslaffung, der Wahrheit zu nahe trete. Er
bat es nicht Hehl, Daß er allerdings zur Gründung eines Reichs er:
ſchienen fei, und nennt Ddiefes Reich ausdrüdiih „Sein König»
reich; nur weit er die nichtswürdige Verdächtigung von ſich ab, als
babe er einen limfturg der beftehenden Regierungsgewalten und die
Stiftung eined neuen politifchen Staatsweſens im Schüde geführt.
„Wäre dies meine Abficht,” fpricht er, „meine Diener (fo nennt
er in klarem Bemwußtfein feiner Majeftät nicht etwa feine Jünger,
fondern die Legionen heiliger Engel,) würden darob fämpfen,
Daß ih den Juden niht überantwortet würde.” Webrigens
fagt er nicht, daß fein Reich gar feine Anfprüche Darauf mache, auch
einmal ftaatlich zur Weltherrfchaft zu gelangen. Hiemit würde. er
mehr verneint haben, al8 in der Wahrheit gegründet war. Er bes
zeugt mur, daß fein Reich nicht von dieſer Welt fei, und deutet
durch das hervorgehobne „dieſer“ ımverkennbar an, daß ein andrer
Aeon, als der gegenwärtige, allerdings Seine Delegaten auf den
Negentenftühlen, und Sein Wort und Evangelium als die Magna
Eharta aller Bölker erbliden werde! Befonders zu beachten ift in dem
Satze: „Nun ift mein Reich nit von dannen,” auch das Wörtlein
. „nun, das offenbar auf eine Periode hinüberzielt, in welcher fein
Neich eine ganz andre Stellung auf Erden einnehmen werde, als
gegenwärtig.
Mit Berwunderung und fteigender Unruhe hört Pilatus der Rede
des Herm zu, und fpricht Dann, von großartigen Ahnungen über
die Perfon des Verklagten bewegt: „So bift Du dennoch ein Koͤ⸗
nig?“ Man hätte denken follen, er werde jet gefprochen haben: „Ich
fehe wohl, du bift fein König!” Aber wie es ſcheint, iſt's ihm nicht
nur noch fraglich, fondern wis ihm immer noch fraglicher werden, ob
dieſer Zefus nicht wirklich, wenn auch in einem andern Sinne, als
in welchem die Juden ihn für einen Thronprätendenten erflärten, ein
König ſei. Aehnliches aber, wie unferm Heiden, widerfährt mit ber
Perſon Chriſti auch Heute noch gar Manchen. Freilich gibts unter Wors
414 Das Heilige.
an eure Stirnen nahınt, und euer Leben und Geſchick feinen Haͤn⸗
den amvertrautet. Ihr feid an den rechten Mann gelommen: deumn
er ift ein König. Vollkommen ſteht e8 demnach euch zu, nicht allein
von einem Koͤnigreiche Ehrifti zu reden, fondern auch dem lebten
Zweifel an deffen endlichem Siege und einftiger Herrfchaft über die
Belt, Balet zu geben, wenn gleich fein Neich nicht „von,“ oder
„aus“ der Welt, oder, wie er ſich majeftätifch wie Einer, der ſchon
aus himmlifcher Höhe auf die Erde herniederſchaue, ausdrückt, „nicht
von Dannen” ift, d. h. keinen weltlichen Urfprung hat. Er iſt em
König! Wir find fomit in unferm Rechte, wenn wir, wie in Diefen
Zagen wieder gefchehen wird, unfern Konfirmanden vor ihrer Auf
nahme in die Gemeinfchaft Seiner Kirche das feierliche Gelũbde, ja
bie eidliche Betheuerung abnehmen, daß fie Diefem ihrem rechtmäßigen
Haupt und Oberherrn fich umterthänig erweifen wollen bis in den
Zod, Wir find hiezu volllommen befugt; oder follen wir dies etwa
ihrer Wahl und Billführ überlaffen? Nimmermehr! Was würde ein
Zürft zu dem Verfahren eines Delegaten fagen, der, zur Entgegen
nahme der Huldigung feiner Unterthanen von ihm entfendet, zu deu
Kindern des Landes etwa fprechen wollte: „ Ein Gelübde Des Ge
horſams nehme ich euch nidht ab, weil ich nicht weiß, ob ihr die
Tüchtigkeit befiken werdet, dasjelbe in allen Stiden zu erfüllen?"
Der Zürft würde einen folchen Abgeordneten feines Dienftes entlaffen,
und dem Volke erklären, wer Anftand nehme, ihm umbedingt inter
thänigfeit zu ſchwören, dem fei hiemit die Pforte feines Reichs geöff⸗
net, und ihm aufgegeben, das Land zu räumen. Unfere Konfirmanden
mögen in Erwägung ziehen, was fie verheißen, und nach den Quellen
fragen, aus denen die Kraft zur Erfüllung ihres Gelübdes zu fchöpfen
ſei. Aber ſchwören follen fie, daß fie „die Rechte feiner Gerech—⸗
tigkeit halten” und unwandelbar zu feiner Fahne ftehen wollen. Bir
fordern Dies von ihnen im Namen deſſen, der fouverain über fie
gebietet; wir fordern’8 mit dem Bewußtfein, daß wir ihnen Damit
nichts Anderes auferlegen, als was fie zu leiften fchuldig und ver
pflichtet find.
Chriftus ift ein König. „Ich bin dazu geboren,” fpridht er,
„und dazu in die Welt gefommen, daß ich für die Bahr;
heit zeugen ſoll.“ Alfo ein zweifahes „Dazu.“ Das erftere
eignet dem Könige, der ein Emporkönmling, fondern als König ges
boren if; wie aud) die Weifen aus dem Morgenlande das Wichtige
Chriſtud ein König. 415
trafen, als fie ihn als den „neugeborenen König der Juden“ bes
grüßten. Das zweite „dazu“ bezieht fich auf feinen Zeugenbernf.
Mit jenem: „Ich bin geboren” bezeichnet er feine Menfchwerdung,
Damit aber weder Pilatus, noch irgend Jemand, zu dem Gedanken
ſich verleiten laſſe, als fchließe fih in Jeſu menfchlicher Geburt
fein ganzer Urfprung ab, läßt der Herr die Worte folgen: „Und ich
bin in die Welt gelommen,” und deutet damit auf feine himm⸗
liſche Herkunft und auf fein Dafein vor feiner Erfcheinung im Fleifch,
ja, vor aller Schöpfung hin. Solche Zeugniffe feines eignen Mumdes
pon feiner ewigen, göttlichen Natur mögen wir aber hoch in Ehren
halten, Sie fteigen im Werthe zu einer Zeit, Die, wie Die unfere,
aller Läfterungen fo voll ift, und fo zuverfichtlich keck Chriſtum den
Herm zu einem bloßen Menſchen zu flempeln fich erfrecht. Wäre
Ehriftus in der That nur ein Menſch gewefen, fo wäre e8 allerdings
um das Ehriftenthum gefchehen, und es bliebe uns nur übrig, uns
jere Kirchen zu ſchließen, und alle unfere Hoffnungen zu Grabe zu
tragen, weil letztere fämmtlich auf der Gottheit Zefu Ehrifti als auf
ihrem wefentlichften Zundamente ruhen. Darum, Brüder, ebenfo feft
geftanden zu diefem Artikel, als derſelbe bündig und unzweideutig
von der ganzen heiligen Schrift bezeugt wird; und Fuß bei Mal ge
halten in einer Zeit, in der, mit Petrus zu reden, „viele faljche Leh⸗
rer ihr Wefen treiben, welche nebeneinführen verderbliche Sekten, umd
verleugnen den Herrn, der fie erfauft hat, und werden über ſich fels
ber führen eine fchnelle Verdammniß!“
Erquicklich ift ed, wahrzunehmen, wie der Herr dem Nömer zu Lieb
unvermerft von feinem Königthum auf fein Zeugenamt, und auf die
„Wahr heit“ als das Objekt defielden überlenkt. Er hofft damit
die Saite in Pilatus zu berühren, Die ja vom Hall des Evanges
liums nod) am erften wiedertönen werde. Nah Wahrheit fragte
auch der verbildete Römer noch, fchon weil dieſes Fragen mit zu den
griehifchen BildungssElementen gehörte, welche das fonft nur auf
Thaten bedachte Volk des Abendlandes fich angeeignet hatte. ft
doch das Fragen nach Wahrheit überhaupt ein Zug des menfchlichen
Weſens, der am legten darin zu erfterben pflegt. „An das Berbors
genfte und Ziefite alfo, bemerkt bier Jemand treffend, „mit Dem
ein Heide der Heilslehre noch empfänglich entgegen kommt, knüpft
Zefus an. Er faßt den Pilatus an dem Einzigen, woran er nod) fo
eben zu faffen war.” Gebt, fo genau nimmt der Seutfelige Herr bei
416 Das Heilige.
Ausübung feines Hirtenamtes die befonderfte innere Beſchaffenheit
der Einzelnen, um deren Rettung er ſich bemüht, in Obacht, md
fo forgfältig fpürt er den Zugängen nach, die an ihnen etwa für fen
Heil noch offen ſtehen.
Chriftus Fam übrigens nicht, den Wahrheit fuchenden Geiftern
auf Erden als ihrer Bundesgenofjen einer ſich anzufchließen, fordern
vielmehr fie zum Ziele zu führen, und dadurch den Sabbath ihren
einzuläuten, Ebenſowenig erfchien er, um, wie fo Manche fich das
denken, die Wahrheit erit vom Himmel berabzubringen; ſondern e
fom, um, wie er felber fagt, „für Die Wahrheit zu zengem“
Die Wahrheit war fehon da, verwoben in die Gefchichte Ifraels und
eingefleidet in die Geiftesworte Moſis und der Propheten. Chrifiw
gab ihr nur Zeugniß, und drüdte ihr In umfafendfter Weiſe das
beftätigende Siegel auf, und dies dadurch, daß er in ſich felber de
Beiffagung aufuahm, fie erfüllend, und das Gefeg, ihm nadle
bend und zur Teibhaftigen Verwirklichung ihm verhelfend. In feine
fittlihen Erfcheinung ftellt er den göttlichen Urfprmg des Ge⸗
fees, in feiner biftorifchen denjenigen der Weiffagung de
Welt zur Schau. Er zeugte „für die Wahrheit,“ fofern er der
felben in feiner Perfon das geheiligte Organ lich, vermittelft def
fen fie, niederbligend Alles, was Lüge heißt, vor Himmel, Erd’ md
Hölle ihre ganze Herrlichkeit entfalten Eonnte, Wer Jeſum aufah,
hatte, wenn das Auge feines Geiftes nicht fchon ganz erblindet war,
in einer Summa die thatfädhliche Löfung der wefentlichften Fragen
feines Geiftes und Gemüthes vor fih. Er bedurfte hinfort keine
Meifter mehr, welche ibm fagten, was von Gott und der Welt, von
Himmel und Erde, von Tugend und Sünde, von der Menfchen Be
ruf und ihrer Zukunft zu halten, zu denken und zu glauben ſei. (x
wußte Alles ſchon, und wußte es mit einer abfchließenden Sicherheit
und Gewißheit.
Wie brachte aber der Herr, der niemals unharmonifh von einem
Gedanken auf den andern überfprang, fein „Zeugen für die Wahrheit‘
mit feinem Reich und Königthum zufammen? Wollte er etwa fagen, daß
fein Reih nur ein Lehr-Reich, und er in fo weit nur ein König
fei, als er vermöge feiner Unterweifungen über die Geifter herrſche?
Keinesweges! Wir haben jchon bemerkt, daß er an unferm Orte nicht
von ferne daran denkt, feine Fönigliche Macht und Hoheit darein
zu fegen, daß er der Wahrheit Zeugniß gebe. Solch Zeugniß gibt
Chrikus ein König. 47
er nicht als König, fondern als Prophet. Den Weg aber will
er namhaft machen, auf welchem er's zur Aufrichtung feines Reiches
bringe; und Ddiefe Andeutung gibt er in den Worten: „Wer aus
der Wahrheit ift, Der höret meine Stimme.” Ya, diejenigen,
die feine Stimme hören, find. feine Reichsgenoſſen. Der Ausdrud
„aus der Wahrheit fein“ bezeichnet eine innere Vorſtufe der
Belehrung, in die jedoch auch ſchon ohne Einwirkung einer „vors
laufenden Gnade” Niemand eintritt. „Aus der Wahrheit“
it von Natur kein Menſch, fondern „alle Menfchen find,“ wie die
Schrift fagt „Lügner,“ indem fie die Zinfterniß mehr lieben, denn
das Licht, weil das Licht fie in ihren Sünden ftraft und in ihrer
Ruhe fie ftört, und indem fie den Irrthum an ihre Bruft drücen,
und gegen die Erleuchtung fich fperren, weil letztere ihrem fleifchlis
chen Behagen Gefahr droht, und zu einem Leben der Gelbftverleug-
nung fie nöthigt. So halten fie, wie fih Paulus einmal ausdrückt,
„die Wahrheit in Ungerechtigkeit auf.” Sobald aber der Geift, der
gleih dem Winde „wehet und geiftet, wo er will,“ Raum gewinnt,
weicht die Liebe zur Züge dem beißen Begehren, von dieſer frei zu
werden. An die Stelle des gefliffentlichen Selbitbetrugs tritt Die
lautere Willigfeit, „Alles zu prüfen, und das Gute zu behalten;* und
vor der ehrlichen, ernften Zrage nach Wahrheit und Frieden zerftieben
die Nebelgeftalten des Wahns, an welchen bis dahin die arme Seele
gefettet war. Gelangte man aber durch Wirkung des Geiftes Gottes
zu Diefer Herzenseinfalt, fo ift man Denen zugefellt, Die „aus der
Wahrheit” find. Dann rede nur, du Meifter aus der Höhe, und
wie tönt unfere innerfte Wefenheit vom Hal deiner Licht und Le⸗
bensworte wieder! Dann fprich dein „Kommet her, ihr DMühfeligen
und Beladenen,” und wie geme folgt man dem verheißungsvollen
Zuruf! Dann entfchleiere deine Herrlichkeit und Schöne, und wie
fliegt Dir unfere Sehnfucht frohlodend in die Arme! Dann entrolle
das Panier deines Kreuzes, und wie drängt man ſich herzu, um
Hütten zu bauen unter feinem Friedensſchatten!
D, meine Brüder, wenn ihr fammt und fonders aus der Wahrheit
wärt, welch ein Löftliches Gefchäft wäre es, euch zu predigen, und
welch eines Zuwachſes würde allfonntäglich das Reich Gottes ſich unter
uns zu erfreuen haben! Zaufenden aber widerfährt, was dem armen
27
418 Das Selig.
Pilatus, in welchen ein Anfang jener göttlichen Aluftik gewirkt war,
aber dem heiligen Geiſte von dem dareinredenden Fleiſche nicht
Kaum gelafjen wurde, Das fchöne Werk zu vollenden. Hören wir
denn nicht auf, lieben Freunde, den König der Wahrheit anzurufen,
daß er und Gewalt anthue, und uns nicht laffe, bis er unſern
Seelen die Saiten aufgezogen, in denen fein Wort einen vollen und
bleibenden Wiederhall finde! Erflehen wir vor allem Andern uns ein
aufrichtiges, kindlich unbefangenes Herz, und ſtimmen wir ein im die
Worte des fünfundswugigften Pſalms:
Herr! behuͤte mich anf Erden,
Ich bin hälflos, rette mich!
Laß mid nit zu Schanden werden,
Ich vertrau' allein auf did.
Gibzur Schutzwehr meiner Seel’
Einfalt und gerades Wefen!
Ad, wann wirft du Ifrael,
Herr, aus aller Roth erlöfen? — Amen.
— —
XXXIV.
Was iſt Wahrheit?
Im ganzen alten und neuen Teſtamente finden wir, mit Ausnahme
„der einzigen, zu der unſer heutiger Paſſionsabſchnitt ung führen wird,
feine Stelle, aus der und auch nur etwas Aehnliches entgegen
Hänge, wie die gegenwärtig ſo oft verlautende moderne Klage: „Wer
gibt mir Licht, und Löfet mir des Lebens dunkle Raͤthſel?“ Vielmehr
begegnet uns überall, und zwar bei den Gottlofen nicht minder, als
bei den Frommen, die ſtillſchweigende Vorausjegung, daß die Wahr:
beit nicht erft noch zu fuchen, fondern längft gegeben ſei. Das
verſchiedene Verhaältniß, welches die einen und die andern zu derſelben
eingenommen haben, ift nicht dasjenige des Zweifels und des Glau—
bens, fondern Das des böslichen Widerftrebens gegen, und der
willigen Unterwerfung unter fie. Allen fleht der Ausfpruch 5 Mof,
29,29: „Die Geheimniffe find des Herrn, unfers Gottes;
Des ik Wahrheit? 48
die DOffenbarungen aber find unfer und unfrer Kinder
ewiglich,“ unwiderfprechlidh feft. Wer es erft noch in Frage hätte
ftellen wollen, ob Gott zu den Pilgern auf Erden geredet habe,.
oder nicht, der wäre jedem Ifraeliten einem Menfchen gleich erfchles
nen, der etwa bei hellem Zage zweifeln wollte, ob die Sonne am Fir⸗
mamente ſtehe. Die Klage über Mangel an gewiffen Auffchluß im
Bereich der überfinnlichen Dinge ift eine Narrheit neuern Datums
und ein auf uns übertragenes Erbtheil des Heidenthums. Ste
ift Tängft, und zwar in untrügficher Weife, erledigt, die Frage fo:
wohl nad) dem Urfprung und Zwed der gefchaffenen Dinge, als nach
dem Beruf und der Zukunft des menfchlichen Gefchlechts; und die
erfreuliche Zhatfache, Daß fie das ift, bezeugt der eben angeführte
Sprud in den Worten: „Die Dffenbarungen find unfer und
unferer Kinder ewiglich.“ Wenn aber Mofes durch den heiligen
Geiſt binzufügt: „Die Geheimniffe find des Herrn, unfers
Gottes,” ſo will er und damit zu verftehen geben, daß die Wahr⸗
heit und nur fo weit geoffenbaret worden fei, als unfre Fafſungskraft
reihe, und wir ihrer Erkenntniß zu unfrer Seligfelt nicht entbehren
können. Dieſes Bewußtſein beruhigt uns gar fehr fo manchen ums.
geloͤſten Räthſeln gegenüber, welche immer noch bei den uns verfüns
digten einzelnen Glaubenslehren für uns übrig bleiben. Wenn 3. 3.
in den Dogmen von Gottes ewigen Dafein, von der Dreieinigkeit,
der Schöpfung der Welt, dem Fall der Engel und der Menfchen, der
Doppelnatur in Ehrifto, den legten Dingen u, f. w., das Eine und
Andre unfrer Dernunft zu fchaffen macht, und durch feine Unbegreif:
fichfeit uns Geift und Herz beänaftigen will, fo fagen wir auf Grund,
ja mit den Worten der Offenbarung felbft: „Die Geheimniffe find
des Herrn, unfers Gottes! Gott hat nur erft eine Seite jener Dinge
uns entfchletert, und zwar die fir uns jet noch allein erfennbare,
aber zur Erreichung des göttlichen Heilszweckes an uns überfchwäng-
lich genügende. Wir erkennen ſtückweiſe erfl, was wir einft volls
kommen erfeımen werden. Dieſes zukünftigen Moments harren wir
in Geduld, und find gewiß, Daß, wenn Dderfelbe mit feinem durch⸗
fcheinenden und Alles beleuchtenden Lichtglang wird hereingebrochen
fein, al’ unfer Stugen und Befremden in einen nünmer endende
Jubel anbetender und verwunderumgsvoller Freude fich verwandeln
wird.“
Diefe furzen Andeutungen mögen einer Betrachtung zur Einleitumg
27°
420 Das Heilige.
dienen, durch welche e8 Gott dem Herm gefallen wolle, in der lieber
zeugung uns zu befeftigen, daß die Wahrheit wirklich vorhanden fei!
Ishannes 18, 38.
Spricht Pilatus zu ihm: Mas it Wahrheit?
Ein furzes und unfcheinbares Wort, mit dem es unfere heutige
Betrachtung zu thun hat. Es hat aber daſſelbe, wie der letzte Seufzer
eines Sterbenden, feine tiefen, wenn gleich dunklen, Hintergründe.
Das Wort bildet das Echo, das dem Herrn auf feine Rede von dem
„Reiche der Wahrheit” aus des Landpflegers Seele wiederfehrt. Ob
aber gleich zwei Jahrtaufende faft ſchon alt, klingt's doch fo gewohnt
und heimisch an unfer Ohr, als ichölle e8 aus unfrer nächften Nach
barfehaft und aus unfrer moderniten Gefellfchaftskreife einem uns
entgegen. Es bezeichnet einen innern Standpunkt, der allenfalls eis
nem Heiden, namentlid) der damaligen Zeit, zu verzeihen war; aber
Diejenigen, die ihn heute noch theilen wollen, unbedingt verdammt.
Treten wir dem merkwürdigen Worte näher, und nachdem wir zuerſt
die Bedeutung deſſelben erwogen haben, verftändigen wir uns
darüber, ob noch irgend eine Berechtigung zu jener Frage vor
handen fei.
Erfrifehe unfre Betrachtung und das beglüdende Bewußtfein, daß
zu Lauten wie der, dem wir auf der Lippe des Pilatus heute be
gegnen, fein Anlaß mehr vorhanden fei, und entflamme fie unier
Herz zu erneuter Dankbarkeit gegen Gott, der e8 uns im dunklen
Pilgerthal der Erde nicht an einem „Licht auf unfern Wegen,“ noch
an einer „Leuchte unfrer Füße” hat gebrechen laſſen!
1.
„Wer aus der Wahrheit ift,* fchloß der Herr feine Rede, „der
höret meine Stimmel” Da entgegnet der Procurator: „Was if
Wahrheit?" Es haben Etliche in diefem Worte einen leichten Hohn,
Andre den Ausdruf einer vollendeten religiöfen Gleichgültigkeit finden
wollen. Aber weder diefe noch jene Deutung läßt fih mit dem Ehe
rafter des Pilatus in vollen Einklang bringen. Der Laut dringt
tiefer herauf, und birge einen reichern Inhalt, Wie ein Bliß beleuchtet
er und eine ganze Zeit, und die innerfte Gemüthslage vieler Zaus
fende ihrer Kinder,
Was it Wahrheit? 421
Wir haben früher fihon bemerkt, daß des Pilatus Leben in Tage
fiel, welche als Diejenigen der Bildungsreife des menschlichen Gefchlechts
bezeichnet werden dürfen, fofern unter Bildung Die geiftige und ges
fellichaftlihe Kultur verftanden wird, zu der e8 die Menfchheit fich
felbft gelaffen, umd durd) Rentbarmachung ihrer natürlichen Kräfte
und Gaben, zu bringen im Stande ift. Nicht allein hatte die Kunſt
ihre fchönften Bluͤthen getrieben; aud die Philofophie war am Ziel
ihrer fühnften FZorfcherflüge angelangt; und wir bewundern noch heute
die Lehrgebäude der Weisheit, welche fie durch die Denkkraft hochbe⸗
gabter Organe in's Dafein rief. Dennody war dem: „Gib mir, wo
ih ſtehe!“ die Befriedigung nicht gefchafft. Hatte auch der menfch-
liche Geift des Wahrfcheinlihen Manches zu Tage gefördert, fo
fab man fih doch nad) Gewiſſem und Untrüglichem verges
bens um. Bekannte doch ſchon in unbewußter Weiffagung der größte
aller Weifen des Alterthums felbft: „Nur wenn ein Gott vom Hims
mel niederfleigen wird, wird der Menſch zu etwas Sicherem ge
langen!” Ja, wurde doch der Grundfaß zum Gemeinplag, „gewiß
fei nur das Eine, daß man von überfinnlichen Dingen mit Gewiß⸗
heit nichts wiffen könne; und freilich wiffe man auch diefes Eine
nicht ganz gewiß.” Aus dem Schooße folder Anfchauungen erzeugte
fih zunächft in dem gepriefenen Griechenland jene frivole Lebensweis⸗
heit, welche, auf alles Höhere und Ueberfinnliche verzichtend, des
Menfchen ganze Beitimmung in dem Genuffe diefer Welt und ihrer
Güter aufgehen ließ, und die binnen Kurzem mit dem ganzen Gefolge
ihrer Ausfchweifungen und Lafter zur Religion der großen Mafje der
Bevölkerungen wurde, In der römifchen Welt behauptete fich eine
gewiſſe fittlihe Strenge zwar etwas länger noch, al8 in der griechi⸗
fhen. Nachdem aber die Römer auch Griechenland dem weltgebie-
tenden Zepter ihrer Herrfähaft unterworfen hatten, ſchwangen fi) Die
leiblich Unterjochten zu geiftigen und fittlichen Ueberwindern ihrer Bes
fieger empor, und vererbten auf fie mit ihrem Unglauben auch ihre
Leichtfertigleit und ihre Sünden. Bald wurde nım namentlich in
den Kreifen der Gebildeten die hergebrachte Götterlehre nicht mehr blos
angezweifelt, fondern al8 ein nichtiges Traumerzeugniß vornehm bes
lächelt; wie denn 3. B. der berühmte römifche Redner Bicero des
allgemeinen Beifalls feiner Zuhörer fich verfichert halten zu Dürfen
glaubte, da er vor einer Volksverſammlung in feiner Rede der Strafen
der Unterwelt nur noch wit einer ironifchen Miene und Wendung
422 Das Heilige.
Erwähnung that. Es glaubte an den Orkus und deſſen Schatten md
Schreden faum Jemand mehr; aber ebenfowenig glaubte man auch
an die Lehrſätze der Philofophen. Man glaubte mit einem Worte
nichts. Dennoch war das Nein des Kopfs keineswegs vermögen),
das in Taufenden nach wie vor um Licht und Frieden fchreiende Herz
zum Schweigen zu bringen.
Als ein rechter Repräfentant der geſellſchaftlichen Bildung feines Jahr⸗
hunderts fteht nun Pilatus vor uns. Freilich iſt nicht vorauszufegen,
daß er fi je in gründlicherer Weife mit dem Studium philoſophi⸗
ſcher Syſteme befchäftigt haben werde. Jedenfalls aber war auch er,
wie die Genoffen feines Standes insgemein, mit Den weſentlichſten
Refultaten der philofophifchen Forſchung obenhin befannt; und na
mentlich war er gewiß in der Literatur feiner Zeit fein Fremdling.
Diefen Mann führt nun fein Lebensweg mit dem Herm vom Himmd
zufammen, und verfeßt ihn dadurch in eine geiflige Atmofphäre, in
der noch einmal Gefühle und Ahnungen in ihm erwachen, weldye au
dem Hauche der frivolen Zeitbildung, die er mit der Muttermildy ein
gefogen hatte, Tängft in ihm erftorben fchienen, Chriftus, deſſen Au
blick ſchon unfern Heiden wunderbar ergreift, redet zu ihm von einer
andern Welt, von einem überirdifchen Reich, von einem bimmlifchen
Königthum, und zuleßt von der Wahrheit, und zwar als von einer
erfhienenen, die ſich darum auch wirklich finden und erfermen
laſſe. Da bricht Pilatus in die merkwürdige Frage aus: „Was ift
Wahrheit?” Der gebildete Heide des damaligen Jahrhunderts, und
zwar der edlem Gattung der Gebildeten einer, enthüllt uns in Diefer
Frage die Geftalt feines innern Menfchen. Allerdings findet fi) in
der Frage zuerft von der freigeifterifchen Frivolität etwas an, in der
man nicht allein auf den Götterglauben des gemeinen Volks, fondern
überhaupt auf Alles, was in das Gebiet religiöfer Anfchanungen fie,
als auf Kinderträume und phantaftifche Hirngeſpinnſte lächelnd herab;
ſah. „Was ift Wahrheit?” war zu der Zeit die Sprache Zaufender.
„Was wir," fügte man, „mit unfern Augen erfchauen, mit unfern
Händen betaften, ift das einzig Zuverläffige unter dem Hinmel.
Ueber die Grenzen der finnlichen Welt reicht Fein fterblicher Blick hin
aus; und Spiele des Dichtenden Geiftes mögen auf einer Lebens
und Bildungsftufe befriedigen können; fie können es nicht auf allen!“
In der Pilatusfrage läßt ſich ferner der vornehme, feeptifche Phis
loſoph vernehmen, Dem nicht allein bewußt ift, daß die Forſchungen
Bas it Wahrheit? 423
des denkenden Menfchengeiftes zu den verſchiedenartigſten und wider-
fprecheudften Ergebniffen führten, fondern der auch die Einbildung
bei fich nahrt, den Weiſen der Erde felbfiftändig nachgedacht und
nachgerechnet, und fo im Wege eigner Gedankenvertiefing die Ueber⸗
zeugung gewonnen zu haben, daß von Dingen, die ehwa jenfeits der
Schranken der Sichtbarkeit Tiegen möchten, ſchlechthin nichts zu ent-
decken noch zu erkennen ſei. „Was ift Wahrheit?” ruft er aus. „Der
Eine,” will er fagen, „nennt Wahrheit dies, ein Andrer jenes, viel-
leicht gar das Entgegengefebte. Spfteme tauchen auf und tauchen
nieder. Ein Meer ohne Hafen und Landungsküfte befchifft derjenige,
der Wahrheit ſucht!“
In der Pilatusfrage fpreizt ſich nicht minder der maßlofe Stoß
des römifhen Reichsbürgers, der ſich an Aufflänung und Kultur
über alle andern Völker der Erde, namentlich aber über das der Juden,
wer weiß, wie hoch, hinausdunkt. Mit einer, wenn auch nur vorüber
gehenden innern Gereiztheit fpricht Pilatus fein: „Was ift Wahr:
heit?" als ob er fagen wollte: „Du, ein hebräifcher Rabbi, wirft
Doch nicht denken, ich, der römiſche Batrizier, fei gelommen, um
bei dir Belehrung zu ſuchen?“ Der Grundton der Frage des
Pilatus indeß ift befferer Art, und wird von den bisher genannten
Miptönen nur flüchtig Durchkreugt und angehaucht. Wehmuth ath⸗
met fie, Refignation, ja die flumme Verzweiflung eines Her-
zens, welches mit dem Glauben an das Dafein einer Welt des
Ueberfinnlichen nicht zugleich auch den Wunſch und das Berürfniß
von fid) werfen konnte, daß eine folche Welt exiftiren möchte. Uns
glücklich und verwaift fühlt fi) auch die Seele des Pilatus noch in
der leeren Einöde des abfolnten Zweifels, in die fie fich gebannt fieht.
Deuten wir die Zrage des Landpflegers aus dem tiefften Innern feis
ner Gemüthswelt heraus, jo dürfte fie etwa in Diefe Laute fich aus⸗
einanderlegen: „Du redeft von Wahrheit! Ah, die Wahrheit ward
den armen Sterblichen nicht zur Gefährtin mit auf den Weg gegeben!
Wir fragen nach ihr; aber das Echo ruft, unſrer Sehnfucht ſpot⸗
tend, nur unfre Frage uns zurüd, Wir feßen die Leiter des fors
fhenden Gedanfens an; aber nur in undurchdringliche Nebel entführen
uns ihre Stufen! Nicht eine Wahrheit hat dem vieltaufendjährigen
Argonautenzuge philoſophiſcher Denkthätigfeit gelohnt; und du, Maun
aus Nazareth, willft vom der Wahrheit reden, als von einer Einfaffee
der dunklen Exdet Der Tod hat von Anfang ber geſchwiegen; 06
424 Dad Heilige.
ſchweigen die Gräber drunten, die Sterne droben; und du willft dafür
gehalten fein, daß du denfelben die Zunge gelöft und ihre Geheimmiſſe
entfiegelt habeſt?“ — Ja, auch Solches, oder dem Aehnliches doc,
tönt, den tiefern Hintergründen feines Gemüths entfleigend, uns durch
Die Pilatusfrage an. In dem Manne tft freilich etwas von einem
ſtolzen Philofophen, etwas von einem abgelebten Indifferentiften, et
was von einem Sceptifer von Profeffion, etwas von einem frioolen
Freigeift und Spötter, etwas von einem kleinlich eiferfücchtigen umd
ehrgeizigen Braufelopf, der mit feinem: „Was ift Wahrheit,” anch
fagen wollte: „Wie fönnt ihr euch unterfangen, mich, der ich auf
wichtigere Dinge zu denken habe, mit euren jüdifhen Glaubenshäns
deln zu bebelligen?* Aber es ift in ihm auch etwas Andres, Bei:
feres und Edleres noch: ein unverdrebter, Tichtbedürftiger Menſch, eine
Kreatur, die nah Erlöfung ſeufzt, aber leider! durch die unreinen
und finftern Elemente, die ihn durchwalten, gebunden tft, und, Durch
fie niedergehalten, nicht freien Raum gewinnen fann.
So oft die Pilatusfrage mich antönt, meine ich, wie fchon aefagt,
diefelbe nicht aus einer achtzehnhundertjährigen Vergangenheit, fondern
aus der unmittelbarften Gegenwart, ja aus meiner nächjften Umgebung
zu mir berüber tönen zu hören. Schlagend bezeichnet ſie Das Ge
ſchlecht auch umfrer Zeit, und die fogenannte „Höhe,“ auf welder
die modernfte Bildung nunmehr wieder angelommen ift. Nur erfcheint
die Frage im Munde unfrer Zeitgenoffen unendlich verdannmmungss
würdiger noch, als fie e8 im Munde unfers Römers war, defien Augen
noch nicht gefehen hatten, was die unfrigen, da weder damals Jeſus
fhon verklärt, noch der heilige Geift bereits ausgegoffen, noch die
Welt mit dem Schwerte des Evangeliums überwunden und der Wım-
derbau der Kirche Ehrifti gegründet war. Jetzt, nachdem dieſes Alles
geichehen ift, auf den Standpunkt des Heiden Pilatus fich wieder
zurüdeftellen wollen, ift nicht menfchlich mehr, fonden dämoniſch.
Es brennt in der Scepfts jetzt ein höllifcher Zunfe, und des Römers
Zweifelmuth verhält fich zur dem Unglauben unfrer getauften Heiden,
faft wie ein unſchuldig Lamm zu einer tüdifchen Natter. Der Uns
glaube iſt jept nicht mehr das blinde Kind des vom Erdgeift bes
thörten und umgarnten Herzens, fondern der lichtfcheue Sohn des
böfen und rebellifchen Willens. Auf die Frage: „Was ift Wahrheit?“
gehört gegenwärtig nur noch die Antwort: „Unter Anderm ift Wahr
heit Das, daß du verdammt bifl, weil du die Lüge liebſt!“ Im Blick
Was iR Wahrheit? 425
auf einen Pilatus bleibt für Mitleid noch und für Bedauern
Raum. In Bezug auf den neueften Unglauben Dagegen heißt es:
„Schilt das Thier im Rohr, die Rotte der Stiere unter den Voͤl⸗
fern!“
2.
„Was ift Wahrheit?” Es ift bald gefunden, was Wahrheit fet,
wenn nur mit Ernft darnach gefragt wird. Eine Menge Menfchen
gibts, die wohl nah „Wahrheiten“ fragen, aber der Wahrheit,
wo fie ihnen begegnet, gefliffentlid) den Rücken kehren. Wohl fähen
auch fie gar gerne allerlei Räthjel der Natur und des Lebens fich
gelöft; aber ihr ganzes Fragen und Forfchen tft nur Geiftesfpiel,
und ihr Intereffe nur müßige Neugier. Ihre Theilnahme ift rege,
wenn ſich's davon handelt, wie man fich die Entſtehung der Welt
zu denken habe, ob eine Geifterwelt, eine FZortdauer nach dem Zode
exiſtire, wie das jenfeitige Leben befchaffen fein möge, u. f. w. Aber
vor der Wahrheit ziehen fie fich ſcheu zuruück, und fuchen in allerlei
Weiſe ihr Tieber auszubiegen, als ihr zu begegnen. „So wäre denn
die Wahrheit da?" Welche Frage! In deinem Herzen ift fie, wie
in deinem Munde; ja mit Händen greifft du fie; und du willft noch
alfo fragen? Daß du 3.2. exiſtirſt, daß du ein Bewußtſein einer hoͤ⸗
ben Beitimmung unpertülgbar in deinem Bufen trägftz; daß du aber,
weit entfernt vom Ziel derfelben, ein fündiges Weſen bift, und feinen
Frieden, der die Zeuerprobe halte, in deiner Seele findeft: gehört dies
Alles nicht der Wahrheit an? Daß ferner vor achtzehnhundert Jah⸗
ren auf Erden ein Mann erfchien, den Niemand einer andern Sünde
zeiben konnte, als daß er „die Wahrheit” fich genannt, und ſich als
denjenigen angekündigt habe, der einft die ganze Welt feinem Geiftess
feepter unterwerfen werde, und daß gegenwärtig du — ich rede hier
mit den Worten eines Andern, — „mit aller deiner Freiheit und
Sehftftändigkeit in das Meer von Folgen verfchlungen bift, die fich
daher fhreiben, daß vor fo langer Zeit weit von Dir in einem vers
ächtfichen Erdenwinkel jener verachtete Rabbi einer unbedeutenden Nas
tion wie ein Sklave hingerichtet wurde, und du um defwillen num
im allen deinen Beziehungen fo ganz anders beftimmt worden bift,
als du e8 ohne das geworden waͤreſt:“ kann fich Dir dies auch nur für
einen Augenbli in Zweifel ftellen, und tft es alfo nicht die Wahr⸗
heit? Gehe nun an der Hand defien, was du fo als unwiderleglich
ſchon erlannteft, finnig weiter, und bald wirft Da inne werden, es
2286 Sei Geige.
wuise über ter Reuxkbeu zur keberer gübrmgö- und Exrzichumgöylan,
wm? werk Derani kbmeren, Dis em Gem, ber die Liebe fei, ſich ſeinen
armen Sterbiichen umnrseterbtab unch werde geeitenbart haben muiflen.
Un? wie Lmge mut’s um mübren, 'e wırk du Dir, dem zur Einfelt
ums
03% den — —
64 Ta re Ban Send
Ange:
Sehen Der Babrbes Kar eo mus mit Dias üherkhifthen Gin
wirt, md da Segrüßt Di endlich die Babrbeit in Perſon. „Mb
bin die Wubrbeit* ſpricht em Mann, den Alles, was am ihm if, ald
einen liebermenichlichen bezeichnet, und aus der Belt aller kichtbebärf
tigen Geifier toͤnt als Ece ein pwerfihtövelles: ‚zurmabr, du bil
es!“ Ihm zurück. Daß über den Bellen ein lebendiger Weltgebieter
tbrone, wer dieſer Gett in der Höhe, welches jein Bille an Die Ares
tur, wozu der Menſch geſchaffen, mus ſein böberer Beruf, was feine
wahre Beñimmung ei: in Ebrite Jeiu wird dieſes Alles umwider
ſprechlich offenbar. In einer Erſcheinung erſchließen fi uns die
Ziefen der Gottheit, die Rarbichlüffe Der ewigen Liebe, Die Abgründe
der yöttlihen Burmberzigkeit, Die Gebeimnifſe Des Lebens und de
Zodes, des Himmels und der Hölle. Auf alle Fragen, fei es nad
dem Inhalt und Kern des göttlichen Gejeges, ſei es nach dem Weſen
der wahren Zugend und Heiligkeit, ſei es nach Dem Ideale des
Menichenthums, oder wonach jonit es jei, iſt er, ſchen vor aller Nede,
felbit die euticheidende, periönlice Antwort. Und wo er jpricht und
handelt, ftürzen die Geifter des Zweifels, wie die der Lüge und des
Wahns, davon, und Klarheit, Gewißheit und Zuverfüht entbieten ums
den himmlijchen Zriedensgruß.
Es verftumme denn auf Erden das Pilatuswort: „Was it Wahr⸗
kit!“ So kann hinfort mur noch der Blödfinn, oder Die mwuthrillige
Da if Baheheitt 4
Selbſtverblendung und der dämoniſche Lichthaß fragen. Die Wahrheit
hat ihren Einzug in die Welt gehalten, und wohnt vertraulich, und zus
gänglich für Alle, die ihrer begehren, in unfrer Mitte. Eine Philos
ſophie, die fich gebährdet, als müfle fie die Wahrheit erft aus der
Ziefe heraufs oder vom Himmel herunterholen, wird ihren fchreienden
Undant gegen den Gott der Gnaden damit büßen, daß fie ewig im
Finſtern tappen, und, nad) Schemen taftend, nimmer zum Anferwerfen
fommen wird. Die Aufgabe der Philofophie wäre jeßt Die, das ins
nerfte Bewußtfein des menfchlichen Geiftes zu ergründen und auszus
fhöpfen, und an deſſen unvertilgbaren Bedürfntifen vorurtheilsfret
die in Chrifto erfchienene Wahrheit zu erproben. Schidte fie fi
Dazu an, fünvahr, bald bände aud) fie nach ihrer Tangen Irrfahrt
beim Berge Zion ihren Nahen an, und riefe jauchzend und frohlockend
auch: „Ich habe gefunden, ich bin am Ziell” Alles, was reblich
und ernft nach Wahrheit forfcht und fucht, Tandet unausbleiblich
zuleßt in der göttlichen Hafenbucht des Evangeliums, Mit der größten
Zuverſicht durfte darum der Heiland fprechen: „Wer aus der Wahr,
heit ift, der böret meine Stimme!“ — —
Preifen wir denn den allgenugfamen Gott für die unausfprechliche
Gabe, deren er uns gewürdigt hat! Siehe, die Nacht ift vergangen,
und der Tag ift angebrochen! Der alte Prophetenruf: „Mache Dich
auf und werde Licht: denn dein Licht kommt!“ hat fich feinem weiffe-
genden Theile nad) längft erfüllt. Erfülle fi in uns Allen nun au
Die Mahnumg, die jener Ruf neben der Verheißung tim Schooße trägt!
Näumen wir der Wahrheit, die vor unfrer Pforte fteht, mit freudiger
Willigkeit Geift, Herz ımd Gemüthe ein, und wandeln wir „als die Kitts
der des Lichts!” Er ift Die Wahrheit, der zugleich der Weg und das Les
ben ift. Werfen wir die Schlangenbrut unfrer Zweifel unter feine Füße,
daß er fie zertrete, und fprechen wir betend mit dem alten Sänger:
Sei unfer Glanz und Wonne,
Ein helles Licht in Bein,
Im Schreden unfre Sonne,
Im Kreuz ein Guadenfdein;
In Zagheit, Glut und Flamme,
In Roth ein Frendenſtrahl,
In Krankheit Arzt und Amme,
Ein Stern in Todesqual. — Amen,
— a
228 DE ip.
XXXV.
Des Gettrdlemm.
um“ I die ke Tu erie Gurtermmmy zur hu Ahr zub Wei,
m der te xız ı Zım2 m? See frame ill, begegeei
— 21, ze mm beruber wol, Ge babe dem eriken
— zuh deu Simdeniell „Ride ron Fellen zenacht uud
fie ihnen angezogen“ Ze kom. 1 wi fiztermührdhenbafl,
deeie Orsiblung rm, je vamiz med Dirt beieurime ve se. Cm Them
außererdeuttuber zerrtiher Herablaiizea ara ich hier: aber ed
ee a m
jeides Them tee Ratımı der iuutizee ut Dem Auch verfallenen
Mt vermitichn Line Te wuılmm Warten balen den Ber
fu gemacht, ch tik u beiten, un? mir Zewmenblättern ibre Diöße
zu bededen. Get aber renzuf dieſe Hülle als eine unzureichende,
und kezruzie dadurch, dasß der Mexich der Reribinma, nich ſelbſt
rechttertig vor Zeimen Angen Durzsitellen, durchs ermungele. (ir
iiber, der Allerbädhite, übernabm es turım in eigner Perien, tem
Gin unichuldiges Leben ward georiert, ein Tbier, unbezweifelt eim
Kamm, und denſen reines Vließ den Zimdern zur Decke dargereicht.
Ber vertennt in dieſem göttlich jomboliſchen Akte den lirtorus aller
fpäteren Opfer der Hürte ımd Des Tempels? Und wer fiebt nicht,
dag das Länmervließ, welches den eriten Zimdern ihre Blöße be
Dedte, nach Gottes Willen das bedeutungsvolle Vorbild der Gerech⸗
tigkeit war, welde der Mittler Chriſtus geborchend, leidend und
ſterbend uns erftritt? Bas im Anfang der Menichengeichichte vor
den kaum geſchloſſenen Pforten des Paradiefes figürlich geſchah, fehen
Dak Goliellemm. 420
wir in den Paffionsenangelien wirklich werden. Ja, was Gott an
Adam und Eva in tiefer Symbolik that, das vollzieht er weſenhaft
bis zu Diefer Stunde an Allen, die um ihre Sünden befümmert zu
Seinem Gnadenthrone ihre Zuflucht nehmen, — Wir treten heute zu
dem erhabenen Gegenbilde jenes Opferlammes zurüd, das den Ges
fallenen des Paradieſes die Hülle lieh, in der fle wieder getröfteter
ihr Haupt erhuben. Helfe Gott, daß, was an ihnen prophetifch
einft geſchah, über uns als befeligende Erfüllung kommen möge!
Ish. 18, 38. Matth. 27, 12—14. Fuc. 23, 4.
Und da er dad gefagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden, und ſpricht zu
ben Hobenprieftern und zum Bolt: Ich finde feine Schuld an ihm, und feine Urſache
an biefem Menſchen! Und die Hohenpriefter befhuldigten ihn hart. Und da er ver-
Magt ward von den Hohenprieftern und Aelteſten, antwortete er nichts. Da fragte ihn
Bilatus abermald, und fpra zu ihm: Antworteft du nichts? fiehe, wie hart fie dich
verfiagen! böreft du nicht? Jeſus aber antwortete ihm nichts mehr, nicht auf ein
Wort, alfo, daß ſich auch der Landpfleger fehr verwunderte.
„Und ich fab, und fiehe — ein Lamm!" Wem fallen Ans
gefichts der Scene, die in unferm heutigen PBafflonsauftritte ſich vor
uns entfaltet, nicht diefe Worte der heiligen Offenbarung ein? rs
gend ein Mal mußte die Geftalt des jefajanifchen vor feinem Scheerer
verftummenden Opferlammes recht vollftändig ausgeprägt erfcheinen,
und Dies gefchieht in unferem heutigen Evangelium. Schauen wir
uns das Gotteslamm näher an, und zwar in der dreifachen Be⸗
feuchtung, welche e8 durch Das Zeugniß feines Richters, durch
die Befchuldigungen der Hohenpriefter und des Volles und
endlich durdy fein eigenes Verhalten erhält! Unter dem Segen
Gottes verfläre ſich unſere Erwägung zu einer ftillen Herzensfeier, Die
Durchklungen und getragen werde von dem alten Kirchenfange:
O Lamm Gottes unſchuldig!
Am Kreuzesſtamm geſchlachtet!
Allzeit erfunden geduldig,
Wiewohl du wardſt verachtet!
All' Sünd’ haft bu getragen;
Sonft müßten wir verzagen.
Erbarm’ dich unfer, o Jeſu!
1.
Nach feiner erften Unterredung mit Jeſu tritt Pilatus aus dem
Praͤtorium wieder auf die offene Nishterbühne vor das Volk heraus,
4 dab Helligt.
und nimmt diesmal den Verflagten mit fi. Der Landpfleger iſt ms
feiner Gemütbölage na fein Unbekannter mehr. Wir lernten ihn als
einen Menichen fennen, in welchem feinesweges fchon alle Enupfinz
lichfeit für wahre Geiſtesgröße erloihen war. Eine ftille Bewunde
rung der außerordentlihen Periönlichkeit, welche in Jeſu vor ihm amd,
bildete die Grunditunmung, die während der ganzen mit Demfelben
gepflogenen Derbandlıma in tteigendem Maße ibn beberrichte. ein
Meden und Schweigen, der Blid feines Auges, wie Das Ganz
feiner Haltung, jeine Demuth, und Dunn wieder feine ſtolze Ruhe,
feine Zammesgeduld, und nicht minder fein nie getrübtes Königsge
fübl und Selbftbemußtiein: dieſes Alles bat einen gewaltigen Cin⸗
drud auf ibn gemacht; und hätte er dem, was traumartig fein June
res durchzog, überall den angemeffenen Ausdrud leihen wollen, ie
würde wenigſtens in einzelnen Momenten etwas Achnliche® aus ihn
beraus verlautet fein, wie das große Johanniszeugniß: „Bir fahen
feine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit alö des eingeberenen Sohnes vom
Vater, voller Gnade und Wahrbeit.“ Ja, auch ein Pilatus in
für die Echöne des Herm vom Himmel noch einen Epiegel in ſeiner
Bruft; nur war es leider! ein Eisſpiegel, über den Die warmen
Petrus: und Magdalenenthränen noch nicht geflofien waren. Wo
diefe aber fehlen, bält der Epiegel der Seele die Strahlen des gött⸗
lichen Morgeniterns nicht feit, und nimmt im günftigften Falle fein
Bud nur getheilt und ſtückweiſe auf. Dennoch leuchtete Die Hoheit
Immanuels zu mächtig felbit in Das Innere unſeres Nömerd ſchon bin
ein, als Daß es deſſen freier Wahl noch anbeim gegeben geweſen würe,
mie er fih zu ibm stellen ſolle. Bis zu einem gewiſſen Grade tft er
innerlih von ibm überwunden. Gr muß ibn losiprechen von aller
Schuld. Er fann einer geheimen Ehrerbictung gegen ihn ſich nicht
erwebren, und wird, fo oft er den Einflüiterungen egoütifcher Rück⸗
fihten gegen Jeſum Gehör geben will, von der Zrimme der Wahr⸗
beit, Die in ihm reder, gerichtet und gewarnt, ja unwideriteblidy ge
nötbigt, in die Bahn eines Züriprechers und Anwalts Des Gerechten
zurückzulenken. Welch' eine Majeität muß alle auch Da noch dus
Gotteslamm umleuchtet haben, als Marter nd Schmach ichen wie
Meeresflutben über fein Haupt zuſammenſchlugen; und mit welchem
Wunderglanze mußte die Sonne der Gerechtigfeit aub Das Gewölk
der tiefften Emiedrigung noch durchbrechen, Daß fie im Stande wur,
felbit einem verweltlichten Kinde des epifuräiichiten aller Jahrhun⸗
Dad Gotiellamm. 431
derte eine ſolche Devotion abamöthigen! in Gleiches, wie dem
Pilatus, würde vielen auch feiner heutigen Sinnesgenofjen widerfah⸗
ren, wenn fie nur einmal in ähnlicher Weife, wie er, mit Jeſu zuſam⸗
menträfen. Ich habe ſolche Menfchen hier im Auge, welche fich freilich
an diefer Stätte nicht mehr betreffen laſſen, weil fie Tängft mit Kirche
und Gottes Wort fi) auseinanderfegten, und vom Zaumelfelch des herr⸗
ſchenden Zeitgeifts trunken das ganze Ehriftenthum als eine „nicht mehr
zu haltende Sache” aufgegeben, und Ehrifto felbft ohne vorbergeganges
nes Berhör als einem „wie die Sterblichen alle, dem Zruge unterwor⸗
fenen jüdifchen Rabbi * mit der Unterthänigkeit ihrer Vernunft auch
diejenige ihres Herzens und Lebens gekündigt haben, Fern aber ſei
es von mir, felbft dieſe Leute unbedingt wegzuwerfen. Nicht alle find
fie ſchon fo ganz im gemeinen Weltwefen verfumpft, daß fie eines ed»
fern Geiſtes⸗ und Gefühlsauffchwungs durchaus nicht mehr fähig wären,
Sie kennen zum Theil nur den Jeſus noch nicht, von dem fie fch
losgeſagt, ja beurtheilen in ihm eine ihnen völlig fremde Perſoͤnlich⸗
feit. Daß fie nur ein Mal ſich entfchließen könnten, in der göttlichen
- Bilderhalle der Evangelien ihm näher zu treten, und einige ftülle
Stunden der Sammlung dazu anzuwenden, feinem Thun nachdenfend
zuzufchauen, feinen Reden ruhig zu laufchen, und dann an der Hand
der Gefchichte feiner Kirche auf feinen Eroberungsgängen durch die
Belt im Geifte ihm nachzugehn! Ich bin gewiß, daß auch ihr Ges
müth bald von Ahnungen überwältigt werden würde, die es ihnen
mindeftens unmöglich machten, noch fernerhin in einer gleichgültigen
Stellung zu ihm zu verharren; ja, Daß fie fih, ehe ſie ſich's ſelbſt
verfähen, in ihrem Inneren genöthigt fänden, entweder diefem Jeſu
zu huldigen, und mit ihrer ganzen Liebe fich ihm hinzugeben, oder
mit derjenigen Empfindung ihn zu haffen, die man Jemandem ents
gegenträgt, dem man die Berechtigung, daß er über uns herrfche, nicht
abzufprechen vermag; unter defien Scepter man aber gleichwohl ſich
zu beugen nicht gewillt iſt.
Es mögen ſich in der eben bezeichneten Lage vielleicht ſchon Manche
unter und befinden. Sie bedürfen des Herrn Jeſu nicht, und wiflen
doch auch nicht von ihm loszufommen. Sie verfagen ihm Die Unters
werfung, und ſehen ihn Doch als einen Unterwerfung fordernden uns
abläffig vor fi) ftehen. Sie wollen ihre eigenen Wege wandeln, und
vernehmen doch in ihrem Gewiſſen ununterbrochen Sein: „Hieber!
Dies ift der Weg; fonft weder zur Mechten, noch zur Linken]? ie
433 dab Gele.
trachten mit aller Gewalt ich zu überreden, er fei nur ein Menſch ge
weien aleih antem Meniten, md meinen Doc, fo oft fie ihn m
Geiñe wieder anſcham, von ieiner Stim die Juſchrift leuchten zu
ieben: „Ih kin Das A und das O, der Grüe md Letzte!“ Wilke
aber, ibr, Me ibr mer iclben Gindrüden jener Majeflät einher
gebt, ımd, um nicht ganz unter feine Vomäßigleit zu gerathen, end
genötbigt ſindet, ibn immer wieder gewaltjam von euch wegzuftoßen,
Daß cs eine bäcfk bedenftice und (efabr Drabende Stelleng üR, is
der ihr euch befinde. Guer Kamwr mir Chriſtus, Dies traurige Ge
genzbeil des Bekannten Jakobslamwfes, kann leicht einen Ausgang für
euch gewinnen, der von Demjenigen, melden ein Judas Iſchariech
nahm, in nichts verichieden it. Por allem Anderen it Eins ad
zu wünſchen: Die lebendige Erfennmmig, daß ihr, ald dem Fluch ver
fallene Sünder, Alles eber, als Dielen Jeſum entbebren föunt. Ge⸗
Fußfall der Reue und Anbetung vor ſeiner hochherrlichen Erſcheinung,
a mit dem Liebe und Hofmung uthmenden Ausruf: „Herr Schu,
du Sohn David, erburme dich meiner!“
Unummunden bezeugt Pilatus vor den Hobenprieftem und allem
Volk: „Ich finde feine Schuld an ibm, ımd feine Urſache an Diefem
Menſchen,“ und drüdt Damit das beitätigende Ziegel dem befannten
Petriniiben Worte auf, laut welchem wir nicht mit vergänglichem Gold
oder Züber, jondern mit dem theuren Blute Chrifti als eines un;
Ihuldigen und unbefledten Lammes erlöfet find. Freilich zeugt
es von einer großen Oberflächlichkeit des Denkens, und von einem
ſehr geringen logischen Vermögen, daß er nur „feine Schuld“ an
Jeſu findet. Eine große Schuld lag in Jeſu Dezeunen, daß er
der Sohn des lebendigen Gottes, und der König des Himmelrei-
ches fei, wenn er daran log und Diele boben Titel fih nur an⸗
maßte. War er aber berechtigt, fo erbabene Dinge von fi au&
zujagen, wie, Daß Dann der Lundpfleger nichts Beßres für ihn hatte,
als das magre Zeugniß, Daß er ihn nur ſchuldlos erfenne. Doch
aud Dies Zeugniß nehmen wir ſchon gerne bin. Dem Namen des
Landpflegers wurde dafür mit Recht ein unvergingliches Denkmal in
dem Belennmiffe der allgemeinen chriſtlichen Kirche geftiftet. Jeden⸗
P
Das Gottellamm. 433
falls fehen wir mit inniger Rührung den gutberzigen Römer an, wie
er dem Berflagten jo gewogen, und von deſſen Unfchuld und fittlicher
Unfträflichkeit fo mächtig ergriffen if. — So gerne febte er der münd⸗
lichen Zreifprechung des Gerechten, die er wagt, durch eine thät⸗
liche die Krone auf; aber — die Juden, der Kaifer, feine amtliche
Stellung, und was Alles fonft noch! Ach, wen Verftandesüber:
zeugung nur, oder auch nur eine natürliche Ahnung, aber nicht
die Sündennoth des fchuldbeladenen Herzens mit Jeſus verfnüpft, an
dem wird der Herr, wenn e8 zum Treffen fommt, niemals einen vers
läffigen Anwalt und Vertreter haben. Es fchlägt ein Solcher ja mit
Chriſto nicht fein theuerftes und umentbehrlichftes Befibthum los.
Seinem Gemiffen zu Lieb’ träte er wohl gerne mit aller Entfchieden:
heit für im in den Riß; aber die Ehre bei der Welt, die Gunft der
Menfchen, der häusliche und gefellfchaftliche Friede, und was deß mehr
ift, übt auf ihn viel mächtigeren und überwiegenden Einfluß. Wie
wenig inbrunftvolles, fräftiges und unverholenes Zeugniß für die Got-
tesherrlichkeit und Heilandswürde Jeſu Chriſti verlautet in unferen
Tagen, wenn es darauf ankommt, felbft unter denen, die das Brod
der Kirche effen und in deren heiligen Aemtern prangen! Wie viel
Winkelzüge nimmt man wahr, wo es einmal ein felbftverleugnen-
des Bekenntniß gilt! Wie viele Umgehungs- und Ablenfungskünfte
werden da geübt, wie viele Sudasküffe ertheilt, und wie viele feine
und verftedte Verleugnungen begangen! An Predigern des unver:
fälfchten Evangeliums gebricht's, Gottlob! nicht mehr in unfern
Zagen; aber von wo überfamen diefelben das Chriftentfum, das fie
das ihre nennen? Können fie alle bezeugen, daß fie es auch noch
andere Wege wandeln fahen, als den Weg vom Katheder der Do-
centen in ihr Heft, oder aus Schrift und Buch in ihr Gedächmig?
Brachten fie es alle als eine Siegesbeute aus tiefen Herzensfänpfen
mit hervor? Kamen fie zu Jeſu, wie eine Magdalene zu ihm Fam,
ein Schächer, oder ein Apoftel Paulus, welcher wohl heute noch ver-
zweifelnd am Staube flüge und die Hände ränge, hätte er fid) an
Demjenigen nicht aufrichten können, im Blid auf welchen wir ihn be>
zeugen hören: „Sch hielt nicht dafür, daß ich etwas unter euch wüßte,
ohne allein Jeſum Chriftum, und zwar den gefreuzigten.* Ferne fei
e8 von mir, mic) zum Richter aufzumwerfen; aber allen Ernftes muß
ich beforgen, daß unter denen, die wieder glauben zu dieſer Zeit, gar
viel Pilatusglaube fich finden möge. Es wird aber die Pilatus
28
44 Das Gelee.
verebrinig gegen Jeſum, wie viel Wabres uud Schönes auch fie hen
in ih berge, am Tage der areßen Sichtung mur unter der Epreu er⸗
funden werden, welche als nichtig und völlig wertblos im Me wur
Winde zermeben wirt.
2
Pilatus bar ſeine innerite Ueberzeugung von der ſittlichen Beſchef⸗
fenbeit Jeſu aufrichtig ausgeſprochen, da beben die Hobenpriefter, über
Die dadurch erlittene Niederlage nicht wenig erboſt, aufs mene m,
Anklagen ber Anklagen gegen Den Gerechten auszuſchäumen. „Se
beichuldiaten ibn Bart“, meldet die Geſchichte. Wider beileres Willen
und Gewirten überaiegen fie ibn mit einem Meer von Bub we
Angrimm; und jegt erſt fomm Das Wort des Propheten: „Da a
verklagt mard, that er Teinen Mund nicht auf, mie em Sun“, zu
feiner aanzen Erfüllung.
Das bedeutſamſte und iinnwollite Vorbild, Das durch göttliche Ber
ordnung in Jiraels Gedichte und Gettesdienite ſich verwob, war das
“ann. Ja, es begeanet und vor den faum geſchloſſenen Pforten des
Paradieſes idhen in dem Cofer Abels Das Lamm ald ein Gegenkand
beionderiten göttlichen Augenmerks und Wohlgefallens. Später üt ed
das Lamm, Das mit feinem Blut dem eigentlichen Anfang der ifras
litiſchen Volksgeichichte die Weibe gibt. Lämmerblut, an Me Time
pfoſten geſprengt, vermittelt in Ganpten Iſraels Bewahrung vor Tem
tödtlichen Schwert des Racheengels, und Des Volfes Auszug aus dem
Tienitbaute der Pharaonen. Von Da an blich das Lamm Die ber
poritedendite Figur, unter welcher Sen Den Rindern Abrabuns der
zukünftigen Meſſias vor Augen nulte. Es gewann duflelbe fortan
ſeine bleirende Statt in Jiraels Opferritus überbaupt und in der
jährliben Vañafcier insbeſondere, bei welcher letzteren jede Hausge⸗
noñenſchaft nach Dem moſaiſchen Geſetze gehalten wur, ein Lamm
männlichen Geſchlechtes und ohne Febl und Gebreden zum Heilig
tbum zu bringen, auf Daelbe in feierliher Weile ibre Sünden zu
bekennen, das nunmebr vorbildlih mit ihrer Schuld beladene im
Tempelvorbof zur Schlachtung Darzubieten, und Dunn, nachdem es ge
braten war, in feitliher Communion mit Zreuden und unter Dunf:
geiängen zu Jehova ganz zu verzebren. Das propbetiſch Sinnbildliche
lag bei dieſer ganzen Ceremonie ſo unverbüllt zu Tage, daß auch das
abnungsloſeſte Gemũth es nicht verfennen konnte. Jedem nur halb⸗
wege für göttliche Symbolik Empfänglichen drängte fich dabei alſobald
Des Gottehlemm. 435
und unabweisbar der Gedanke auf, daß dieſe ganze gottesdienftliche
Anordnung etwas Anderes nicht bezweden koͤnne, als in Iſrael mit
der Erinnerung an den ihm zugedachten großen Sindentifger zugleich
das Vertrauen und die Hoffnung auf denfelben wach und lebendig zu
erhalten. — Johannes der Täufer tritt in der Wüſte auf, und der
erfte, bei jeder Erſcheinung des Herrlichen fich wieder erneuernde, Gruß,
womit er Jefum willlommen heißt, und gleichfam den innerften Kern
aus feinem Beruf und das Herz aus feier ganzen Erfcheinung here
ausgreift, lautet: „Siehe, das ift das Lamm Gottes, das der Welt
Sünde trägt!" „Das wohlbefannte Lamm“, will er fagen, „das zu⸗
vorverfehene, das Tange in Wort und Bild, in Zeichen und Schatten
angefündete, der Lünmer Egyptens, der Lämmter der Hütte und des
Zempels, und namentlich der Pafjalämmer großes Ur: und Gegenbild,
und das zur Schlachtbank gezählte Lamm des Sehers Jeſaias!“ Und
o, mit welcher feligen Herzensbewegung ruft Johannes e8 daher, Jo⸗
hannes, der in jahrelanger erfolglofer Selbfterlöfungsarbeit unter den
Treiberſtecken des Geſetzes fo tief zerbrochene, aber eben darım auch
für den Zroft der Verföhnung fo gründlich zubereitete Mann! Er ruft
mit feinem „Siehe” die Augen der ganzen Welt herbei, und meint,
dag wahrhaft fehenswerth hinfort im Himmel und auf Erden nichts
Anderes mehr fei, als dies fein Gotteslamm. 1lnd freilich bezeichnet er
mit den Worten: „Das Lamın, das der Welt Sünden trägt”, aller Ge:
heimniffe beglücdendftes und größtes, und den eigentlichen Kern und
Mittelpunkt des ganzen Evangeliums. Denn wenn Chriftus nur der
„Löwe aus Juda“ wäre, und nicht zugleich das Lamm, was hülfe
und das? Als Lamm ift er der Völker Zroft, der Hoffnungsftern
der aus dem Paradiefe Verwiefenen, die Sonne der Gerechtigkeit in
den Thränennächten derer, die das Gefeß verdammt, und die himm-
lifche Leuchte der Wandelnden im dunkeln Sterbethal. Ja, diefes Alles
ift er als das Lamm, das „der Welt Sünde trägt”. Diefer Ausdrud
befagt aber mehr, al8 daß die Sünde der Welt fein heiligeö Herz beküm⸗
mert, mehr, al8 daß er die Unbilden der fündigen Menfchen erlitten,
mehr vollends, als daß er, was die Sünden der leßteren ihm Schmerz:
liches bereiteten, geduldig ertragen, und mehr auch, als daß er Durch
feine Zehre und fein Leben die Hinwegnahme der Sünden beab-
fihtigt habe. Der Ausdrud dentet in unergründfiche Tiefen hinunter.
Ehriftus trug die Sünde der Welt in einem viel eigentlicheren, buch:
ftäblicheren Sinne, al8 dem eben angedeuteten. Er trug fie, indem er
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fammı Liee ı md fürs, ud tere rc den Serrn ala
enen Anden Gizzeizzetra geiten 12Lıı, Ne Vtzikihiten Verleum:
tunaes unt Yüsea, baden te dat zu rieder cine arehe Wabrbeit
une umanente Kearündung. Es lider die Bet die Mincrhuren,
deren fie ſelber iduldia in, nab ettes Ratb und Willen auf ihren
Stellserrreier Jeſus Ghrinus ab, und ibre nichtsrürdigen Auflagen
Das Gottedlamm. 437
müffen am Ende nur dazu dienen, uns mit den fcheinendften und
brennendften Lichtern die Zanınnesgeftalt unſeres großen Mittlere
zu beleuchten.
3.
Deutlicher aber noch offenbart fi) das Gotteslamm in Chrifto in
dem Verhalten, das e8 unter den wüften Anlagen feiner Wider:
fadher beobachtet. Jeſus ſchweigt, als wäre er wirklich alles deſſen
ſchuldig, womit die Berfläger ihn bebürden. Pilatus, dem Sturme,
der aus der Volksmaſſe mit erneuter Wuth beraufbrauft, nicht ges
wachſen, fleht faft den Herrn an, er möge ein Wort der Selbftver-
theidigung reden. Aber Jeſus ſchweigt. Pilatus, einzig nur mit dem
Herrn noch befhäftigt, fpricht zu ihm: „Antworteft du nichts?
Sieh’ Doch, wie hart fie dich verflagen! Höreft du nicht?“
— „Sefus aber,” meldet die Gefchichte, „antwortete ihm nicht 8
mehr, auch nicht,ein Wort.“ Darüber „verwunderte fich der
Zandpfleger ſehr.“ Wie hätte er fich nicht verwundern follen, da
er nur mit menfchlichen Mapftäben das Verhalten des Herm maß?
Ein jeder Andere hätte in einem Momente, da es, wie dort, um nichts
Seringeres, als um's Leben ging, Alles in der Eile zufammengerafft,
was die erhobenen Befchuldigungen entfräften konnte, zumal, wenn
deffen fo viel ihm zu Gebote ftand, wie dem Herrn; — und Jeſus
ſchweigt! Es hätte jeder Andere wenigftens einfach Belege ge
fordert zu den unverfchämten Denunciationen, die man gegen ihn vorzu⸗
bringen ſich erlaubte; aber über Jefu Lippen fommt Feine Silbe. In
jeiner Zage würde Jeder von der verlogenen Priefterzunft an. das Gewif-
fen des Volks appellirt, und das Nechtsgefühl der noch nicht ganz Ver⸗
ftocten, deren e8 gewiß noch viele in der wogenden Menge gub, wach
und auf den Plan gerufen haben; aber Jeſus appellirt an Niemanden
im Himmel und auf Erden. Ad, hätte Pilatus gewußt, wer in dem
fchweigenden Manne auf feiner Richterbühne vor ihm fand, wie würde
er dann erft fi „verwundert“ haben! Er war ja Der, welder
einft alle die Millionen, die je auf Erden geathmet, vor feinen Rich⸗
terthron fordern wird, um das für alle Ewigkeit gültige Endurtheif
über fie zu fällen; Der war er, vor welchem auch die Kinder Belialg,
die dort ihn mit ihrem Koth befudeln, mit der Kette feines Fluchs
gebunden einft werden erfcheinen müſſen, um dann unter dem Don»
ner feiner Sentenz in das Geheul auszubrechen: „Ihr Berge fallet
über und, und ihr Hügel bedecket unsl“ Und vor Deren Schranten
455 Dei Heikge.
üer: jegt Er, med ihre: ;.ch oma Mine, Der ber Homms
eanazen zı müren alaufr, Ira zider ihn eingeleueten Pros je ge
zirnen x fm! Ar or !treaz weil er es im Darubtiein ieine
Urtswp er ine Würde Der, tolchen Auflagen gegenüber ud
mr ein Bor u write Wrisreige, um der rudleien Rom,
die an Las, was fie ansinmm, itlbũ nice alaubt, Den Stachel ib
res Seritens neh tieſer na Marf u meihen. Wobl m̃blt Pilan
erras ren Meier in Iclı Schreigen üb beurfundenden Hobeit md.
Maetit, und tie iT rermäsıreite der GSegennand der widht bed
beitemder migenden, ierdern rirflih ehrfurdterellen, ja fait aube
tenten Qerruntening des Prowurarers.
Ga ihweigt Der Herr aut über ſeinen heurigen Siiterem. Gu
Schwreigen der Sanamurk in ci: aber rheilmeiie auch em Schrei⸗
gen ter Beratung: dern auch fie Lüttern wider beiiered Billa
und Kerinen Einñ wird Gr mu ihnen reden, und danm werde
fie zitternd befennen müñen, fie bänen nicht gewollt, daß er über
fie Berrichere. — Chrimis ſchweigt, wenn Die Zeinen gegen ibn ur
ren und über ſeine Jübrungen und Wege ih beſchweren. Im tiefiien
Unichuldsbewußtiein ĩchweigt er auch bier, wohl winend, daß fie ibm
einiz unter Nebentichen Abkinen die Hände dafür hiffen merden, daß
er gerade To, und nicht anders ñe geleitet babe. Im übrigen ſchweigt
Cbriſtus auf Erden nicht. Wer nur ein Chr bat für jeine Stimme,
rernimme te tauiendrälng aller Orten. Zeugend für sich ſelbſt md
teine Sache, reder er bald in augenfälligen Gerichten, mit Denen a
feine zeinde, bald in bandareinicen Zcanungen und Gebetserhörun-
gen, womit er eine Areunde beunfucht. Er redet Durch Den Herzens
ſabbath derer, Die auf ihn trauen, wie durch Die Friedensarmuth, Die
Sorgennoth und Todesfurcht, welche er den Ungläubigen zum Geleite
gie. Er reder Durch überraschende Beitäriqungen, Die Die Wiſſen⸗
fbaften in ihrem Fortgang, oft wider ihren Willen, ſeinem Wort ge
währen münſen, ſowie Durch mannichfalfige Zeichen Der Zeit, in Denen,
bei Licht Beieben, nichts Anderes, als eine buchñaͤbliche Erfüllung ſei⸗
ner Weiſſagungen zu Tage tritt. Durch neue Belebungen jeiner Kirche
Angefihts der Zeinde, Die ichen ihr „Ifabod“ über dieſelbe zu
fchreien begannen, redet er innerbalb der Grenzen der Ehriftenbeit;
und in der Heidenmelt zeugt er Durch immer neue Geiſtesſchöpfungen,
die er, wundenwirfend wie vor Alters, aus einem ſcheinbar hoffnungs⸗
loſen und aufgegebenen Stoffe ind Dajein ruf. So wid dem
Dos Gottedlanım. 4309
um eigentlichften Sinne des Wortes eine Wahrheit, was Pſalm 147
geihrieben jteht: „Es üt Feine Sprache noch Rede, darin man nicht
Seine Stimme höre, Ihr Schall gehet aus in alle Lande, und ihre
Rede ertönt bis an der Welt Ende!”
Des tiefften Grundes des Verſtummens Jeſu aber unter den brau-
fenden Beichuldigungsfturme feiner Verkläger haben wir noch nicht
gedacht. Derfelbe liegt in feiner Mittlerftellung Es ſchweigt
in dem Herm das Gotteslamm, der Hohepriefter, der himmliſche
Bürge, der Alles, deffen er bezücdhtigt wird, vor dem Angefichte Got-
tes ohne Widerrede auf fich nimmt, weil er es als der ftellvertretende
Univerjaljchuldner für und büßen und entgelten will. Hiehin deutet
demnach ganz fonderlich das „Siehe!“, womit der Täufer Sohannes
strahlenden Angefichtes einft die Wüſte erfüllte, Ja, Siehe, du thrä-
nenfeuchtes Auge, das du an dir felber nichts mehr als Sünde ſiehſt
und den Stuhl gefeben haft, welcher in eitel Feuerflammen brennt,
jowie die Handfchrift, die in dem ummwiderruflichen Gefeße des heili-
gen Berges wider Did) zeuget; umflortes Schächerauge, das du mit
ihenem Blide nur den Boden fuchft und nicht mehr zum Himmel auf:
zuſchauen wagit: O ftehe, hier ftrahlt dein Morgenftern, hier leuch-
tet deine Zriedensfonne! Sieh hier des Opferlammes Abels, der
rettenden Zämmer in Egypten, des verheißungsreichen Paffalımmes
wahrhaftiges Gegenbild! Was, du fchuldbedrüdte Seele, frommt dir's,
dag du dich feitfpinnft in deinem Gram, und mit Deinem Denken
und Betrachten nur an deinen Jammer hafteſt? Schaue auf! Das
Heilmittel ijt bereit! Verzage an aller Selbfteutfündigung, mit der du
ewig dich umfonft bemüht! Verzage aber nicht an deiner Rettung und
Befeligung: denn fiehe, hier it Gottes Lamm, Das der Welt Sünde
trägt! Auf diefes Lamm lehne dich, und habe Ruhe! Sein Blut,
im rechten Lichte angefchaut, bejchwichtigt alle Stürme, heilt alle Wun⸗
den, wie e8 alle Sünde gänzlich getilgt, und den Fluch, der ihr ges
droht war, hinweggenommen bat. Was alle Mißtöne in unſerm Ins
nern harmonifch auflöft, alle Zeidenfchaften bändigt, und Das Gebot,
fonft eine Kette, zum fanfteften Gängelbande macht, in welchem man,
weil Gottes Baterhand daran uns führt, mit Freude und mit Stolz
einhergeht: es ift der Glaubensblid auf das Lamm! In diefem Blide
liegt der Sieg, der die Welt überwunden hat und mit der Welt jed-
wede Noth des Kebens und des Sterbens überwindet,
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Seilæt Ira. 26, 31 Ian —S — = „Ihr wertet end
alle au z'r ärsern“, Da Kur Gr der merikiiden Water
überbiirt ses Her Anger? !:ı De Yorımımdı om Herru auf
Erin ua Zrin, und weiß fh bei der arten Beau fait mir
Chriftus vor Herodes. 441
gends in Ihn zu finden. Die dichtende Phantaſie würde Ihn wohl nur
in ſehr ſeltnen Fällen ſo haben handeln und ſich benehmen laſſen, als
die Geſchichte Ihn handeln läßt. Dadurch aber, daß die Geſchichte
ſo ſchnurſtracks allem menſchlichen Vermuthen und Vorausſetzen zuwi⸗
derläuft, gewinnt ſie von Zug zu Zug einen überraſchenden und be⸗
fremdlichen Charakter, in dem fi) uns jedoch nur der Stempel ihrer
hiftorifchen Wahrheit kenntlich macht.
Unfer heutiger Paſſions⸗Abſchnitt wird uns das eben Bemerfte neu
beftätigen. Wie fo gar anders würde die Scene im Palafte des He
rodes unter den Händen des Dichtenden Geiftes ſich geftaltet haben,
als fie im Gemälde des Evangeliums und entgegentritt!
$uk. 23, 5—12.
Sie aber hielten an und ſprachen: Er hat das Voll erreget, damit daß er gelehret
hat im ganzen Iüdifhen Lande, und hat in Galiläa angefangen bis hierher. Da aber
Bilatus Galilaͤa hörte, fragte er, ob derfelbe aus Galilda wäre, Und als er ver-
nahm, daß er unter Herodis Obrigfeit gehörte, überfandte er ihm zu Herodes, welcher
in denfelbigen Tagen auch zu Ierufalem war. Da aber Herodes Iefum ſah, ward
er jehr froh, denn er hätte ihn längft gerne gefehn, weil er viel von ihm gehöret hatte,
und hoffte, er würde ein Zeichen von ihm fehen. Und er fragte ihn manderlei. Er
antwortete ihm aber nichts. Die Hohenpriefter aber und Schriftgelehrten ftanden und
verflagten ihn hart. Aber Herodes mit feinen Kriegdleuten veradhtete und verfpottete
ihn, legte ihm ein weißes Kleid an, und fandte ihn wieder zn Bilato. Auf den Tag
wurden Pilatus und Herodes Freunde mit einander, denn zuvor waren fle einander
feind.
Bor den Schranken des dritten Gerichtshofes begegnet uns heute
der Herr. Ein Schmelztiegel nach Dem andern nimmt ihn auf; Doch
nur, damit der lautere Goldgrund feines Weſens immer deutlicher zu
Tage trete. Und wie helle ftrahlt Dderfelbe in die Erfcheinung! Man
darf hier mit Jeremias fagen: „Der Blafebalg ift verbrannt, und das
Scheideblei vom Feuer verzehrt; * aber Feine Schlade, fondern nur
edler und immer edlerer Kern taucht zu Tage. Ein Dreifaches rüdt
unfer heutiges Pafftonsevangelium und in den Blid: einen Welt:
fpiegel, eine lodernde Opferflamme, und eine Verherrlichung
Jeſu wider Willen derer, die fie vollziehen. Laßt und eins
nad) dem andern näher ins Auge faflen; und gefalle es dem heiligen
Geift, auch in unferer heutigen Betrachtung eine Quelle der Glaus
bensftärfung und zu eröffnen!
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bem blinden Yürm, in mweldem rich nichts als Die vergweifsinde
—8
g
Chriſtus vor Herodel. 443
Ohnmacht der Widerfacher kundgibt, wähnt er wer weiß, was für ein
neues Ungewitter über ſich herauf grollen zu hören; und wie ift er
froh, als ihm die Erwähnung Galiläas feiner Meinung nad) die Aus-
fiht auf einen neuen Blißableiter eröffnet. „Aus Galiläa ift euer
Delinquent?” fragt er haftig; und nachdem man ihm diefe Zrage be
jaht hat, ruft er mit der Freude eines Schiffers, der nad) langer ſtür⸗
mifcher Irrfahrt endlich Land entdeckt: „Dann gehört er unter Herodis
Obrigkeit! ” Umverzüglich ertheilt er Befehl, daß man Sefum dies
jem, der fich des Feſtes wegen glüdlicherweife gerade in Sernfalem
befand, gebunden zuführe; und nicht anders, als wäre ihm ein Ges
birge vom Herzen gewälzt, ift ihm zu Sinne, al8 er den unbequemen
Mann in Geleite der Hohenpriefter, der Warfenfnechte und des
nachdrängenden Volkes wirflich abziehen fieht.
Den Herodes Antipas, den VBierfürften von Galiläa, kennen wir,
Er ift derfelbe elende und charafterlofe Lüftling, der, nachdem er feine
Gemahlin, eine Tochter des arabifchen Königes Aretas, verftoßen hatte,
und mit feines Halbbruders Herodes Frau, der Herodias, die befannte
biutfchänderifche Verbindung eingegangen war, auf Andringen der leßs
teren den Täufer Sohannes, der ihm im Namen Gottes fein verbres
cherifches Verhalten vorgehalten hatte, im Gefängniß enthaupten ließ;
aber diefe Blutfehuld fortan damit büßen mußte, daß er unter den
Geißelfchlägen feines Gewiffens Gefpenfter fah, und, da er von Jeſu
und defien Thaten hörte, ſich's nicht ausreden ließ, dieſer Wunders
thäter fei der von ihm gemordete, aber von den Todten wieder aufs
erftandene Johannes. Sadducäer feiner Richtung nach, ja Heide mehr,
als Sfraelit, und ganz dem Sinnengenuß ergebener Weichling, war er
nichtSdeftoweniger, wie dieſe Züge häufig in ein und denfelben Per⸗
ſönlichkeiten zufammentreffen, fehnöder Gewaltthat nicht abgeneigt, und
der raffinirteften Graufamfeiten fähtg. Lukas meldet von ihm, er habe
viele „ böfe Dinge” gethan; und das einzige Wort durchbohrender
Sronie, das über die Lippen des Sünderfreundes ging, galt dieſem
elenden, in allen Künften der Berftellung umd der Heuchelei jo wohl
geübten Fürſten. Als nämlich eines Tages ein Haufe Pharifüer zu
Jeſu trat, fprechend: „Hebe dich hinaus aus Galiläa, und zeuch von
binnen, denn Herodes will dich tödten!“ merkte der Herr fofort, Daß
er in diefen ſcheinbar wohlwollenden Rathgebern nur Abgeordnete eben
diefes Herodes vor fich ſehe, der, weil er gewaltfame Hand an ihn
. a legen nicht Muth genug befaß, ihn nun durch leere Drohungen
44 Te Geige.
ans ieinen Grenzen u eriteruen beitte, amd ermiederte den Geuchlern,
fie fımmı ihrem aekrönten Aberdner zu ibrer riefen Beichimung ent
farnen?: „Seher bin ımd iaget denelbigen Fuchs: Siebe, ich treike
Zeuiel ms, und made geſmnd baute um mergen: und am dritten
Tage werde ih rellender werden. To muB ich beute uud morgen,
un? am Zage darnach noch mundeln! *
Auch zu Dieiem jümmerliden, in Fleiſchesluit erieftenen Menſchen
alie, in relchem allmaͤliag mi tem Gewinn auch jede Abuumz irgend
eines Höheren erleiden war, mird Gbrütus bingeführt, damit be
nichts Schmäbliches md Widerwärtiges eripart, und fein Gerichtshef
genannt werden möge, vor deñen Schranken Er nicht geitanden babe.
Unter würtem Getũmmel langt der giftaeicdhrellene Prieiter: und Bir
ritäerihmwurm mit jemer Beute vor der Wobnung des Gulilierkönigs
an: ımd wie dieier hört, was es mit Dem befremdlichen Volksandrange
für eine Bewandtmiß babe, beißt er Die geittfichen Herren mit ihrem
Telinquenten vor ihn führen. Zchweigend ımd in emiter Haltinz
näübert fih Jeſus ſeinem Landesberrn. „Diejer aber,« meldet die Ge
ſchichte, „ald er Jeſum tab, ward er ſebr frob; denn er bütte ihm
längit gerne geieben, weil er viel von ihm geböret batte, und boffte,
er würde ein Zeichen vor ibm thun.“ Ges könnte uns befremden, daß
GHerodes den Mann, der jo oft in Gulilia weilte, nie von Angeſicht
geieben haben jolle. Aber der Herr butte Die Refidenztadt Tiberias,
wie oft er ſich auch in ihrer Nähe befunden, niemals mit feinem Be
ſuche beehrt: umd ſelbſt einen Schritt zu thun, um die Bekanntſchaft
des vielgenmmten Nazareners zu machen, konnte natürlich einem von
allen religisien Intereſſen jo weit verichlagenen, und zugleich io hoch⸗
fahrenden und übermürbigen Manne, wie die galiläiſche Majeität wur,
nicht in den Zinn kommen. Tod gewährt es ibm fein geringes Vers
gnügen, jegt noch, und Dazu jo bequem und obne alle Geführde, ei«
nen allerdings längit gebegten Wunſch in Erfüllung geben zu ſehen.
„Jedeufalls,“ Dachte er bei ih, „ein intereflanter Zeiwertreib, ein
unterhaftendes Schaufpiel! Und wenn er ſich gar Dazu bewegen Tieße,
irgend ein Zufünftiges uns zu entichleiern oder ein Wunder zu pros
duciren, wie ergöglich könnte Dadurch Diele Stunde werden!" — Alſo
in den Kreis der Gegenitände feines Amüſements hoffte Herodes den
Heiland der Welt berein zu zichen, fo wie er einjt Das Haupt Jos
hannes des Täufers in das Gebiet der Galanterie herein zu ziehen
fih nicht entblödete. Eine Exheiterung verſprach fih der König von .
$
”
Chriſtus vor Herodel. 445
der Anwefenheit des Herrn, wie man von der Gegenwart eines Gauk⸗
lers oder Zafchenfpielers eine folche fich zu verfprechen pflegt. Er reprä-
fentirt Damit jenes leichtfertige, frivole Volk, das, nach apoftolifchem
Ausdrud „Leinen Geift“ hat, und dem Alles, auch das Erhabenfte,
zum Schaufpiel wird. Wagt ſich diefe Gefinnung doch fogar bis in
das Heiligthum hinüber, indem es Leute gibt, welche wohl auch, mins
deftens in Predigt, in Schrift, in Bild oder Gefchichte, Chriftum zu
ſehen begehren, jedoch nur des äſthetiſchen Rührfpiels halber, das
etwa mit feiner Darftellung fich verfnüpft, oder der intereffanten Eus
rüofitäten wegen, Die man von ihm berichten zu hören hofft, oder um
irgend anderer unterhaltender Elemente willen, die dieſer heilige Ge⸗
genitand für fie im Geleite führt. Genug, felbft Die Kirche wird jenen.
Leuten zum Theater, die Predigt zum Zeitvertreib, das Evangelium
zum Roman, und die Bekehrungsgeſchichte zur Novelle. O, wie ge-
fährlich ift die Lage diefer Menfchen, in deren wunderlicher Herzens:
akuſtik aller Ernſt in eitel Scherz, und Alles, was fie erfchüttern follte,
in Spiel und erluftigende Kurzweil ſich auflöft. Ehe fie ſich's ver:
ſehen, kann ed mit ihrem windigen Wefen dahin gedeihen, Daß Die
ergreifendfte Schilderung des jüngften Gerichtes feinen andern Ein-
drud mehr auf fie macht, ald ein gelungener Dramatijcher Aft ihn
hervorruft, und das ‚Schredensgemälde der Hölle nur noch wie ein
Luſt⸗Feuerwerk an ihnen vorübergeht, und nicht anders fie erregt, als
wie Diefes.
Herodes ftarrt den auf ihn zutretenden Herrn mit neugierigen Augen
an; und nachdem er Ihn vom Haupte bis zur Sohle gemeffen, ninmt
er fih’8 heraus, Ihn mit einer albernen Frage um die andere zu bes
helligen. Der Herr aber würdigt ihn Feiner Antwort, fondern vers
harrt in tiefem Schweigen. Der König hält mit Fragen an. Um⸗
fonft! Der Heiland ſchweigt. Der König muthet ihm zu, daß er ein
Wunder thue. Jeſus Fann ihm diefen Wunfch nicht gewähren, und
gibt ihm dies nachdrudsvoller, als e8 mit Worten gejchehen könnte,
durch fein anhaltendes Schweigen zu erkennen. Die Hohenprieiter
und Schriftgelehrten, erboft über dies fein paffives Verhalten, ſetzen
aufs neue ihre Läfterzungen in Bewegung, und heben wieder an,
ihn „hart zu verklagen.” Cr achtet fie Feiner Antwort werth,
fondern bebarrt bei feinem, ich möchte jagen, wahrhaft beängftigenden,
faft fchauerlichen Berftummen. Eine zweite Klaſſe von Kindern
diefer Welt tritt hier in unfern Gefichtöfreis. Es find Diejenigen,
4
46 Das Heilige.
zu denen Ehriftus fi ſchweigend zu verhalten angefangen het,
und deren ed vielleicht Manche auch in unferer Mitte gibt. Rein,
Freunde, damals ftand es mit euch noch nicht am ſchlimmſten, ale
der Herr noch Die Donner des Gefeßes über euren Häuptern rollm,
und feine fchredfichen Drohungen vor eurem Ohr erdröhnen ließ,
und als er bald hie, bald da Sein: „Du biſt der Mann des Todes!‘
euch zurief, und euch im Dienfte der Eitelfeit und Sünde nicht Raft
noch Ruhe gönnte. Diefe Töne des Ernftes, die, wars in Wort,
ward in Erlebniß, war's in Gefichten bei der Nacht, oder in daurch⸗
ſchlagenden Züchtigungen, damals euch erfchütterten, fündeten fich noch
als Stimmen feiner Erbarmung an, und durften für Zeugniffe gelten,
daß Er noch nicht aufgehört habe, die Seile der rettenden Liebe nad
eud) auszuwerfen. Seitdem ihr aber feine Stimme nicht mehr hört,
und fein Mund fi) über euch gefchloffen zu haben ſcheint, muß uns
in hohem Grade bange um euch werden, und ihr habt nur Urſach,
das Xergfte zu beforgen. Unglückſelige! was habt ihr Alles fchen
bewältigt und überwunden! Gedenfet eurer vergangenen Tage! Bie
manchmal durchhallte euer Inneres der Ruf: „Du wandelt den Te
desweg, Verblendeter!“ Wie manchmal durchzuckte die Tiefen des
Verderbens, darin ihr verfunfen liegt, ein Bligftrahl, der tageshell
das Kine euch beleuchtete, das euch vor Allem noth fei! Wie mand-
mal erfchien auch vor eurer Pforte ein Himmelsbote, und flüfterte
euch vernehmlich zu: „Eile aus Sodom, und rette deine Seele!“ Wie
manchmal fchwebte Die lockende, berzzerfchmelzende Trage zu cuch nie
der: „Warum wollt ihr nicht zu mir kommen, Daß ihr das Leben
haben möget?“ Und ach! uller diefer Stimmen und Zuſprüche wußtet
ihr Meiſter zu werden! — Nichtsdejtoweniger hörte das Locken, Dro⸗
hen und Warnen der göttlichen Gnade in eurem Innern noch nicht auf;
nur wurde es allmälig immer leifer und jchwäder. Was früher als
Blitz daherfuhr, ſchwächte fih zum mattern Wetterleuchten ab, Was
einft als Donner über eurem Haupte rollte, verſchwebte bald nur noch
als lindes, Teicht zu überhörendes Gemurmel. Jetzt vernehmt ihr
Derartiges gar nichts mehr, fondern geht in tiefer Ruhe enren Todes;
weg. Kein guter Geift rüdt eucd) mehr eure Stunden auf; und mag
immerhin äußerlich Chriſti Wort euch noch erreichen, in eurem In⸗
nern bat Chriftus aufgehört, fowohl zu locken und zu warnen, als
euch zu befchuldigen und zu verdammen. Dies ift der Anfıng Seines
gerechten Gerichtes über euch. Sehet euch vor, daß das dem Ans
Chriäus vor HerobeB. 447
fange nach eingetretene Schweigen des Herm nicht zu jenem abfolu-
ten und fchließlichen Verſtummen ſich vollende, wie wir es Ihn dem
Herodes und defien Hofgefinde gegenüber beobachten fehen, und
Dur) das er nur zu unzweideutig die Meberzeugung fund gibt, Daß
er es hier mit Menfchen zu thun habe, die in ihrer Verderbensreife
von dem ewigen Erbarmen fhon aufgegeben fein. Bor Solchen
bat er ſich nicht mehr zu offenbaren, fondern nur in immer tiefere
Berichleierung ſich zurüdzuziehen. Aergern fie fih an Ihm, fo find
fie fortan dazu „geſetzt,“ nicht freilich dur Willkür, die in Gott
nicht tft, aber Durch ein Verhängniß der allerhöchften Gerechtigkeit,
welche diejenigen, denen in aller Weife der Glaube angeboten ward,
die aber gegen befferes Wiffen und Gewiffen denfelben immer und
immer wieder von fich ftießen, endlich in ihre verfehrten Wege dahin
gibt, und es als einen wohlverdienten Fluch über fie fommen läßt,
daß das einige NRettungsfeil, das Wort des lebendigen Gottes, für
fie wie in lofen Flocken auseinanderfällt, und das Schwert des Gei⸗
ftes ftumpf, der Wächterruf von Zions Mauern fern, ſalz⸗ und wucht⸗
108 für fie wird. Glaubt, Freunde, wenn ich euch aus Angft vor
Gericht ımd Hölle die Hände ringen, ja blutigen Schweiß vergießen
fübe, ich priefe euch in Diefem eurem Zuſtande unendlich feliner,
als jebt in eurem bedenflichen Zodesfrieden. Immerhin ein Zuſam⸗
menfchaudern unfrer Seele vor der richterlichen Stimme deffen, der
auf dem Stuhle ſitzt, bis an die Grenzen der Verzweiflung; nur
um Alles fein Schweigen, fein Berftummen des Königes aller Rö-
nige in unferm Innern! Aergeres als dies kann einem Sterblichen
nicht widerfahren.
Doch zurüd zu unferer Scene! Der Herr kann alfo feinem Für⸗
ten und deffen Zrabanten diesmal nicht zu Willen fein. Aus ſei⸗
nem Berhalten aber ziehen die Elenden den Schluß, er vermöge
nichts, umd fangen an „ihn zu veradhten,* ja ihren Spott mit
ihm zu treiben. An eine dritte Gattung von Kindern der Welt ges
mahnt und diefer Zug; an eine Gattung, die nicht minder beflagens-
werth und unglüdfelig ift, als die zuleßt bezeichnete. Es gibt Mens
ihen, — ich beforge, auch unter uns, — die ſich's einmal haben
einfallen laffen, Chriſto Aehnliches anzumuthen, wie dort Herodes und
feine Untergebenen; denen e8 aber eben fo, wie diefen ergangen ift.
Auch fie geriethen einmal auf den Gedanfen, Wander umd Zeichen
von Yefu zu begehren. Dies und Jenes, forderten fie betend, folle
us 2a} Gel.
& um, a aa Te dies mer Beiszeaber aumriben, ober
Beh er eu? een Rıtırziı? ex \hlmmmuzes ine eye, ter ir-
ga? ccı Uneruermer nu giufi.tem Griebe dnmer ine, eter
Bari mas fowt für euse Ermenun; vn Ilm me m ikarı
au, sı? serirıgsen das Giniereuze des Zorn unmeher MET,
veriuhen, ek er rufich lie ab Seba aber, ed mm u rn
Kaikiıtem Zume, vıla et ab u eu iebealugen Gere ermeien
isllıe, Ibn Tertzn in deu Tiem ihrer ’tburkken \usereiten bereis
zu uchen. eins erberte ne nice, iendern kierinz Zur wicherhelien
Den Teriud, und ernenerten aus iciher Grinden ud mir Zurielken
Sertunumg ibten Anirruch. Abermals riefes Beriummen in der Gebe.
Kein Wunder üclte nah ein, feine Hülte zeue ch. Jegt erichem
es Pieien linalüdieligen ausgemucht, Seins rermäge mies, amd es ki
en Babn, daß er lebe und ritke. G& emo ibnen Efel binfeet,
von ſegenanuten, Heils⸗⸗Eriabrungen der Glaͤubigen reden zu hören,
a ae men u, ca binlice Kur mi
in ihrem Innern aufgeichorin. Zie gommen Ebrüte feine betende
Silbe mebr, und ergrimmen, we Andere auf ibn bein. Sind Nele
Menſchen dem Gerichte der Beriiodung verfallen? Rabe diefem
Gerichte find fie ionder Zweifel. Wären fie aber demſelben auch be
reus erlegen, jo bärten jie nicht Chriſto die Schuld beisumefien,
indem (Fr nirgends verheigen but, daß Er auch Solchen ſich offen
baren werde, Die nur für Die Intereſſen ihres Fleiſches Ihn gebrau⸗
hen wollen, während ihnen an feiner Perſon nichts weiter gelegen
it. Auf „das Niedere* hat Er geiagt, wolle er ſehen, und auf
die Seufzer zerbrochener und nad feiner Liebe Dürftender Herzen
wolle er hören. Was aber bat er mit einem Heroded und deſſen
leihen zu thun? Es wäre unter feiner Würde, den Zumuthungen
und Anforderungen ſolcher Menſchen anders als mit wegwerfendem
Stillſchweigen zu begegnen.
2.
Nachdem wir einen flüchtigen Blid in den Weltfpiegel geworfen,
den unſre heutige Gefchichte uns vor Augen rüdt, wenden wir uns
nun einem anderen Schaufpicle zu, In unferer Scene lodert eine
Dpferflamme, und das Brandopfer, das von ihr verzehrt wird, ifl
Chriſtud vor Herobeß. 449
Ehriftus. Entſetzlich find die Kränfungen, die Er hier zu erleiden
hat. Schon daß man mit Ihm wie mit einem Spielballe umfpringt;
daß Pilatus Ihn in der Abfiht dem Fürften von Galiläa zufchidt,
diefem Dadurch eine Höflichkeit zu erweifen; daß dann Herodes, um
das Compliment zu ermwiedern, Ihn wieder dem Landpfleger übers
weifen Täffet, und dieſem damit die Ehre des letzten Urtheilsfpruches
zufchiebt: welche Entwürdigung, die in dem Allem dem Herm der Herr:
lichkeit zu Theil wird! Aber das ift erft der Schmachen und Ernie
drigungen Anfang. Was muß Er erft in Gegenwart des Herodes
und feines Hofgefindes über fich ergehen fehen! Als ein Gaukler und
Zafchenfpieler wird Er hier traftir. Man muthet ihm zu, daß Er
durch Producirung feiner Künfte die Gefellfchaft beluftige. Mit den
albernften Zragen beleidigt man fein Ohr. Und wie Er zu dem Allem
gefenkten Hauptes fchweigt, läuft dad Maß der Läfterungen und des
Spottes wider Ihn vollends über. Als ein Schwachkopf wird Er
behandelt, der des Auffehens, das er erregt habe, gar nicht werth ges
wefen fei, und den man, nachdem er jebt feine Rolle ausgefpielt und
nur als einen Tächerlichen Schwärmer ſich erwieſen habe, nur der all
gemeinen Verachtung preisgeben könne. Herodes achtet's nicht der
Mühe werth, von den Beichuldigungen, welche die Hohenpriefter ge-
gen Jeſum ausfhäumen, irgend ernftlich Notiz zu nehmen. „Wan
lege doch,“ denkt er, „fein fo großes Gewicht auf das, was Diefer
Narr Unfinniges von ſich auszufagen fi) vermag. Iſt er Doch für
feine Thorheiten hinlänglich dadurch ſchon geftraft, daß er jetzt vor
aller Welt in feiner Ohnmacht offenbar wird, und dem Adhfelzuden
des Mitleids, ja dem sffentlichen Gelächter verfallen iſt.“ Er denkk's,
und fpricht, was er Denkt, hauptfächlich dadurch aus, daß er in
heitrer Laune dem Herrn ein weißes Gewand anlegen läßt, um ihn
Dadurch fowohl zu einem Spottlönige, al8 zu einem Zerrbilde von
Philoſophen auszuftaffiren, ja vielleicht auch zu einem Wahnwipigen
Ihn zu ftempeln, indem man nämlich in Iſrael diefe Unglücklichen
eben in weiße leberwürfe zu Fleiden pflegte.
Seht, Freunde, dies ift das Opferfeuer, das in unferer heuti-
gen Geſchichte auffchlägt. Nun fagt aber, wie der Hochheilige, der
im Himmel wohnt, eine ſolche Herabwürdigung des Sohnes feines
Wohlgefallens in Ruhe, und ohne mit allen Donnern feines Zornes
darein zu fahren, mit hätte anfehn können, wenn der Herr Jeſus hier
nur für feine Perſon, und nicht zugleich in einer ungewöhnlichen Stel⸗
29
450 Das Heilige.
fung und geheimnißvollen Vertretung diefe unerhoͤrten Unbilden er-
fahren hätte? Ihr wißt aber, daß Er hier an unferer Statt, und
zwar zurechnungsweife ald anderer Adam mit unferer Schuld be-
laden dafteht. Ja, auch hier vernimmt Er des ewigen Baters Ruf:
„Schwert, mache Dich auf über meinen Hirten, und über den Man,
der mir der Nächite iſt!“ Auch bier erfüllt fih an Ihm der alte
Prophetenſpruch: „Der Herr warf alle unfere Schulden auf Ihn;“
und der andere: „Die Strafe liegt auf Ihm, auf Daß wir Frieden
hätten!” Und Gottlob, daß fo und nicht anders die Sache ſich ver-
hält; denn nimmer vermöchte ic, und ob audy ein Engel vom Himmel
mir die Botfchaft überbrächte, dem Bewußtfein in mir Raum zu ge
ben, daß meine Sünden mir nicht zugerechnet werden follten, wenn
mir nicht zugleich auch Eumd geworden wäre, wo denn die mir abge
nommenen Schulden geblieben feien. Iſt mir doch lebendiger nichts
bewußt als das, daß Sünden, fo blutroth, wie.die meinen, nicht
willkürlich als geringfügige Kleinigkeiten mir verziehen oder gar um
beachtet gelaffen und überfehen werden können. Wenn dies geſchaͤhe,
wie wäre mir dann noch ferner möglich, an einen Gott der Heilig
keit und Gerechtigkeit zu glauben? Nun aber tritt das Cwangelium zu
mir ber und erzählt mir mit deutlichfter Zunge die Geſchichte meiner
Miſſethaten, wie diefelben wandernd auf den Mann, der an meine
Stelle trat, übergegangen feien; und in Diefes Mannes Vertretung
greife ich jet den Rechtsgrund meiner Abfolution mit Händen. Gleich⸗
wie vor Hannas, vor Kaiphas und vor Pilatus, fo ſteht auch vor
Herodes der Herr nicht blos im menfchlichen Gerichte, fondern zugleich
im Gerichte Gottes; und meine Sünde ift es, die er büßt; meine
Schuld, die er vollaus bezahlt.
Was Wunder mun, daß er fich gelaffen den vergifteten Pfeilen bloß
gibt, Die hier einer um den andern Die verwundbarften Stellen feines
Herzens treffen? Was Wunder, daß er ohne Einfpruh die furdt-
barften Beichuldigungen hinnimmt, und mit Lammesgeduld wie zu ei-
nem Gottesläfterer und Schwärner, fo zu einem Rebellen und Rotten-
haupte fi ſtempeln läßt? Was Wunder, daß er's jogar gleichmüthig
erträgt, Daß die Spannung, mit der Herodes anfänglich Seiner
Erfcheinung entgegen ſah, allmälig in Verachtung feiner Berfon als
eines bentitleidenswürdigen Zropfes umfchlägt? Was Wunder, Daß
fih der Herr der Herrlichkeit fogar zur Zielfcheibe der elenden Späße
eines verächtlichen ehebrecherifchen Hofgefindes erniedrigen läßt? Ent⸗
N
Chriſtus vor Herobeb. 451
ſetzlich iſts, was man fich gegen ihn erlaubt, und in feiner Macht
füge e8, mit einem Winke feiner Hand die ruchlofe Rotte zu feinen
süßen hinzuſchmettern. Aber er regt fich nicht, fondern ſchweigt; denn
er weiß: „Hier ift Gottes Altar und Opferfeuer; u und das erfehene
Lamm bin Ich!“
3.
In wie tiefer Erniedrigung nun aber auch die heilige Gefchichte
uns den Her bier vorführt, fo iſt fie Doch auch wieder durch und
durch von apologetifchen, d. h. den Herrn verherrlichenden und uns
fern Glauben an Ihn befeftigenden Zügen: durchwoben.
Schon in der findifchen Freude, mit welcher den Pilatus die Aus⸗
ficht erfüllt, den Prozeß gegen Zefum einem Anderen überweifen zu
fönnen, fpiegelt fid) unzweideutiger, als in allen feinen mündlichen
Bezeugungen, fein tiefes Bewußtfein von der Unfchuld und der Un -
fträflichfeit des Verklagten ab. Seine Seele jauchzt fat bei der
zufällig verlautenden Kunde, daß die nächſte Obrigkeit Jeſu der Vier
fürft von Galilän fei, woraus .wir entnehmen, für welch’ ein Süd der
Römer es erachtete, der Betheiligung an der Mitſchuld der Berurtheis
lung des Gerechten ausweichen zu fönnen,
Don Herodes heißt e8, er fei „Fehr froh“ geweien, als er Je⸗
fum gefehen habe. Diefe ungewöhnliche Freude des Galiläerfürften
Darüber, daß ihm endlich einmal Gelegenheit werde, Jeſum von
Angeficht zu ſchauen, ift in apologetiſcher Hinſicht nicht minder be⸗
deutfam, umd gereicht dem Herrn nicht weniger zur Berberrlichung, als
die Freude des Pilatus, feiner glücklich los geworden zu fein. Es
muß der Heiland ja ein großes Auffehn im Lande erregt, und nicht
in abgefonderten Winkeln, ſondern auf offnem Markte feine Wirkſam⸗
feit entfaltet haben, daß Herodes fo vor Begierde brennen konnte,
feine perfönliche Bekanntfchaft zu machen. Und wie ungewöhnlich und
einzigartig muß das Wirken des Herrn gewefen fein, daß jelbft einem
allem Höheren fo gänzlich abgeftorbenen Manne, wie jener Ehebrecher
in der Fürftenfrone war, ein folches Verlangen kommen fonnte!
Herodes hoffte überdies, Jeſus werde ihn ein „Zeichen“ ſehen
laſſen. Diefe feine Hoffnung dient uns wieder zum Zeugniß, daß
Jeſus wirklich feine göttliche Sendung mit Zeichen beflegelt babe,
und daß die Wunder, die er gethan, als ſolche allgemein anerkannt
waren. Herodes will nicht blos erft erproben, ob Jeſus Wunder vers
richten koͤnne, fondern fegt ſtillſchweigend feine Macht und Befähi-
29*
452 Das Heifige.
gung dazu als unwiderſprechlich voraus. — Welch’ eine Tiefe innen
Berderbens aber verräth fi in dem Zuge, daß der Mann troß ſei⸗
ner Meberzeugung von dem Vermögen Jeſu, Thaten Gottes zu voll
bringen, nicht allein den Glauben und die Huldigung ihm verfagt,.
fondern ihn fogar zum Gegenftande feines Hohns entwürdigen fan!
Der Vierfürſt legt dem Herrn allerlei die Grenzen des menſchli⸗
chen Wiſſens überfchreitende Fragen vor. Er hatte fomit auch von
der Weisheit gehört, mit welcher der Herr auf Fragen dieſer Art Be
fheid zu thun, und alle Räthfel zu Löfen wiffe, und gibt alfo, ohne
e8 zu wollen, auch dem Prophetenthume Ehrifti feine Ehre. Und
felbft darin, daß Herodes, als Jeſus feine Fragen durch erhabenes
Stillfehweigen ablehnt, mit feinem Spott nicht weiter zu geben wagt,
als dag er Ihm die weiße Toga anlegt, beurkundet er eine geheime
Ehrfurcht vor Ihm, und beftätigt damit aufs neue, daß Ehriflus in
der That oftmald in unzweideutiger Weife von feinem Köntgthume
und einem Reiche gefprochen haben müffe, das er aufzurichten er
fohienen fei.
Daß endlich die tief gewurzelte Verftimmung, die lange ſchon zwi
ſchen Pilatus und Herodes herrfchte, in Folge der Seitens jenes dem
feßteren durch Ueberweifung des verflagten Rabbi bezeugten Höflichkeit
piöglich fi ausglih und in Befreundung umfchlug, dient wieder zum
Beweiſe, wie hoch Die gebietenden Herren felbft von dem ihnen zuge
geführten Delinquenten dachten. Die Zufendung eines gewöhnlichen
Berbrechers, oder auch nur eines notorifchen Schwärmers und Schwind-
lers, wäre wol nimmer von folcher Wirkung begleitet gewefen, Daß
aber Jeſus von Nazareth) die zur Vermittlung der erneuten Ans
näherung der beiden Machthaber erfehene Perfönlichkeit ift, fchlägt er:
folgreich durch, und feßt dem alten Groll und Mißtrauen fofort em
Ziel. Wer vermag es zu verfennen, daß dieſer freilich an und für
fi überaus empörende Umftand den Herm Chriftus wieder nur zur
höchften Verherrlichuug gereicht? — Nehnliches übrigens, wie dort
zwiſchen Pilatus und Herodes, ereignet fi) nicht felten auch heute
noch. Parteien, die fi auf anderen Gebieten aufs heftigfte befeh-
den, verföhnen fi, ja werden, wenn auch für eine Weile nur,
Bundesgenofjen und gute Freunde, fobald fie fih im Kampfe aegen
Chriftum und deſſen Verehrer und Anbeter zufammen finden. Was
beurfunden aber auch fie hierdurch, als daß Ehriftus ihnen als eine
imponirende Macht im Wege fteht? Eine unbedeutende Perfönlichkeit,
Chriſtus vor Hetodes. 453
von der fie nicht müßten, was diefelbe für begründete Anſprüche an
ihre Unterwerfung zu machen hätte, würde Diefen Einfluß nimmer
auf fie üben; und ein Individuum vollends, das ihmen wirklich nur
für ein mythiſches gälte, ließen fie gewiß als nicht einmal ihrer
Beachtung werth zur Seite Tiegen.
— — — — — —
Aus Allem, was wider Ihn gerathſchlagt und unternommen wird,
geht Chriſtus ſtrahlend gerechtfertigt hervor. Ihn muß der Haß ver⸗
herrlichen, wie die Liebe. Ihn kroͤnt die Verfolgung, wie die Devotion.
Vermag aber gemeinſamer Gegenſatz gegen Ihn erbitterte Feinde in
Freunde umzuwandeln, welche Bande wird dann erſt die gemeinſame
Verehrung des Herrlichen zu knüpfen im Stande ſein! „Ich glaube
eine Gemeinſchaft der Heiligen“ bekennen wir. Ich glaube
fie nicht blos, Gottlob, ih ſchaue fie auch. Aber es behüte ſie
Gott! denn ſie leidet Noth zu dieſer Friſt. In Chriſto Vereinigte
fallen auseinander, weil ſie, die Verblendeten, ſtatt Chriſtum, als ob
fie feiner überdrüffig geworden wären, irgend eine Schulformel als
ihren Heiland "umarmen. Das ift eine Hägliche, bejummernswürdige
Erſcheinung. Steure ihr Gott der Herr, und erwede Er in den
Herzen feiner Kinder wieder Liedesflänge wie Die befannten:
Herz und Herz vereint zufammen,
Sucht in Gotted Herzen Ruh,
Laſſet eure Liebesflammen
Lodern auf den Heiland zu!
Gr dad Haupt, wir feine Glieder,
Er das Licht, und wir der Schein:
Er der Meifter, wir die Brüder;
Er der Unfre, und wir fein!
Laß und jo vereinigt werden,
Mie du, Herr, dem Bater biſt,
Daß ſchon hier auf diefer Erden
Kein getrenntes Glied mehr iſt;
Und allein von deinem Brennen
Rehme unfer Licht den Schein;
Alfo wird die Welt erlennen,
Daß wir deine Jünger fein! Amen,
— —
454 Das Heilige,
XXXVII.
Pilatus unſer Anwalt.
Keine der von der heiligen Schrift bezeugten Wahrheiten findet ix
der täglichen Erfahrung eine handgreiflichere Beftätigung, als die
Ephei. 4, 18. ausgefprochene, daß der natürliche Menfch „entfrems
det fei von dem Leben, das aus Gott iſt.“ Schauet euch mr
in euren Kreifen um, ihr, die ihr die zweite Geburt „aus Waffe
und Geift noch nicht erfuhrt,“ ob nicht felbft mit ungewöhnlich gels
fliger Bildung und NRührigfeit oft die entfchiedenfte Stumpfheit und
Erftorbenheit für das Reich des Ueberfinnlichen und Himmlifchen ver⸗
paart geht. Wen unter euch ergößt nicht eine menfchliche Dichtung
mehr, als Gottes Wort? Wer fieht nicht Tieber einem eitlen Schau⸗
fpiele zu, als daß er an der Stätte weilt, da des Herrn Ehre wohnt?
Wem behagt nicht mehr das Raufchen eines finnlichen Tonſtücks, als
der Chorgefang einer andächtigen Chriften-Verfammlung? Wer fühlt
nicht mehr von einer irdifchen Lyrif, als von den Akkorden Der Harfe
Davids fi) angezogen? Wem graufs nicht vor frommer Gefellfchaft?
Wen wandelt nicht bei geiftlichen Unterhaltungen Ungeduld oder Lange
weile an? Wen find nicht Neuigkeiten aus dem Bereiche weltlicher
Händel erwünfchter, als Botfcyaften aus dem Neiche Gottes? Ya,
wem verurfacht es viel Befinnens, wo es zwifchen den Zräbertrögen
flüchtiger Ergößungen diefer Welt, und dem Gnadenmanna, das vom
Himmel ſtammt, zwifchen den Fleifchtöpfen Enpptenlandes, und den
Trauben aus den Weingärten der göttlichen Offenbarungen zu wähs
len gilt? O gehet nur in euch, und durchfucht euch mit der Laterne
unparteitfcher Würdigung; und dann bekennt, ob ſich's nicht wirklich
alſo verhalte, daß ihr todt ſeid für den Himmel, und nur für die
Erde lebt? Fürwahr! wenn wir nicht anders aus der Hand des
Schoͤpfers hervorgegangen wären, als wir von Haus aus beſchaffen
find, welchen Vorſtellungen von dem Weſen Gottes würden wir dann
bei und Raum geben müffen! Wie dürfte es dann noch heißen: „Gott
ſah an Alles, was er gemacht hatte, und fiehe, es war fehr gut?“
Es wären dann ja verkümmerte Kreaturen, ja, mißgeflaltete Weſen
Vilatuß unfer Anwalt. 455
aus feiner Schöpferhand hervorgegangen! O, ferme fei es von ung,
das Gejchlecht, wie es gegenwärtig if, mit den Erftlingen der Men-
Ihenfchöpfung zu verwechfeln! Gott fehuf feurige, gen Himmel ftre-
bende Geifter; aber die Sünde trat dazwiſchen und vermwäftete feine
Schöpfung Wollt ihr in diefer fittlichen Verwuüſtung verharren, fo
thut e8 auf eure Gefahr; nur laßt es euch nicht mehr einfallen, über
Dinge des Himmelreichs, von weldhen ihr Doch fo weit verfchlagen
jeid, urtheilen und abfprechen zu wollen. hr verdientet, fo oft ihr
euch dazu verleiten laffet, eine demüthigende Abfertigung, wie fle einft
dem falfchen Propheten Bileam zu Theil ward; und ihr mögt zufrie
den fein, wenn, ftatt einer laftbaren Efelin, nur, wie heute gefchehen
wird, ein blinder Heide, ein Römer Pilatus, euch zurechtweift.
£uc. 23, 13—16.
Bilatus aber rief die Hohenpriefter, und die Oberen, und dad Bolt zufammen;
und ſprach zu ihnen: Ihr habt diefen Menfchen zn mir gebracht, als der dad.Bolt
abmende. Und fiebe, ich babe ihm vor euch verhöret, und finde an dem Menfhen der
Sachen feine, deren ihr ihn beſchuldigt; Herodes auch nicht; denn ich habe euch zu
ihm gefandt, und fiehe, man hat nichts auf ihm gebracht, dad des Todes werth fei.
Darum will ich ihn züchtigen und 108 laſſen.
Pilatus befindet ſich aufs neue in großem Gedränge. Durch die
Verweifung des Prozeſſes an Herodes hoffte er feiner peinlichen Lage
glücklich entronnen zu fein. Aber nun ſchickt ihm der Galiläerfürk
unvermuthet den Verklagten wieder zu, und überläßt es ihm, dem
einmal aufgenommenen Handel auch zum Schluß zu bringen. ‘Der
Landpfleger, nicht wenig unwirſch über die fehlgefhlagene Berech⸗
nung, wendet fic) denn abermals an die Verklaͤger des Gerechten, und
erneuert feinen Berfuch, Zefum, und mit Ihm die Ruhe feines eige-
nen Gewiffens, zu retten, Er hält an die Hohenpriefter, Oberften
und das verfammelte Volk eine Anfprache, die zwar etwas, das wir
aus feinem Munde noch nicht vernommen hätten, nicht enthält; aber
nichtsdeftoweniger ſchon darım einer ernften Erwägung werth ifl, weil
Pilatus darin wider Wiffen und Willen als unfer, der. Gläubigen,
Anwalt auftritt. Er hilft nemlih von der dreifachen Beichuldi-
gung: aufrührerifher Tendenzen, unfinniger Lehraufftellun-
gen und maßlofer Tröftungen und reinigen. — „Wie dies?“
— Ihr folks vernehmen. Möge unfre Betrachtung diejenigen in Dies
fer Verſanmlung, die noch in Boruriheilen gegen. und befungen And,
456 Das Heilige.
von denfelben heilen, und ihnen eine Brüde bauen helfen, die fie m
unfre Gemeinfchaft herüber führe! —
1.
Pilatus unfer Anwalt! — Wie feltfam dies Mingt, er iſts. &r
nimmt unfer Haupt in Schuß, und damit ung. Ihn fegt er recht
kräftig außer Anklage, und in Ihm die Seinen. „Ihr habt die
fen Menfhen zu mir gebracht,” beginnt er, „als Der das
Volk abwende.“ In einem gewiffen Sinne mag dem Herm der
gleichen allerdings wohl nachgefagt werden. Wie er feiner Gläubigen
bezeugt, fie feien „nicht von der Welt,” fo ermahnt er fie auch, ſich
der Welt nicht gleich zu ftellen. Er heißt die Seinen von den Wet
kindern ausgehen; denn „der Welt Freundſchaft fei Gottes Feind
ſchaft.“ In einem gewiffen Maße werden die wahren Chriften im
mer inmitten der Welt Separutiften fein. Gott bat fie fo orgas
nifirt, daß eher an eine Einigung des Feuers mit dem Waſſer, als
ihrer mit dem großen Haufen zu denken ift. Ihre Meberzeugungen,
ihre Grundfäße, ihr Gefchmad, ihr Urtheil, ihre Anſchauung von den
Dingen in der Welt, fo wie ihr Wünſchen, Hoffen und Begehren:
es Läuft Alles fchnurftrads gegen der Welt Richtung und Sinne
weife an. Sie find durh Natur und Art von der unwiedergebor-
nen Welt gefchieden, wenn auch das Herz der Kinder Gottes
nimmer von den Kindern der Welt ſich fcheidet, fondern umabläffig
in barmberziger und werbender Liebe fich ihnen zuneigt. Diefe aber
mögen als Solche nicht angelehen fein, die ihre Stellung zu wechfeln
hätten; und Daher der Krieg auf Erden, im Blid auf welchen der
Heiland bezeugte: „Ihr follt nicht wahnen, daß ich gelommen bin,
Frieden zu bringen; ich bringe das Schwert!” —
Doch wenn die Führer Sfraels Jeſum der „Abwendung des Volks“
bezüchtigten, fo wollten fie diefe Anklage im politifhen Stune ver:
flanden wilfen. Für ein Rebellenhaupt und einen Meuterer
erklärten fie Ihn, der Die Leute wider Katfer und Obrigfeit aufzu⸗
ftaheln fih bemühe, und alfo des Hochverraths und Majeſtätsver⸗
brechens ſchuldig ſei. Und in der That war unfer Herr weder der
erſte noch der legte Gotkesknecht, auf den man foldhen Verdacht
zu wälzen fuchte. Schon Elias hörte fi von Ahab mit den Worten
angefähnaubt: „Du bift es, der Iſrael verwirret;" worauf er ruhig
erwibderte: „Nicht ich verwirre Iſrael, Sondern du, und deines Vaters
Has, und zwar Damit, daß ihre des Herrn Gebote verlaffen Habt,
Pilatus unfer Anwalt. 457
und hanget den Baalim an!“ — Eben fo mußte Jeremias von fich
zum Könige fagen hören: „Laß diefen Mann tödten, denn er macht laß
die Hände Des ganzen Volks, und fuchet nicht, was diefem Volke
zum Frieden, fondern was zum Unglüd dient!” Später wurde wider
Baulus vor dem Landpfleger Felix die Klage erhoben: „Wir haben
diefen Mann gefunden ſchaͤdlich wie eine Peſt, und der Aufruhr er-
teget unter allen Juden in der ganzen Welt, und einen Vornehmſten
der Secte der Nazarener.” Und alle nachmaligen Ehriftenverfolgungen
im römifchen Reich gefchahen unter dem Vorwande, daß die Anhänger
Jeſu ftaatsgefährliche Subjecte feien, die e8 auf Lockerung der Unter-
thanenbande, ja auf Umflurz der beftehenden bürgerlichen Ordnungen
abgefehen hätten, Diefes Ammenmährchen hat fih von Jahrhundert
zu Jahrhundert fortgepflanzt, obwol fchon ein Pilatus gegen folche
Berunglimpfungen und auf's nachdrüdlichite in Schuß nahm. Wir
bören denfelben heute laut vor allem Volke erklären, daß Thron und
Staat von diefem Zefu und feinen Züngern nichts zu befürchten
hätten. „Ich habe ihn vor euch verhört,” fpricht er, „und finde an
dem Menfchen der Sachen feine, deren ihr ihm befchuldigt. Und He
rodes auch nicht; denn ich habe euch zu ihm gefandt, und fiehe, man
bat nichts auf ihn gebracht, Das des Todes werth ſei!“ — Wie war
e8 auch nur möglich, Den empörerifcher Gelüfte zeihen zu wollen, der
den allgemeinen Grundfag aufftellte: „Gebet dem Kaifer, was des
Kaifers ift;” der feinem Petrus ſchon bei einer Zurwehrfeßung gegen
einen der untergeordnetften Diener der weltlichen Obrigkeit die ernſt
zurechtweifenden Worte zurief: „Stecke dein Schwert in die Scheide;
denn wer das Schwert nimmt, foll durch's Schwert uınkommen;” der
uns fagen läßet: „Seid unterthan der Obrigkeit, denn es ift feine
x
Obrigkeit ohne von Gott,” und der nur in Bezug auf Zumuthungen, .
die dem Worte Gottes zumwiderlaufen, Die, immer auch nur ein dul⸗
dendes Verhalten fordernde, Regel uns einfchärft: „Man muß Gott
mehr gehorchen, denn den Menſchen?“ —
Doch es find in neuefter Zeit Ereigniffe eingetreten, welche den
Glaͤubigen rüdfichtlich ihrer politifchen Gefinnungen jeden Anwalt
entbehrlich machen. Die Welt weiß es jebt, daß die Wogen des
Aufruhrs an ihnen wohl einen Helfen finden, an dem fie fidh brechen,
aber fein offnes Bette, in das fie fich ergießen mögen, Es dürfte
faum je wieder gelingen, fie nad) der Seite ihrer Unterthanentreue
hin den Megierungen zu verdaͤchtigen. Hat fi) doch Die Umſturzpartei
458 Das Helfige.
zu dem wiederholten offnen Geſtändnifſe genötbigt gefehen, Daß ihren
Plänen nichts fo bindend im Wege ftebe, ald das Ehriftentbun.
Stuatsbebörden, die vor wenigen Jahren noch die lebendigen Chriſte
unter ihren Untertbimen verfolgten, rufen fie jegt als Stüßen ba
Throne und Garanten der öffentlichen Ordnumg in ihr Land. Laben
redet mit Jakob freundlich; Beliazer fleidet den Daniel in Purpı.
„Wenn Jemandes Wege dem Herm mohlgefallen,“ fpricht Salome
„ſo macht er feine Feinde ihm friedlich geſimt.“ — Es ift eins
Großes um die plögliche Entfräftung und Vernichtung einer mebr als
taujendjührigen Anklage gegen die Anbeter des Lammes, wie folde
Vernichtung in den neueiten Zagen eingetreten if. Freuen wir ms
dieſes Umſchwungs der öffentlichen Meinung von den Streitern Chriti
in der Welt ald einer, wenn auch noch fe leifen, Hindeutung am
die Siegsperiode unſres Rreugreiöe, der wir entgegengeben.
Doch mit der einen Befäutbigng rebelliſcher Gefinnmgen find
noch nicht alle Anflagen von uns binweggewäht. Man besichtigt
uns weiter des Feithaltens an finnlofen Lehrſätzen, umd denkt
dabei vorzugsweife an das Dogma der Stellvertretung Chriki,
das wir allerdings al8 den Kern des Evangeliumd und den Grm
aller unfrer Hoffnung befennen. Wenn es nicht wahr ift, Daß der
Sohn Gottes den großen Tauſch mit uns einging, unfre Uebertret
gen fich göttlich zurechnen Tieß, unfre Schuld in feine Rechnung nahen,
den Arm der ftrafenden Gerechtigfeit fi für uns preisgab, am umfre
Statt die Sünde büßte, den Fluch erduldete, die Verdammmiß anf
fih Iud, und als unſer Bürge und Vertreter den Keldh der Schrecken
bis auf Die Hefen leerte, der uns Miſſethätern zugemeffen wurde;
wenn, fügen wir, Diefes Alles nicht in der Wahrheit gegründet if,
Dann faften unfre Sünden nod) auf uns, dann Tiegen wir noch unter
dem Fluche und bleiben ewig darunter liegen, dann wird Feine Seel
felig; und jede Stelle der h. Schrift, in der einem Sünder zugerufen
wird: „Deine Sünden find dir vergeben!“ ift eine Rüge; ja eine
Läfterung des göttlichen Namens jeder Ausſpruch, der Abtrinnigen
und Uebertretern Gnade zuſagt. Was irgend Tröjtliches für Gefallene
in der Schrift enthalten ift, kann Dann nicht göttlichen Urfprumgs fein,
fonden muß vom Satan ſtammen; denn es tft unmöglich, Daß Get,
der weder von feinem Gejeße, dem Abglanz Seined unveränderfichen
Willens, noch von feinen Drohungen, den Ausfläffen Seiner heiligen
Bilatns unfer Anwalt. 459
Ratur, jemals laffen kann, willtürfich und ohne Weiteres ftrafwürdige
Sünder fegne und befelige. Er würde aufhören, heilig, gerecht und
wahr, d. i. Gott zu fein, wenn Er es thäte. Seht, dies glauben
und befennen wir. Was aber uns fo herrlich, annehummgswürdig und
im hoͤchſten Sinne des Worts vernünftig dünkt, nennt die Welt ei-
nen verjährten Wahn und eine finnlofe, thörichte Lehre. Aber da tritt
vun, feltfam genug, wieder Pilatus für und ein, um uns, wenn auch
nur indirect, auch hier in Schuß zu nehmen.
Der Herr Jefus hat alle Verhöre jet Durchgangen. Eine Prüfung
um die andere ift mit Ihm angeftellt. Auf jeder Wage ift Er gewogen,
an jedem Mapftabe gemeffen, ja mit dem Lichte eines dreifachen Ge-
feßes: des levitiſchen, des bürgerlichen und des Geſetzes der Sitten
beleuchtet worden. Sept foll von dem Ergebniß der wider ihn ge-
- führten Verhandlungen der Schleier weichen. Der Richter, der zu
diefem feierlichen, und, wie er meint, entfcheidenden Alte die Hohen⸗
priefter und Oberften eigends in feine Nähe befchieden hat, fteht,
von einer unabfehbaren Vollsmenge umwogt, auf feinem hohen Als
tane, und öffnet, wie Alles erwartungsvoll fchweigt, zum lebten
Urtheilsfpruche feinen Mund. Und diefer Inutet? — „Ihr habt,“
erklärt er laut in die Verſammlung hinein, „diefen Menfchen zu mir
gebracht, al8 der Das Volk abwende. Und ftehe, (dieſes „fiehe“ ruft
er nicht blos feiner nächten Umgebung zu, fondern der Welt,) ich habe
ihn vor euch verhört, und finde an dem Menfchen Der Sachen feine,
deren ihr ihn befchuldigt. Herodes hat ihn verhört, und findet auch
nichts. Man verhörte ihn, (und wer ift diefes „man“, als der ganze
Hoherath, Die gefammte Zunft der Bharifüer und Schriftgelehrten,
und was aus dem Volke ſich um ihn befümmerte,) und fiehe, man
bat nichts auf ihn gebracht, das des Todes werth feil*
Er ſpricht's, und Alles ſchweigt dazu, weil Alles fühlt, daß Pilatus
die Wahrheit fpricht.
Obwol nun aber ald Sündenreiner des Todes in keinerlei Weiſe
ſchuldig, weder des gerichtlichen, noch des natürlichen Zodes,
welcher lebtere ja der „Sold der Sünde” heißt und ift, flirbt Er
Dennoch, Es ftirbt mithin in ihm ein Mann, der nad) dem Rechte wie
nach der Verheißung Gottes nicht fterben, fondern Leben follte. Und
er ftirbt eines Todes, der mit einem Märtyrertode kaum die entferntefte
Aehnlichkeit bat. Ya, hätte er Durch fein Sterben nur feine Lehre
befiegein weile, fo hätte ee feinen Zweck verfehlt, indem wir uns
460 Das Heilige.
möglich) groß von einer Xehre denken koͤnnten, deren Träger vor den
Pforten der Ewigkeit zu dem furchtbaren Geftändniß fortgerifien wurde,
daß Gott ihn verlaffen babe. Nun aber fagt ihre uns einmal,
warum Sefus Hard? Sündern ift „gefebt, einmal zu fterben, m
darnach das Gericht”; aber Er war fein Sünder, Auch Begnadigte
ift e8 verordnet, den Weg zum Himmel durch den Zod zu nehmen,
weil ihr Fleiſch durch die Sünde verderbt if. Bei Der Leiblichkeit
Jeſu aber trifft dies nicht zu; und dennoch flirbt er, und ſtirbt fe
ſchrecklich. Erflärt mir dies! Ihr befinnt eu. O, befinnt euch, fe
fange e8 euch beliebt; wir ſagen's euch beftimmt voraus, Daß ihr Ver
nünftiges, Einleuchtendes und Annehmbares zur Loͤſung diefes Räthiek
nicht beibringen werdet. Hört aber, wie wir die Sache anfehn, md
ermeffet, ob für irgend eine andere Anficht Raum bleibt. Der me:
hörte Lmftand, daß Jeſus, der Mafellofe und Gerechte, feiner Heiliz
feit ohmerachtet dem Urtheil des Todes verfällt, wirde uns mit Noth
wendigfeit zu dem Schluffe Drängen, es fei die Lehre, Daß ein gerechter
Gott im Himmel walte, ein Bahn; e8 regiere auf Erden nur des Max
fchen Wille, oder das Ungefähr; es egiftire eine göttliche Vergeltung auf
Erden nicht, fondern dem Gottlofen ergebe e8 nicht ſchlimmer, als den
Gerechten; e8 beitehe feine Ordnung, gemäß welcher der, Der das Ge
fe vollfommen halte, die Krone des Lebens zu gewärtigen habe; und
es lüge die Schrift, indem fie fage, Daß der Zod nur die Ausgebun
der Webertretung fei: zu Folgerungen Ddiefer Art, füge ich, wären mir
unbedingt genöthigt, wenn wir nicht vorausfegen dürften, Daß der m
fträfliche Gottesfohn den Tod an unferer Statt erduldet babe
Diefe Annahme reicht und den einzigen Schlüffel zu dem Geheimmik
des blutigen Untergangs des Gerechten. Segen wir aber eine Stel
vertretung Jeſu für Die Sünder, — und wir dürfen dies nicht bieß,
fondern find durch das unzweideutige Zeugniß der heiligen Schrift daz
genöthigt, — fo ift Alles Elar, gelöft, entziffert, ud in Alles kommt
erhabener Sinn und herrlicher Zuſammenhang. Im Paradiefe drobt
der Herr: „Welches Tages du von dieſem Baume iſſeſt, follft du des
Zodes fterben!“ Wir agen von dem Baume, und luden das ſchauer⸗
liche Urtheil auf unfer Haupt. Aber nun kommt der ewige Sohn,
nimmt leßteres von unferm Haupte auf das feine, und wir — wer
den leben. Vom Sinai herab hieß es: „Verflucht fei, wer nicht bleibt
in Allem, das gefchrieben fteht im Buche Des Gefepes!* Wir blieben
nicht darin, und unfer Schickſal war entichieden. Doc fiehe, da eu
Pilatus unfer Anwalt. 461
fcheint der Bürge, läßt ſich von unferm Fluch zerfchmettern, und wir
find rechtskräftig erläft und ftehen unantaftbar da. — Gott hat bes
ſchloſſen, und Sünder zu befeligen, troß feines Wortes: „Ich will
den aus meinem Buche tilgen, der an mir ſündigt.“ Wir glauben
an unfere Seligfeit; denn er vollzog die uns angedrohte Strafe an
uns in Ehrifto, — Nur den Gehorchenden verhieß Gott die Le
bensfrone; aber nachdem Ehriftus ftellvertretend in unferm Namen
gehorchte, kann Gott auh Sünder frönen, und bleibt doch heilig.
So wird jet Alles licht und die grelliten Widerfprüche gleichen fich
harmonifh aus. Und man wagt es, unfre Lehre von der Stellvers
tretung Jeſu finnlos oder gar albern zu nennen? Sehet, felbft ein
Pilatus tritt, ohne e8 zu wiffen, dadurch für uns in den Riß, daß er
der Wahrheit Zeugniß gibt, Chriſtus fei des Todes nicht fchuldig ges
weſen. Berfucht denn ihr einmal in einer genügenden und vernünf-
tigen Weiſe e8 anders, als durch die Stellvertretung Chrifti, zu erfläs
ren, wie e8 zugegangen fei, daß auch Jeſus, der heilige und ta⸗
dellofe, den Sold der Sünde entrichtet habe!
3
Pilatus nimmt fi) unferer noch einmal an, Er reinigt uns von
einem neuen Vorwurf. Freilich thut er dies wieder nicht Direct; aber
er muß Veranlaffung geben, daß wir von demfelben gereinigt werden.
Man wirft und vor, wir fpendeten die biblifchen Tröftungen mit zu
vollen Händen. Man verübelt's uns, daß wir Die Gnade, die Jeſus ers
worben, auch auf die gröbften Sünder und verfunkenften Miffethäter
ausdehnen wollen. — Man fpricht uns dazu die Berechtigung ab umd
nennt unfer Thun gefährlich und fittenverderblich. Aber da begibt fich
num etwas, — unfer Evangelium deutet's an, — das jenen Fleingeiftigen
Einwurf völlig entkräftet, und unſer Verfahren als ein wahrhaft evans
gelifches rechtfertigt.
Nachdem Pilatus feierlich erklärt hat, es hafte Teinerlei Schuld
an dem Berklagten, fährt er fort: „Darum” — — Nun, wie weiter?
Etwa: „Darum feße ich ihn in Freiheit?" — O nicht Doch; fondern:
„Darum will ich ihn züchtigen (d. h. mit Ruthen ſtreichen) und
ihn loslaſſen!“ Denkt, welche Ungerechtigkeit! „D Pilatus,” möch⸗
ten wir rufen, „wie war ed möglich, daß du auf ſolchen Vorſchlag
gerathen konnteſt? Den Mann, der mit dem lauterften Ausdrud der
Wahrheit zu dir fagte: „Ich bin ein König und bin dazu geboren,
daß ich die Wahrheit bezeugen ſoll,“ und aus deffen ganzer Erfchei-
2 Zei Gelee.
at can el et Sue aber, ma
fur 23 ce irehier Zirer zent? I. mwebte rer Wü
deıde Redsetch, 12? u ercıie Zee um eme Gemdel
era Ehe ıı? erter Beiugeni!‘ — — Tiere kire we ii
Tu Zmrate Riem: „IE tu fa mar de Iedhsen‘ ü
ud um Foerz ruiNier order Firier Weir erden bei
ieazz Ixzerde ecı Fredumer schule, tx fenn Ghriiked zur u
bex Prabl wexuier ne? zeischer, Arıı aber zur Deichurkhaiun
tes earzıtarda Garn u za cum Br wüer „Isögeleie‘
&ezrelt: beit Darm aber a7 jecze Berk u? Inmeuten zu zei
wm? laũt ibx Mexu, mitten zıı m rieicde icder Ind. Ba
lenaner, tab er ter emix Der mu Hummel ie, ebmel er db je
dafür ertlart Bat: je ddrza mn dr Tem aber reiche men de
als dea andaseihnerten Schrer wieder betas, u? Liär ibe Dumi
miete les. Mm rictiat ihn, mer mm feine Glieder auf Oder
verumgfizzeit, und in Schiri map i Zcheinrert wiler diejenigen un
brit, die ’eıme Fiurizen Verdieriie als die emzige lirkache ührer So
lialeu rüßmen: {it aber Dumm ike wieder les, inden mare ibem ki
der Buntesirtel eine änkeriite Derkeuzung much, oder ibm umzeiiche,
dai ex zieht sei, ala Setrates und Sclen At, ven Raner führe
zur Ale ee bermlide Keihei aegen dea Serra Gbritum kei ınd,
und unteriañen uhr, bei Gelegerbeu in Dreier oder jener Dei ſie
wider ibn zu ideeingen. Fraat uns aber, nachden Die Gheikelm:
gerheben, unter Garinen, warum wir doch dieſen Gerechten, der
ms nie enmad zu Leite getban. Se ram un? abbei® tem, je pilegen
wir, tar Buße u them, unite Rubrämwürtigfer binter Judasũie,
Me ru ibm geben, zu veriieden, und lañen den Gemißbandelten Durd
areidentiae Ebrenbeiwuaungen „wieder les.“
Dech zur Sache: Wan rilegre in \irael Verklagte, Pie um Gange
Der Umerjuchung nur leichter Vergeben übernibrt werden maren, wi
Ruben zu reiben, und nah Belliichuug Pieier Berenmasitrafe frei
zu geben. Als einen Delinquenten di eſer Gattung gedachte Rilınss
auch Jeſum zu bebandeln. Wan möchte denken, daß er nach Allem,
mas vorbergegangen, und wodurch Sein Unſchuld in ein jo helles
Licht gertellt werden mar, mi ſeinem vermittelnden Verichlage wobl
Bilatad unfer Anwalt 463
Anklang werde gefunden haben. Aber nein; Gott hatte es anders
beſchloſſen. Ehriftus follte leiden als ein Verbrecher der Argften
Art; ja, das Loos eines Mörders, eines Auswurfs der Menfchheit
follte ihn treffen, und ihm erft dann die Stunde der Erlöfung fchla-
gen. Warım dies? — Warum doch anders nach Gottes Rath und
Willen, ale damit auch Schächern, ja Verbrechen, wie Manaffe und
Rahab, für den Gedanken Raum verbliebe, e8 habe der große Bürge
auch für fie gelitten. In die Hölle, in die Gottverlaffenheit, in das
Alleräußerfte von Schmad und Schmerzen follte Jeſus hinab, auf
daß auch der ärgfte der Uebertreter an der Gnade nicht zu verzweifeln
brauche. Iſt diefe Lehre gefährlich, warum predigen fie die Apoftel
von den Dächern? Streitet fie wider Gott, warum hat Gott fie an
einem David, an einem Saulus, an einer Magdalene, ja an Schuld»
befadeneren, als diefe, befiegelt? Iſt fie verderblich, warum ragen die,
welche ihre Wahrheit an fich felbft erfuhren, an brennendem Haß
wider die Sünde und an Eifer für Gott und feine Ehre vor allen
Andern hervor? Macht fie Läffig und unfruchtbar in guten Werken?
Umgefehrt! denn wer an den Berdienften Chrifti Theil gewinnt, wird
auch durch Ehrifti Geift im Garten Gottes ein edler Baum, der „feine
Früchte trägt zur rechten Zeit.” O Heil uns, daß fo, wie wir eben
gefagt, die Sache ſich verhält! Hätte Chriftus nicht auch das Loos
der vornehmſten Sünder auf fi) genommen und erfüllt, wer überhaupt
unter den Erleuchteten könnte Ehrifti fich getröften, indem der heilige
Geift einen jeglichen derfelben mit Paulus bezeugen lehrt: „Ehriftus
ift gefommen in die Welt, die Sünder felig zu machen, unter wel-
hen ih der vornehmfte bin,“
Pilatus hat uns feine Dienfte gethan. Wie er von einer ſchweren
Anklage uns gereinigt hat, fo hat er durch fein der Unſchuld Ehrifti
gegebenes Zeugniß unfere Anfchauung von dem Zode des Herm und
defien Bedeutung gerechtfertigt, und durch feinen fehlgefchlagenen
Verſuch, den Mittler nur als einen der leichteren und weniger ftraf-
baren lebertreter zu behandeln, dem Richter auf dem Stuhl der Ma⸗
jeftät Deranlafjung gegeben, eben fein, des Landpflegers, Vorhaben zu
vereiteln, und dadurch thatfächlich zu beurfunden, daß Ehriftus nach
Seinem, des allmäcdhtigen Gottes, Rath und Willen, den Fluch and
der fluchwürdigften der Sünder habe erdufden follen. Namentlich
fühlen wir uns dem Römer für die beiden fegten Dienfte, |die er
464 Das Heilige.
uns geleiftet, zu innigem Dank verpflichtet; denn wir befennen, daß
mit der Stellvertretung und Genugtbuung Immanuel unfer Friede
wie unfere ganze Hoffnung ftehe und falle, und ſprechen in tieſſter
Wahrheit unfers Herzens:
Haft Du, was wir verſchuldet,
Als Mittier nicht gefühnt,
Haft Du ihn nicht erduldet,
Den Fluch, den wir verdient;
Dann wehe und! Kein Beten,
Noch Ringen ſchafft und Heil;
Denn nur Dein Stellvertreten
Gibt und am Himmel Theil! — Amen.
XXXVIII.
Das große Bild.
Eine der bedeutſamſten und ſinnreichſten Tempel⸗Ceremonien war
unſtreitig diejenige, welche nach 3. Moſ. 16, 5—10 am jahrlichen
Verſöhnungsfeſte der Gemeine die Darbringung zweier Böcke aufer:
legte, über die dann der Prieſter das Loos entſcheiden ließ, welchet
von den beiden dem Herrn geopfert, und welcher als durch Des er
fteren Blut verföhnt in Zreiheit gefeßt werden folle. Die Loofe be
zeichneten den einen als „la Jehova,“ d. i. dem Herm geweiht:
den andern als „Aſaſel“ d. i. den Ledigen. Dasjenige Thier, dem
das erftere der Loofe fiel, ging zu Schlachtbank und Altar; Dasjenige,
dem das Ießtere, wurde auf Koften jenes in's Freie entlaffen, und
Niemand durfte ihm irgend ein Leides thun; es war unantaftbar.
Unverkennbar fchattete der Widder „Afafel” das fündige, aber durch
ein wmittlerifches Dazwifchentreten zu verfühnende Volk; der andre das
gegen den ftellvertretenden Vermittler diefer Berföhnung, Den gro:
gen Zufüinftigen felber ab. Was der Herr fo [hen damals voll
berablaffender Gnade in leifen Schattenriffen der Sünderwelt vor Augen
malte, das hat Er fpäter in einem noch viel Fräftigeren, anſchauli⸗
Das große Bild. 485
heren und ausgeführteren Bilde uns vorgeftellt. Aus Thatſachen
fteigt leßteres vor uns auf, Es tritt heute in unfern Gefichtsfreis.
Möge es uns gelingen, feine ganze Ziefe zu ergründen!
Matth. 27, 15—21. Marc. 15, 6-11. Sur. 23, 17— 19.
Ish. 18, 39—40.
Auf das Ofterfeft aber hatte der Landpfleger die Gewohnheit, bem Bolte einen
Gefangenen Ioßzugeben, welchen fie begehrten. Und das Bolt ging hinauf und bat,
daß er thäte, wie er pflegte. Er bafte aber zu der Zeit einen Gefangenen, einen
fonderlihen vor anderen, ber hieß Barabbas, gefangen mit den Aufrührerifhen um
eines Aufruhrs, fo in der Stadt gefchehen war, und um eined Mordes willen in’s
Gefängniß geworfen. Und da fie verfammelt waren, ſprach Pilatus zu ihnen: Ihr
babt eine Gewohnheit, daß ich euch einen auf Oftern losgebe; welchen wollt ihr nun,
daß ich eu Iedgebe, Barabbam oder Jeſum, den König der Juden, von dem gefagt
wird, er fei Ebriftus? Denn er wußte wohl, daß ihn die Hohenpriefter aus Neid
überantwortel hatten. — Und da er auf dem Richtſtuhle ſaß, fchidte fein Weib zu
ihm, und ließ ihm fagen: habe du nichts zu ſchaffen mit dieſem Gerechten; ic) habe
bente viel erlitten im Traume um feinetwegen. — Aber die Hohenpriefter und die
Aelteſten überredeten und reizten das Bolt, daß fie bitten follten, daß er ihnen viel
lieber den Barabbam losgäbe, und Iefum umbdrächten. Da antwortete num der
Landpfleger Pilatus wiederum und ſprach zu ihnen: Welchen wollt ihr unter dieſen
zweien, ben ich euch losgeben fol? Da fhrie der ganze Haufe, und ſprach: Hinweg
mit diefem und gieb und Barabbam los; Barabbad aber war ein Mörder.
So erſchütternd die Scene ift, zu der wir heute kommen, fo reich
ift fie am geiftiger Bedeutung und großartigem Gedanfeninhalt. Schon
indem ich fie euch verlas, mußte euch fein, als fchautet ihr in einen
Haren Strom hinab, aus deffen Tiefe euch in magifchen Lichtern ftrah-
(end ein verborgener und bis dahin euch noch unbefannter Hort ent-
gegenglänzte. Mache der Herr uns heute zu guten Fifchern, und
ſchenke er Glauben und Andacht uns zum Netze!
In dem, was Menfhliches in unferm Evangelium ſich begibt,
ſchließt fich der Inhalt deffelben lange nicht ab. Ihr kennt ja jene
Art von Weberei, bei der der Weber feine Spule gedanfenlos durch
die Züden fchnellt, und diefe mechanifch mit einander verfnüpft, ohne
zu wiffen, ja ohne auch nur zu ahnen, was in dem Zuche, an dem
er wirft, wenn es vollendet fei, für ein Mufter erfcheinen werde.
Es weiß dies allein der Meifter, der die Karten, Durch welche Die
Fäden laufen, kunftreich ordnete und zufammenfügte. Jenem Weber
vergleiche ich die handelnden Perſonen in unferer Geſchichte. Auch
30
466 Das Heilige.
dieſe weben an einem Bilde, das fie noch nicht ennen, Sie handeln
nad ihrem Sinn, und thuen ihr Werk; aber Gott läßt ihr freie
Thun fo ſich geftalten und verknüpfen, Daß Daraus unter ihren Hin
den, ehe fie ſichſss verfehen, ein großes, tief bedeutfames göttliches Ge
mälde zu Zage tritt.
Bor diefem Bilde wollen wir nun einige Augenblidte betrachten?
verweilen, und zuſehen, zuerft, wie das Bild entfleht, und dam,
was es nad Gottes Willen uns veranfhaulict.
Helfe uns der Geiſt des Herm die Hierogipphenfchrift unſern
Scene entziffern, und die Wahrheitsfchäge, die fie in fich birgt, m
unferm Heife rentbar machen!
1.
So ftehen wir denn wieder vom wilden Volksgewühl umwogt vm
der offnen Richterbühne Gabbatha. Pilatus, in deffen Herzen, je
länger er mit dem Erhabenen aus Nazareth verkehrt, um fo fiegreice
die Ueberzeugung von der vollkommenen Unſchuld deſſelben durchſchlägt
und um fo höher die Ehrfurcht vor dem geheimnißvollen Mann fid
fteigert, erſchöpft fid) immer noch in Verſuchen, dem Handel eine
ebenfowohl ihm felbft, al8 dem Verklagten günftige Wendung zu ge
ben. Sein Innerſtes empört fich, wenn er den Gedanken denkt, dab
der Gerechte den Tod eines Mifjethäters fterben folle? Hierin ſtehen
ihm in einer gewiffen Weife nicht wenige der Unſern gleih. Die
jenigen ſind's, Die mit dem Landpfleger der fittlichen Herrlichkeit
Jeſu zwar eine an Begeifterung ftreifende Achtung zollen; aber x
einfeitiger fie Zhn nur aus dieſem Geſichtspunkt anfchauen, um ie
mehr an feinem Kreuze fich ärgern. Die Lehre, daß er ftellverhe
tend fiir unfere Sünde babe jterben müſſen, flößt ihnen Widerwillen
ein. Warum? Aus dem einfachen und naheliegenden Grunde, wei
fie, Die die Sünde zu einen unbedentenden und yeringfügigen Ge
genftande abjchwächen möchten, genöthigt wären, Diefelbe für etwas
Erhebliches, ja Grauenhaftes zu erachten, müßten ſie annehmen, daß
fie eher nicht vergeben werden konnte, als bis Gott fie an feinem eig:
nen Sohn verdammt, und im Blute dieſes Sohnes gefühnt geſehen
hatte. Sie, die ja jelbft von Sünde fich gänzlich frei zu ſprechen
niht wagen, fühen fi dann gezwungen, entweder mit ung zu den
Wunden Jeſu ihre Zuflucht zu nehmen, und, wie wir, um Schächere
gnade zu betteln, wovor ihnen greuelt; oder gefchlagenen und ge
ängfteten Gewiſſens einher zu gehen, wozu fie eben fo wenig Lu
Das große Bil. ; 46V
verfpüren. So liegt e8 denn durchaus in ihrem Intereſſe, gegen
den Sat, daß das Leiden und Sterben Ehrifti als ein vermittelndes
aufzufaffen fei, Einfpruch zu erheben. Ya, ich nehme nicht Anftand,
zu behaupten, daß alle die Dogmatifchen Syfteme, die das ftellvertres
tende Strafetragen Chriſti zu verneinen oder zu umgehen fuchen, aus
dem bemwußten oder unbewußten Beftreben erwachſen find, den Begriff
der Sünde zu entfräften und zu verflachen. Diejenigen, denen dieſe
Syſteme noch Beruhigung gewähren, find fi noch nicht bewußt ges
worden, wie fündig die Sünde ſei. Die aber einmal im Lichte Got-
tes das Wefen der Sünde erfannten, gehen jofort vom Sinne Pilati
ab, und laffen Jeſum gerne jterben, und zwar einen je fchredlicheren
Zod, deito lieber, weil ihnen daraus eine um fo tiefere Beruhigung
erwächft.
Der Landpfleger finnt und ſinnt. Die Stirne glüht ihm; feine
Gedanken fteden alle Nothfignale aus. Was gäbe er nicht in feiner
peinvollen Lage für einen weifen Rath! Da lichtet fih mit einem
Male der Horizont feiner Seele. Er bat gefunden! „ Glüdlicher
Einfall!” denkt er; und freilich, ein „Einfall“ darf der Gedanke
heißen: denn nicht ohne höhere Fügung kam er ihm; und den Ra-
men eines „glüdlichen“ verdient er ebenfalld, wie wir davon ung
fpäter überzeugen werden. Pilatus erinnert fich nemlich eines Her⸗
kommend, das zwar eine göttliche Anordnung nicht zu feinem Grunde
hatte, aber doch von Gott, der es zu einen hehren Symbole verflä-
ren wollte, nachfichtig überfehen und geduldet wurde. Diefen Ge
brauche gemäß war es dem Volke an feinem jährlichen Oſterfeſte
eingeräumt, zur Verfinnbildlichung des Ausgangs feiner Alteäter aus
Egypten und zur Erhöhung der allgemeinen Feitesfreude irgend einen
ſchweren Berbrecher aus feiner Kerkerhaft frei zu bitten. ‘Pilatus
erhafcht nun diefe Gewohnheit, wie ein Schiffbrüchiger Die treibende
Planke, die ihm als einziges Rettungsmittel noch geblieben ift. Mit
haftiger Eile Durchmuftert er im Geift die Zwinger des Gefangenhau-
ſes, ob er nicht einen Miffethäter Darin entdede, im Blick auf den er
fid) getroft der Hoffnung überlaffen dürfe, daß Das Bolt dem ninuner
vor dem Nazarener den Vorzug geben werde. Bald glaubt er einen
ſolchen auch gefunden zu haben; oder vielmehr Gott fand ihn für
ihn; denn grade diefen Sünder erachtete der Herr geeignet zu Dem
Bilde, das Er der Welt vor Augen zu malen die Abficht hatte, Der
Auserrehene it Barabbas, ein wüfter Menſch, Rebell und Mörder
30”
468 Dei Heilige.
zugleich. „Ber,“ denkt der Landrfeger, „wird dieſem Answurj der
Menſchbeit auf Keñen des Gerechten ren Razareth Freibeit und Le
ben gönnen?“ — Pilatus rechnet auf die Humanität und Das Rede:
gerübl der Menge: aber es nebt sehr zu beicrgen, DaB er ih an
verrechnen werde, und Dies um ic mebr, Zu er ui ſeinem verneint
lichen Blitzableiter ih einen veliriihen Verbrecher unsermübt
bat, welchem gegenüber ih die Velfameral überbaupt weir eher, 4 |
gegen irgend eine andere Art ven Züntern, zu Nachricht und Mile
zu neigen vflegt. Schen im reraus voll beimlichen Zrinmpbs frei
ter Tilanıs auf Das Proicenium Der NRichterbübne ver, und ruſt wü
dem Tone vollfenmener Siegesgewißbeit ind Volt binen: „Bel
ben wollt ibr, daß ich euch losgebe: Jeſum Barabbau—,
(io bieß einer alten Ueberlieſerung nach der Mann mit ſeinem vria
Namen,) „oder Jeſum, Den König Der Juden, von dem ge
tagt wird, er jet Ehriitus?“ „Tenn,“ fügt Die Geichichte binn
„er wußte wohl, daß ihn die Hohennrieiter aus Neid überantmerkt
hatten.” Und freilich hatten fie Das: denn daß das Volk ihn a:
king, verdroß ſie mehr, ala alles Andere. Aber wie tböricht handele
darum der ſenũ io Ichlaue Precurater, daß er durch Bezeichnung Ye
als „des Königes Der Auden* Die ſtolzen Herm aufs neue Daran a:
innerte, wie man ibm einit Die trage mir Palmen beitreut, und ws
ter Hofiannanıf die Kleider über den Weg gebreitet batte, und If
er iomit feinem Audenbafte Raum gab, gleichſam Hals über Kopf mi
feiner Kluabetr davon zu jagen! — Wie verdarb er fich Dadurd,
ohne es zu abnen, telbit das Zricl! Tod eine verfehlte war ie
Epeculation obnebin iden. .Gott erbaſchet die Weiſen,
Die, Den Leitzügel feines Worts und Willens von ſich ftreifend,
eigenen Wegen ihr Heil verruben wollen, „in ibrer Klugheit‘
Tie Enribeidung über das Schickſal Jen iſt nun aus Pilatus Hin
den heraus. Es enricheider jetzt far feiner Die Kopfzabhl der Mai,
und er iſt achalten, jedem Beſchluß derſelben fib zu fügen. Hätte
er Muth gewinnen fünnen, Dem Marke feines Gewiſſens folgend mi
rubiger Beſtimmtheit zu ſprechen: „Es werde Gerechtigleit geübt
und ob die Welt dariiber zu Grunde ainae! der ſchuldloſe Nazare
ner ift frei, und dieſe Kohorte hier wird meinem Richterfpruche Na
druck zu geben willen!“ ſo würden Die Feinde unbezweifelt in ihrem
Innern geichlagen und wie angedonnert zurückgewankt fein, und dat
Bolt, von feinem Taumel ernüchtert, Dem energiichen Richter laut ihren
Das große Bild. # 469
Beifall zugejubelt haben. Jetzt aber fteht Pilatus für ewige Zeiten
als ein warnendes Exempel da, wohin man bei dem feigen Streben
zu gerathen pflege, zugleih Gott, der in unferm Bufen fpricht,
und der Welt ein Genüge zu thun. In mandherlei Geftalten übri-
gend begegnet und Pilatus auch in unfern Tagen wieder auf der .
Bühne der Welt. Mancher bat ſich in neuerer Zeit, wie er, in die
Lage verfeßt, den Barabbas frei, und Ehriftum preis geben zu müffen,
weil es ihm an Muth gebrach, entichloffen und auf jede Gefahr bin
für Leßteren einzutreten, Es hat Mancher, nach Pilatus Art ebenfalls
auf das moralifche Bewußtfein und die Humanität der Menfchen rech-
nend, Die Menge, mit der er's nicht verderben wollte, feige gefragt:
„Bas wollt ihr: das Recht oder den Berrathb? Die Ord—
nung Gottes oder deren Umsturz?“ und ach! auch ihm donnerte
die freilich fehr unerwartete Antwort entgegen: „Den Umfturz wollen
wir, und den Verrath!“ und ehe ſich's der arme Mann verfah, war
er auf dem abfchüffigen Boden der Menfchengefälligfeit, den er betre-
ten, zu feinem Schreden felbft mit in das Allerärgite hinab geglit-
ten, und ſah fih nach der Möglichkeit eines Zurück vergeblich um.
Darum Zuß bei Mal! liebe Brüder, und mit dem, was wir als
Recht erkannten, gerade durch! So wird man ein Herr der Menge,
ftatt deren Knecht; denn vor dem heiligen Muthe beugt fich allemal
die Erbärmlichkeit, wie troßig fie fih immerhin gebährde. Mit diefem
Muthe fiegt man unansbleiblih, ob dem Scheine nach auch unterlie-
gend: denn Gott ift jederzeit mit denen, die entjchieden mit Ihm
find, während er diejenigen fallen laßt, die „zweien Herren dienen
wollen.“
„Welchen wollt ihr,” ruft Pilatus, und laßt fi, den Beſchluß
des Volks erwartend, auf den marmornen Richterfeffel nieder. Das
Volk ftugt und wankt. Wie dies die Priefter und Aclteften gewahren,
ftürzen fie fih unter die Maffen, und bieten alle ihre Rednerfünfte
auf, das in den Gemüthern erwachende Rechtsgefühl im Keime wieder
zu erftiden, und den ſchon matter glimmenden Zunfen der Erbitterung
gegen Jeſum aufs neue anzublafen. — Unterdeffen tritt ein merf-
würdiger Zwifchenfall ein. Bor dem Landpfleger erfcheint athemlos
ein Abgefandter feiner Gemahlin, Durch welchen Diefe ihm fagen läßt:
„Habe du nichts zu fhaffen mit Diefem Gerechten; denn
ih babe dieſe Nacht vielerlitten im Traumevon feinet-
wegen." — Wunderbarer Umſtand! Bis in die Zraumwelt ber
470 Das Heilige
Heidin hinein wußte der Wunderylanz der Reinheit und Gerriiäkt |
des Schönften der Menichenfinder fih Bahn zu brechen. Man fick
wie die Erſcheinung Jeſu auch die Herzen der Gleichgültigen, ja jelik
der Widerftrebenden, erfaßt und zur Ehrfurdt gezwungen baben md.
Ja, bei der Nacht, wenn des Tages Lärm verfhunmt und Der Sclei
auf die Leute füllt, gebt der Geiit der Wahrheit gerne in der Mes
ſchen Hütten um, und tritt auch wohl an Die Lager Derer heran, de
ionft in wüſtem Verblendungsraufche unbefimmert um Die bübern
Daſeinszwecke ihr Leben durchtaumeln. Bei der Nacht dringt er mit
den Pfeilen feiner NRichterfprüche auch wohl bis in die Kammern dud
wo Laute höherer Natur font feinen Anklang finden, Bei Der Rakı
fommt auch in den (Sottvergefieniten wohl das fchmählich untertreten
Bewiffen wieder zu Wort und Recht, und Mandyer wird nit den
Pfalmiften bekennen müſſen: „Tu prüfeit mein Herz und beſucheſt d
bei der Nacht.“ Unverkennbar hatte auch bei dem ängftigenden Nade
geficht der Gemahlin des Pilatus Der Gott feine Hand im Spick,
der auch iiber den luftigen Gebieten der Traumwelt waltet und De
Vhantafien des entfeffelten Geiftes, jo oft es Ihm beliebt, feinen U
fihten dienftbar macht. Erging doch an den Pilatus in der Aotfcaf
von dem Gefichte feier Frau eine neue göttliche Mahnung und Ber
warnung. ber ach, der arme Dann bat die Waffen fchon geftredt,
und ift bereit8 fein eigener Herr nicht mehr. Die Mittbeilung feine
Gattin erfchüttert ihn tief. Sein nufgeregtes Gewiffen ruft ibm g:
„Hörit du, Pilatus? Stinunen aus andern, aus verjchleierten Welten
felbft warnen dich vor dem Greuel eines JZuftizmords?“" — Mi
wohl bört er's. Es wird ibm beiß und ſchwül. Aber, aber — —
Run, das Volk wird ja (Gerechtigkeit üben! — Das Volt? — Tı
armer Pilatus mit diefer deiner legten fümmerlichen Hoffnung! — —
Die Ungeduld ſtachelt Den bedrängten Mann von feinem Siße wieder
auf. Sic erhebend ruft er aufs neue, jet mit der Miene eine
flehentlih Fürbittenden in die Menge hinaus: „Welchen wollt ik
unter den Zween, daß ich euch losgebe?“ — Deutlih läßt ſich am
Diefen Worten berans der unnnsgeiprocene Zuſatz vernehmen: „Richt
wahr, für Jeſum enticheidet ibr euch?" — Uber man komme nod
mit Bitten, wo man nicht Muth bitte, im Namen Gottes und I
Gejeges zu beifchen und zu fordern! — Ten wühlenden Ratbe
herrn ift es geglüdt, Das Volk zu ihren Zwecken zu bearbeiten; umd
dem unglädlichen Procurator fchallt wie aus einer Kehle vieltaufend
Das aroße Bild. 471
flimmig der trogige Ruf entgegen: „Hinmweg mit dDiefem, und
Barabbam gieb uns los!" —
2,
So fteht denn dus aroße Bild, das fid) nach Gottes Abfiht ohne
Borwiffen des Pilatus thatfächlih in die Verhandlungen auf Gab:
batha verweben follte, vollendet vor und. Die Hauptfiguren in
dem lebenden Gemälde find die beiden der öfterlichen Volkswahl
Präfentirten: der Mann in den Ketten und der Fürft des
Lebens. Der eritere, unter dem Aushängefchilde glänzender Namen
(Jefus beißt er d. i. Heil, und Barabbas d, u, Sohn des Va⸗
ters,) ein tief verfommener Sünder, war in einem blutigen Aufruhr
auf der frifhen That eines Todtſchlags ergriffen worden. Söhne
Zweifel hatte er die Rolle eines falfchen Mefftas gefpielt und darin
eine jener Chrijtus - Karrifaturen abgegeben, durch weldye der Satan
fo manchmal verfucht hat, den wahren Ehriftus zu verdächtigen und
ihn dem öffentlichen Gelächter bloß zu ftellen. Doch fteht Barabbas
bier nicht blos als Individuum vor uns, fondern bildet zugleich eine
allegorifche Figur , welche das Menfchengefchledht in feiner gegenwär⸗
tigen Befchaffenheit wiederfpiegelt, wie es abgefallen ift won Gott,
im Stande der Empörung gegen die allerhöchite Majeftät fich befin-
det, in den Banden des Gefekesfluhs zum Tage des Gerichts be-
halten wird; nichts Ddeftoweniger aber in eitler ‘Prahlerei mit pomp-
haften Namen ohne That, mit prunkenden Chrenfignaturen ohne We⸗
fen und Kern ſich fpreizet.
Dem Barabbas war in feinem Kerfer, bevor er zur Volkswahl mit
dem Nazurener zufammengeftellt wurde, jede Ausſicht auf Rettung ab-
geichnitten; und ebenfo, Geliebte, uns. An einen Losfauf war für
ihn nicht zu denken, an ein Entwifchen aus dem wohlverwahrten
Zwinger ebenfo wenig, und viel weniger noch an einen richterlichen
Gnadenſpruch, auf den fich wohl jeder Andere eher hätte Rechnung
machen können, als diefer Meuterer. Und glaubt es, nicht minder
mißlich, als um die feine, ftand es um unfere Sache. Denn was
hatten wir zu geben, damit wir unfere Seele wieder Iöften? Wie ver-
mochten wir den Augen zu entfliehen, „die Durch alle Lande gehen?“
und wie konnte uns ohne Weiteres ein Richter begnadigen, von wel-
chem gefchrieben ſteht: „Serechtigfeit und Gericht find ſei—
nes Stuhles Veften!” Eine verzweifelte war die Lage des Ba-
rabbas; und die unfre wars nicht minder. Was ereignete fih da?
472 Das Heilige.
Ohne fein Zuthun, ja, wider alle jeine Berechnungen, zuckt ylög
lich ein Morgenroth der Rettung durch feine Kerkernacht. Draußen
nämlich ertönt von der Richterbühne Gabbatha herab Die Frage des
Lamdpflegers in das Volk hinein: „Welchen wollt ihr, daß id
euch losgebe, Barabbam oder Jefum, den König dei
Juden, von weldem gefagt wird, er fei Ehriftus?" —
Großer Moment dies! Verhängnißvolle Wendung der Dinge! Hie
e8 bisher unbedingt: „Barabbas iſt des Todes,“ fo jegt wenigftens:
„Barabbas oder Jeſus!“ Die Rettung des erfteren ift möglid
geworden, und mwodurh? Lediglich Dadurd, daß der Rebell md
Mörder und der Herr vom Himmel fih einander in der Ba hlurne
begegnen. Einem von den beiden gilt es nun. Einer wird frei, der
Andere geht zum Richtplag. Zur Losforderung Beider i ſt feinerlei
Berechtigung vorhanden. Wer wird nun von den Zweien der er:
wählte, wer der verworfene und vreisgegebene fein? Gebt Jeſus
von Nazareth frei aus, fo iſt Barabbas unrettbar verloren. Fällt da⸗
gegen Erfterem das fchwarze Loos, dann Heil dir, Barabbas, du bil
geborgen! Jenes Untergang ift Deine Erlöſung; aus Jenes Tode
erblüht dir das Leben! — Was, Freunde, jagt ihr zu diefer Sach
lage? Aus geſchichtlichem Gefichtspunft allein betrachtet hat
diefelbe freilich wenig Bedeutung, außer derjenigen, daß fie ung zu
erneuertem Zeugniß Dient, wie den Sohne Gottes feine Schmad,
feine Erniedrigung, und ſelbſt diejenige nicht erfpart worden ift, er
nem Mordkinde, wie Barabbas war, als deffen Gleichen einen ſich
zugefellt zu fehen. In böberem Lichte aber angeſchaut gewinnt jener
hiſtoriſche Umſtand eine große Tiefe. Wie Barabbas hier zu Sefu,
fo ftanden zu Jeſu wir alleſammt. Auch im Hinblid auf wis hieß
ed: „Wer fol des Todes jein? Sie, Die Miffethäter, oder der
Gerechte?" Daß beiden Theilen Schonung widerfubt, war unmög—
lich. Rechts oder links mußte Das Schwert der göttlichen Rache
niederzuden. Es mußte der Zluch, dem wir durch die Sünde vers
fallen waren, fich entladen. Das Urtheil der Verdammniß, Das auf
unferm Schädel Inftete, wartete mit Ungeduld auf feine Vollziehumg,
damit Gott wahr, gerecht und heilig liebe. Da hieß es — wie?
Etwa: „Diefe Liebertreter, oder ein andrer Sünder für fie?“ Nein,
jo war der Handel nicht zu schlichten. So hieß es denn: „Diefe
Rebellen, oder für fie ein Engel?” — D nicht Doch; ein Engel ver
mochte und nicht zu erlöjen. Vielmehr lautete Die große Alternative:
Das große Bild. 473
„Diefe Fluchwürdigen, oder der Sohn des lebendigen Gottes an ih-
rer Statt!" Denn in der That war Diefer allein im Stande,
unfere Sünden zu büßen. Sp befanden wir und denn ganz in des
Barabbas Lage. Ging Jefus zum Hochgericht, fo hatte unfere Er-
löfungsftunde geſchlagen; wurde Seiner dagegen gefchont, fo waren
wir unmiederbringlich und unbedingt verloren.
Ihr wißt bereits, wie im Berfolge der Gefchichte Das bedeutungs-
volle Bild unſres Auftritts fich weiter ausmalt. Die Sache nimmt für
Barabbas und in ihm für uns eine überaus erwünfchte Wendung,
Die Stimme des wählenden Volks entſcheidet ſich zur größten Beftürs
zung des Pilatus zu Gunften des Rebellen. „Gieb Barabdam 108,“
Ihreit die tobende Menge, und „Jeſum kreuzige!“ Mag diefe Ent-
ſcheidung immerhin ungleich verruchter erfcheinen, als diejenige des
Pilatus, nad) weldyer Jeſus nicht fterben, fondern leben follte; jeden-
falls war fie, daß ich fo fagen mag, Dogmatifch richtiger, Der Heils-
ordnung angemeffener, dem Plane Gottes entiprechender, und für die
Sündermelt unendlich erfprieglicher. Denn forderte Das Volf, und
zwar mit Erfolg, wie Pilatus e8 gerne gefehen hätte, Jeſu Befreiung,
und des Barabbas Zod, jo war das Volksgefchrei Klang der Todten⸗
glocde über der ganzen Menfchheit und Signal unferes ewigen Unter:
gangs. Gott aber fügte, Daß die Sache ſich anders wandte, — „Gott
fügte Dies?" — a, wie wunderfam es Flingen mag, der allmächtige
Gott! Wenn irgend je das Spridwort: „Des Bolfes Stimme,
Gottes Stimme” eine Wahrheit ward, dann bier. Gott nahm
dem Bolfe zu feinem fchauerlihen Rufe den unfihtbaren Kappzaum
ab, ja ſtimmte in einem umfaffenden und geheimnißvollen inne
gleichfam thatfächlich felbft in den Ruf mit ein: „Gieb Barabbam
08, und Jeſum kreuzige!“ Diefer Schrei aber war der Hallpofau-
nenftoß, der und den Tag unferer Rettung verkündete. Beachtet nun,
wie die Entjcheidung zur Vollziehung fommt. Barabbas und Jefus
wechſeln die Rollen, taufchen die Looſe. Auf den Gerechten gehen
des Mörders Bande, Fluch, Schmady und Zodesqualen über; auf den
Mörder dagegen die Freiheit, die Unantaſtbarkeit, Die Sicherheit und
das Wohlfein des Unfträflichen. Jeſus Barabbas ficht fich in den
Beſitz aller Rechte und Prärogative Jeſu Ehrifti eingefeßt, während
und weil der feßtere in alle Schmacd und Schauer feiner, des Re-
bellen, Lage eingeht. Beide vererben ſich wechjelfeitig ihre Stellun:
gen, ihre Habe, Des Delinquenten Schuldbrief und Kreuz übertragen
474 Das Heilige.
fich auf den Gerechten, und des Gerechten Freipaß und Ehren
auf den Delinquenten.
Verfteht ihr jet das große gefchichtliche Bd? Es trägt Die are
ſtoliſche Ueberſchrift: „Sott hat den, Der von feiner Sünde
wußte, für und zur Sünde gemadt, auf Daß wir in ihe
würden die Gerechtigkeit Gottes.” Es veranichaulicht uw
in grellen Zügen das Geheimniß unferer Durch Ehrifti Stellvertretug
vermittelten Rechtfertigung vor Gott. Wir find Barabbas. In fei:
ner Nettungsgefchichte fpiegelt fih die unfere. Uns felbft belaſſen
wären wir ewig verloren geweſen. Mit Ehrifto zur Wahl geftellt
ſehen wir an die Stelle des unbedingten: „Es ift um euch gefde
ben!* ein mindeitens Hoffnung gebendes „Entweder, Dder‘
treten. Da Chriſtus mit und wechjelte, war unfere Erlöfung ent
fhieden. Dies iſt's, was, wie in großartigen Alfrescozügen, die
Hand des lebendigen Gottes felber in dem Borgange Gabbatbes
uns vor Augen malt. Zürmahr, blind müßte fein, wer es verfenun
fönnte, daß uns die göttliche Zürforge in der Barabbasfcene ein Lit |
habe anzünden wollen, das uns die ganze Paffion feines Cingebore
nen beleuchte. Dieſes Licht würde allein fchon hinreihen, alle Ein:
würfe gegen die Schriftmäßigkeit unferer Genugthuungsiehre nieder
bligen, wenn auch nicht eine ganze Reihe lichtheller Apoſtelſprüche
dies fchon thäte. Freilich wollen wir nicht durchaus verneinen, Dai
unfrer Dogmatifchen Vorftellung von der Stellvertretung Chrifi
noch manches menfchlih Sinnlihe anhaften mag, Das allerdings
einit von der reinen und volllommenen dee Derfelben ver:
ſchlungen werden wird; aber Irriges ımd Falſches hängt nichts
ihr an. Der Kern unfrer fogenannten „juridiſchen“ Anſchauung
von dem Bürgentbume Jeſu ift unbedingt göttliche Wahrbeit.
Freuen wir und denn der großen Sache, und verzeichnen wir Das
gedanfenvolle Gemälde mit unauslöfchlihen Farben in das Denkbuch
unferer Seelen. Erjchauet, ibr in Schuldgefühl gebeugten Sünder, in
Barabbas euer Bild; und ein tröftlicher Zug um den andern wird
euch aus feiner Erfcheinung entgegen treten. Wie tröſtlich iſt's, daß
der Mann nun auf Jeſu Kojten völlig frei iſt; daß, wie zahlreich
feine Schulden waren, feine hinfort mehr auf ihm laftet; daß forten
fein richterliches Verfahren mehr wider ihn eingeleitet werden kann,
Barabhat. 475
noch darf, und ihn num nichts mehr hindert, feinem Nichter ohne
Scheu unter die Augen zu treten. Alle diefe Vorzüge befigt in Ehrifto
‚nun auch ihr, nur in verflärterer Geftalt und überfchwänglicherer
Fülle. Nachdem Er zum Schuldner ward an eurer Statt, feid ihr
die Gerechten; nachdem Er der für euch Verworfene, feid ihr die er-
wählten Gottesfinder; nachdem Er der Träger eures Fluchs, feid ihr
die Erben feines Segens; nachdem Er der Dulder eurer Strafe
wurde, feid ihr die Inhaber feiner Krone. Nachdem Er gerichtet
worden ift, feid ihr von allen Anklagen gereinigt; nachdem Er zer-
treten, ſeid ihr unausjprechlich erhöht; nachdem Er der Hölle preis-
gegeben, feid ihr des Himmels würdig, und nachdem Er mit Schmac)
und Schande überfchüttet, feid ihr gekrönt mit Preis und Ehre, a,
alſo hat ſichſs. So ſchwingt euch denn durch den Glauben in den
feligen Stand hinein, zu dem ihr gekommen ſeid, und lernt auch ihr
in der Schule des heiligen Geiftes von Grund der Seele trupig
ſprechen:
Wolll ihr wiſſen, wer ich ſei,
Ob gerecht od ſuͤndlich?
Barabbas, mein Konterfei,
Sagt's euch Mar und gründlich:
Sünder, — aber ohne Drud,
Schwarz, doch fonder Tadel;
Arm, doch reih in Ehrifti Schmuck
Seht, dies ift mein Adel! — Amen.
er
XXXIX.
Barabbas.
Wenn St. Paulus 2. Cor. A, 1 von ſich und feinen Mitapofteln
bezeugt: „Dieweil wir ein folhes Amt haben, wie und denn
dieſe Barmherzigkeit widerfahren ift; darum werden wir
nicht müde,“ fo koͤnnen wir nur von Grund unferer Seele darauf
erwiedern: „Ya, Baule, wenn wir Dir Etwas glauben, dann
476 Das Heilige.
dieſes!“ Bon was für einem Amt er rede, bat er im Vorheige⸗
benden uns unzweideutig fundgethan. Es ift nicht Das Amt, das
da ſpricht: „Thue Dies, fo wirit du leben,“ und Joche ſchmiedet und
Laſten auferlegt; fondern das, welches, wie er fi) ausdrüdt, „die
Gerechtigkeit predigt.” Freilich, wo einem Menfchen dieſes Amt
göttlich überwiefen wird, hat er die Gnade und Barmberzig
feit dafür zu preifen. Wer aber mit diefem Amte innerlich beleh⸗
net ward, der fann nicht mehr matt, noch zaghaft, noch müde
werden. Der Dutelpunft und Kern, um den alle Bethätigung dieies
Amtes jich bewegt, it Chriſtus, und zwar der Chriſtus, in welchen
Gott und von unſern Sünden gewafchen und über die Himmel er
höhet hat. Wer dieſen Ehriftus in berzinniger Erfahrung erkannte,
ermüdet nicht, von Ihm zu zeugen. Diefer Ehriftus, in Dem ma
fih verföhnt, begnadigt, vollendet und zum Himmelserben erhöbe
weiß, bleibt und täglich und ftindlih neu. Die Anſchauung md
der Genuß deifelben ficyert und eine ewige Jugend der Empfindung,
eine unverwelfliche Zrijche der Thatkraft. Es ift diefer Chriſtus der
ftrömende Born, aus dem wir täglich neues Leben trinfen, und die
himmliſche Some, die ums die tiefiten Nächte tageshell erleuchtet.
Daß aud heute diefer Sonne Licht und Strahlen, und dieſer Got,
tesbrunnen uns fein Waſſer geben möge, das iſt ed, was wir beten
begehren und was der Herr uns in Gnaden gewähren wolle!
Matth. 27, 22—26. Marc. 15, 12 — 15. Fuc. 23, 20 — 2.
Pilatus aber antwortete wiederum, und rief abermal zu ihnen, und wollte Jeſin
loslaſſen, und fprah: Was folk ich denn machen mit Jeſu, von dem gefagt win,
er fei Chriſtus, und den ihr fhuldigt, er fei ein Konig der Juden? Sie riefen aber
alle und ſchrieen und ſprachen: Kreuzige ihn, Treuzige ihn! Der Landpfleger aber
ſprach zum dritten Male zu ihnen: was hat er deun Uebels getban? ich finde feine
Urſache des Todes an ihm; darum will ih ihn züctigen und loslaſſen. Aber fie
lagen ihm an mit großem Gejchrei, fhrieen noch mebr, forderten und ſprachen ale:
Kreuzige ihn! Und ihr und der Hohenpriefter Gefbrei nahm überhand. Da aber
Bilarus fahe, daß er nichts ſchaffte, fondern daß viel eın größer Getümmel wart,
nahm er Waſſer, und wuſch ji die Hande vor dem Volk und ſpach: Ich bin un
fhuldig an dem Blute dieſes Gerechten; ſehet ihr zu! Da antwortete Daß ganze
Bolt und ſprach: fein Blut fomme über und und über unjere Kinder! — Da ge-
dachte Bilarud dem Voll genug zu thun, umd urtheilte, daß ihre Bitte gefchehe, und
gab ibnen Barabbam los, der um Aufruhrs und Mords willen war in's Gefängniß
geworfen, um welden fie baten; Jeſum aber übergab er ihrem Willen, daß er ges
geihelt würde.
Barabbas. 477
Der entſetzlichſte und verhaͤngnißvollſte Ruf, der je unter dem Him⸗
mel vernommen wurde, iſt verlautet. Auf des Landpflegers Frage:
„Welchen wollt ihr, daß ich euch losgebe: Jeſum oder Barabbam?“
erfolgte aus der wogenden Menge heraus die furchtbare Antwort:
Hinweg mit dieſem, und gieb uns Barabbam los!“ Ein Echo dieſes
Geſchreies, ja mehr, als ein ſolches, durchtönt auch heute noch die
Belt; denn Alle, die Ehriftum den Sinderheiland troßig von fid)
weifen, Dagegen um die Aufrechthaltung der Ehre, der Selbftändigfeit
und Freiheit ihres alten Menfchen eifern, fprechen in ihrem Sinne
gleichfalle: „Hinweg mit jenem, und [os fei Barabbas!“ ber ift
diefe Sprache nicht der angeftammte Mutterlaut unferer werderbten
menfchlichen Natur, al8 foldyer? Freilich ift ſies. Doc begegnet uns
auch im Munde des Glaubens ein: „Ans Kreuz mit Zefu, auf daß
Barabbas lebe!” nur daß hier der Ruf die entgegengefeßte Bedeu:
tung erhält. Welche Bedeutung, wiffen wir bereit$, und werden’s
heute auf8 neue vernehmen. Die Erlöfung des Barabbas ift
der Gegenftand unferer diesmaligen Erwägung Wir fehen, wie
Diefelbe zu Stande fam, und damı, wie Die Freudenkunde
Seitens des Barabbas aufgenommen wurde.
Begleite der Herr unfer Wort mit Seinem Segen, und verleibe
Er, daß wir wie die Biene vom Blumenfelde von unferer heutigen
Betrachtung zurüde kehren!
l,
Das Volk, von feinen Obern aufgeftachelt, hat rund und unzwei-
deutig feinen Willen Fundgethan. Es verlangt die Begnadigung des
Mörders und den Tod des Gerechten. Von Ddiefem Momente an ift
es aber faum mehr mit anzufehen, wie der aus aller Zaffung beraus-
geworfene Richter von Stufe zu Stufe tiefer finft, und gleich einem
ohnmächtigen, zertretenen Wurm fih im Staube windet. „Was
foll ih denn mit Jeſu machen, der da genannt wird Ehri-
ſtus?“ ruft er, faum felbft mehr wiffend, was er redet. Man
denfe: was er mit Jeſu machen folle, darnach fragt er die rafende
Menge, die ihm auf dieſe feine Frage ja fchon, bevor er fie noch
verlauten ließ, den bündigften Befcheid ertheilt hat! Sein Gewil-
jen, das Rechtsgefühl in feiner Bruft, der Buchftabe des Gejep-
buchs, an das er gebunden ift, umd felbft die mahnende Stimme
aus der Traummelt feiner Gattin heraus: wie beftimmt und deutlich
jagte ihm dieſes Alles, was er mit Jeſu zu thun habe! Frei hat
478 Dead Heilige.
er ibn zu fprechen, und dann mit aller Macht, die ihm zu Gebote
fteht, gegen die Vollswuth ibn in Schuß zu nehmen. Aber woher
foll Dazu der Murb ihm fommen? „Was mache ih mit Jefn?* Fir:
wahr, zu ewiger Schmach und Schande gereicht ihm Diefes Wort.
Wie viele aber umferer eigenen zZeitgenoffen theilen mit ibm Diefe
Schande, indem auch fie cs von armen Menfchenfindern, von einem
berrichenden gefellichaftlichen Zone, von der fogenannten „öffentlichen
Meinung” abhängig machen, was fie mit Jefu thun follen. Habe id
Doch öfter geglaubt, jelbit Prediger auf ihren Kunzeln Dem Pilates
fein: „Was fange ich mit Jeſu an?“ nachfpredden zu hören; md
nicht zu fügen vermag ich, mit wie geiteigertem Mißllang hier jew
Frage zu meinem Obre drang! Th fie zu Jeſu beten follten, oder nidt:
ob vor der Gemeine ald Gott ihn befennen, oder nur als Men:
ihen; ob als Erlöfer, oder als Lehrer blos ihn preifen: ſie
Ichienen ed nicht zu wiſſen; und nichts fchien ihnen ungelegener zu
fein, als fid) von Amtswegen mit dieſem Jeſus befaffen zu müflen. —
„Bas Toll ich mit Jeſu machen?“ Wehe Jedem, der fo noch
fragen fann! Gin Solcher iſt verdüftert in feinen Sinnen und noch
fern, fern vom Heile. Ein in Selbſtbetrug verftridter Phariſäer muß
der fein, oder eine in die Scholle vergrabene Maulwurfsſeele, Der nick
weiß, was er mit Jeſu machen fol. Mein Gott! was hat Denn der
Blinde zu machen mit dem Führer, der feinen Arm ibm beut? Was
der Kranfe mit der Arznei, Die ibm gereicht, was der Schiffbrüchige
mit dem Rettungsjeil, Das ihm zuacworfen wird? Weiß man auf
diefe Fragen Beicheid zu thun, wie, Daß man Damm um Die Antwort
anf jene noch verlegen jein kann?
„Was Toll ich mit Jeſu machen?“ So Pilatus. Das befragte
Volk wird ihn nicht ratblos laſſen. Jemehr Daffelbe feine hohe Orig:
feit feige ſcwwanken, und den Weg der Zugeitändniffe betreten fiebt,
um deſto mächtiger wächſt ſeine Entſchloſſenheit. „Kreuzige ibn!“ rnft
es kurz und bündig. Der Procurator, außer ſich vor Beſtürzung, Das
Kartenhaus feiner vermeintlich Te klugen Berechnung plötzlich fo vor
fich zuſammenſtürzen zu ſehen, kommt noch einmal mit Der matten
Frage nachgehinkt: „Was bar er Denn Uebels gethan?“ Aber
das Volf, den elenden Richter kaum mehr einer Antwort würdigend,
wiederholt troßiger nur noch fein: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ Die
zunehmende Schwäche und Unentſchloſſenheit des Landpflegers mußte
ja die Menge glauben machen, daß auch er felbft es nicht eben für
Darabhas, 479
eine himmelfchreiende Unbilde erachte, daß Chriftus gefreuzigt werde. —
Pilatus macht Miene, weiter zu reden, aber jebt ift e8 das Boll, das
zu gebieten hat. Dem Römer wird das Wort verfagt. Wüdes Gefchrei
übertönt feine Stimme. Trotz der äußerften Kraftanftrengung dringt
er mit feiner Rede nicht mehr durch. Da nimmt der gänzlich erlie-
gende, ohnmächtige Mann feine Zuflucht zu einem fymbolifchen Akte.
Er fordert ein Gefäß mit Waffer, wäfcht, als man's ihm dargereicht,
Angefihts des ganzen Volkes ſich Die Hände, und ruft, fo Imt er
vermag, in die wogende Menge hinein: „Sch bin unfhuldig an
dem Blute diefes Geredhten. Sehet ihr zu!“ Ein ergreifender
Auftritt! Diefes erneuerte Nichterzeugniß für die Unſträflichkeit un-
ſers großen Hohenpriefter8 wollen wir uns gern gefallen laſſen. Das
angelegentliche Begehren und ernite Ringen des Landpflegers, von
dem Frevel der Verurtheilung des Gerechten fich loszuſagen, kann
nur glaubensftärfend auf uns wirken. Tief erfchätternd aber wirkt
auf uns der Anbli des armen bedrängten Mannes, wie er fich, jetzt
jelbft der Gerichtete, unter den Geißelichlägen feines Gewiſſens win;
Det, und erfolglos bemüht ift, die Blutflecken, welche er, wie er auch
gegen deren Anerkennung fich firäubt, an feinen eignen Händen le
ben flieht, hinweg zu Löfhen. * „Sch bin unfhuldig!* ruft er.
Ah, was frommt ihm dieſe Betheuerung? Der Richter in feiner
Bruft befiegelt ihm dieſelbe nicht; und thäte er's, ſo gehen ja die
Akten des Prozefjed noch an eine höhere Inſtanz; und hier würde
der Urtheilsſpruch ganz anders lauten. Er wäfcht fi die Hände,
D, wozu diefe Geremonie? In welchen Erdenquellen flöffe das Waſſer,
Das vun Mafeln, wie die, mit denen er behaftet ift, zu fäubern ver
möchte? Zreilih, ein Waſſer hätte Die erwünfchte Wirkung bier ge
than; aber Dies Waſſer kennt Pilatus nicht. O, hätte er doch das:
„Sehet ihr zu,” welches er feiner Bezeugung anhängt, ftatt an Die
Juden, als ein „Siehe du zu!” an ſich felbft gerichtet. Hätte er
ftatt jeine Unſchuld, Doch lieber feine Schuld bezeugt, und ftatt zu
dem ohnmächtigen WBaflerbade, zu dem Blute des Verſöhners feine
Zuflucht genommen! Fürwahr, in dieſem Zalle wäre ihm für Zeit
und Ewigkeit geholfen und feinen Namen nicht, wie jegt, im chrift:
lichen Glaubensbekennmiſſe blos, jondern auch in der Bürgerlifte des
Reiches Chriſti feine Stelle gefichert geweien. Aber Pilatus will fi
in elendem Bettelftolze nicht für gefchlagen erkennen, obwol einem
geſchlageneren Manne, als er war, Belt und Hölle nie triumphirend
ash Des Heilige.
den Fuß auf Den Maden icgıen. Aber io it der Menſch von Rau
beſchaffen, Daß er iih cher in den Stricken der wahnfinnigften Selb:
belũgung dem Teufel überliefert, als Daß er zu ſeinem Heile der Wabr
beit, die ibn Demütbigt, die Ebre geben ſollte.
„Zeber ibr zu!“ ruft Pilanıs, den ganzen Zrevel auf Die Hänpte
der Juden ichleudernd, und giebt Damit, freilich nidht ohne Zulaffg
des Gorted, Derien die Rache it, den Prieitern und Schriftgelehrte
in geiteigerter Schauerlichfeir das: „Ta ſiehe du zu!“ zurüd, we
mit Diele einit voll grauſamer ſchonungsloſer Kälte Den verzweifelnde
Judas von fich gewieſen hatten. Sie empfinden auch Den Stade
jenes Zurufs wobl; wiñſen aber ihre Verlegenheit und Beſchämmz
hinter einem gräßlichen Läſtererausbruch zu veriteden. „Sein Bint,’
ichreien fie in ſataniſchem Trotze, und Das ganze Volk ftimmt dark
ein, „Eomme über uns und uniere Kinder!" Schrecklich! Gau
grauenbafterer Ruf, eine würtere Zelbilverfluhung ift jo lange de
Welt ſteht auf Erden nicht vernonmmen worden. Aber laujchet! Tiünt
euch nicht, wie Donner ichalle eine Stimme vom Stuble der Majeſtä
berab, und rufe: „Es Tell euch werden, was ihr begehrt! Ya, ja
Sein Blur komme über euch?" Und ach! überblidt nur die Geſchichte
Jiraels von dem Momente an, da jene unglüdielige Gerausforderumg
an Ten, der fich nicht ſpotten Läffer, erging, bis zu Diefer Stumde, sb
fie es euch nicht beitegelt, Daß ihr recht gehöret habt? Wie kam
das Alut Des Gerechten über die Meuterer, da unter den Brandfadel
der Römer Das itelze Jeruſalem zum Schutt und Aſchenhaufen war,
und kaum ſo viel Holz gerälle und berbeigeichaftt werden konnte, ald
binreichte, um Kreuze für Die Kinder Abrabams Daraus zu zimmem!
Wie fam es tiber fie, Da ſie, Die Mörder des Zricdensfürten, wie
unnütze Spreu in Die vier Winde binans gemworfelt, und verurtbeit
wurden, beimarblos fortan, ein Spott aller Völker, in unwirthbaret
Fremde umber zu ſchweifen! Wie kam es über fie, Da fie, ein Fegopfer
der ganzen Welt, und als ob fie nicht wertb wären, Daß Die Erde
fie trüge, zu Tauſenden, ja zu Hunderttaufenden unter beidnifchen,
muhamedaniſchen, und leider! auch chriſtlichen Schwertern und Dol—⸗
chen jümmerlich verbluteten! And wenn wir fie heute anſehn, mie
fie noch immer, ein geächtetes Volk, nach Hoſeas Weillagung „ohne
König, ohne Füriten, ohne Opfer, ohne Säule, ohne Bruftfleid ımd
ohne Theraphim“ einhergehn, its dann nicht, ale läſen wir als
Urfache ihres Erulanten-Janmers an ihren Stirnen die Worte: „Sein
Barabbnd. 481
Blut komme über uns und unfere Kinder!" Aber Gottes Gnade ift
groß. Er hat noch Gedanken des Friedens über Das, wie immer
auch entartete, fo Doch noch nicht aufgegebene alte Bundesvoll. Er wird
zu feiner Zeit das fehauerliche Fluchwort deffelben als Gebet vor fi
gelten, und das Blut feines Sohnes, wie ed unzählige Einzelne fchon
erfuhren, über das ganze Ifrael zur Berföhnung fommen laffen.
Der Prophet Hofen läßt feinem nur in zu furchtbarer Weife wahr
gewordenen Trohmworte die fröhliche DVerheißung folgen: „Darnach
werden ſich die Kinder Sfrael befehren und den Herrn ihren Gott,
und ihren König David fuchen;" und Saharja eröffnet und gar
die Ausficht auf eine Zeit, „Da zehn Männer aus allerlei Sprachen
der Heiden einen jüdifchen Mann bei dem Zipfel 'ergreifen und ſa⸗
gen werden: Wir wollen mit euch gehn, denn wir hören, daß Gott
mit euch iſt.“ Der Herr felbit ruft in bedeutfamfter Weife den Zus
den zu: „Ihr werdet mich hinfort nicht fehen, bis ihr (er winkt alfo
auf einen Schlußtermin ihres Elends bin) fprechen werdet: Gelobet
fei, der da kommt im Namen des Herm!” Und was bezeugt Paulus
Röm. 11? Gott”, fpricht er, „kann die abgebrochenen Zweige wohl
wieder einpfropfen; denn feine Gaben und Berufungen mögen Ihn
nicht gereuen.“ —
Das Volf hat mit Dämonifcher Entfchiedenheit feine Willensmeinung
erklärt, und mit einer Blasphemie, wie eine ärgere die Welt kaum
je vernommen, fein Votum beftegelt. Solchem entfchloffenen Auftreten
ift der Procurator nicht mehr gewachlen. Er flieht ſich der letzten
Fetzen feiner moralifchen Rüftung beraubt, und zur fchmählichiten Waf-
fenftredung und Vebergabe fi gezwungen. Wie Iefen wir? „Da
gedachte Pilatus dem Volke genug zu thun, und urtheilete,
daß ihre Bitte gefhähe, und gab ihnen Barabbam los,
der um Aufruhrs und Mordes willen war in’s Gefängniß
geworfen, um welchen fie baten; Jeſum aber übergab er
ihrem Willen, daß er gegeißelt würde.” — Dies alfo Die
Frucht aller der an den Römer ergangenen ernften und kräftigen Mah-
nungen! So enticheidende Eindrüde von Jeſu fittlicher Reinheit und
Unfchuld waren ihm geworden; fo gewaltige Warnungen feines jelbft
durh Stimmen, wie Geifterftimmen, gewedten Gewiſſens hatte er
gehört; und dennoch diefe fehimpfliche Niederlage, dieſer feige Rückzug,
Diefe ſchmachvolle Beugung unter den Willen des großen Haufens! O,
was ift der Menſch bei aller Güte feines Empfindens und Wollens,
31
42 Das Heilige.
je lange er in feınen eignen Kräften ſtebt, und nice mit jeimem gamen
Vertrauen an Gott und deren Gnade fich ergeben bat! Der Herr irrt:
„Meine Gnade it in den Schwachen mächtig,” ımd der Aroftel: „Ben
swb ichmach kin, dann bin ich tarf,“ und ein erleudbseter Dichter
Sage son hir fell Dich loß,
Und la} dich in Gou erfinden.
Rupi da ia ter Grade Schoch,
Birt da Alles iderwinden-
2.
Barabbas ift frei, ob es ihm gleich Telbii noch unbewußt if, wei
Draußen (Snticheidendes für ibn fi zugetragen babe, und weich cn
kärtliches Loos ihm gefallen iei. Niederaeichlagen, ja am feiner Ret
tuna verzweifelnd, ñitzt er in einen dumpfen Kerkerloch Dabin, mi
wähnt in jedem Geräuſch, Tas ven tem zu ibm berüber dringt, ie
Tritte Des Nachrichters zu vernehmen, der ibn zum Dutgerüfte akzı
führen fomme. Endlich bört er in der That ganz Deutlich, wie die
ſchweren Riegel von Der Thür feines Zwingers bimreg aeichebe
werden. Knarrend ofmer fi die eingeroſtete Eiſenpforte; aber —
darf er feinen Augen men? Welche Grideinung! Statt des a:
warteten Henfers ftürst ein obrigkeitlicher Bere mit freudeitrabfenden
Antlig zu ibm berein, und brinat ihm die überrafchende, ja fat mr
glaublibe Runde: „Heil dir Barabbas! Tu bil frei, du bit ame:
tet!“ Und indem er cä daherruft, beginnt er auch ſchon, Dem fan
nenden Telinguenten die Kerten zu löſen, und ermuntert ibn, daß a
ſich erhebe und den Kerfer verlafte. Ihr könnt end voritellen, daj
dem Geiangenen fange wie einem Träumenden zu Muthe wur. €
mochte denken, man made fich nur einen araufamen Scherz mit ibm:
oder beabfichtige ihn anf Augenblicke friiche Luft ſchöpfen zu laſſen.
um ihn Damm seinem ſchrecklichen Mauerverließe wieder zu übergeben
Aber der Bote wiederbeft mit verſtärktem Nachdruck Teine Verfiche
rung: „Du biſt erlöit:“ und eröffnet ihm Dunn, was feine Freiwer
dung veruriacht babe. Da crfübrt Denn Barabbas, daß Dis Todes:
urtbeil in der That Mir immer von feinem Haupte hinweg Tei, un
er mit Gericht, Richtern und Schergen nichts mehr zu ſchaffen babe.
Keine Anklage, vernimme er, werde mehr gegen ihn angenommen:
vielmehr sei er in den vollen Beñtz aller bürgerliben Rechte um
(Ehren wieder eingelegt, und itebe fo, als habe er von allen jeinen
Verbrechen nie eins begangen. Ter Grund dieſer glüdlihen Wer
- Barabbat. «8
dung feiner Zage aber liege einzig in dem Umſtande, daß ein Schuld-
(pfer mit ihm gewerhfelt, und ſtatt feiner den Weg zum Kreuze an⸗
getreten habe, Das Volk habe fich bei der Ofterwahl für eines Ge⸗
rechten Zod, dagegen für feine, des Rebellen, Entlaffung entfchieden.
Diefes Alles wird dem Barabbas angefagt. In dem Herolde
aber, der es ihm eröfmet, ſteht das Bild eines wahren Evange-
liften vor euch. Ja wiſſet es, ihr geiftlih Armen, ihr unter der
Laft eurer Uebertretungen gebeugten und gnadenhungrigen Sünder,
daB wir euch eine ähnliche Zeitung, wie Barabbas fie überkam, zu
überbringen haben; nur eine größere, herrlichere und ungleich feligere
noch, als jene, Auch wir find nicht befugt, Diefelbe euch nur irgend-
wie vorzuenthalten, oder zu verfümmern. Nachdem Ehriftus den gro-
Ben geheimnißvollen Tauſch mit euch eingegangen ift, find wir von
Bott beauftragt, euch mit Haren Worten fund zu thun, daß von dem
Augenblide an, da der Heilige an eure Stelle trat, ihr in die Sei—
nige getreten, und in alle Rechte dieſes Lieblinge Gottes eingefeßt
worden feid. Ihr feid nun gerecht und wohlgefällig vor Gott, wie
Er. „Nichts VBerdammliches” iſt mehr an euch; fein Bann, fein Ur⸗
theil laftet mehr auf euerem Haupte. Keine Sünde wird euch mehr
vorgerückt, feine Schuld mehr angeredjnet, feiner Anklage wider euch
mehr Gehör gegeben. „Ihr feid vollendet mit einem Opfer,“ und
„Bott angenehm gemacht in dem Geliebten." Diefes thun wir euch
fund; doch nicht wir, fondern es ſagt's euch in umzweideutigen Lauten
ein untrügliches Gotteswort. Und unter dieſes Wort, wir fordern
ed im Namen Gottes, follt ihr euch beugen, und jollt Frieden haben,
und euch freuen zu Ehrifti Ehren!
Wie verhält fi) Barabbas, nachdem er die fröhliche Botſchaft
überfonmen hat? Die Schrift meldet uns davon nichts; aber wir
mögen's und wohl denken. Stellt eu) vor, Burabbas hätte nun bei
fi geiproben: „Nein, Das kann nicht möglich fein, daß Soldhes
einem Miffethäter, wie ich bin, widerfahre,” und hätte fich dawider
gefträubt, Daß man ihm die Ketten Iöfe: mit welchem Namen wiirde
ſolch' Benehmen gu bezeichnen gewefen fein? Thorheit würdet ihr
es nennen, und ihr hättet Necht. Aber ich beforge, ihr ſchlagt euch
mit diefem Urtheil felbft in's Angeficht, liebe Seelen; denn in der
Zhat find wenigftens die meiften unfrer Gläubigen ſolche Thoren.
Denkt euch, Barabbas hätte die Botfchaft mit Proteft zurückgewieſen,
und dem Herolde entgegnet: „Was du ſagſt, muß aus der Luft ge-
31*
484 Das Heilige.
griffen, und fann in der Wabrbeit nicht gegründet fein;* was bike
er Damit getban? Ten Herold, jo wie die Behörde, die ihn ent
fandte, auf Das ichwerite beleidigt, und fie geradesu zu Lügnern ge
ftemrelt. In gleichem Falle aber seid ibr, meine “Brüder in dem
Her, die ibr euch in eurem geſetzlichen Sinne io gegen das Evan
gelium ven eurer in Ghrüte bereits aeichebenen Vollendung zu flräu-
ben vrleat. Ibr beleidigt ohne Unterlaß nicht etwa irgend einen
menschlichen Abgeordneten mur, iondern den beiligen Geift, de
in der Schrift zu euch redet, die Apoſtel des Herm, die jo ur
zweideutig von Dieler Vollendung zeugen, Chriſtum felbit, der a
verfichert, Er habe euch feine Herrlichkeit gegeben; ja, ihr tretet der
Ehre Des ewigen Gottes zu nabe, als bitte er mr ein Stüdwer
von Grlöfung, und nit ein Ganzes und Vollkommenes zu Stand
und Weſen gebracht. — Denkt euch, Barabbas hätte auf die Prolla⸗
mation seiner Befreiung erwiedert: „Nein, einſtweilen wenigſtens
darf ich den Kerker noch nicht verlaften, ſondern will erſt ein andere
Menic werden, ımd bethätigen, Daß ich mich gebeilert habe;“ mas,
dünkt euch, würde Die Behörde ihm acantwortet haben? „Wermeintt
du,“ bätte fie geſprochen, „um deiner telbit willen ſeieſt du freige
ſprochen? Um dein jelbit willen fümeit du nimmer los. Wenn du
dich zebnmal befferteit, To hübeſt du deine begangenen Frevel dami
nicht auf. Vor Dem Gelege blicheit du nach wie vor ein Mörder,
und des Todes ſchuldig; und machſt du von der Dir Durgehotenen
freien Begnadigung nicht (Gebrauch, fo wiſſe, daß du auf eine redt:
fiche Erlöſung Pir ewig vergebens Rechnung macht!“ Nehmt auch
ihr dieſen Beſcheid, den Die oßrigfeitlihe Behörde ertbeifen würde,
wohl zu Herzen; Denn er iſt von bobem Gewicht, und zeichnet auch
euch die Straße, Die ihr zu wandeln habe. — Denkt, Barabbas
hätte geiwrochen: „Ich will ein Gefangener bleiben, bis ich, der ic
ein Verderber der menſchlichen Geſellſchaft war, als ein wüßliches
Glied derielben mich werde erwielen haben.“ Nicht wahr, wohl edel
würde Dics aeklungen haben, aber würde es, genau befeben, nicht
eine neue Narrbeit geweien fein? Ohne Zweifel wäre ibm entgeg—
net worden: „Thörichter Menſch! Damit du Dich der menfchlichen
Geſellſchaft nützlich erweiſen könneſt, mußt du ja vor Allen erü
frei geworden fein. Denn wie mollteit du ihr dienen und Nutzen
fchaffen, To lange du in deinem Kerfer und deinen Banden ſäßeſt?!“
— Beherzigt, meine Lieben, uud dieſe Weiſung. Sie trifft gemik
Barabbaß 485
jo Manche unter uns, die thörichterweife auch heilig werden wollen,
bevor fie dem Zrofte der Begnadigung bei fi) Raum gegeben; und
es bfeibt doch bei dem bekannten Spruche des Pfalmiften: „Wenn
du mich tröfteft, dann laufe ich den Weg deiner Gebote!“
Doch von allen den Gedanken, die wir dem Barabbas eben unters
legten, ift ihm wohl wirklich nicht ein einziger gekommen, Bielmehr
zweifle ich nicht, daß er, nachdem die fröhliche Botfchaft an ihn ers
gangen, derfelben in jeinem Herzen Raum gegeben, und ſich einer
jubelnden Freude überlaffen habe. Er fehüttelte unverzüglich feine
Ketten ab, verließ feinen dunfeln Zwinger, vertaufchte feine Delin⸗
quententracht mit ehrfamer Gewandung, und machte Gebrauch von
der ihm angebotenen Freiheit. Er ift in feine Familie zurückgekehrt,
hat gejauchzt und frohlodt, und nie wieder vergeifen, daß er wunder:
barerweife Leben, Freiheit und Alles einem geheimnißvollen Manne
aus Nazareth verdanfe, der an feiner Statt verurtheilt ward, und
zum Schaffot, zum Fluchholz wandern mußte. |
Und ihr, Barabbasbrüder unter uns, Verfchmachtende in den fin
ftern Kerferhöhlen innerer Nengfte, Sorgen und Kiümmerniffe, ges
het hin, und thuet ein Gleiches! Glaubet der evangelifchen Eroͤff⸗
nung, daß auch ihr um Ehrifti willen ewig frei, gerecht und vollen
det feid. Nehmt feinerlei Anklage, weder des Teufels, noch der Welt,
noch eures eignen Gewiffend wider euch mehr an; genießet die Frucht
der Stellvertretung eured Bürgen, habet Frieden, und glaubet dem,
was jubelnd der erleuchtete Sänger in dem euch wohlbefannten zwar
fühn Flingenden, aber in der Wahrheit Gottes gegründeten Liederverfe
ausfpricht:
Kurz! Mit einer Opfergabe
Hat dad Lamm fo viel gethan,
Daß das Bolt von feiner Habe
Sid vollendet nennen fann.
Unfere Geredhtigfeiten
Wachſen nicht mit unf'rer Kraft,
Weil ihr Grund vor unfern Zeiten
In dem Opfer Chriſti haft'. — Amen. —
rd BOCH ——
488 Das Heilige.
eö fo, — was dem großen Bürgen unfere Wiederbringung und Er⸗
löſung gefoftet hat. Was begibt fih? Ein Akt, deſſen Anblid
Nerven von Stahl und Eifen zerreißen könnte, und bei Dem uns ein
Gefühl befchleicht, als fei es ungeziemend, ja Sünde, ihm mit ww
verhülltem Auge zuzufchauen. Seht dort den Pfahl, ſchwarz von
Mörder: und Rebellenblut. Die Halseifen, die daran befeftigt find,
fowie die Stride, die in eifernen Ringen an ihm herunter bangen,
bezeichnen zur Genüge feine gräßliche Beſtimmung. Beſchaut euch
die rohen, mwüften Gefellen, die wie blutdürftige Hyänen in Mes
fchengeftaft, gefchäftig ihn umgeben, Bemerft die thierifche Gemein
heit in ihren Angefichtern, und in ihren Zäuften Die fürchterlichen
Snftrumente. Geißeln finds mit Hunderten von ledernen Riemen,
deren jeder einzelne an feiner Spige mit einem angelartigen Inöcher
nen Hafen oder einem feharffantigen Würfel bewaffnet iſt. „Aber
dieſes Foltergeräthe doch nicht für den Herrn?“ ruft ihr erfchroden.
Ya, Freunde, für feinen Anderen, als für ihn, den Augapfel des
lebendigen Gottes! Man follte freilich denken, daß es bis zu fol:
her Erniedrigung weder mit ihm kommen fönne, noch Dürfe; for
dern daß der ganze Himmel hindernd dazwifchen treten müffe, oder
die Welt Darüber zu Grunde gehen werde. Aber es kommt Dazm,
und weder legt der Himmel Proteft dawider ein, noch jinkt Die Welt
darım in Trümmer, — Seht, ſeht, die Execution nimmt ihren Aus
fang. Großer Gott! welch' ein Schaufpiel! Wie eine Motte von
Teufeln fallen die Henker über den Heiligen her, reißen Die Kleider
ihm vom Leibe, binden ihm die Hände, die je und jenur zum Wohl
thun fi ausgeftredt, knebeln fie ihm auf dem Rüden zufammen, prei
jen fein boldfeliges Angeficht feit gegen den Schandpfahl, und nad
dem fie ihn dergeftalt mit Stricken umwunden haben, daß er fich nicht
mehr regen noch bewegen kann, geben fie an ihre grauenhafte Ar:
beit. O, muthet mir's nicht zu, Daß ich, was jet ſich ereignet, his
in's Einzelne euch vor Augen male. Zu entfeglich ift der Vorgang.
Meine ganze Seele erbebt und zittert. Verlangt nicht, weder, daß
ih die Streiche euch vorzähle, die es jegt auf die heiligen Glieder
Immanuels regnet, noch die Gunlen euch fchildere, die, mit jedem
Schlage wachjend, in andern Küllen dieſer Art fchon hinreichend waren,
die unglücklichen Sträflinge noch vor der förmlichen Hinrichtung, der
Diefe Geißelung voranzugehen pflegte, zu Tode zu bringen, oder doch
Dad Gehirn ihnen zu verwirten. Es genüge euch, zu wiffen, daß
N
Die Geißelnng 489
die fchredlichen Peitſchen, in der erften Viertelftunde wenigftens, nicht
wieder zur Ruhe kamen. Schon fließt des Gerechten Blut in Strö-
men. Was thut's? Es wird ohne Erbarmen fortgefehlagen. Schon
ermüden die Arme der geißelnden Wütheriche. Was hats zu bedeu-
ten? Neue PBeiniger Iöfen die Ermatteten ab. Es ift fchon fein
Nerv mehr an dem göttlichen Dulder, der nicht in namenlofen Weh
und Schmerze zudte. Aber daß alfo ihm gefchehe, darauf iſt's ja
eben abgefehen. In die erite Wunde wird eine zweite, eine Dritte:
eingegeißelt; fajt bis in's Mark dringen die zerfleifchenden Ruthen⸗
fpigen. Aber fo will man es gerade, fo und nicht anders. Stein
Fleck foll an dem heiligen Leibe heil und unverwundet bleiben. Je
der neue Blutstropfen, der den aufgeriffenen Adern entquillt, fällt
wie ein Tropfen nährenden Dels, nicht in das Feuer des Mitleids,
Das dieſe Menfchen nicht kennen, fondern in das ihrer teuflifchen
Wuth und ihres thierifchen Blutdurftes; und was fie zu Anfang noch
mit einer Art von Feterlichkeit und einem gewiſſen Ernfte verrichteten,
verrichten fie im Fortgange, nachdem fie den lebten Reit von Menſch⸗
lichkeit in fich erftidt, wie ein luftiges Spiel, mit jubelnder Schas
denfreude. Und fein Donner aus der Höhe erfchlägt die verruchten
Buben. Kein Abgrund thut fi) unter diefer Korahrotte auf, fie zu
verfchlingen. Fürwahr! entweder muß fein Gott, kein Rächer der
Unfhuld im Himmel wohnen, oder — (wie oft ſchon fahen wir zu
diefer Alternative uns gedrängt!) — mit der Paſſion unfres Herrn
hat es eine ganz außerordentliche, tief geheimnißvolle Bewandtniß!
Nachdem der erite Schauerakt vollzogen ift, folgt ihn ohne Verzug
ein zweiter, der jenen faft an Schreckniſſen noch überbietet. Man bindet
den von Todespein durchzuckten Dulder von der biluttriefenden Säule
wieder 108; aber nur, um ihn in eine neue Marterglut hinabzutau-
chen. Die materiellen Ruthen haben ihre Dienfte gethan; jept werden
aufs neue die geiftigen des bitterften und ausgefuchteften Spottes
wider ihn in Bewegung gefeßt. Gegen fein Königthum richtet fich
jegt der Hohn, wie bei einer früheren Mißhandlung gegen feine Pro;
phetenwürde. Ein abgetragener Purpurmantel, einjt die Bekleidung
eines römifchen Cohortenführers, wird herbeigebracht. Diefen wirft
man ihm über den von taufend Wunden durchfurdhten Rüden, und
weiß fich vor Freude nicht zu laffen über diefen, wie man meint, fo
wigigen und finnreihen Einfall, Hierauf bricht man Zweige von ei-
nem mit langen, fpigigen Nadeln bewehrten Stechdormbufche, und
490 Das Heilige.
flicht fie zu einem Kranz zuſammen, den man Ihm als Krone auf
das heilige Haupt Drüdt. Um aber das Bild des Spottlöniges zu
vollenden, gibt man ihm als Scepter einen Rohrſtab in die Hand,
und führt dann, nachdem man ihn alfo ausjtaffirt, unter gellendem
Gelächter eine farkaftifche Huldigungsfcene vor ihm auf. Die Elen-
den neigen ſich mit erheuchelter Ehrerbietung vor dem VBermummten,
beugen ihm ihre Kniee, und fohreien ein um das andere Mal, da:
‚mit die Poſſe vollfommen fei: „Gegrüßet feift Du, der Ju—
den König!" Doc lange währt ed nicht, da find fie aud) die
ſes gräulichen Spiels wieder überdrüffig, und laffen aufs neue den
Spaß in den furchtbarften Ernft fich verkehren. Mit fatanifcher Frech⸗
beit treten fie vor den Verhöhnten hin, grinfen ihn unter den fcheuß-
lichſten Grimaffen an, fpeien ihm gar ihren Unflath ins Angeſicht;
und, um das Maß der Schreden voll zu machen, entreißen fie ihm
hierauf den Steden, den fie ihm in die Hand gelegt, und fchlagen
ihn damit ein um das andere Mal dergeftalt auf Das dorngekrönte
Haupt, daß die Stacheln des graufigen Kranzes tief in den Schädel
dringen, und das Angeficht des Teutfeligen Sünderfreundes über und
über in hellem Blute ſchwimmt. Großer Gott! welch' ein Auftritt!
D Schauer ohne Beifpiel, ohne Namen!
2.
Brüder! wie bringen wir Ddiefe hiunmelfchreiende Begebenheit mit
den Walten eines gerechten Gottes in Einklang? Es muß ihr ein
großes Geheimniß zum Grunde liegen; oder unjer Glaube an eine
höhere fittlihe Weltordnung hat feine legte Stüße verloren, Und
freilich trägt der blutige Vorgang ein erbabenes Geheimniß in feinem
Schooße. Müßt ihr doch felbft ſchon gewittert baben, daß die Bezie—
hungen jener Scene bis zu den Anfängen der Menfchheitsgefchichte
zurüdgehn. 3a, ward euch nicht mitunter, als jähet ihr ftatt Dee
Herrn Jefu den Umater Adam vor euch ftchen, wie er den im Pa—
radieſe begangenen Frevel büße? Wiſſet aber, daß ihr in den Mo:
menten, da ſolch' Geſicht an eurem inneren Auge vorüberging, in Der
That der einzig richfigen Deutung des großen rätbjelbaften Borgangs
auf der Spur wart. Ja, glaubet es, Daß der Garten Eden und
der Hofraum des römiſchen Prätoriuns in der Geißelungs- und Dor:
nenkrönungsfcene näher zufammenrüden, ald man auf den erften Ans
blid denken follte. Schulden, in Eden gehäuft, werden hier abgetra-
gen; Sünden, dort begangen, werden bier gebüßt.
Die Geißelung. 491
Gedenket an das zurück, mwodurd der Erftling unfres Geſchlechts
fih und feine Rachlommen in's Verderben flürzte. Er, der fo über-
fchwänglich reich von Gott gefegnet war, ließ nichts deſtoweniger ſich
der verbotenen Frucht gelüften, und genoß fi. Er, aufs ſchoͤnſte
mit feines Gottes Huld geſchmückt, ließ an dieſem Schmud fich nicht
genägen, fondern ftredte feine Hand nad) einer Krone aus, die ihm
nicht zukam. Nicht Gottes Diener wollte er mehr fein, fondern ſelbſt
wie Gott. Nicht gab er fich zufrieden mit dem Herrfcherftabe, der
ibm ald dem Herrn der Erde und aller irdifchen Greatur verliehen
war, jondern trachtete gewiffermaßen nad) dem Scepter des Allmäch⸗
tigen ſelbſt. Nach Unabhängigkeit von dem Herm im Himmel, nad)
dem Rechte unbedingter Selbftbeftimmung, ja, nach unbefchränfter
Sreiheit von jeglichem Gefeße, das er ſich nicht felbft gegeben, ging
fein keckes Gelüſt. „Selbftändigkeit” hieß die Lofung, die er in
fein Fähnlein fchrieb. Ein König begehrte er zu fein; aber nicht,
wie er es fein follte, unter Gott, fondern ein König fouverän und
unabhaͤngig wie Gott felbft, ein Selbftherrfcher, deffen egoiftifchem
Willen Alles fi) beuge.
In diefer feiner Herzensrichtung lag aber der entichiedenfte Abfall
von Gott; und wehe uns, daß diefelbe fi) dem Keime nach wie
ein gebeimes Gift auf uns Alle übertragen umd vererbt hat! Wer
will e8 wagen, von ihr fich frei zu fprehen? Wer fühlt nicht in
fih jene Gefinnung tagtäglih in taufendfültigen Formen ihre Blü-
then umd Früchte treiben? Streben wir nicht alle von Natur, wie
ein Heide dies jchon erkannte, „immer nad) dem Verbotenen?“ Iſt's
nicht ımfer Ich, das wir ſtatt Gottes auf den Thron erheben möch-
ten, und defien Verherrlichung uns ungleich mehr, als diejenige un-
feres Schöpfers am Herzen liegt? Begleitet uns nicht auf Schritt
und Tritt das hochmüthige Gelüfte, als Heine Götter uns jelbft ım-
ſre Lebensbahnen vorzweichnen,; und bringen wir nicht Alle die em-
pörerifche Neigung mit in die Welt, das Gefeß Jehovas zu umge:
ben, und ſtatt feiner willfürlich unfer eigenes uns zu machen?
D freilich ift dem fol Wir tragen fammt umd fonders die Ebenbild-
lichkeit unferes gefallenen Urahns in und; und wollen wir hievon
nit wiſſen, fo beurkunden wir ja Dadurch eben nur wieder den und
angeſtammten Hochmuth, und Die innere Berfinfterung, der wir ver-
jallen And. |
Gezt wir win, was nad euerm lictheile dem Adam für fein lü⸗
492 Das Heilige.
ſternes Auslangen nach der verbotenen Frucht und für feinen frevel-
haften Eingriff in Gottes Recht gebührte? „Mindeftens,“ Denkt ihr,
„Die Geißel, ftatt finnfichen Wohlbehagens, eine Dornenfrone, ftatt
des begehrten Diadems, und ftatt des erfehnten Purpurs, ein Spott:
gewand!” — Ihr habt recht gerichtet! Schaut num nad) dem Hof
raum des römischen Palaftes, und überzeugt euch, Daß Diefes Alles,
deſſen ihr ihn werth erachtet, dort wirklich ihm zu Theil wird. „Ihm?“
fragt ihr ſtutzend. „Wem doch? — Unferm eltervater Adam?" —
Keinem Anden, als diefem, und in ihm uns, feinem Samen.
Ja, bier fchaut ihr den vermeflenen Lüſtling, den ftrarbaren Inſur⸗
genten und Kronräuber des Paradiefes. Nur begegnet er euch bier
nicht perfönlich, aber vertreten durch den, der als „anderer
Adam“ die Schuld des erften Adams auf fih nahm. Der haftet,
der büßt hier für legteren. — Seht, Died der geheimnißvolle Kem
jenes blutigen Auftritts. Hinweg darım niit allem falfhen Empfin-
dein! Hinweg mit der einfeitigen und eigenliebigen Entrüftung wider
die rafenden Folterfnechte! Abgeſehen noch davon, daß wir Dem in
nerften Wefensgrunde nach von Natur nichts beffer find, als fie, find
fie unbemußt nur Werkzeuge in der Hand des vergeltenden Gottes.
Was Ehrifto widerfährt, widerfährt uns in ihm, Die er vertritt. Auf
unfern alten Menfchen, den Lüftling, den Fleiſchesknecht, den hoch⸗
müthigen Mebellen wider Gott, fallen die Streiche, Die jener leidet.
Wir empfangen bier, was unfre Thaten werth find; und nun fagt,
ob ihm zu viel gefhieht? O, es verpaare fi in uns mit dem
Schauder, der beim Anblick des Marterlammes uns ergreift, zugleich)
das gruͤndlichſte Selbitgericht, die tiefite Anbetung der unausforfchlichen
Weisheit und Erbarmung Gottes, und eine jauchzende Freude über
die herrliche Bollführung feines Gnadenraths! In Jeſu Wunden
brennt unfere Hölle aus; auf Jeſu Seele verlodert unfer Fluch; im
Blute Jeſu verlöfchen unfre Schulden. Das Schwert des heiligen
Gottes: Zorned mußte über uns geſchwungen werden; und ift die
Schrift nicht eine große Lüge, und die Drohung des Gefeßes nicht
ein leered Scyein- und Spielwerf nur, und Gottes Gerechtigkeit fein
Wahn, und kein Hirngefpinnft feine Wahrheit: dann ift nichts fo aus-
gemacht, als daß von allen den Millionen fündiger und todesfchuldi-
ger Menfchen, die je die Erde beträten, feiner, auch nicht ein einziger,
jenem Schwerte entronnen wäre, wenn der Sohn Gottes nicht ges
ſprochen hätte: „Das Schwert treffe mich! Ich zahle für Die Schulds
Die Geißelung. 498
ner!" Er Sprach aber fo. Da donnerte e8 über ihm in den Wolfen,
da brandete in hohen Wogen das Angftmeer zu ihm empor, da goß
die Hölle al! ihre FKoltern und Qualen über ihn aus, — und der
Himmel — regte ſich nicht, fondern ſchwieg. Was war diefes Alles?
Nichts, als das uns Sündern zugedachte Loos. Seitdem aber jenes
ſich zugetragen, find die Kreuze, die uns errichtet waren, gefällt, Die
Pranger, die uns forderten, zurüdgenommen, die Geſchoſſe, die wir
auf und gerichtet fahen, demontirt; und aus der Königsburg des Herrn
Zebaoth grüßt uns arme Erdenwaller die weiße Friedensfahne,
Ja, Freunde, die Sache verhält ſich wirklich fo, wie fie ein alter
Kirchenlehrer finnig uns befchreibt. Adam war ein König, berrlich
geihmüdt, und auserfehen, daß er herrſche. Die Sünde aber ent
thronte den Hochgeftellten, und brachte ihn um Purpur, Diadem und
Scepter. Nachdem ihm aber über das, was er eingebüßt, Die Augen
aufgegangen waren, und als er nun den fuchenden Blid zur Erde
wandte, ob er das DBerlorne wiederfände, Da flarrte, wo die Krone
ihm vom Haupte ſank, wildes Dorngeftrüppe ihm entgegen; das
Scepter hatte fi, gleichfam den gefallenen Könige zum Hohn, in ein
morfched Rohr für ihn verwandelt, und ftatt des Herrichermantels
hub die getäufchte Hand ein Spottgewand vom Staub der Erde auf.
Zrauernd fenfte der arme Betrogene fein Haupt. Da rief eine Stim-
me: „Schaue auf!” Und wie er emporfab, fiehe, welche Erfchei-
nung ftellte fi) da dem Ueberrafchten dar! Bor ihm fland ein heb-
rer, geheimnißvoller Mann, der hatte jene ftechenden Dornen vom
Boden aufgerafft und fie als Krone um fein Haupt geflochten, und
hatte fich felbit in das Kleid des Hohns gehüllt, und den Rohrſtab,
dies Sinnbild der Ohnmacht, in die eigene Hand genommen. „Wer
bift du, wunderbares Weſen?“ fragte ftußend der Ahnherr des menfch-
lichen Gefchlechts, und erhielt den herzentzüdenden Befcheid: „Ich
bin der König aller Könige, der, mittlerifch eintretend in dein Loos,
die eingebüßten paradiefifchen Kleinodien dir zurückbringt!“ Da beugte
fih der glücliche Alwater Danfgerührt und ehrfurchtsvoll zum Staube,
und ahnete nun die Ziefen des einjt nach erfahrener Bekleidung mit
dem Zelle des Opferthiers vernommenen Jchovahwortes: „Adam it
geworden wie unjer Einer!“
Ein Gleichniß hab’ ich euch erzählt; aber ein foldhes, das auf ge-
fchichtlichem Grunde ruht. Denn in der That hat der große Taufch,
den Chriftus mit uns eingegangen, der Anwartichaft und dem Rechte
494 Dad Heilige.
nach ums in den Vollbeſitz der paradieſiſchen Herrlichkeit wieder ein:
geſetzt. Und ich fage euch, daß wir das Maß der und zuftehenden
Befugniffe mit Nichten überfchreiten, wen wir Die trußig freudigen
Forte des chriftlichen Sängers zu den unfern machen:
Chrifti Schmach ward meine Ehr’,
Chriſti Roth mein Reigen;
Was doch kann mich fhreden mehr,
Bin ih Chriſti eigen?
Fluch? — Mein Fluch hat ihn erwärgt!
od? — Er droht vergebens !
Chriſti Dornenfranz verbürgt
Mir den Kranz des Lebend. — Auen.
—ao
XLI.
Ecce homo!
nm nn ı 5
Ihr kennt das Hohelied. Als den feligen Traum einer in Gott
lebenden Seele von den Tagen des neuen Teftamentes möchte ich e6
bezeichnen. Wie aus zartem Duft gewoben gehen feine Bilder an
uns vorüber. Geifterartig tauchen feine Geftalten vor uns auf, und
ebenso verſchwimmen und verfchmeben fie auch wieder. Aber je fließen:
der überall die Umriffe find, um fo größer ift der Reichtbum von Zu:
ftänden und Scenen, den fie wiederfpiegein. Das Hohelied enthält
die hingehauchten Farbenſkizzen aller Verhältniſſe der inneren Xebensge:
meinfchaft mit dem Herrn, und zualeih eine Fülle leifer propbetifcher
Hinüberdeutungen in die Wunderwelt der evangelifchen Geſchichte.
Vernehmt im „Lied der Lieder” z. B. nur das Wort Cap. S, 11.
Es ruft bier eine Stimme: „Gehet heraus, und ſchauet an,
ihr Töchter Zion, den König Salomon in Der Krone, da
mit ihn feine Mutter gefrönet hat am Tage feiner Hochzeit,
und am Zage der Freude feines Herzens!” An was gemahnt
und Diefer geheimnißvolle Zuruf? Iſt's nicht, als entruͤcke er ung
im Geifte mit magifcher Gewalt über ein ganzes Yahrtaufend hinweg,
und ftelle und vor die Richtbühne Gabbatha zu Serufalen, wo der
Bece homo. 495
wahre Salomo, der Friedefürft vom Himmel, Jeſus Ehriftus, uns ent-
gegentritt? Und wie begegnet Er uns? Geltönt; aber mit welcher
fhauerlihen Krone? Mit ftehenden Domen umwand man feine hei⸗
fige Stirn. Und wer beging an ihm diefen namenlofen Zrevel? Es
frönte Ihn feine Mutter”, die Menfchheit, die ihn dem Fleiſche
nach gebar, und der er je und je nur Liebe und Leutfeligfeit ent»
gegentrug. Und fiehe, den Zag jeiner tiefſten Erniedrigung erachtet
der Gemißhandelte felbft für den „der Freude feines Herzens”, ja,
für „feinen Hochzeitstag.” Und aus welchem Grunde? Weil er an
diefem Zage, und noch dazu in jener ſchmachbedeckten Martergeftalt
grade die Sünderwelt fich zum Eigenthum erfauft, und fo die Braut
ſich erwirbt, die er in fhöneren Schmud, als man Ihm felbft ihn
gewoben, zu Eleiden gedenft. „Gehet heraus, und ſchauet ihn an!“
ruft uns die prophetifche Stimme zu; und was für einen Ausgang
fann fie meinen, ald den geiftlichen aus der Zerftreuung zur Samm⸗
fung, ans dem Lärm der Welt zur befchaulichen Einkehr, und fon:
derlih aus dem nichtigen Selbftgerechtigkeitswahne zur Buße umb
in’8 Armefünderthum? Klinge denn das „Gehet heraus, ihr Töchter
Zion!” in jenem Sinne heute auch in unferm Innern wieder, Damit
wir das erhabene Bild verftehen lernen, das uns nicht mehr im duf-
tigen Bereich prophetifcher Vorahnungen nur, fondern auf dem feften
Boden der Geſchichte heut begegnet.
Iohannes 19, 4 - 6°
Da ging Pilatus wieder hinand, und ſprach zu ihnen: Sehet, ich führe ihn her⸗
ans zu euch, daß ihr erfennet, daß ich feine Schuld an ihm finde. Alfo ging Iefus
beraus, und trug eine Dornenfrone und Burpurfieid. Und er ſprach zn ihnen: Se
bet, weldy’ ein Menfh! Da ihn die Hohenpriefter nnd die Diener fahen, fchrieen fle
und ſprachen: Kreuzige, Freuzige !
„Sehet, weldh’ ein Menſch!“ Pilatus riefs. Das Echo Diefes
Ruf's tönt in ungeſchwächter Kraft über Die Erde fort, und deutet
auf eine Erfcheinung hin, wie eine tragifchere und erhabenere nie
noch die Weltbühne befchritten hat. „Sehet, welch’ ein Menſch!“
D, diefes „Ecce homo!« Welch' einen niemals fi) wieder Tegenden
Wellenfchlag hat e8 in der menjchlichen Gemüthswelt hervorgernfen!
Selbft die Herzen der Engel am Throne Gottes brachte es in eine
fo nie empfundene Wallung, und es bewegt fie heute noch; denn es
496 Dad Heilige,
rüdt ihnen vor das Auge der Erinnrung das erfhütterndfte, und
zugleich großartigfte und bedeutungsvollfte Schaufpiel, das auch ih:
nen je fich Durgeftellt. Freilich ift, was es entfchleiert, auf der einen
Seite eine Hölle voll Miffethat und Sünde; aber auf der andern
ein Himmel voll Xiebe und Erbarmung. Wohlen, folgen wir mit
unfrer Beſchauung dem „Siehe des Römers, der, wenn irgend:
wo, fo hier als göttlicher Herold vor uns auftritt! Was nehmen wir
wahr? Die ewige Gottesfonne tief in Wolfen verhüllt; aber nichts:
deftoweniger fiegreih die ſchwarze Dede mit ihrem Glanz durch
brechend. Ja, — wer follte e8 denken? — gerade in der in nichts
als Niedrigkeit und Schmach hinabgetauchten Geftalt, in welcher der
Herr aller Herrn uns hier begegnet, erweift er ſich als den Richter,
den Eroberer, und den Beglüder der Welt. Kommt, wir wer:
den uns hievon im Berfolge unfrer heutigen Betrachtung näher über:
zeugen. Der Zröfter aber, der heilige Geift, erleuchte unfer inneres
Auge, und helfe die Tiefe des „Ecce homo!« uns ergründen. “Der
Pinfel malt’s, die Dichtung beſingt's; aber nur das zerbrochene Herz
beutet e8 aus, und findet das Leben auf feinem Grunde,
1,
Bor Gabbatha ftehen wir im Geift. Die Richterbühne ift noch leer.
Die Scene hat fich, wie uns bewußt, für eine Weile in das Innere
des Hofraums verlegt. Was dort eben Gräßliches ſich ereignet, wiffen
wir. Die Evangeliften bejchreiben’8 mit bebender Hand. Der Gei-
ßelung gedenfen jie nur vorübergehend mit einem flüchtigen Worte.
Wir meinen es wahrzunehmen, wie fie vor Diefem Auftritt ihr Ange:
fiht mit Händen bededen; aber die Thränen, Die heimlich über ihre
Wangen gleiten, vermögen fie uns nicht zu verbergen.
Der mwogenden Menge draußen will ſchon Die Ungeduld fih be
mächtigen, als plöglich die Pforte des Prätoriums fich wieder aufthut.
Ein Sturm der Berwundrung, ja der Beſtürzung, gebt braufend durch
das Voll. Was bat Das zu bedeuten? Schauet aufl Pilatus fommt,
fihtlih bewegt und ergriffen, dahergefchritten, und es folgt ibn, von
einem hohnlachenden Schergenfchwarm umringt, — ad, welche Er-
fheinung! Ihr verbüllt zufammenfchandernd euer Angefiht. Ja, thut
e8, thut es, und geftattet mir, daß id) mittlerweile mit flüchtigen Wor-
ten eine Geſchichte euch erzähle.
Es that fih einmal der Himmel über der Erde auf, und ein Het-
liger trat in Die Menfchenwelt herein, der einzige, den fie feit dem
Boce homo. 497
Fall im Paradiefe gefehn. Ein Herrliher war er fonder Gleichen,
und kam, um das Traumgeficht des DBaters Jakob von der das Pas
tadies mit der Erde verfnüpfenden Himmelsleiter wahr zu machen.
Die Liebe war fein Panter, Erbarmen der Pulsfchlag feines Herzens.
Drei Jahre wandelte er unter den Sterblihen, Licht fpendend den
in Finfterniß Zappenden, die Hütten des Elends erfüllend mit Wohl⸗
that und Hülfe, die Mühfeligen und Beladenen zu ſich rufend, daß
er fie erquicde, und mit Verheißungen um VBerheißungen wie mit gol⸗
denen Himmelslichtern das Dunkel des Todesthals durchwebend. „Ich
bin nicht gekommen“, rief er, „daß ich mir dienen laffe, fondern daß
ih diene, und gebe mein Leben zum Löfegeld für Viele.” Ich ent
fündige euch,” bezengte er; „ich will euch nicht Waiſen laſſen; ich
führe euch zum Bater, und erhebe euch zu Miterben meiner Herrlich
keit.“ Und wie entfprach er feinen Bezeugungen mit der That, wo man
nur wagte, ein Herz zu ihm zu faffen, und kindlich fih Ihm anver
traute! O, welch’ ein Gaft auf dem fluchbelafteten Adler diefer Erde!
Hätten doch ſolchen Befuches halber felbft die Engel am Thron die
Pilger im Todesthal beneiden mögen. Und die Menfchenkinder? —
„Ste werden”, denkt ihr, „Ihm jauchzend in die Arme gefallen, in
Zreudenthränen zerfloffen fein, im Triumph Ihn geleitet und nicht
gewußt haben, was Alles ſie erfinnen follten, um dem bimmlifchen
Freunde und Erretter ihren Dank zu bezeugen.” — Freilich follte
man's vermuthen. „Wie, und es gefchah fo nicht?” — Fremde, hebt
jegt die Augen empor, und ſchauet nach Gabbatha hinüber. „Mein
Gott!” ruft ihr erbebend, „wer iſt diefer furchtbar Zugerichtete?“ —
D Freunde, wer glaubt ihr wohl, daß er fei? Faßt ihn genau in's
Auge, und fagt, ob die Bosheit ſich ärger hätte auslaffen können,
als fie e8 an diefem Manne getban hat. Ach, zu einem Fafchingss
fönige hat fle ihn verlarot, und, als wäre er eines ernften Verfahrens
gar nicht werth, den Stempel der Lächerlichkeit ihm aufgedrüdt. Schaut
nur den Spottmantel um feine Schultern, das Hiftrionenfcepter in
feiner Hand, und auf dem Haupt voll Blut und Wunden Die fchred-
lihe Dornentrone! — „Aber wer ift er denn, der gräßlich Ents
ſtellte?“ — Ich denke, ihr werdet ernftlich darnach fehon nicht mehr
fragen. Die Lammesgeduld und übermenfchliche Ergebung, mit der
er vor euch fteht, macht Ihn euch zur Genüge fenntlih. Nicht mins
der verräthb Ihn die Majeftät, die troß aller Erniedrigung, welche
er erfährt, nad) wie vor über feiner Erfcheinung ausgegoflen ruht,
32
500 Das Heilige.
a für einen Robespierre ſchwärmen, als dab wir ed uns einfallen
laſſen, mit der Liebe zu Jeſu Ernſt zu machen? Uebergießt man nicht,
fobald wir hiezu uns anichiden, uns, und in uns den Herm felbit,
mit Schimpf und Scheltwort? O fürmahr, die Sünden, die dort
an der biuttriefenden Geftalt des Gemißhandelten Jeſu begangen wers
den, find fo wenig nur Sünden und Zrevel Einzelner, daß bier
vielmehr nur die Gefammtfchuld der ganzen Menſchheit offenbar
wird. Ah, jene entſetzliche Greuelſcene des Hochpflafters hat ja noch
nicht ausgefpielt. Wenn auch in etwas minder grellen Zügen erneuert
fie fi) irgendwo noch alle Zage. Das „Ecce homo !« weifet nicht
rüdwärtd nur; es trifft verdammend auch noch die Gegenwart.
Wehe! zu einem Gabbatha ward die Belt. Die dorngefrönte Mar:
tergeitalt auf des Pilatus Richterbühne richtet lautlos ohne Unter:
ſchied uns Alle! —
2.
Doch im Nichten und Verdammen ſchließt fi die ſtumme Thätig:
feit des göttlichen Dulders dort nicht ab. Nicht befchuldigend nur,
fondern zugleich Ehrfurcht und Huldigung gebietend tönt das „Ecce
homo« zu uns herüber. Wie tief er erniedrigt erfcheint, der Herr,
er bleibt doch ein König. Ya, gerade in jenem blutgeneßten Spott-
anfzuge vollführt er, — wer follte e8 glauben? — ein rechtes Kö⸗
nigswerf, und befteigt darin einen Thron, auf dem ihn bis dahin
fein Auge noch erblidte. Nicht iſt's der Thron eines Beberrichers
aller Ereatur; auf Diefen batte ihn der Water längſt erhoben. Ver⸗
feht euch nicht au dem fchmachbededten Manne! Ein Binf, auch
mit dem morfchen Rohre nur, und Legionen von Engeln drängten
fih zu feiner Vertheidigung herzu, und feine Feinde lägen zum Sche
mel feiner Züße. Ebenſowenig it's der Thron eines Rächers und
Richters, zu den er fi bier emporfehwingt. Auch dieſen Hat er
bereitö eingenommen. Irre fih Niemand; unter feinem Spottgewande
felbft birgt Er no den Donner und den Bliß; und wie aus dem
Dornbuſche Jothams einft, führe, wenn er es gewähren ließe, auch
aus feinem Dornenkranze freffend Feuer, die Widerwärtigen zu ver:
zehren. — „Warum aber, befäße er bien die Macht, bedient er fich
derfelben nicht?" Antwort: Weil er unter dem Spottfleide noch
ein anderes trägt: den Purpur der erbarmenden, nad) der Rettung
der Berlorenen lechzenden Liebe. Der neue Thron, den Er auf
Gabbatha befteigt, ift derjenige eines Armenfündertönigs und
Ecce homo, | 501
Sriedensfürften Der Thron der Gnade iſts, von welchem
herab Bergebung ftrömen foll, ftatt Vergeltung, und Verhei—
Bung verlauten, flatt Geheiß. Zu diefem Throne öffnete ſich
ihm fein anderer Weg, als derjenige, den wir ihn dort eben wandeln
fehn. Bevor der Fluch dem Segen, das Nichtichwert der Friedens-
palme weichen konnte, mußten die Verpflichtungen der Sünder erfüllt,
ihre Schulden abgetragen, und fo der göttlichen Gerechtigfeit genug
geichehen fein. In Diefem großen Werke ift aber der göttliche Duf-
der dort begriffen. Leidend erftreitef er fi eine neue Macht; in
Schmach getaucht umfleidet er ſich mit einer neuen Herrlichkeit,
„Sehet, welch ein Menſch!“ Ja, faffet ihn euch wohl in's
Auge, und fchlagt über dieſes Schaufpiel verwundert die Hände zu-
fammen! In dem Spottmantel, in dem Er dort vor euch fteht, er:
ringt Er Siege und Triumphe, die er in dem Prachtgewande feiner
göttlichen Majeftät nimmer errungen haben würde. Er überwindet
darin die ewige Gerechtigkeit, indem Er diefelbe nöthigt, ihr Todes-
urtheil über die Sünder in ein Urtbeil der Gnade zu verwandeln.
Er überwindet darin Das unmiederruflihe Geſetz, indem Er demfelben
es ermöglicht, den wider und ausgefprochenen Fluch unbefchadet feiner
Autorität und Würde zurüd zu nehmen. Er überwindet die Sünde,
der Er ihre verderbende Macht, den Satan, welchem er im Wege
Nechtens feine letzten Anfprüche an uns entreißt, und den Tod, den
er feines Stachels beraubt, und welchem Er die Waffenrüſtung eines
„Schreckenköniges“ auszieht. Ihm, dem bis zur Unkenntlichkeit
entftellten Manne, gehört hinfort die Erde um den Zahlpreis feines
Blutes; und feine in Folge der Sünde durch göttliches Verhängniß
in die Welt eingedrungene verheerende Gewalt bat mehr einen ge
gründeten Rechtsanſpruch an fie. Er ftreicht von den Säulen der
Erde die Wahrzeichen und Wappen aller ufurpatoriihen Mächte weg,
und erfegt fie durch das Kreuzeszeichen, Die Signatur feiner Friedens:
herrfchaft. Und Keiner darf fich unterfangen, abwehrend zu Ihm zu
fprechen: „Was macht du?" Er it vollfommen und unanfechtbar
in Seinem Rechte. Sein ift die Erde, damit Er Seine Liebe
auf derfelben walten laffe, nicht Seinen Zorn; und wehn er die fün-
dige hinfort behandelt, als wäre fie aller Heiligkeit und Zugend voll,
wer will- fich erfühnen, die Befugniß biezu Ihm abzuftreiten? „Se
het, wel’ ein Menſch!“ Ja, ein feltfamer Schmud, der Sein
Haupt umgibt; aber wiffet, daß Er in die ſem Kranze eine Macht
befkpt und übt, deren Er fich, als Er nur noch Die Ihm von Ewig⸗
feit her angeftammte Gottheitsfrone trug, nicht rühmen konnte. In
letzterer blieb Ihm nur Raum, zu einem Schächer zu ſprechen:
„Berflucht ſeiſt du;“ im jenem eröffnet Er dem armen Sünder:
„Heute wirft du mit mir im Paradiefe fein!” In der Himmelskrone
fonnte er eine Magdalena, einen Zöllner, einen Gichtbruͤchigen nicht
anders, ald mit einem „Hinmweg von mir!” der Verdammmiß über:
weifen; in feinem Dornenfhmude ſteht es Ihm zu, diefen Schuld:
Beladenen ein: „&ehet bin mit Frieden, eure Sünden find euch ver:
geben!" zuzurufen. Im der eriteren herrihte Er wohl aud, aber
Aber ein dem lintergang geweihtes, hoffnungslos verlorenes Geſchlecht;
im Domendiadem beberefcht er eine Welt vol großer, herrlicher Zu-
kunft. „Sehet welch’ ein Menſch!“ — Ein mürbes Rohr ift
Sein Regentenftab; aber mit dem Allmachtöfcepter, das Er von An⸗
fang führte, verrichtete Er die Wunder nicht, die Er mi dieſem
Zeichen der Ermiedrigung und Ohnmacht thut. Auf jenes inf
öffneten ſich freilich für Webertreter die Pforten der Hölle, aber auch
nur fie; auf den Wink des letzteren thun fich für diefelben, fo eft
Er will, die Thore des verlorenen Paradiefes wieder auf. Mit jenem
war Er Herr über die Sterblihen nur als über eine verlorene, zur
Schlachtbank gezählte Horde; mit dDiefem weidet Er in denfelben
Geichöpfen nun eine Heerde, Die zu ewiger Seligkeit berufen fl.
Das Scepter Seiner Majeftät bedrohte das Reich der Finfterniß in
feinem Anrecht an die gefallene Menschheit nicht, indem die vergeltende
Gerechtigkeit, welde die Veſte des Thrones Gottes if, Seine
Macht mit unumftößlihen Schranken umgrenzte; wit dem Scepter
Seiner Niedrigkeit Dagegen ftürzt Er den Herrfcherfiuhl des Agrunds⸗
fürften um, und nimmt ihm Land und Leute, und zwar mit einer Be-
rechtigung, welche die Hölle felbft in Frage au ftellen und auzufechten
fi) nicht erkühnt.
Bermögt ihr in dem &emißhandelten dort nın noch den Groberer
der Belt zu verfennen? Steht in Ihm nicht wirflih der „Stär-
tere" wor euch, der dem „Starken“ feinen Raub und Hamifch
nimmt, und der Zwifchenherrichaft aller uns feindlich entgegenftehenden
Gewalten ein Ende mat? Wiffet aber, daß Er in demfelben Auf:
zuge, in weichen Er dort dem Rechtsanſpruche nad -die Weit
Ah unterwirft, auch der Wirkung nad Ddiefelbe fich fort und fort
erobert. Richt die Geftalt des „Meifters in Iſrael“ ia, no
Eooe homo. "%08
diejenige des Herrlihen von Anfang; fondern die Geftalt des
göttlichen Dulders, in welcher Ex die Herzen derer fich zuneigt,
de Er mit Seinem Bilute fi) erfaufte Die erften Huldigungen
Seiner Kinder nimmt Er in der Regel in Seinem Domenfranz ent-
gegen. In Seinem Spottmantel, und nicht im Purpur Seiner vor⸗
weltlichen Majeftät, fammelt Er fi bis heute den Lohn Seiner
Schmerzen. Die Söhne der Wüfte bleiben Ihm entfremdet, fo lange
Er ihnen nur im Gewande des Lehrers, oder mit den Infignien
ſeines übermenjchlichen Königthums entgegentrit. Sobald Er aber
por ihnen feine Martergeftalt enthüllt, heben fie zu ftugen an, und
fühlen wie von wunderbaren, magnetifchen Zügen fi) berührt, Er⸗
ſchuͤttert bliden fie dem hehren Manne in's blutige Angeſicht. „Ber
bift Du?” fragt ihr bewegtes Herz. „Du Mann, fo hart gefchla-
gen, und doch fo ftill und geduldig, wie heißt dein Name? Warum
umfängt Dich, von deffen Auge nur Liebe ftrablt, fo bittre, fo namen-
loſe Roth?" — Sie fragen’s; und wie ihnen von Seinen blutigen
Lippen die Antwort entgegen tönt: „Für Dich, für dich!” da iſts
Sein Burpurmantel, deſſen Säume fie zuerft erfaffen, Sein Dor⸗
sendiadem, dem fie ihre erften Huldigungen zollen, und Gein
Rohrſtab, umter welchen fie als unter das Scepter ihres Febr
gen Herm zu freudigem Gehorjam ihren Naden beugen. Ya, das
„Bcce bomo« ift immer noch die ftille Macht, die Löwen in Lämmer
wandelt; der wunderthätige Laut, der fleinerne Herzen fprengt und
fmelgen macht; der feierlide Glockenhall, der dem Herrn die fchönften
Triumphe einzuläuten pflegt. Mögen es diefe feine Wunderwirkungen
auch unter und offenbar werden laſſen, das „Ecce homo I«
3.
„Sehet, welch’ ein Menſchl!“ Ja, haltet feſt den Blick auf ihn
gerichtet. Wie dieſer Menſch der Richter und Eroberer, fo if
Er auch der Beglüder der Belt. Wir wiſſen wol, daß Er heute
auf Gabbatha nicht mehr flieht. In einem anderen Gewande, ud
is einem andern Diadem, als in dem wir Ihn dort erbliden, kat Er
längft den Thron der Herrlichkeit beftiegen. Aber Sein dorngekroͤntes
Bildniß ließ Er im Spiegel des Evangeliums uns zurid; und, 9
Der Wunder, die daſſelbe ſeitdem auf Erden ſchon verrichtet bat, amd,
wo es der heilige Geiſt beleuchtet, och ſtets verrichtet! Wie in jenem
fmachbedeckten Schmerzensbilde gerade der Herr vom Hinmel Die
Melt geretiet bat, fo erzeigt Er fich in demfelben auch immer. neh
als den Befeliger der Bel. In diefer Martergeitaft tritt Er in
die Thränenflaufen der unter ihrer Sündenlaft Zerknirſchten; umd wie
fie beim Klange des „Ecce homol« Ihn gewahren, erleichtert ſich
ihr Herz: dem „Er trägt ihre Krankheit.“ In diefer Geftalt zeigt
Er fi den Angefodhtenen im Drange der Berjubung; umd Jhn
erblicken, der ja den Satan unter ihren Füßen zertreten bat, und ihres
Sieges zweifellos gewiß fein, it für jie eins. In diefer Geſtalt
font Er zu den von fchweren Schidjalsichlägen hart Betroffenen;
und mm, daß fie Seiner anflchtig werden, atbmen fie freier auf,
md jubeln: „Durch's Kreuz zur Krone!“ In Ddiefer Geſtalt
naht Er Seinen von der Welt verfannten und mit Spott bedeckten
Kindern; und wie fie Ihn nur durch's Gitter ſchimmern jehen, find
fie ſchon wohlgemuth wieder und fprechen trutzig: „Nur ber mit
Burpur, Rohrftab und Tornenfrone! Wir begehren von euch, feinen
Widerſachern, keinen andern Schmud, als in welden ihr Ihn
ſelbſt, unfer glorreiches Haupt, einit gelleidet habt!“ — Schweigend
tritt Er in diefer Geſtalt vor diejenigen bin, die über den ſchnoͤden
Undank ımd Die Herzenskälte der Welt fich vertrauern wollen; aber
wie fchnell verkehrt ſich Angefihts Seiner ihr Gram in tiefe Be
fhämung über ihr Geizen nad) Menjchenlob und eitler Ehre! Im
Diefer Geftalt bringt er diejenigen zu feiner Heerde wieder, Die ſich
aufs neue zu den Träbern der Welt verloden ließen. Sein Auge
blikt fie unter der Domenkrone ber nur einmal mitleidig umd
warnend an, und jchon liegen fie in Reue zerfchmelzend wieder zu
Seinen Füßen. In dieſer Geſtalt erjcheint er taufendmal Seinen
Kindern, wenn die Nacht des Todes fie zu umgrauen beginnt, umd
ihre Füße fchon im dunkeln Thale wandeln; und wie ihr brechendes
Auge Ihn erfchaut, wird ihnen, als füufele himmliſcher Friede fie an
von feinem Dornenkranze, als wanke vor dem Rohr in Seiner Hand
überwunden der Schredenskönig mit allen feinen Schauern zurüd,
und als breite ſich der Purpurmantel des himmlifchen Freundes wie
ein friedfames Ruhezelt über fie aus. Erheitert blicken fie Ihn an,
und mit einem: „Gegrüßet feift du, o Friedenskoͤnig!“ jcheiden fie
fimeonifch von binnen. O, erſcheine Er denn fo eint auch uns,
wenn unfer Tag ſich neigte, und die fette Nacht daherfällt! Laſſe Er
and vor uns von jenem feinem PBaffionsbilde die Schleier weichen,
wenn die ernfte Straße ſich vor uns aufthut, die wir einfam und
allein zu pügern haben! Wenn unter den ohnmächtigen Thränen
Ecce homo. 505
der Unfern einft unfre Pulfe ftoden, und das Dieffeitd auf immer
für uns untergeht; wenn feine menſchliche Kunft mehr bilft, und
jelbft der Zroft der menfchlichen Liebe nicht mehr haftet: o, dann
durchichreite Er in jenem feinem Paffionsaufzuge mit PBurpurmantel
und Dornenfranz auch unfre Scheide -Einfamkeit; und alles Dunkel,
das uns umgraut, wird ſich bald himmlifch verklären müffen. Denn
gerade in diefem Seinem Bilde prägt ſich faßlicher und gewaltiger,
als in irgend einem andern die Wahrheit aus, daß Zodesurtheil und
Fluch von unferm Haupte auf das Seinige übergingen, damit uns
im Schmude Seiner Gerechtigkeit ein freier Zugang zum Throne
der Gnade werde. Ja, wenn nur Er einft mit uns in der einfamen
Barke ſitzt, Die über den lebten Jordan und hinübertragen wird;
wenn dem eriterbenden Blicke unfred brechenden Auges einjt nur Er
noch unverhüllt und gegenwärtig bleibt; wenn beim Schwinden unfrer
Sinne nur das Eine uns noch verliehen ift, die blutige Geheimfchrift
Seiner Marter zu lefen und zu verftehn: was bedürfen wir dann
weiter, damit unſre Fahrt eine glüdliche, eine friedfame, eine Tieb-
fiche fei? Darum, wenn heut’ oder morgen auch bei uns Noth an
Mann gehen wird, jo trage der heilige Geift in unfre Kammer nur
den Ruf herein: „Sehet, welch’ ein Menſch!“ und fchauen wir
dabei auf, fo ftehe Er vor unferm Glaubensauge fo, wie Er heute
auf der Höhe Gabbathas vor uns ſteht. O, wie viel eher faßt ein
armer Sünder fih ein Herz, den Saum Seines Purpurmantels, als
den Seines Lichtgewandes zu ergreifen! Und aus dem Dornenkranze
um. feine Stimm tönt Mofis geheimnißvoller Segensfpruh uns an:
„Die Gnade deß, der im Dornbuſch wohnete, komme über das Haupt
Joſephs, und des Nafirs unter feinen Brüdern.‘
Daß denn Das „Ecce homo !« nie mehr in unjern Herzen verklinge,
noch je in der Welt unjrer inneren Anfchauungen die Geftalt erbleiche,
auf die es hinweiſſt! Diefe Geftalt darf, fo lange wir auf Erden
wallen, aus unjerm Gefichtsfreife nicht mehr entfchwinden, wenn nicht
der Friede Gottes, der Muth zum Kampfe wider Sünde und Welt,
der Troft im Leben und im Sterben ums entichwinden follen. In
dem apoftolifchen „Nichts wiffen und nichts wiffen wollen, als Chris
flum, und zwar den Gefreuzigten,“ jtehet die Klugheit der Gerechten.
An der Gemeinfchaft des fterbenden Mittlers täglich uns felbft und
der Welt zu flerben, um täglich auch mit Ihm zu dem neuen Leben
506 . Das Heilige.
in Gott zu erſtehen, ift unfer Beruf. Laffen wir Denfelben uns ge-
fallen ; wir haben ja bier „Leine bleibende Stadt." Wie lange wird's
währen, jo tönt uns abermals ein „Ecce homol« an. Werden wir
aber dann den Bli erheben, fo fteht ein anderes Bud vor uns ent
fehleiert, als dasjenige, das wir auf Gabbatha erblidien. Der Eh-
renkoͤnig hat das Kleid des Hohus gegen den Sternenmantel Der gött-
fihen Majeftät, den Domenkranz gegen die Krone feiner uranfänglichen
Herrlichkeit, den Rohrſtab gegen das Scepter der Weltherrfchaft ver:
taufcht. ALS himmliſches Zriedensfcepter neigt Er letzteres freund-
lich zu uns nieder, fprechend: „Kommt, und ererbet das Reich;“ umd
während aus dem Innern der himmlifchen Gotteeftadt das große,
nimmer endende Hallelujah der Seligen uns entgegenraufcht, geleitet
6 von der Erde her ein verfchwebender Nachhall des oft von uns
im Glauben gefungenen Pügerfanges:
Nnfer Weg gebt nach den Sternen,
Der mit Kıenzen if befekt.
Hier muß man fi nicht entfernen,
IR er gleih mit Dint benekt.
3u dem Schloß ber Ewigfeit
Kommt fein Menſch hin fonder Streit;
Die in Salemd Mauern wohnen,
Zeigen ihre Dornenfronen. — Amen. —
—4—
XLII.
Der Schluß des Prozeſſes.
Chriſtus erſchien auf Erden, „Das Geſetz zu erfüllen“ — E
bezeugt dies ausdrücklich ſelbſt Matth. 5, 17. mit dem Zuſatze: „Denn
ich fage euch wahrlich: Bis dag Himmel und Erde zergehn, wird nicht
ergehen der Eleinfte Buchitabe, noch ein Züttel vom Geſetz, Dis daB
ed alles geſchehe!“ — Das Geſetz war in der Welt, mıd uns
wars gegeben. Es follte in den Tafeln, in die der Finger Gottes es
eingegraben, nicht ſchlummern bleiben; fondern von dem falten, ſtum⸗
men Steine in Das Herz, Das Thun und Weſen der Menſchheit übers
Der Schluß des Vrozeſſes 607
gehen, und in Der Weile in ihr lebendig werden, daß es feinen
thatfächlihen Ausdrud in ihr fände. Aber ad)! lebendig wurde
es in und nur und verflagend und verdammend, -Da kam Er,
der unſere Hoffnung, wie unfre Liebe ift, und nahm wirklid das
Geſetz alfo in fih auf, daß es mit allen feinen Forderungen und
Geboten Wahrheit und Leben in ihm ward. Alle erdenkbaren Tu⸗
genden ſtrahlen uns im reinften Glanze aus feiner Erfcheinung an.
Jede feiner Handlungen und Empfindungen entjpricht vollfommen nad)
Form und Inhalt dem Gefeß; und lebteres wurde bis auf Tüttel und
Jota dergeftalt in Ihn aufgehoben, daß Er das perfönliche Gefeg
heißen darf, in welchem das in Buchitaben verfußte ſich verleiblichte
und Zleifh und Blut anzog. Darım war Er aber auch der, an
welchem Gott all’ fein Gefallen haben konute, und wirklich hatte, und
der Die Befähigung beiaß, als „anderer Adam“ für uns, die Sünder,
vermittelnd und erlöfend einzutreten. — Leuchte uns dieſe Wahrheit
als geiftliche Fackel auf unferm heutigen Betrachtungsgange!
Joh. 19, 6° — 16.
Bilatus fpricht zu ihnen: Nehmet ihr ihn hin, und Freuziget ihn, denn ich finde
feine Schuld an ihm. Die Juden antworteten: Wir haben ein Geſetz, und nad
dem Geſetz fol er fterben; denn er bat fich felbft zu Gottes Sohn gemacht. Da
Pilatus das Wort hörete, fürchtete er fh noch mehr, umd ging wieder hinein in dad
Rihthaus, und Ipricht zu Jeſu: Bon wannen bit Du? Aber Jeſus gab ihm feine
Antwort. Da ſprach Pilatus zu ihm: Redeſt du nicht mit mir? Weißt du nicht,
daß ih Macht habe, dich zu freuzigen, und Macht habe, dich loszugeben? Jeſus
antwortete: Du hätteft feine Macht über mich, wenn fie dir nicht wäre von Oben
herab gegeben; darum, der mich Dir überantwortet bat, der bat es größere Sünde,
Bon dem an trachtete Bilatus, wie er ihn losließe. Die Iuden aber ſchrieen und
ſprachen: Läfleit du Dielen 108, fo bit du des Kaiſers Freund nicht, denn wer ſich
zum Könige macht, der iſt wider den Kaifer. Da Pilatus dad Wort hörete, führte
er Jeſum hinaus, und fegte fih auf den Richtituhl, an der Stätte, Die da heißt
Hochpflaſter, auf hebräifch aber Gabbatha Es war aber Rüfttag in Oftern, um die
fechite Stunde. Und er fpricht zu den Juden: Sehet, das ift euer König! Sie
ſchrieen aber: Weg, weg mit dem, freuzige ihn. Sprit Pilatus zu ihnen: Soll
ich enern König frenzigen? Die Hobenprieiter autworteten: Wir haben feinen König,
benn den Kaifer. Da überantwortete cr ihn, daß er gefreuziget würde.
Das gerichtliche Verfahren wider den Herm der Herrlichkeit eilt
feinem Ende zu. Die Ereigniffe drängen, ja überftürzen fih. Der
große, Alles enticheidende Moment it nahe, und die Vorgänge neb-
wen ia wachſendem Maße unfre Theilnahme in Auſpruch. Was in
unferm heutigen Paffions - Evangelium vorzugsweiſe unjre Aufmerl-
famfeit auf ſich ziebt, it ein Dreifaches, und zmar- zunächſt Die Bern:
funa der Suden auf das Geſetz; ſodann das Zwiegeipräd
zwiſchen Chriitus und Pilatus: und endlich Die vollendete
Niederlage des legteren.
Weihen wir dieien geichichtlichen Zügen einige Augenblide ſimigen
Ermwägens, und laffe der Herr uns auch heute den verborgenen Schap
im Ader nicht verfeblen!
1.
„Kreuzige!“ — Dies die Antwort des Volks auf das bewegte
und um Verſchonung für Den Herrn der Herrlichkeit bettelnde „Ecce
homos des ſchon mehr als halb geichlagenen Richters. Dieſes
„Kreuzige!? wirft den armen Römer vollends aus feiner leßten ver:
meintlich fihern Pofition beraus. Da ſteht er, nur ein Gegenfland des
Mitleids und Bedauerns noch, wehrlos und ratblos, zerrifien in feinem
Innern, und gepeinigt unter den NRutbenitreichen eines beflern Ichs;
doch ohne Glauben, wenn er auch vom Aberglauben nicht frei iſt,
und jo ein Spielball der menjchlihen und dämoniſchen Mächte, Pic
ihn umwalten. Aufs neue bezeugt er die Unichuld des Berflagten:
aber jtatt folgerecht jegt dem Prozeſſe mit der Areiiprechung Jeſu ein
Ende zu machen, wirft er ſich bis zu der feigen Ratbsertheilung am
die Juden weg, fie möchten den Nazarener, an dem er eine Schuld
zu entdeden nicht vermöge, immerhin nur nebmen, und ibn obne fein
richterliches ‘Placet tumultuarifch an Das Kreuz fchlagen. Fürwahr,
allmälig beginnt fat auch das Mitleid mit dem charafter- und ge
wifjenslofen Manne in unferm Buſen zu verglimmen, und e8 wandelt
uns ihm gegenüber die Verfuchung an, unjer Verwerfungsurtbeif über
das durch des Pilatus Schwäche vollends irregeleitete und in feinem
Wahn beitärkte Volk zu mildern, und es ganz auf jenen zu übertragen.
Darf es und noch wundern, daß das Volk nur um jo feiter auftritt, je
haltloſer es den Richter warfen und weichen jieht? „Wir haben
ein Geſetz,“ ruft es entichieden und beftimnt, „und nach Dem
Gejege foll er iterben, denn er bat ſich felbft au Gottes
Sohn gemadt!* Es genüat dem Volfe nicht, Jeſum nur vom
Xeben zum Zode zu bringen; fondern, um den Schein der Meuterei
von fi) zu entfernen, will es zugleich, daß Jeſus in feierlicher Erecu-
tion und unter allen Formen des öffentlichen Rechts die Welt verlaffe.
Sehr beachtenswerth erfcheint hier zunächft die Seitens der Juden
Der Stchluß ded Prozeſſeß 809
gegen Jeſum erhobene neue Anklage, daß er ſich zu „Gottes Sohn“
gemacht habe. Sie erklären hiemit gleichjam zu den Alten, daß Je
ſus fi in der That diefen hohen Ehrennamen beigelegt habe. Daß
fie ihm daraus ein todeswürdiges Verbrechen machen, das dient ung
als Mapftab für den Umfang und die Erhabenheit der Deutung,
welche fie jener feiner Selbftbezeichnung geben zu müſſen glaubten,
Wie hätte es ihnen einfallen können, in leßterer irgend etwas Fre⸗
velhaftes zu erbliden, wenn fie annehmen zu müffen meinten, Jeſus
habe ſich in feinem höheren Sinne für einen Gottesfohn erflärt, als
in welchem, fih alle Menfchen, und namentlich die gefeßestreueren
und gottesfürchtigeren unter ihnen alfo nennen dürften. Aber e8 war
ihnen eine ausgemachte Sache, Jeſus habe mit der Gottesfohness
Signatur ſich über Alles, was Menſch und felbft was Engel heißt,
hoch hinaus, ja Er habe ſich damit Gott dem Allgenugfamen felbft
wefentlich gleichitellen wollen. Und hätte der Herr weniger gewollt,
als dies, jo war es bei diefer Gelegenheit feine heilige Pflicht, die
Ausfage feiner Verkläger al8 eine Lüge abzuweifen, oder als ein
arges Mißverjtändniß zu berichtigen. Er verfteht ſich aber weder zu
dem Einen, noch zu dem Andern, fondern ſchweigt, und drüdt durch
diefes Schweigen jener als Befchuldigung vorgebrachten Angabe offen-
bar al8 einer gegründeten fein Siegel auf.
„Wir haben ein Gefeg,” ruft das Volk, Freilich, ein ſolches
hatten fie; ein pofitives, ein vom Himmel herab geoffenbartes, in
Wort und Schrift verfaßtes; ein Gefeß, klarer, denn die Sonne, tiefer,
denn das Meer, und als der reine Abglanz der Heiligkeit Gottes, als
der durchaus entiprechende Ausdruck Seines unveränderlichen Willens,
für die ganze Welt, und für Zeit und Ewigkeit gültig. Ja wiffet,
wann Gott einmal weniger heilig fein wird, als Er es ift, dann, aber
auch eher nicht, werden die Forderungen jenes Gefeßes fich herabitim-
men und milden. Wann Gottes Gerechtigkeit einmal in Abnahme
zu gerathen beginnt, und Seine Wahrheit wanfen wird, dann, aber
auch erft Dann, mwird’8 auch mit der Mebertretung jenes Geſetzes
weniger auf fi) haben, und des Geſetzes Fluch minder zu fürchten
fein. So lange aber in Gott fein Wechfel des LXichtes noch der
Finſterniß eintritt, behält Sein Gefeß feine Majeftät und unerbittliche
Strenge; und fo lange Gerechtigkeit und Gericht Die Veften des gött-
lihen Thrones bilden, ift, wer nicht in Allem, was im Buche des
Geſetzes gefchrieben fteht, verbleibt, von Gott verftioßen und mit dem
510 Des Heilige.
Bann belegt. Das Geſetz, von dem wir reden, Tann Darum Leim bes
gehrter umd beliebter Gaft auf Erden fein. Ya, fo lange wir außer
der Gemeinſchaft Chrinti wandeln, tüben wir gerne, das Belek wäre
gar nicht vorhanden. Denn was thut Das Gele, ald daB es mnite
Gottentfremdung uns in's Licht ftellt, und vermittelit feiner Drohm⸗
gen die Hölle in unfre Gemwilien trägt? Wie viele Tauſende ſchen
brachte es um ihren Arieden und alle Frende des Lebens, umd ver:
ferfexrte fie Tebenslänglich in dumpfe Zwinger der Angft und der
Schwermuth! Was Wunder, wenn Soldye das Geſetz verwüniden,
und ohne Unterlaß darũber aus find, daſſelbe zu entnernen und aus-
zuieeren? Denn wäre das Gele nicht in der Belt, fo wäre ah
Eimde nicht mehr Sünde; und auf wie hreitem Infligem Wege wan⸗
deite man Dann dem Hinmel u! ber wüniden, Daß Das Geſet
nicht fei, heißt begehrten, dab ein Wort nicht eriftire. Denn lebt ein
Gott im Himmel, fo hat derſelbe au einen Willen an die Kreatur:
und Gottes, als des perlönlichen Inbegriffs aller Tugenden, Wille
fann ja weniger beilia nidt fein, als es das bibliſche Gefen ii,
welches eine „Bolllommenbeit” fordert, „gleich wie der Water im
Himmel volllommen ift.*
Die Juden dert baben noch ein Bewußtſein von der Eriflenz eines
göttlichen Geſetzes. Tie heutige Belt bat dieſes Bewußtſein längſt
verloren, und Das vofitive Gebot durch eine in ruchloſer Billfür ſelbũ
beliebte licht: und ferıloie „Moral“ hinweggeſchwemmt. Dieſes mit
dem verderbten Fleiſch canitulirende Machwerk ichleudert wur feinen
Fluch, aber zieht ihn unvermeidlihb nah fih. Es iſt Rebellion ge
gen Das Geſetz, Das Geſetz verfluchen und abſchwächen wollen: und,
glaubt's nur, zu feiner Zeit wird Das mißhandelte Das an ihm Be:
gangene Attentat zu rächen miften und in furchtbarer Weite feine Ehre
fib wieder nehmen.
„Bir baben ein Geſetz, und nad Dem Geſeßz muß er
fterben, Denn er bat ſich felbit zu Gottes Sohn gemadt!*
Ganz richtig geurtbeilt, vorausgeſetzt, Daß Er am dem, was Er Gro⸗
Bes von fich bezeugte, gelogen habe! Das Majeſtätsverbrechen einer
Blasphemie laftete dann auf feinem Haupte. Wiſſet aber, daß ein
ſolches Verbrechen nicht zwar auf Seinem, wohl aber auf enerm
Haupte, ja Then Berdammniß brütend anf dem Haupte Derer unter
euch rubt, die fi vermeſſen, nur für Gerechte in ihnen ſelbſt
fi) ansingeben. Denn was thin fie Damit, als Daß fie Gottes Wert,
Der Sqhluß deö Prozeſſes 611
das „alles Fleiſch“ verdammt, zur Lüge ſtempeln, den Hocherhabenen
als ein Weſen, das an todten und beflediten Werken, wie unfere Tu⸗
genden find, ſich genügen laſſe, in den Staub herabziehn, den Spiegel
Seines Gebotes, der won einer Gerechtigkeit, die wir felbit befüßen,
nichts wiffen will, keck zertrümmern, oder mit dem Koth ihres Uns
glaubens befleden und Chriſtum als einen verirrten Schwärmer ver:
bächtigen, der etwas völlig Unnuͤtzes und Ueberflüffiges übernommen
babe, indem er mittleriſch für ein Gefchlecht, das fidh felber Heilandes
genug fei, habe jterben wollen? O die Nafenden! Durch jede Blatt
feite des göttlihen Wortes wird ihnen der Stab gebrochen; und zwar
als Gottesläfterern und Empoͤrern gegen die allerhöchſte Majeftät.
Denn wonad) gelüftet fie bei Licht befehn? Nach nichts Geringerem,
als zu fein wie Gott: wie Er unabhängig, wie Er fouverän, keinem
Höheren verpflichtet, fondern ihre eigenen Gefebgeber, Richter md
Herren. Auf folhem Begehren und Zrachten aber Tiegt unwiderruf⸗
lich das Urtheil des ewigen Todes. Was Raths nun? — Schauet
Jeſum an! Er fäfterte nicht, da er ſich Gott gleichftellte, fondern war
der wirklich, für den er fich ausgab. Aber erinnert euch: Er vertrat
Dich und mich, und in Diefer feiner Stellung traf ihn in der That
die Sentenz der Bolfsjuftiz: „Wir haben ein Geſetz, und nach dies
jem Geſetze muß er fterben; deum er bat fich felbft zu Gottes Sohn
gemacht,“ als eine gegründete. Ahr wißt aber, daß Er wirklich
geftorben ift, der „Gerechte für die Ungerechten;“ und fo ward Er
für Alle, die da glauben, „des Geſetzes Ende" Wir ftarben mit
Ihm, ohne perſoͤnlich das Todesweh zu empfinden. Wir leerten in
Ihm den Fluchkelch, der uns um unfrer Sünden willen zugemeffen
war. Hinfort fteht Das Geſetz uns nirgends mehr im Wege, fondern
darf nur noch in Xiebesdienften fih am uns bethätigen. Nur zu une
fprechen darf's fortan: „Beſchauet die Gerechtigkeit, die ſich in mei⸗
nen Forderungen fpiegelt, und wiffet, daß Diefelbe jebt in Ehrifto Jefu
Die eure ift!“ Nur verfindigen darf es uns: „Seht, fo perſönlich
beifig, wie ich gebiete, daß man fei, werdet ihr einft Daftehn, wenn
die irdene Hütte, im der ihr noch zeitet, zerbrochen wird! Es if
nur noch Dazu beftellt, uns, denen jept eine Luſt beimohnt nadı dem
inwendigen Menſchen, demjenigen, der mit feinem Blute uns erfanfte,
durchaus zu Gefallen zu leben, im jedem einzelnen Falle zu eröfften,
was dem Herrn angenehm fei, und womit wer ihm obnfehlbar Dienen
können; umd nebenher feine Drohungen md feine Fläche uns zu zei-
se Das Heilige.
gen, wie ein überwundener Zeldberr Den Eiegern die Geicdäge zeigt,
welche jene mährend der Schlacht durch ihre Meifterichäffe dementir-
ten. Zu derartigen Ermeilungen nur noch it Das Geſeß ımö jeßt ver
pflihtet. Es it unier Zreund, ob es auch mitunter noch in finiire
Larven fi verfleidet, und aufs neue Das Saufen einer geſchwungenen
Ruthe uns hören läßt. Solches thurs nur, um in die Wunden Sein
uns zurüd, oder in diefelben noch tiefer uns binein zu treiben. Gaben
wir aber Ddiefe Freiſtadt wieder gemonnen, fo begrüßt es ıms aufs
neue in feiner wabren, durchaus veriöhnten Geftalt. Die feindliche
und bedrohliche Stellung zu uns bat es für immer verlaflen.
„Ehriftus if des Geleges Ende!“ DO, wer it fih bewußt,
dag er ein Sünder ift vor Gott, und läfe ſich jatt an Diefer Zeile?
An ihr fprudelt der Brunnen meines Friedens, fomwie im ihr Das
Sterbelied tönt, unter dem ich einit janft und felig zu entichlafen
hoffe.
2.
„Er bat fich felbit zu Gottes Sohn gemacht!“ So, ber
Wahrheit gemäß, das jüdiiche Voll. Pilatus vernahm's, und „fürch⸗
tete fih noch mehr, da er das Wort börete.“ Wir begreifen
dies. Tas Wort Hang mit jenen tiefiten Ahnungen zuſammen. War
ihm doch lange fchon dem Heiligen gegemüber, als fehe er ſich im
die Mitte überirdiicher Erfcbeinungen, ja in eine andre Belt ent⸗
rüdt. Die Erinnerungen an feine Kindbeitsträume von bimmlifchen
Weſen, die Wohlthat fpendend unter den Sterblichen erichienen feien,
von Götteriöhnen, welche die Erde mit ihren Beſuchen beglückten,
wachten, im Geleite erniterer Nachgedanfen nur, in feiner Seele wieder
auf; umd wenn es ihm auch nicht in den Sinn kam, binter der Perſon
des Nazareners einen ſolchen Abgeordneten des Olymps zu wittern,
jo trat ihm Doch die Realität einer höheren Welt fo fühlbar nahe,
daß er mit der Aufklärung feines Berftandes in Das größte Gedränge
fam. „Jeſus erflürte fih alfo felbit für Gottes Sohn!” Dies
dünft dem Procurator im höchſten Grade merkwürdig und bedeutfam.
Ales, was er an dem Manne mit eignen Augen wahrgenommen,
fheint ja nur Diefe feine Ausfage von feiner Perfon zu befiegeln. —
„Gottes Sohn!* Hätte Pilatus doch in einzelnen Momenten Yes
ſum fat felbit fo nennen mögen, bätte er dem Gefühl, das ihn übers
mannte, Worte leihen wollen: und was wäre an dem Wunderbaren,
wodurch es unglaublich würde, daß Er andrer Herkunft und höherer
Der Schluß de. Prozeſſes 518
Natur fei, als Die anderen Menfchen? Pilatus ift tief ergriffen. In
einem fo nie empfundenen geheimnißvollen Bangen fchauert fein Gemüth
zufanmen. Er muß gründlicher erforfchen, wer der Nazarener fet, und
zieht fid) zu dem Ende mit demfelben aufs neue in das Innere des
Nichthaufes zurück. |
Hier entfpinnt fih nun zwifchen den Beiden ein denfwürdiges Ge:
ſpräch. Pilatus eröffnet es mit einer Frage, die nichts Geringeres
als die Lebensfrage des ganzen Chriſtenthums einfchließt. „Bon
wannen bift Du?“ fpricht er. Ahr nehmt wahr, daß wir die Vors
gänge in feinem Inneren richtig beurtheilt haben. Er erkundigt ſich
mit feiner Frage nicht nach dem Fleden oder der Stadt, fondern viel
mehr nach der Welt, aus welcher Jeſus flamme. Er will wiffen,
ob er ein Kind der Erde fei, oder aus einer andern Sphäre der
Schöpfung, als die Dieffeitige, ausgegangen. Solches ift alfo felbft
einem Pilatus zum Problem geworden! Wie tageshell muß mithin
dem Herrn auch noch in feiner Knechtsgeitalt der Stempel der Ewigfeit
von der Stirn geleuchtet haben! — „Bon wannen bift du?" —
Man hört's der ganzen Betonung diefer Frage an, daß, wenn der Herr
erwiederte: „vom Himmel bin ich,* der Landpfleger nicht eben
befremdet zurüdebeben, fondern nur fprechen würde: „So hat mid
denn mein Ahnen nicht getäufcht; denn längft war mir's, als feift Du
nur ein Gaft und Fremdling hier auf Erden!“ Doch der Herr ertheilt
ihm eine ſolche Antwort nicht; ja erachter es für angemefien, den
Fragenden ganz ohne Beſcheid zu laſſen. Es darf ung dies nicht
befremden; denn mas hätte es dem Pilatus gefrommt, wenn vor fei-
nem Ohre jeßt das große Geheimniß verlautet wäre: „Im Anfang
war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das
Wort; und das Wort ward Zleifch?" Das Herz des Heiden war
biefür nicht zubereitet; md was aus feiner Bruft heraus nah Jeſu
Herkunft fragte, muß, genau befehn, mehr nur müßige Neugier, als
Heilsdurft und Hülfsbedürfniß heißen. Ueberdieß würde auch eine
ſolche Eröffnung über Ebrifti wahre Perfon und Natur die Vers
antwortung des Heiden nur noch vermehrt, und feine Verdammmiß
am jüngften Tage defto jchwerer gemacht haben; und fo geſchah es
denn zugleich aus Mitleid und verfchonendem Erbarmen, daß
Jeſus jene feine Frage lediglich mit Stillfchweigen uͤberging. Wie
wenig Pilatıs geneigt gewefen wäre, dem Scepter aud des erkmn-
ten Gottesfohnes ſich zu beugen, erhellt fchon zur Genuge aus dem
33
514 Das Hellige.
Verhalten, das wir ihn ummittelbar nach feiner Frage beobachten fe
ben. Denn wie Jefus ihm nicht aljobald mit einer Antwort zu
Dienften ift, glaubt er fih in jeiner Ehre gefränft, und fährt den
Herrn im Tone äußerfter Gereiztheit mit den troßigen und hochfah
renden Worten an: „Nedeft Du nicht mit mir? Weißt du nit,
Daß ich Macht habe, dich zu Ereuzigen, und Macht habe,
Dich loszugeben?“ — Hört diefe Rede! Wie tritt es hier wieder
fo bandgreiflih zu Zage, wes Geiſtes Kind er it! Ad, auch das
ſchoͤnſte religiöfe. Ahnen, Fühlen und Empfinden des natürlichen Men:
ſchen iſt nur eine flüchtig aufgefproßte und ebenfo flüchtig wieder ver:
'welfende Zrühlingsvegetation über einem moralischen Sumpfe. „Von
neuem geboren werden“ muß der Menſch, oder er bleibt unter
die Sünde verfauft, wie er es von Haus aus iſt, und fein Leben,
wie fittlich und chriftfich es fich fohmüde, wird nur eine ununterbrochene
Kette von Rüdfällen in das alte gottentfremdete Weſen fein. Hört
den Pilatus: „Redeft du nicht mit mir?“ Gebehrdet fich nicht
der Mann, als beginge der Herr, indem er ihm nicht fogleich den
verlangten Befcheid ertheilt, ein Majeftätsverbrehen? Weld eine
GSelbjterhebung, weldy' ein Hochmuth! „Weißt du nicht,“ fährt
ex fort, „Daß ih Macht habe, Dich zu Freuzigen, und Macht,
dich loszugeben?“ O Berblendung, o lächerlicher Bettelitolz ei-
nes Menſchen, der eben erſt, und obendrein noch feinen Untergebenen
gegenüber, eine Schwäche beurfundet hat, Die es ihm nicht mehr
geftatten follte, Das Wort „Macht, zumal, wo es fi von „Kreu—⸗
zigen” und „Freiſprechen“ bundelt, obne Errötben auch nur in den
Mund zu nehmen!
Doch hören wir den Herrn! Mit der majeltätifchen Ruhe feines
töniglichen Selbftbewußtfeins entgegnet er dem fo fühn und prahleriſch
auf feine Vollmacht pochenden Richter: „Du hätteft feine Macht
über mid, wenn jie dir nicht von Oben herab gegeben
wäre; Darum, der mich Dir übernutwortete, hat es größere
. Sünde” Ein hehres Wort, des Sohnes Gottes, des Herm vom
Himmel volllommen würdig! Nach Ddiefem Worte erjcheint Pilatus
als ein feinem Dafürhalten nach zwar jelbitändig und unabhängig
bandelndes, aber doch mur innerhalb beitimmter, von unfichtbarer Hand
ihm gezogener Grenzen jich bewegendes, und unbewußt einem erbabenen
Plane dDienendes Werkzeug des lebendigen Gottes, Er vermag nichts
mehr, als wozu ihn Gott ermächtigt. Trotz feiner Feigheit und Ge⸗
Der Schtuß bei Prozeſſes sı8
wiffenstofigkeit hätte er Jeſum feinen Mördern nicht einmal uͤberant⸗
wortet, wenn dieſe Ueberantwortung nicht im Himmel befchloffen ge
weſen wäre. Freilich wandelt er feinen Weg, aber in Gängelbanden,
um welche er nicht weiß. Freilich trägt er feine Schuld; aber fl
verfchuldend, fördert er ein großes, heiliges Werk, das er nicht kennt.
Dem demüthigen und befchämenden Worte läßt jedoch der Herr alfo-
bald ein andres und tröftlicheres folgen. „Darum,“ ſpricht er, „der
mich Dir überantwortete, Der hat es größere Sünde!” Pi⸗
latus hatte Die Aeußerung Jeſu von der ihm, dem Landpfleger, vom
Oben herab gegebenen Macht nicht verftanden, und den Herm darob mit
Befremdung und Bewunderung angefehn. Auf eben diefes fein Nichtvers
ftehn aber, das in jeiner ſtutzig Fragenden Gebehrde fich wiederfpiegelte,
bezieht fih Das „Darum“ des Herrn. „Weil du mich nicht kennſt,“
will der Heiland fagen, „noch weißt, wozu ich in die Welt gefommen
bin, trägit du geringere Schuld als der, der mid) dir in die Hände
ſpielte.“ Letzterer war zunächft der Hohepriefter Kaiphas, dieſer Sohn
Abrahams, diefer Meiſter in Iſrael, der im Lichte Moſis und der
Propheten aufgewachfen war, und mithin wußte, was der Name
„Gottesfohn‘‘ bedeute, und in der Lage fi befand, Ddiefen Sohn
Gottes in Ehrifto zu erkennen. Nichtsdeftoweniger ſprach er über den
Herrn ald über einen Bottesfäfterer das Todesurtheil aus. Diefe Sünde,
weil in der Tageshelle biblifcher Erleuchtung, und wider befferes Wifs
ſen und Gewiffen begangen, war eine größere. Sie war e8 darum,
weil fle nicht aus Schwäche, Tondern aus Vorſatz, nicht aus Webers
rumpelung, fondern mit Ueberlegung, nicht aus Feigheit, fondern aus
Bosheit begangen wurde, Benerft aber, wie der Here hier wieder
ſo groß erfcheint. Wie erweift er fih bier mfs neue als den König
über Alle, ja, als den Weltenrichter! Mit der Sicherheit eines umfehls
baren Herzenstündigers wägt er in der Wage des Heiligthums Suns
den und Schulden ab, beftimmt das Maß der zufünftigen Strafen,
eröffnet zugleich dem unglücklichen Pilatus noch eine Ausficht auf
Gnade und mögliche Vergebung, und läßt in letzterem Zuge aljo auch
wieder fein mitleidiges, nach der Rettung der Sünder Durftendes
Heilandsberz in die Ericheinung treten.
3.
Die Worte des Herrn haben auf das Gennith des Landpflegerd
ihre Wirfung nicht ganz verfehlt. Wohl fühlt er das Erhabene wie
das Wohlwollende und Kiebevolle durch Diefelben deutlich bindue), und
516 Dad Heilige.
findet fih in Folge deifen veranlaßt, auf die Richterbühne zurückzu⸗
fehren, und den Verſuch, Jeſum loszulaſſen, mit neu angefachtem Eifer
zu wiederholen. Da aber droͤhnt von unten ber das Wort zu ihm
herauf, das fehon beim Auslaufen aus dem Hafen im Schifflein fei-
nes auten Willens Maft und Ruder ihm zerfchmettert. „Läffeft Du
Diefen los,“ fchreit das Bolt, „fo bift du des Kaifers Freund
nicht; Denn wer ſich zum Könige macht, (wie diefer dein Schüß-
fing dort,) ift wider den Kaiſer!“ Diefer Ruf traf die ſchwächſte
und verwundbarfte Seite des Procurators. Er kannte feinen Herrn,
den Kaiſer Tiberius, zu wohl, um nicht vworherzufehn, daß eine An:
Hage, wie die eben gegen ihn erhobene, wenn fie zu jenes Obren
gelange, in feinem argwöhnifchen Gemüthe einen nur zu ſtarken An-
Hang finden, und ihm, dem Proconful, fein Ant, und wer weiß, was
Alles fonft noch often würde. Es ftand ihm außer Zweifel, der
Kaiſer, unter dem, wie ein gleichzeitiger Gefchichtsfchreiber berichtet,
das Verbrechen der Majeftäsverleßung den Höhepunkt aller Befchuldi-
gungen bildete, werde ohne vorhergegangene Unterfuchung das härtefte
Urtheil über ihn fprechen, fobald er vernehmen würde, fein Statt:
halter habe einen Menfchen in Freiheit gefegt, der Miene gemacht,
fih zum Könige über Iſrael aufzumerfen. Des Kaifers Gunft galt
aber dem Pilatus über Alles; denn mit ihr ftand und-fiel Die amtliche
Würde, die er befleidete. Sa, des Kaifers Zorn würde feine Freiheit
und fein Leben bedrohet haben; und daß es auch Diefe Güter der Ge:
rechtigfeit und der Ruhe des Gewiſſens zu opfern gelte, Das ftand dem
Pilatus fehr in Frage. Später hat er hierüber freilich wohl anders
geurtheilt, fowie auch Manche unter und, denen es heute gleichfalls
noch fraglich zu fein fcheint, ob der Friede Gottes der Güter höchftes
fei, die Sache fpäter wohl einmal in einem andern Lichte anfchauen
werden. Helfe nur Gott, daß Ddiefen die Stunde ihres „Nüchtern:
werdens aus des Teufels Strick“ nicht zu fpät, d. h. nicht erft Dann
erfcheinen möge, wenn feine Wahl mehr für fie fein wird, weil über
fie, die wider befferes Wiſſen und Gewiflen zu lange und zu hart
nädig fi den Fluch erwählten, das Gericht der Verftodung bereits
hereingebrochen ift.
Sobald Pilatıs das unglüdfelige Wort: „So bift du des Kai-
fers Freund nicht!“ vernommen bat, ift auch feine legte Wider:
ftandsfraft gebrochen. Zwar gibt er feine Bemühungen, Jeſum dennoch
in Freiheit zu feßen, noch nicht gänzlich auf; aber was er zu diefem
Der Schluß des Broseffeb. 517
Ende noch unternimmt, das ımternimmt er ſchon mit dem verzweifeln-
den Bemwußtfein, es fei an einen erwünfchten Erfolg nicht mehr zu
denfen. Mit dem unftäten Wefen eined Mannes, der fich völlig und
unrettbar aus dem Felde gefchlagen fieht, tritt er aus dem Präto⸗
rium noch einmal hervor, führt den Berflagten abermals mit fi auf
die Bühne, befteigt mit erfünftelter Feierlichleit den marmornen Rich:
terftuhl, und beginnt von da aus aufs neue das Volk zu haranguiren.
Was er aber jegt noch vorbringt, das zeugt Alles nur von der gren⸗
zenlojen Verwirrung, die jetzt in feinem Innern berrfcht, und erſcheint
wie Darauf berechnet, fein Vorhaben vollends zu vereitelt. „Sehet,”
ruft er, hindeutend auf den zerrifienen, ſchmachbedeckten Dulder, „das
ift euer König!” — Wer fühlt e8 diefem Zuruf nicht ab, daß ein
Gemiſch von Mitleid mit dem Mann der Schmerzen und von gallen-
bitterem Hohn gegen die verhaßten Juden ihm denjelben eingab. Er
will zu gleicher Zeit die legteren zu Jeſu Gunften fimmen, und ihnen
einen empfindlichen Schlag verfeßen. Natuͤrlich empfand das Bolt
nur den giftigen Stachel feiner Rede, und nicht deren Rührkraft; und
was Pilatus bei einigem Nachdenken fich hätte vorherfagen können,
das gefchieht: wie eine giftgefchwollene Natter fährt die in ihrem
Ehrgeiz gekränkte Menge wider ibn auf, und fchreit entfchloffener,
gereizter, wuthentbrannter, als zuvor: „Weg, weg mit Diefem;
freuzige!” Sept verliert Pilatus alle Haltung. Die Leidenfchaft
rüdt ihm fogar den Zweck feines Bemühens aus den Augen. Wie ein
Wahnfinniger fein eignes Hausgeräth, fo zertrümmert er felbft die
(este Hoffnung, die für Jeſu Rettung etwa noch vorhanden ift, indem
er, Del gießend in das Ichon hell genug lodernde Feuer der Volls⸗
wuth, hämiſch und mit bitterem Sarkasmus der tobenden Maffe zuruft:
„Soll id euern König freuzigen?” — „Mich,“ will er fagen,
„gedenkt ihr bei dem Kaifer al8 den Beſchützer und Mitverfchworenen
eines Aufrührers anzufchwärzen; aber Die Rebellen feid ihr, denn
bier fteht ja das Haupt, um das ihr mit euern Huldigungen eud)
geſchaart!“ — Doch, er weiß felbft nicht mehr, was er fpricht, Innere
Gefchlagenheit und Verzweiflung, verpaart mit ohnmächtigem Rache⸗
durſt umd Tächerlichem Uebermuth laſſen ihn fhon irre reden. Die
Hohenpriefter wiſſen dagegen die Befonnenheit ſich beffer zu bewahren.
Auf das höhnifhe: „Soll ih euern König kreuzigen?“ find
fie alfobald mit einer Antwort zur Hand, die zwar auf fie felbft ein
entfegliches Licht wirft, aber nicht gefchiekter gewählt werden Zonnte,
dis Das Heilige
wenn es Darauf abgeſehn war, durch fie dem Landpfleger Deu meora⸗
liſchen Todesſtoß zu geben. Mit erheuchelter Loyalität und Gegeben
heit gegen den römifchen Oberherrn fchreien fie ihm kurz und bündig
zu: „Bir haben feinen König, als den Kaiſer,“ und geben ſich da⸗
durch den für Pilatus fehr bedrohlichen Schein, als feien fle. es, bie
flatt feiner, ja fogar gegen ihn, Die gefährdete Autorität und Die
Kronrechte des Kaifers wahrend zu vertreten hätten. Der Gedanke
aber, es könne die Sache in gleicher Weife auch von Ziberius an-
gefehn werden, fo wie die Vorftellung der furdhtbaren Strafe, welche
derfelbe, falls in feiner finfteren Seele der Verdacht Wurzel fchläge,
das unterjochte fremde Volk fei ihm treuer gefinnt, ald Die eignen
Diener, über ihn, den LZandpfleger, verbängen würde, ſchlagen den-
felben gänzlich dDarnieder. Das Volt möge denn nun mit Jeſu machen,
was ihm beliebt; Pilatus gibt ihn preis. Das Boll hat den voll
ftändigften Sieg davongetragen; aber wehe, wehe dem armen unglüds
feligen Volke! Mit dem beuchleriichen: „Wir haben feinen Kös
nig, als den Kaiſer!“ worin ed wie den wirklichen Mefftas, fo
feine Meifiashoffnung überhaupt verleugnete, bat es die Parabel
Jothams von den Bäumen, die fi) den verzehrendes Feuer fprühenden
Dornbufch zum König erwählten, zur Erfüllung gebracht, und unbewußt
für Sahrtaufende fich felber Fluch geweiffagt und das Urtheil gefprochen.
Bis zu diefer Stunde haben die Juden feinen König mehr, fondern
leben recht= und heimathlos nur als geduldete Beifaffen unter frem-
den Sceptern.
Wir fcheiden von Pilatus. Nicht ohne tiefe Wehmuth jagen wir
dem beflagenswerthen Manne Lebewohl. Er war zu Beſſerem ange:
legt, ald wozu wir mit Schaudern ihn ſich entwideln fahen. Er ge
Dachte aber zween Herrn zu Dienen: dem Gott, der auch in jeinem
Bufen ſprach, und zugleich der Welt; und daher fein Fall und jein
Berderben. Er wollte das Rechte, aber er wollte es nicht ganz.
Er empfand edel, aber er gub dem göttlichen Geifte nicht Raum,
dag er die Empfindung in ihm zu entichloffenem Willen und durch⸗
haltender Gefinnung feſtigte. Die Saat aller der heiligenden Ein;
drüde, deren er theilhaftig ward, fiel unter Die Dornen feines un⸗
gebrochenen Hochmuths und Weltfinnes; und Dieje gingen auf und
überwucherten und erftidten fie. Pilatus fiel als Opfer feiner Halb»
berzigleit und Charakterſchwäͤche, wie als folches ohne Unterlaß Un⸗
— — — — u >
Der Schinß des Prozeſſes 519
zaͤhlige, oft im Schmucke der fchönften Negungen und GntfchlteBun-
gen, der Gewalt des Satans zur Beute werden. Ueber Ben ferneren
Lebensgang des Nömers find uns nur fpärliche Kunden erhalten wors
den. Wir wiffen blos, daß feine innere Stimmung von Jahr zu
Jahr fich mehr verdüſterte, und feine Härte wuchs, woraus wir nicht
ohne Grund die Folgerung ziehn, daß ſein Friede dahin war, weil
das Gewiſſen ihn wegen der an dem Heiligen Iſraels begangenen
himmelſchreienden Ungerechtigkeit verdammte. Schwerer Bedruͤckun⸗
gen halber, die er ſich nachmals erlaubte, wurde er im letzten Re⸗
gierungsjahr des Tiberius durch den Proconſul von Syrien dennoch
ſeines Landpflegeramtes entſetzt, und als Verbannter nach Gallien
verwieſen. Ob er in feiner Exulanteneinſamkeit etwa noch zur Beſin⸗
nung fam, und „den König der Juden“ in feiner Mittlerherrlichkeit
und BVerfühnerglorie erkennen lernte? Der Zluchbrief, der über des
Pilatus Haupte ſchwebte, war deutlich genug gefchrieben, um uns
hoffen zu laſſen, der Inhalt Defielben werde ihm noch zum Betbußt⸗
fein gelangt fein, und ein Verlangen nach Entfündung und Gnade in
ihm entzündet haben. — Die Kirchenväter reden von „Akten“ bes
Pilatns, die derfelbe über Das gerichtliche Verfahren gegen Jeſum umd
Aber Jeſu Sterben dem Kaifer Tiberius eingefandt, und durch melde
er dieſen veranlagt habe, Ehriftum unter die Götter aufnehmen zu
kKıflen. Wir haben nicht Urfache, die Wahrheit diefer alten Ueberlie⸗
ferung zu bezweifeln, und möchten's im Intereſſe derer, bei denen der
Glaube an die übermenſchliche Majeftät Ehrifti noch nicht Wurzel
ſchlagen will, ernftlich bedauern, daß jene Urkunden verloren gingen.
Doch ſcheint mir verherrlichende Schupfchrift für Zefum genug Das
ganze Verhalten ſchon zu fein, welches wir den Heiden Pilatus der
Perſon Jeſu gegenüber beobachten fehn. Als ein Zeuge für die Hei⸗
figfeit und übermenfchlihe Hoheit des Herm vom Himmel nimmt
Pilatus feine Stelle im apoftolifchen Glaubensbekenntniß ein; zmaleich
aber als Zeuge, daß Ehriftus nicht blos nach menſchlichem Willen and
Nat, fondern in Gemäßheit eines göttlichen Erlöfungs- und Gnaden⸗
planes dahingegeben und gefreuzigt wurde,
Wir Schließen, und zwar unter nachdenklicher Rüderinnernng an das
Wott des Herrn: „Wer nicht mit mir ift, der ift wider mich;“
des Apoſtels Wort: „Es tft ein Löftlich Ding, daß das Herz fefl
werde, welches gefähieht duch Gnade;“ und an die Bitte Des Pfal⸗
: „Erhalte meinen Gang auf Deinen Fußſteigen, daß meine
520 Das Heilige.
Zritie wicht gleiten,“ — und itimmen von Herzen ein in den Genfer
in Degebren nit erfüllen!
und ſtets in Waffen wachſam fch’n,
durch Gebet von Kraft ıu Kraft zu geb’! — Amen
E
—
a
— —
XLIII.
Die Marterftraße.
Als einft der Erzvater Jakob, zweifach bedrobt von ſeinem Schwaher
Laban und feinem Bruder Eſau, jorgenichmeren und befimmerten
Herzens an der Spige jeiner Heerden und Hirten dabin zog, begeg⸗
neten ihm (nadı 1. Moje 32, 1 und 2) „die Engel Gottes.-
Staunend jah er das leuchtende Heer daher ziebn, und nannte die
Stätte „Mahanaim“, d. i. „DoppelsZager,“: denn fein Geleit
hatte fih in lieblichfter Weiſe verzwiefacht. DO, wie kam jene Er-
fheinung aus der unfichtbaren Welt dem vielgeprüften Pilger in jenem
Augenblid fo wohl zu Stätten! Was hätte ihn in feiner Bedrängniß
nachhaltiger ermutbigen fönnen, ala ſolche Begegnung? Wenn fi
das holde Geſicht auch bald wieder einen Blicken entzog, ſo wußte
er doch, Daß es feines Herrn und Gottes Abficht geweſen ei, ihm
nur einmal für einen Moment die unfichtbare Schirmwacht zu ent:
ſchleiern, welche jederzeit ihn umgebe, und auf Die er allewege zu
rechnen befugt ſei. Jakob war fehr, jehr frob, und bevor David es
noch ausfprach, hat des Erzpaters Seele ſchon frohlockt: „Der Engel
des Herm lagert fi um die ber, die Ihn fürchten, und büft ihnen
aus!"
Denft aber, welche Ehre für arme Sünder, im Geleite bimmlijcher
Gefährten ihre Straße zu ziehen! Welche Beruhigung für die Wan⸗
derer im Thränenthal, fich in der Liebeshut der „itarfen Helden“
geborgen zu willen, Die allegeit das Angefiht ihres Vaters fehn im
Himmel! — Wie aber kommen Adams gefallene Kinder zu ſolcher
Die Marterftraße. 521
Auszeichnung und Erhöhung? — Wißt ihr nicht, wie fie Dazu gelang:
ten, fo follt ihr e8 heute im Wege eigner Anſchauung erfahren. Sie
verdanken fo unvergleichlichen Vorzug einem Manne, der für fie einen
Gang that, auf welchem freilich feine „Mahanaim“ ihm begegneten.
Auf dieſen Gang richte fi) heute unfer betrachtender Blid, Moͤge
die aanze Bedeutung defielben fih uns erfchließen!
Matth. 27, 31. Marc. 15, 20. Joh. 19, 16.
Da überantwortete er ihn, baß er gefreuziget würde. Da fle ihn verfpottet hatten,
nahmen fie Jeſum, zogen ihm den Purpurmantel aus, und zogen ihm feine eignen
Kleider an, und führten ihn hinaus, und hin, dad fie ihn freuzigten. Und er trug fein
Kreuz, und ging hinaus zur Stätte, die da heißet Schädelftätte, welche heißt auf
ebräifh: Gabbatha.
Ein Lämmlein geht uud trägt die Schuld
Der Welt und ihrer Kinder;
Es geht und träget in Gebuld
Die Sünden aller Sünder.
Es gebt dahin, wird matt und krank,
Es gibt ih auf die Würgebank,
Berzihr’t auf alle Kreuden.
Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott,
Angſt, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod,
Und ſpricht: Gern will ich's leiden! —
Heute, Geliebte, jehen wir dieſes uns Allen fo wohl befannte Dich-
terwort buchftäblih wahr und wirklich werden. Der große Sünden⸗
träger gebt feinen lebten Gang für uns, den Gang zur Schlachtbant
und zum Sühnaltar. Geben wir ihm im Geifte auf feiner Marter-
firaße das Geleit, und fehen wir zuerft, wie er in leßtere übers
antwortet wird; dann, was an der Schwelle derſelben ihm
widerfährt; und endlich, wie.er fie wirklich antritt.
Möge auch in und eine Wahrheit werden, was wir Ddenfelben
Sänger, deffen Worten wir eben laufchten, fo brünftig geloben hören:
„Mein Lebensbächlein ſoll fih Dir und Deinem Namen für und für
in Dankbarkeit ergießen; und was Du mir zu gut gethan, das will
ich ftets, fo tief ich kann, in mein Gedächtniß fchliepen! ”
1.
„Da überantwortete Ihn Pilatus,* bebt unfre heutige Ge
ſchichte an. Wie das fo traurig, fo erjchütternd klingt! Armer Pilatus!
wenn du wüßtefl, wen, und was Alles du in diefem Manne bins
520 Das Heilige.
Zritte nicht gleiten 3“ — und ftimmen von Herzen ein in den Genfer
des kirchlichen Sängers:
Ach, lege deinen edlen Geilt
Uns zur Beſatzung in ben Willen,
Dad, wenn und Satan fünd’gen heißt,
Wir fein Begehren nicht erfüllen!
3a, laß uns ſtets in Waffen wachſam ſteh'n,
Um durch Gebet von Kraft zu Kraft zu geh’n! — Amen.
— ¶ ——
XLIII.
Die Marterſtraße.
Als einſt der Erzvater Jakob, zweifach bedroht von feinem Schwäher
Laban ımd feinem Bruder Ejau, forgenfchweren und befimmerten
Herzens an der Spige jeiner Heerden und Hirten dahin zog, begeg:
neten ihm (nach 1. Mofe 32, 1 und 2) „Die Engel Gottes.
Staunend ſah er das leuchtende Heer daher ziehn, und nannte Die
Stätte „Mahanaim”, d. i. „Doppelsfager,*: denn fein Gelat
batte fih in lieblichfter Weife verzwiefadht. O, wie kam jene Er
fiheinung aus der unfichtbaren Welt den vielgeprüften Pilger in jenem
Augenblid fo wohl zu Statten! Was hätte ihn in feiner Bedrängniß
nachhaltiger ermuthigen können, als folche Begeanung? Wenn fid
das holde Geficht auch bald wieder jeinen Bliden entzug, jo wußte
er Doch, daß es feines Herrn und Gottes Abficht geweſen ſei, ihm
nur einmal für einen Moment die unfichtbare Schirmwacht zu ent
fehleiern, welche jederzeit ihn umgebe, ‚und auf Die er allewege zu
rechnen befugt ſei. Jakob war fehr, jehr froh, und bevor David es
noch ausfprach, hat des Erzvaters Seele ſchon frohlodt: „Der Engel
des Herrn lagert fih um die ber, die Ihn fürchten, und hilft ihnen
aus!“
Denkt aber, welche Ehre für arme Sünder, im Geleite himmliſcher
Gefährten ihre Straße zu ziehen! Welche Beruhigung für Die Ban
derer im Thränenthal, fich in der Liebeshut der „ſtarken Helden‘
geborgen zu wiffen, die allezeit das Angeficht ihres Vaters fehn im
Himmel! — Wie aber kommen Adams gefallene Kinder zu folder
Die Marterhräße. 521
ng und Erhöhung? — Wißt ihr nicht, wie fie dazu gelang-
ollt ihr es heute im Wege eigner Anſchauung erfahren. Sie
ı fo unvergleichlichen Vorzug einem Manne, der für fie einen
at, auf welchem freilich Feine „Mahanain“ ihm begegneten.
m Gang richte ſich heute unfer betrachtender Blid, Möge
: Bedeutung defielben fih uns erjchließen!
Matth. 27, 31. Marc. 15, 20. Ich. 19, 16.
rantwortete er ihn, daß er gefreuziget würde. Da fle ihn verfpottet hatten,
Jeſum, zogen ihm den Burpurmantel aus, und zogen ihm feine eignen
‚ und führten ihn hinaus, und hin, daß fie ihn freuzigten. Und er trug fein
d ging hinaus zur Stätte, die da heißet Schädelftätte, welche heißt auf
Babbathe.
Ein Lämmlein geht uud trägt die Schuld
Der Welt und ihrer Kinder;
Es gebt und träge in Geduld
Die Sünden aller Sünber.
Es gebt dahin, wird matt und krank,
Es gibt fi) auf die Würgebank,
Verzicht't auf alle Kreuden.
Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott,
Angſt, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod,
Und fpridt: Gern will ich'ß leiden! —
Geliebte, jehen wir diefes uns Allen fo wohl bekannte Dich⸗
suchftäblic wahr und wirklich werden. Der große Sünden-
ht feinen legten Gang für uns, den Gang zur Schlachtbank
Sühnaltar. Geben wir ihm im Geifte auf feiner Marter-
18 Geleit, und fehen wir zuerft, wie er in leßtere über-
tet wird; dann, was an der Schwelle Derjelben ihm
ihrt; und endlich, wie.er fie wirklich antritt.
auch in uns eine Wahrheit werden, was wir Denfelben
deffen Worten wir eben laufchten, fo brünftig geloben hören:
tebensbächlein foll fi Dir und Deinem Namen für und für
barfeit ergießen; und was Du mir zu gut gethan, das will
. fo tief ich kann, in mein Gedächtniß ſchließen!“
1.
überantwortete Ihn Pilatus,* bebt unfre heutige Ge⸗
n. Wie das fo traurig, fo erfchütternd Mingt! Armer Pilatus!
; wüßte, wen, und was Alles du in diefem Manne bins
522 Das Gelfike.
giebt! Wir haben nur erſt ein Weniges gekoſtet won feinem Hin⸗
melbrod; aber es ift fein ‘Preis in der Welt zu nennen, um den wir
Ihn bingeben würden. „Herr, wohin ſollen wir geben! Da kek
Worte des ewigen Lebens!“ — Sa, Freunde, theils geftügt auf bie
anädige Bewahrung, die Er jelbft und zugeſagt, theils gedrutzta
von Der lebendigen Empfindung, daß wit Ihn ſchlechthin nicht uch
entbehren fönnen, fprechen wir in großer Zuverficht mit der Braut
des Hohenliedes: „Ich halte Ihn, und werde Ihn nicht lat
fen, bis ih Ihn bringe in meiner Mutter? Haus, in meiner
Gebärerin Kammer!’ — Ueberhäuft und mit Schimpf und Schmach;
feheltet uns „Finſterlinge“, „Froömmler“, und wie ihr wollt; wir ar
men Sünder werden ewig darob frohloden, daß wir den gefmiben
haben, der vor dem fehauerlicheren Schelten des allmächtigen Gottes
uns ficher ftellt. Nehmt, wenn es euch beliebt, uns Haus und Hof,
entzieht uns Amt, Brod und was immer fonft: was iſts? Gollten
wir Den darum fahren laffen, der für himmlifches Obdach ums forgt,
und das Manna der Ewigfeit uns bricht? — Nein, nimmer, nimmer!
Schleppt uns zu Folter und Blutgerüſt, zerfchellet, zerfägt, zerfcheitert
uns: fo wahr der Herr lebt, werden wir noch mit unfern zudenden
Faſern Den umfaffen, ohne den wir uns auf ewig der Hölle preis
gegeben wüßten! Freilich befennen wir mit tiefer Beugung, daß anch
wir noch häufiger Verleugnungen Seined Namens uns fchuldig me
hen; aber fam e8 dazu, fo gehen wir bitterlidh weinend mit Petrus
hinaus, und, nachdem Er aufs neue uns getröftet, ſprechen wir aufs
neue mit verftärktem Nahdrud: „Wir überantworten Ihn niemals
mehr! Wir verzichten auf die Freundfchaft, Die Gunft und Ehre Sei:
ner Widerfacher! Ob und die ganze Welt geboten würde, Jens iſt
uns für nichts mehr feil! Unfre Einigung mit Ibm trägt den Stan:
pel, trägt die Signatur der Ewigkeit!“
„Da überantwortet er ihn.“ — Großer, verhängmtßvoller Au:
genblid! O, wenn Pilatus ahnete, weſſen Werkzeug er in biefem
Momente fei! Aber er kennt weder das fo ſchmählich Preis gegebene
Wort: „Alle hat Gott die Welt gelicht, daß er feinen emgeborenen
Sohn dahingab,“ noch den Ausſpruch des Apoſtels: „Der auch fe
nes eignen Sohnes nicht verfchonet bat, fondern hat Ihn für und
Alle dahin gegeben, wie follte Er uns mit Ihm nicht Alles fchenfen?"
Uns find diefe Zeugniffe bekannt; wir wiſſen um ihre geheimmißvekt
Tiefe, und ſenken unter dem Klang der Worte: „Da Äberantwor
Die Marterſtraße sas
eteer Ihn“ das Haupt zur Bruft, und finken nieder, und beiten an
m Staube — „ Da.” — Sa, jebt durfte e8 geſchehen. Er war num
tig und zubereitet fin den legten großen Sühnungsakt. Das Gefeß
atte Er erfüllt, jede Glaubensprobe fiegreich beftanden, in allen Feuer⸗
geln als ein lauteres, fchladenreines Gold ſich ausgewieſen. Er war
as „Lamm ohne Fehl“, der Gehorjame fonder Gleichen, und ein
olches Opfer eben war's ja, das von dem Gott der Heiligfeit er⸗
wdert wurde. Gr mußte ſich erft krönungswürdig erfinden laſ⸗
m, bevor er fähig war, fremden Fluch zu tragen. Jeßt its geſche⸗
en. „Da gab er Ihn hin.“ — Schließt den Tempel jebt, ihr
Sbhne Aarons! Die Bilder und Schatten, mit denen ihr verfehrtet,
aben ausgedient, nachdem der „Körper“ erjchienen ift. Legt Stirn⸗
inde und Bruftfchild ab, ihr Pfleger des Heiligthums; denn wiffet,
aß mit Beiden urbildlich jegt ein Andrer ſich fehmüdte, und
wer Prieſterthum zu Ende iſt. Ya, eigentlicher, als ihr, ift ſelbſt
zilatus jegt ein Hoherpriefter, indem er das wahre Sühn⸗
pfer zur Schlachtung überliefert; und jener kahle Hügel Dort, der
innen Kurzem Die Drei Todespfähle tragen wird, überragt an hei⸗
ger Bedeutung eure Altäre, ja wird fie für immer unter fid) begraben.
m dem Momente, da der Römer Jeſum feinen Mördern preisgab,
ad, — fo denfe ich mirs, — die vollendeten Gerechten droben an-
etend auf ihre Angefichter bingefunfen; denn ihnen war es ja nicht
erborgen, was in jenem Alkte Drunten eben Großes und Folgenret-
es vor fih ging. Sollte doch jetzt dem Schloß der Seligfeit, in
em fie, theilweife feit Jahrhunderten bereits, ihr Hallelujah fangen,
achträglich das Fundament unterlegt, und für die Lebenskrone,
ı der fie längit ſchon prangten, der bis dahin noch ungezahlte blutige
reis entrichtet werden. Ihre Aufnahme in die Wohnungen der Se
gfeit geſchah einft lediglich unter der Borausfegung und auf Grund
nes fpäter für fie zu zahlenden Löſegeldes; und dieſe unumgäng-
de Bedingung fahen die Verklärten mın auf Erden zur fchließlichen
zollziehung kommen. — Wer wars, den Pilatus bingab? Ein
Rann; aber in dem Einen eine Schaar, die Niemand zählen konnte;
ı Alle, Alle in dem Einen, die je mit Lebterem in Glauben und
iebe ſich vergliedern würden. — Sehet, Freunde, idy bin ein Sünder,
leich wie ihr, umd habe dennoch tiefen, feligen Frieden. Leider!
wehe auch ich wider Willen meine Schuld noch täglidy größer; aber
uwe iſts von mir, Daß ich um deßwillen verzagen und werzweifeln ſollte.
524 Das Heilige.
Wohl tenne ih das Wort: „Ich will den aus meinem Buche tilgen,
der an mir fündigt;* aber bin mir nichtsdejloweniger mit Freuden
bewußt, daß mein Name im Himmel angefchrieben fteht. Wohl weiß
ih: „So Jemand das ganze Geſetz hält, und veritößt an Einem mr,
der ift des Ganzen ſchuldig;“ aber das Geſetz macht mid) darum Doc
nicht mehr zittern noch zagen. Wohl höre ich den heiligen Sänger
rufen: „Du bift nicht ein Gott, dem gottlofes Weſen gefällt; wer
böfe ift, bleibt nicht vor Dir;“ aber dennoch, wie ich mich auch felbft
verdammen muß, hoffe ich zuverfichtlich, ewig vor Gott zu bleiben.
Wohl lefe ich im alten, wie im neuen Teftamente: „Unſer Gott ifl
ein verzehrend Feuer;“ aber das hindert mich nicht, als ein liebes
Kind mit einem: „Abba, mein Vater!“ in diefes Gotte Arme mid)
zu werfen. — Ihr fragt erjtaunt, von wannen ich mir foldye Freiheit
nehme? — Ich weije euch fehweigend nad Gabbatha himiber. Dort
findet ihr die Löfung des wunderbaren Räthfels. In dem Wanne,
den dort Pilatus bingibt, wurzeln meine Hoffnung und mein Friede.
Denn ich war's, der, mit Ihm bingegeben, in Ihm feine Sunde
büßte, feine Schuld bezahlte, und die Gerechtigkeit erwirfte, der Die
Krone verheißen if. Er war mein Bürge und Vertreter; Er ftand
an meiner Stelle; und fo iſt's nunmehr an mir, zu jubeln: „Was
kann mir jet noch fchaden der Sünden große Zahl? Ich bin bei
Gott in Gnaden! Die Schuld ift allaumal bezahlt durch Ehrifti theures
Blut, daß ich nicht mehr darf firsten der Hölle Qual und Glut!“
Die Heberantwortung ift vollbracht. Der Herr Jeſus befindet fi
in der Gewalt feiner Feinde: ein Lamm unter Wölfen, eine Taube
in der Geier Krallen! O wie hatte David Recht, daß er lieber in
Gottes, als in der Menfchen Hände fallen wollte! Sebet, wie fie
den Heiligen dort zwifchen haben. Aufs neue begeifern fte Ihn mit
den ausgefuchteften VBerhöhnungen, reißen ihm dann fehonungslos und
tob von feinen bluttriefenden Gliedern den PBurpurmantel wieder ab,
und legen Ihm feine eigenen Kleider wieder an, nicht aus Mitleid
etwa, jondern weil ihnen dünft, daß die ſchauerliche Execution, zu
der man ihn abzuführen jeßt ſich anichidt, weniger mehr den Spaß
und Scherz vertrage, jondern einen gewiflen feierlichen Ernft erfor-
dere. — Sind nicht auch die neueren Feinde Ehrifti mit ihrem Ver⸗
fahren gegen Ihn in einem ähnlichen Stadium angelangt? — Als
vor fünfzig Jahren wie eine verpeftete Atmofphäre die franzöflfche
Die Marterftraße. 525
Aufflänmg über die Völfer ſich ergoß, da ftand Ehriftus wieder als
Spottfönig auf der Bühne der Welt; und wer Wik und Laune
zu befien glaubte, trug fie zu Markte, um Ihm und feiner Sache
Damit den Stempel des Lächerlichen aufzudrüden. Seitdem hat
der Prozeß eine amdre und ernftere Phyfiognomie gewonnen. Mit
ziemlicher Einmüthigfeit gefteht man in unfern Tagen zu, daß Ehriftus
für die bloße „Perfiflage” zu groß, zu edel fe. Man achtet feine
Perfon wie feine Lehre einer „wiſſenſchaftlichen“ Behandlung und
Beleuchtung würdig, und legt dem Schmachbedeckten in ſoweit feine
„eigenen Kleider‘ wieder an, als man Ihm die Ehre „eines der
MWeifeften und Zrefflichiten, die je Die Erde betreten,” unbedenklich,
zurüd gibt. Aber dieſe ganze Feierlichkeit ift, bei Licht befehen,
gleichfalls nichts Anderes, als eine folenne Einleitung zu einem Kreu-
zigungs-Akte. Chriftus wird — allerdings mit Anſtand und Ernft
— ‚im Namen der Wiffenfchaft” für einen bloßen Menſchen
erflärt, und Damit natürlich als ein Schwärmer, ja als ein Gottes:
fäfterer an's Fluchholz verwiefen, indem Er ja eidlich verficherte, Daß
Er mehr fei, al8 ein Menfch, und fomit nach dem Urtheil der neue-
ften Wiffenfchaft eines blasphemifchen Meineids fi ſchuldig machte,
Fürwahr, alles gegentheiligen Scheines ohnerachtet, iſt der antichri-
ftifche Geiſt feit einem Jahrzehnt nur in eine neue und bedenflichere
Entwidelungsphafe eingetreten, und feiner vollendeten Reife um ein
Bedeutendes näher gekommen. Hinter dem Hohn und Spott der
früheren Zeiten flad immer noch ein verflagendes Gewiffen, das man
gewaltfam nieder zu halten und zu betäuben ftrebte. Hinter dem neu:
ften Unglauben lagert die tieffte, hoffnungsloſeſte Todesruhe. Man
iſt fih mit philofophifhem Hochmuth der unumftöglichen Begrün-
dung feiner Anfchauungen von Ehrifto gewiß, und fo hat fich der
Unglaube zum „Eräftigen Irrthum“ ausgebildet.
Der Kleiderwechjel, der dort im Hofraum des Prätoriuns vorge-
nommen wird, gemahnt mic) zugleich an einen Akt aus unjerm eignen
Leben, Ic) fage: „aus unferm Leben,“ weil ich nicht zweifle, Daß
wenigftens Manche unter eudy mit mir daffelbe erfahren haben. Auch
wir hatten einmal in den Zagen unfrer Blindheit den Herm Jeſum
der Herrlichkeit feines angeftanmten Schmuds entkleidet, indem wir
Dies und Jenes Ihm abzuerlennen und vermaßen, und ebenfalls faum
etwas mehr, als einen jüdischen Rabbi, oder einen „Weifen von Na:
zareth” in Ihm übrig Tießen. Wie haben wir aber nachmals einge:
526 Des Heilige.
fenft, als Bott der Herr uns die Kleider mmferer ertränmten Gereil-
tigfeit abnabım, und uns im Spiegel eines Gefehes Die wahre Geftalt
unfres Innern zur Anſchauung brachte! Wie eilig, Immanuel! Tegten
wir da Teine „eignen Kleider“ Tir wieder un! Zuerfſt bekamft Du
von unfern Händen Deine Meſſiaskrone zurüd, dam Dein Ritt
ler- und Priefterkleid, und endlih Tein Ehrenfönigsriadem:
denn Das gewedte Bedürfniß unires Herzens batte uns den Blick für
Deine Schoͤne entzaubert und geichärft. Unter vielm Thränen der
Reue, wie der Bonne, Neideten wir Dich in Deine urſprüngliche
Gewandung wieder ein. Jetzt ftebit Tu in Deinem vollen, unver:
fürsten Echmude vor uns, und wir werden nicht mehr aufhören, nie
beugend vor Tir mit Jakob au frobloden: „Juda! Du biſts! Die
werden deine Brüder loben!“
Nachdem die Kriegsknechte ihre Vorbereitungen getroffen, tancdht,
nicht im Schattenriſſe mehr, iondern verwirklicht jetzt, Das furcht⸗
bare Zeichen auf, Das feitdem zur Standarte des Reiches Ehrifti und
zum Wahrzeichen ımfres Heils und unterer Hoffnung aeworden if.
Zwei Jahrtaufende hindurch wurde es immer neu den Gläubigen
Iſraels vor Augen gemalt. Schon in der eigentbümlichen Art, in
welcher der fterhende Alwater Jakob mit gekreuzten Händen feine
Enfel Ephraim und Manaſſe ſegnete, ipiegelte fih’s. Nicht minder
fbimmerte e8 Durch die ſogenannten „Webeopfer“ der heiligen Hütte
und des Tempels hindurch, welche bekanntlich in Der Weile hin und
ber beweat au werden vileaten, Daß Die Form eines Kreuzes zum
Vorſchein Fam. In der Witite erhob ſich Das Zeichen als Träger Dee
ebernen Schlangenbildes, und der Geiſt der Weiſſagung verwob es
mit in die Bildiprache Des Pſalters Davids, in dem er Den fünftigen
Meſſias die Worte auf die Lippen legte: „Sie baben mir Hände
und Füße durchgraben.” — Seher, dort trägt man co nun berzu.
Nach Roͤmerfitte mußten alle zur Strafe des Kreuzes Vermtbeilten
den Bulfen, an dem fie verbfuten follten, jelbit zum Richtplag tragen,
und auch der göttliche Dulder wird mit diefer Schmach und diefem
Mühſal nicht verihent. Ohne Barmberzigkeit legen fle auch Ihm
den graufigen Pfahl auf den wund aegeißelten Rüden; und nachdem
fie zwei ſchwere, zu demfelben Tode verurtheilte, und mit gleicher Lafl
bebürdete Verbrecher Ihm zum Geleit gegeben, öffnen fie Das Hoftbor
des Prätoriums nad) der Straße bin, um endlih Das lange ſchon
mit Ungeduld des erſchütternden Schaufpiels harrende Volk zufrieden
Die Marterſtraße | 1]
zu Hellen. Ein dumpfes Gemurmel teuflifcher Schadenfreude und tiefer
Deftürzung geht wie ein Meeresbraufen durch die Maffe, als die drei
Kreuzträger zum Borfchein kommen. — Der Zug ſetzt ſich in Bewegung.
Boran ein bemwaffnetes Geſchwader zu Fuß und zu Rob; dann von ih⸗
ren Henkern umgeben die drei Schlachtopfer mit ihren Gterbebetten;
binter dieſen die bürgerlichen und firchlichen Autoritäten der Nation,
und endlich Das nachdrängende u die unabfehbure Gaffermaſſe.
Wir fchließen uns ftill im Beifte an. D welch’ eine Straße, bie
wir bier betreten! — Denkt, fo führt die unglücielige Erde den
wieder ab, der in Engelgeleit und unter himmlischen Lobgefängen zu
ihr hernieder fam. So vergilt fie Ihm die unermüdfiche Xiebe, mit
der Er das Füllhorn aller erdenflihen Wohlthat und Gnade über fie
ausgoß! O, wer nod) geneigt ift, es zu bezweifeln, ob die Menſch⸗
heit ohne Dazwifchenkunft eines Mittler der ewigen Verdammniß
würdig war, der richte den Blick auf diefen Marterpfad und überzeuge
fih hier eines Anden! Denn warum wird der Heilige fo dahin
geichleppt, als weil man die Sünde zu brünftig liebte, um einen Mamm
nicht bis in den Tod zu haflen, der als den Erlöfer von derfelben
fi zu erfennen gab,
Sehet, dort wankt Er feuchend unter feiner fchweren Bürde bin.
Entſeßlich und grauenvoll it feine Lage. Alle feine Freunde haben
ihn verlaffen, und felbit der Himmel ſchweigt über ihm, als hätte
auch er fih von ihm losgeſagt. Die Jungfrau Veronika, — fo
meldet eine alte Sage, — tritt fchluchzend aus dem Volksgewühl zu
ihm heran, und trodnet ihm mit mitleidiger Hand den Blutſchweiß
von der wunden Stime, Zum Dank für diefen Dienft läßt ihr der
Herr Sein Bid in ihrem Tüchlein zurück. Es ift dies Dichtung num,
nur Legende; aber der Gedanke darin ift finnig und wahr. Wen
dig Liebe dem Heilande zuführt, dem drüdt Er als Geſchenk der Ge
genliebe Sein Bildniß, und zwar das dorngekrönte, in's Herz, daß,
wer ed von Ihm empfangen, es fortan als theuerftes Vermaͤchtniß mit
ſich trägt, und zeitlebens von dem Haupt voll Blut und Wunden das
Ayge nicht mehr wenden kann. — Einer andern Legende nad) trik,
wie Jeſus vorüber wandelt, der Jude Ahasverus aus feiner Hilte,
und verfeßt in teuflifchem Haffe Dem Heiligen Ifraels einen Fußtritt,
vor Dem derfelbe unter feiner Laſt zu ſchwanken beginnt, ja zu Boden
zu finfen droht. Dafür aeg donners auch den Frevler die Fluch
326 Dad Geige.
verfündigung an, daß er fortan umftät md rubelos in ber Welt
umberziebn und nicht ſolle iterben können, bis der Herr wiederfoume.
Ahasverus it der „ewige Jude.“ Auch bier if’& wieder eine Mu
the, mit der wirs zu tbım baben; aber and fie bat ihre Wahrheit
amd ihren tiefen Zinn. Der „ewige Jude“ it dus Volk Ifrael
felbit, Das den Herm ber Herrlichkeit gefremigt hat, und im Düme-
niſchem Wabne die gräßliche Verwünſchung über fi ausſprach: „Sein
Blut komme über uns und unire Kinder!" Jegt ſchweift es flüchtig
und heimathlos umber, ein Fremdling ımter allen Voͤllern, ein Feg⸗
opfer Der Belt: und ftirbt nicht, und wird nicht fierben, bis ber
Her zur Vollendung feines Reichs auf Erden wiederleommen wir.
Dann aber ttirbrs, nämlich als Volk Des Vannes und der Acht,
um, feinem wahren Könige David Hoflanna fingend, ald ein neues,
berrliches Geichlecht wieder aufzueriteben. Tie WBunderiterne der dem
Samen Abrahams gegebenen Verbeigungen leuchten über Jahrtanſende
bin, und jenden ibre Etrablen bis an das Ende der Zuge.
Dort führen fie den Mann der Schmerzen bin. Man vermag den
Gedanken nicht zu denken, wer mit dem Holz des Fluchs belaſtet
Diefe Straße ziebt, ohne daß einem dus Herz ver Staunen und Be
flürzung zu eritarren drobt. Aber Heil uns, daß Er diefen Gang
gegangen it! O, bemerkt nur, wie ſich bier die Geſtalt Des „Lam⸗
mes, das der Belt Simde trägt” fo Deutlih in Ibm ausprägt! Se
bet ibn an, und ſagt, ob euch nicht it, als vernäbmet ihr von feiner
flummen Lippe in erneutem Klange das alte Wort: „Opfer und
Gaben hat du nicht gewollt, aber den Leib bunt du mir zubereitet.
Siebe ib fomme; deinen Willen, mein Gott, tbue ich gern, und dein
Gele babe ich in meinem Herzen!“ Würe Er zurückgebebt vor die:
ſem Todesgange, fo bildete feine Marteritrage nur Diejeniae uns vor,
auf welcher wir einit jelbit Die Welt zu verlaifen hätten. Statt der
Kriegsfnechte gäben uns Die Engel des Abarımda Das Geleite: ftatt
des Fluchholzes belaſtete uns der Fluch Des Geſetzes ſelbſt: ftatt der
Stricke umwänden uns die Bande des ewigen Zorns, und die Ver:
zweiflung peitjchte ung mit ihren Feuergeißeln. Jet tragen uns da⸗
gegen einſt auf fichter, von himmlischen Verheißungskerzen erbellter,
Bahn von der ewigen Liebe gefendete Friedensengel in Abrabame
Schooß. Wem danken wir dies? Allein dem Manne, der dort unter
der entjeglichiten aller Bürden dahinwankt, und Alles mit ſich davon
trägt, was Verderben drohend uns entgegen ftand.
sn.
Die Morterfirae. 529
Freilich kann fich’S immer noch ereignen, daß wir während unfrer
Erdenwallfahrt in ähnliche Straßen bineingewiefen werden, wie dort
unfer Haupt fie zieht. Denn die Welt haffet feine Glieder, wie Ihn
ſelbſt, und der Satan hört nicht auf, die Erlöfeten zu begehren, daß
er fie fichte wie den Waizen. Aber tiber unfern Schmach⸗ und
Martergängen ift, der Himmel nicht mehr verfchloifen, noch dunkelt
über ihnen mehr die fchwarze Wolfe der Verwerfung und des Fluchs.
Gottes Schwert kehrte in feine Scheide zurüd, und Friede und Hoff-
nung beißen die holden Gefährten, die uns zur Seite gehen. Chris
ſtus hat unſern Zhränenwegen das Grauen, unfern Drangfalen die
niederfchlagende Macht, unfern Schmachen und Nöthen den tödtlichen
Stachel genommen, und uns in Die Lage verfeßt, mit dem Eöniglichen
Sänger fprechen zu Dürfen: „Und ob ich ſchon wanderte im finftern
Thal, fo fürchte ih Fein Unglück: denn Du bift bei mir; Dein
Steden und Stab tröften mich!“
Gefegnet fei und denn der Kreuz: und Martergang unfred Friedenss
fürften! Unterlaſſen wir e8 nicht, Ihn täglich auf demfelben im bes
ihaulichen Geifte zu begleiten. Er wird ung Die eigenen Schmerzens⸗
gänge unausſprechlich verfügen: denn warum geht Er diefe fchredens-
volle Straße, als damit wir die unferen mit aufgerichtetem Haupte,
weil frei von Bann und Sorge, gehen könnten. Er trägt auf dieſem
Seinem Gange nicht allein alle unfere Sünden zu Grabe, noch bricht
Er nur durch alle Hemmniſſe, Die den Zugang zum Vater und vers
fperrten, uns offne Bahn; Er macht uns zugleich alle Marawaffer
in der Wüfte trinfbar, und läßt uns nur übrig, in die Worte des
alten Dichters einzuftimmen:
D große Lieb’, o Lieb’ ohn' alle Maaße,
Die dich gebracht auf dieſe Marterſtraße!
Ich lebte mit der Welt in Luſt und Freuden,
Und Du mußt leiden!
Ach, großer Koͤnig, groß zu allen Zeiten,
Wie kann ich g'nugſam ſolche Treu' ausbreiten?
— Keimn's Menſchen Herz vermag ed andzubenfen,
Mas Dir zu fhenfen! — Amen.
—
34
530 Dei Geige.
XLIV.
Simon von Kyrene.
In der ganzen altteftamentlidhen Geichichte begegnet uns faum ein
rührenderes und ergreifendered Bud, als dasjenige, das nach 1. Mel.
22, 6—3 iu dem Gange Abrabuns und Iſaals zum Derge Mein
uns fich darjtellt. Der ehrwürdige Patriarch bat, ob mit gebrochenen
Baterberzen auch, in unbedingtem Geheriam dem harten Befehle ſeines
Dundesgottes ſich gefügt, und fchreitet eben bin, um den ihm gebotenen
nnerbörten Opferaft zu vollgichen. Sein einziges geliebte® Kind, der
Zräger der ganzen Zukunft jeined Hanſes, wandelt arglos zu feiner
Ceite. Am Fuße des verbängnigvellen Hügel angelangt, wimmmt
Abraham dem Laitthiere Das Bündel des für die Braudopferflamme
gefpultenen Holzes ab, und legt's, — ihr könnt euch denfen, mit weis
hen Empfindungen, — feinem Ziaaf auf die Schulter. Er feibft
ergreift das Schlachtmefjer und die Fackel. So fleigen fie ſchweigend
zur Auhoͤhe binan. Unterweges ſchlägt Iſaak feine Augen zu feinem
Bater auf und ſpricht: „Mein Bater!* — „Hie bin ih mein Sohn,“
erwiederte Abrabım. In rübrender Einfalt fübrt der erftere fort:
„Siehe, bier in Zeuer und Holz; wo it aber dus Lamm zum Brand»
opfer?* — Tu entgegnete Abrabam, Die aufquellenden Thraͤnen ge
waltfam in fich niederfümpiend: „Gott wird ibm, mein Sohn, zum
Brandopfer ein Lamm erieben.“ — „Ind die Beiden,“ meldet die
Geſchichte, „gingen mit einander.“
Wer verfemt in dieſer Scene das Vorbildliche und prophetiich
Bedeutiame? Iſt fie Doch Durch und Durch Davon durchwoben. Sa,
ſcheint's Doch fait, als bube Diefer Aft nur um jeiner typiſchen Hin-
tergründe willen in's Leben treten iollen. Der opfernde Vater, der
zum Brandopfer bejtimmte Schn, und leßterer das Holz, auf dem
er verbluten foll, felbft zu feinem Zodeshügel tragend! Welche tiefe,
finnvolle Bilderichrift! Wir werden dieſelbe heute zu ihrer Verwirk⸗
fihung kommen ieben, und zwar an Dem „Lamme,“ auf dus der
Bater Abraham unbewußt weiſſagend als auf Dusjenige binmwies, wel:
ches Gott fi) in der That zum Brandopfer erjeben werde.
Simm von Kyrene. 581
Matth. 27, 82. Mars. 15, 21. Fuc. 23, 26.
Und indem fie hinaus gingen umd ihn hinfährten, fanden fie einen Menſchen vom
Kyrene mit Namen Simon, der ein Bater war Aferandri and Rufi, ber vom Felde
fam und vorüber ging, den ergriffen fie, und legten das Kreuz auf ihn, und zwangen
ihn, daß er Jeſn fein Kreuz uachträge.
Je weiter wir in der Pafflonsgefchichte vorwärts fchreiten, um deſto
deutlicher tritt e8 in dieſer felbft zu Tage, aus welchem Gefichts-
punkt die Marter Jeſu anzufchauen fei. In Gethfemane umgraute
uns noch tiefes Dunkel, und wir mußten anderswoher die Fackeln
entnehmen, die daſſelbe uns erhellen konnten. Bor dem Gerichtähof
des Hohenpriefterö, wo wir den Heiligen Iſraels Die ſchwerſten Be
fhuldigungen mit bedeutſamem Schweigen über fi ergehen lafen
fahen, ftellte fid’s ſchon klarer in’s Licht, Er ftehe an der Sünder
Stelle. Handgreiflicher trat Dies Stellvertretende feines Leidens auf
Gabbatha in die Erfcheinung, und namentlich in jenem unerbörten
Tauſch und Werhfel, der Dort zwiſchen Ihm, dem Gerechten, und dem
Mörder Barabbas vor fich ging. Nicht minder unverlennbar prägt
ſich m dem Bilde, das heute vor unfre Blicke tritt, die Wahrheit
aus, daß Chriſtus mittlerifch unfern Fluch getragen habe. And Toms
men wir erſt zu der Scene, wo Er, der der Krone des ewigen Les
bens würdig war, mit dem herszerreißenden Schrei: „Mein Got,
warum haft du mich verlaffen!” in den Abgrund eines verfluchten
Todes hinunter fährt, jo werden wir uns vollends überzeugen, daß
entweder die äußerfte Blindheit, oder der verſtockteſte Eigenſtun dazu
gehöre, um noch bezweifeln zu können, daß es das Strafleiden eines ver
urtheilten Sünders, und nicht das Züchtigungsleiden eines nur geprüf⸗
tem Heiligen war, unter welchem der große Dulder fein Königshaupt
zum Zode neigte. Es führt und demnach auch unfer heutiges Evans
gelium fo wenig aus dem Heiligthum der Paifion heraus, daß es
uns vielmehr nur noch tiefer in dafjelbe hinein geleitet, und den
theuren Wahrheiten, die wir mit weitem Aufthun unferes Mundes
bis hieher euch zu verfündigen die Freude hatten, ein neues ie
gel der Beglaubigung aufdrüdt. Oft geichiehts, daß man ſich bei
der Geſchichte Simons von Kyrene in der Wahl des Themas ver:
greift, indem man von der Schmach meint handeln zu müſſen, welche
jeder wahre Chriſt in der Nachfolge feines Herm zu gewärtigen habe,
Es ftellt fi aber Größeres, Wichtigeres, Höheres bier unfrer Erwäs
gung dar als dies, Wie überall in der Baffionsgeihichte, fo heißt
34°
532 Das Heifige.
auch bier das Thema: „Ehrikus if ein Fluch für uns, Die Fluchbe⸗
ladenen.“ Kommt, wir betrachten zuerſt den Herrn Jejum mit
dem Krenz des Sünders; und dann den Sünder mit dem
Krenze Jeſu!
Sei der Herr uns nabe, und eröffne Er und dad Verftändniß eines
der bedeutſamſten Lebensbilder ſeines Gwangeliums!
1.
Pilatus hat, von der furchtbaren Conſequenz der Feinde Jefu aus
dem Felde geichlagen, den Heiligen Jiraeld gegen die Stinme des
Rechts in einer Brust den Hünden der Mörder übergeben, und dieſe
beeilen fih, mit der Hinrichtung jo jchnell als möglich zum Ziel zu
kommen. Einem Rebellen ſtand nach geichebener Verurtheilung eine
Appellation nicht weiter zu; im Gegentheil gebot ein romiſches Geſetz,
daß ein ſolcher unmittelbar nach geſprochener Sentenz zum Hochgericht
abzuführen ſei. Dieſen Artikel glaubte man nun auch auf Deu au
wenden zu müſſen, den man als einen Aufrührer gegen Gott, gegen
Moſes und gegen den Kaiſer nicht ſchnell genug aus der menſchlichen
Geſellſchaft entfernen zu können meinte. Bir befinden uns bereits,
wie ihr wißt, im Geiſte mit ibm auf der Straße zu feinen Todes⸗
bhügel. Langfam, in Staubmwolfen gehüllt, bewegt Der Zug fi) vor-
wärts. Welch' ein Zuſammenlauf von allen Seiten! Welch' Getũm⸗
mel und dumpfes Getöſe! Lanzen, Helme und gezuckte Schwerter
bligen im Sonnenjchein. Waffenknechte zu Zuß und Roß, Prieiter und
Schriftgelehrte, Vornehme und Pöbel, beulende Weiber und fchreiende
Kinder, Juden und Heiden: Alles in bunten Gedränge durcheinander.
An der Spige des Zuges, von Scharwächtern umringt, und unter
dem Gewicht der Werkzeuge der ihnen zugeduchten Todesmarter müh⸗
fam vorwärtsfeuchend, die drei Delinquenten: zwei Rebellen und Mör⸗
der, und zwilchen dieſen Er, dem genau beſehn ullein Das ganze
graujenvolle Schmugepränge gilt. Ach jebt, ein blutiger Mann, dem
Anſcheine nad) der jchuldbeladenfte der dreie. Aber wir fennen Ihn!
Auh Er trägt jein Kreuz, und in dieſer einer Stellung nimmt
Er im höchiten Grade unjere Theilnahme in Anſpruch.
Kreuze befam man unter der Herrichaft Der Römer oft zu feben.
Gar häufig wurde irgend ein rebelliicher Sclave zu dieſer Ichmählichiten
und qualvolliten aller Strafen verurtbeilt und abgeführt. Mit dem
Kreuze jedoch, Das wir den Heiligen Iſraels nad) Golgatba tragen feben,
hat es eine ganz bejondere, höcht eigentbümliche Bewandtniß. Diefes
Simon von Kyrene. 533
Inftrument wurde nad) einem Modell der unfichtbaren Welt gezimmert,
Bei der Fertigung diefes Marterpfahls begegneten fi, wenn ich fo
fagen mag, ein Höllenplan und ein Plan des Himmels. Seit Jahr⸗
taufenden war die Geftalt Diefes fchauerlichen Baums im oberen Hei-
ligthum fchon befannt. Ja, von Ewigkeit ber ftand der fchredfiche
Umriß deſſelben vor dem Bewußtfein des allmächtigen Gottes, und
wurde den alten Vätern, wie uns bereits befannt, in mandherlei ge
heinmißvollen Schatten vor Augen gemalt. Um dieſes Sreuzesholz
feiner innerften Bedeutung nad) zu verftehen, ift e8 erforderlich, Daß
wir uns in die Gefchichte des Volfes Gottes vertiefen. In die Wüfte
treten wir zuerft zurück, in welcher Yfrael vierzig Jahre hindurch in
Wanderzelten wohnte. Was erbfiden wir hier? Inmitten des Lagers
erhebt fi) eine freuzförmige Panierftange, an Die man eine fupferne
Schlange, alfo das Bild der Sünde und des von Gott verfluchten
Thiers, befeftigt hat. Das Volk ward von giftigen Nattern gebiffen,
und.die Wunden drohen unvermeidlichen Tod. Aber wer im Glauben
das erhöhte Fluch⸗ und Sündenbild anfchaut, ift alfobald genejen. So
hat der Allmächtige felbft es veranftaltet, und die Erfahrung befiegelt
Gottes Verheißung. Wir ftugen über dieſe unerhörte Sache, und
möchten’8 ja nimmer wagen, nach eigenem Ermeffen in jener Baniers
ftange ein Bild des Kreuzes Chrifti, in dem Sindenbildniß an ders
felben einen Schatten Christi felber zu erbliden? Erſchiene nicht
eine folche Vergleichung einer fluchwürdigen Läfterung ähnlih? Und
dennoch, was vernehmen wir Joh. 3, 14? Da tritt der Heiland
felber auf, und fpricht: „Im gleicher Weife, wie Mofes in der Wüſte
eine Schlange erhöhte, muß des Menſchen Sohn erhöhet werden,
auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, fondern
das ewige Leben haben.” Dürfen wir jeßt noch Anftand nehmen, in
jener Stange ein prophetifches Vorzeihen Des Holzes zu gewahren,
mit welchem wir heute den Herrn der Herrlichkeit bebürdet fehen,
und das Fluch» und Sündenbild der ehernen Schlange als einen Tys
pus deſſen aufzufaffen, der, obwol perfönlich jedes Sündengiftes
baar, nichtsdeftoweniger, auf daß die fündige Welt durch Ihn genefe,
„zur Sünde gemacht” ward, und als ein Träger des Fluches auf
Golgatha zwifchen Himmel und Erde fehwebte? — Treten wir jeßt
in die „heilige Hütte“ des auserwählten Volkes ein, und werfen
einen Blick in die ehrwürdigen Rollen des göttlichen Geſetzes. Was
fefen wir da 5. Mof. 21? „Wenn Jemand eine Sünde gethan bat,
|
et
muf
IHir 1:
3 &R !
Ha
hi
&
*
gewährt fi. Schlagt Galat. 3, 13 auf. Da tritt der Apoſtel
lus uns entgegen, und verfündet ohne Hehl und Umſchweif: „Chri⸗
Rus hat uns Iosgefauft von Dem Fluche des Geſetzes, du er ward
ein Fluch“ (griebüih: „Katara« d. i. ein Gegenſtand göttlicher
Berdammung,) „für uns; denn,” jo führt der Apoſtel fort, „verfludht
it Jedermann, der am Holze hängt, auf daß der Segen Abrahä
unter die Heiden fäme in Ebrifto Jeſu.“ Und indem Paulus, der
bocherleuchtete Gottesmann, Solches fügt, läftert er nicht, fondern
fpriht nur eine Wahrheit aus, welche uns in veränderten Ausdrudis-
Formen taufendmal in der Schrift begegnet. Was er aber mit jenen
Worten jagen will, Das, meine ich, liege zu Bar zu Tage, als daß
wir es aud nur einen Augenblid verfennen könnten! —
3a, jene beiden Typen: die Panierftange mit dem Schlangenbilde
und Die göttliche Verordnung in Betreif der Geheniten verbreiten
uns Das hellfte Licht über das ſchauerliche Ho, das der Sohn Got-
tes dort zum Marterberge ſchleppt. Diefer Block ift offenbar der
Pfahl, über welchem der Verbeifung nad) Das Weiter der göttlichen
&
Simon von Kyrene. 535
Gerichte ſich entladen follte; er ift das Schaffot, wo nach Römer 3.
„Gott, wegen der Nachficht mit den Sünden, welche vorhin gefchahen
unter göttlicher Geduld, feine Gerechtigkeit zu beweiſen,“ befchloffen
hatte; Die Schlachtbank, auf der es zu Gunften der Sünderwelt
mit dem im Paradieſe gedrohten Fluche an der heiligen Menſchheit
des großen Bürgen zur Vollziehung kommt; der Brandopferaltar, wo
das Lamm Gottes der ganzen Summe jener Strafen fid) unterziehen
wird, die von Rechts wegen mich treffen mußten; und das Sterbe⸗
lager, auf welchem der Tod, deffen Gewalt der Teufel hat, und dem
ih durch ein Urtheil des allerhöchften Gerichtshofs verfallen war,
einen Andern ergreifen und zu Grunde richten foll, auf daß er feiner
Anfprüche am mid für immer verluftig gehe. Sagt nun, ob je in
einer Zimmerftätte der Welt ein wunderbareres und verhängnißvolleres
Inſtrument zufammengefchlagen wurde, als das Holz, das ihr dort
auf der Straße zum Galvarienberge ſich fortbewegen ſeht. Es ift der
Zodtenfarg einer Welt: denn die ganze unzählige Schaar, Die je
ſelig werden wird, ift, in Gottes Augen, mit Ehrifto an diefem Pfahl
geftorben. Es ift der Bliableiter über unferm Gefchlecht, der den
zerfchmetternden Strahl von uns ableitete, indem er ihn an ſich 309.
Die Wetterfcheide iſt's, wo über uns die Zorneswolfen ſich zertheilen;
ja der Lebensbaum, deffen Blätter den Völkern zur Genefung dienen,
Jeſus trägt das Holz Wenn er je auch in feiner äußeren
Stellung als der Zluchbeladene erfohien, dann hier. Fürwahr,
wenn Gottes Stimme unmittelbar vom Himmel herab gerufen hätte:
„Dieſer Gerechte ift jebt der Träger des Urtheils, Das auf euerm
Haupte lag!” fo hätte uns dies hiedurch nicht gewiffer werden Tönnen,
als es durd) das Tebendige Bild der Kreuztragung uns ſchon wird.
Eine gewaltige Sprache hat diefes Bild, und ſchließt's ſchon einem eins
fältigen Kinde auf, worin der legte Grund der Paffion Chrifti zu juchen
fein müffe. Außerhalb Serufalems, wie ihr wißt, treffen wir den heiligen
Dulder. Die Schrift legt auf den Umftand, daß man ihn aus der heilt-
gen Stadt hinweggeführt, ein großes Gewicht. „Welcher Thiere Blut, *
fpricht der Apoftel Ebr. 13, „getragen wird durch den Hohenpriefter in
das Helligthum für die Sünde, derfelbigen Leichname werden verbrannt
außer dem Lager. Darum auch Jeſus, auf Daß er heiligte das Volt
durch fein eigenes Blut, hat er gelitten außen vor dem Thore.“ Bes
herzigenswerther Ausſpruch! Hier wird uns Ehriftus offenbar als Das
wahrhaftige Gegenbild des altteftamentlichen Sündopfers dargeftellt,
536 Des Heilige.
Weil wir nun aber willen, was es mit jenen Sändopfern für eine
Bewandini hatte, und wie bei diefem gottesdienitlichen Alte dem
DOpferthiere die Sünden der liebertreter zugerechnet, jened Dann ale
ein Gegenftand des Abſcheus gefchlachtet, und fein Leichnam wicht al:
fein aus der Nähe des Tempels entfernt, ſondern gar zur Bezeichnung
defien, was von Nedhtswegen den Simdern gebühre, mit Feuer
verbrannt, die Sünder aber nad) ſolchem Opferwerk Iosgefprochen und
nuſträflich erklärt wurden: fe fpringt es wieder fonnenbell in die Au-
gen, daß der Apoftel in der angezogenen Stelle nichts Anderes fagen
will und fagen fann, als daß Ehriftus bei feiner Begführung aus
den Thoren der Stadt zurechnungsweiſe in der That mit unfern Sim
den beladen gewefen fei, und unfern Fluch getragen babe. Go find
wir es alſo, die dort zum Hochgerichte wandern; denn Er gebt dieſen
Gang an unferer Stelle. Daß dem wirklich alſo fei, und Er diefe
Straße nit mehr als der heilige Jeſus, fondern als der all
gemeine und öffentlihe Sünder ziehe, das fehen wir bei jedem
Schritt, den Er weiter vorwärts thut, ungweideutiger in die Erſchei⸗
nung treten. Weil Er aber ud im Himmel jebt als ein Solder
betrachtet wird, fo ift e8 begreiflich, daß der ewige Vater es über fi
vermag, folcher namenlofen Schmach und Qual Ihn preiszugeben.
Sa, darum eilt kein Engel aus der Höhe Ihm zu Hülfe; fein Feuer
fallt darum vom Himmel, die Mörder zu verzehren; vielmehr jagen
die Wolfen ftill und ſchweigend über der fehredlichen Scene bin,
als würde Droben qut geheißen, was drunten Fürchterliches vorgeht;
ja, der Gerechte kann darum unter der Laft feines Holzes ſterbens⸗
müde faft zuſammenbrechen, ohne daß es Jemanden im Himmel
und auf Erden zu jammern feheint. Die Pforten des ewigen Heis
ligthums find verfchloffen, die FZenfter der Wohnung des Allmädy
tigen zugefchoben; und der Gott, der den gerechten Loth aus der
Mördergrube Sodoms, den Daniel aus dem Löwenzwinger errettete,
dem wuthfchnaubenden Laban gebot, daß er mit Jakob nicht anders
rede, denn freundlich, und allen feinen Heiligen zurief: „Füuͤrchtet
euch nicht, denn ich bin mit euch!” Diefer „Hüter Iſraels“ fcheint
über feinem Geliebteften zu fchlafen und zu fchlummern, und im Blid
auf den, der ihm der Nächfte ift, feines fügen Verheißungswortes:
„Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergeffen,“ u. ſ. w. vergeffen
zu haben. Ja, alle die Umftände, unter denen wir den Heiland hier
erbliden, find furchtbar und herzerihütternd; aber alle rufen fie ung
Simon von Kyrene 537
mit gewaltigftem Nachdrud zu: „Sehet Jeſum bier belaftet mit
dem Fluch der Sünder!“
2.
Jeſum mit dem Kreuz des Sünders haben wir angeſchaut.
Jetzt wechfelt die Scene, und ein neues Bild, der Sünder mit
dem Kreuze Ehrijti, tritt vor unfre Blide.
Eine Strede weit bat fich der Heilige mit feiner fchweren Bürde
fortbewegt, da wandelt feine blutdurftigen Begleiter Die Sorge an,
er möchte unter feiner Laft zufammenbrechen, und vor der Hinrichtung
noch) feiner Erfhöpfung erliegen können. Um dem vorzubeugen, fuchen
fie Jemanden zu erjpäben, dem für den noch übrigen Theil des Wer
ges das Todesholz Zefu aufzulegen wäre; und bald fällt auch ihr Auge
auf einen eben vom Felde kommenden Fremdling, den fie um fo lieber
zu ihrem Vorhaben ſich auserlefen, da fie in feinen Mienen geheime
Sympathieen mit dem Nazarener wahrzunehmen glauben. Simon
war es, aus Kyrene in Afrika gebürtig. Ob er damals ſchon zu den
heimlichen Freunden Jeſu gehörte, wird nicht gemeldet. Gewiß aber
ward er vom Volk dafür gehalten, und wahrfcheinlich nicht ohne
Grund. Wenigftens werden Simons Söhne, Alerander und Rufus,
nachmals als wahre Ehriften genannt, und der Schluß von den Söh-
nen auf den Vater dürfte ja wohl feine Berechtigung haben. Genug,
diefer Jude Simon wird angehalten, und ihm das Kreuz des Herm
aufgezwungen. Er fträubte fi Anfangs gegen diefe Bebürdung und
Schmach; doch wußte er ſich bald zu bequemen, und bequemte ſich
dann auch gern.
Angefichts diefes Simon von Kyrene pflegt man des Wortes Jeſu
zu gedenken: „Wer mein Jünger fein will, der nehme fein Kreuz
auf fih und folge mir nach,” und ift dann, wie fchon erwähnt, ges
wohnt, aus Anlaß dieſes Paffionsabfchnittes von der Schmach zu
handeln, die man um Chrifti willen zu erdulden habe. Aber told’
Thema, will mich bedünfen, liegt doch nicht jo ganz, wenigftens nicht
zunächit in dieſer Gefchichte, indem Simon ja nicht fein Kreuz,
fondern dasjenige, an welchem Chriftus verblutete, auf fih nahm,
So fpiegelt fi) in der fumbolifchen Geftalt des Kreuzträgers etwas
ganz Anderes ab. Sie veranfchauficht uns die innere Glaubenss
ftellung, die wir zum Kreuze Ehrijti, d.h. zu dem an demielben
vollzogenen Opfer: und Erlöfungsalte, einzunehmen haben. Wir follen
Kreuzträger werden in demjelben Sinne, in welchem Simon
538 Des Heilige.
es war; nur geiftlicher Weiſe. Wir find’s, wenn das Kreuz Chriſti
das unfre ward im Wege der Selbftbefhuldigung, der Glaus
benszueignung und des fortgefeßten Sterbens mit Ehrifto.
Ber unter uns im Geifte Ebriftum unter der Laft feines Marter-
pfahls gen Golgatha wandeln flieht, wird in fofern fofort dem Simon
ähnlich werden, als er, von Mitleid und Rechtsgefühl gedrungen, das
gräßliche Holz nicht müßig zufchauend auf dem ſchuldlos Berurtheilten
ruben laffen, fondern e8 ergreifen, und auf die gottlofen Juden, die ja
eigentlich daran gehörten, oder auf eine blinde unbarmberzige Macht,
die er Schickſal nennt und Ohngefähr, oder gar auf Gott den
allwaltenden felber werfen wird, den er insgeheim darob anflagt,
Daß Er fo fhreienden Ungerechtigkeiten nicht gefteuert habe. Aber in
diefer Weiſe Ehriftum entbürden wollen, zeugt nur von großer Her:
zensblindheit. Allerdings hebt alles Ehriftenleben damit an, daß man
ümerlich gendthigt wird, dem Herm Jeſu das Kreuz abzunehmen;
nicht aber, um e8 auf Andre zu fchleudern, fondern es in aufrichtigem
Selbſtgericht auf ſich Telbft zu nehmen. Dan wird von Dem er-
leuchteten Gewiffen in das Bewußtfein der eigenen Fluchwürdigfeit
hineingedrängt. Man fchaudert davor zurüd, und fträubt fich Dawider
ms allen Kräften; aber umſonſt! Bor uns fteht, jebt nicht mehr miß-
verftanden, das heilige Geſetz, der furchtbare Gottesfpiegel, und wer
will e8 unternehmen, den zu hintergehen oder zu belügen? Vielleicht
geſchieht's, Daß der Blig, der uns zerfchmettert, zuerft nur aus einem
Gebot wider uns hervorzudt, wie z. B. ein Zachäus dem achten,
der Schächer dem fehsten, die Samariterin dem fiebenten der
zehn Worte ihn entfahren ſah. Da meint man anfänglich noch, in
die übrigen neune fich retten zu können, und wirft ſich etwa als
in eine vermeintlich fihere Schanze in das erfte Gebot: „Du jollft
feine anderen Götter neben mir haben!“ Aber der Geift, der num
einmal mit und angebunden hat, führt uns immer tiefer in den in⸗
neriten Weſensgehalt des göttlichen Geſetzes ein; und fo heißt es
denn zu und: „Du, der du das erfte Gebot gehalten haben willft,
liebteft du Gott den Herrn von Kindesbeinen auf von ganzem Herzen,
von ganzem Gemüth und aus allen Kräften?” Man vernimmt die
Herz und Nieren prüfende Frage; und wie beeilt man fich, dem erften
Gebote wieder den Rüden zu kehren! Man flieht num etwa zu Dem
fehsten. Iſt man fih doc bewußt, Niemanden je nach dem Leben
geftanden, gefchweige, einen wirklichen Todſchlag begangen zu haben,
Simon von Kyrene. 539
Nichtsdeſtoweniger hört man fich jegt von dem Zuruf angedonnert:
„Wer feinen Bruder haſſet, der ift ein Todſchläger,“ und auch die
vermeintliche Veſte des fechsten Gebots bat feine Breſche. In das
neunte wirft man ſich. Eines „Falfchen Zeugniffes,” denkt man,
babe man ſich nicht ſchuldig gemacht. Aber „wie?” heißt es nun,
„auf Das neunte Gebot wagft Du dich zu berufen? Logeſt, betrogeft,
beuchelteft und fchmeichelteft du nie?” — Man bört's, aber läßt die
Stimme im Gewiffen nicht zu Ende reden, fondern zieht fich ohne
Zaudern etwa auf das fiebente zurüd. „Dieſes hielt ich,” ſpricht
man mit großer Zuverficht; „ich brach die Ehe nicht!” Aber alfobald
dröhnt das Wort uns entgegen: „Wer ein Weib anfiehet, ihrer zu
begehren, hat die Ehe gebrochen;“ und man fleucht vor dem ſiebenten
Gebote wie vor einen Feuer, das uns zu verzehren droht. Wohin
denn nun? Zu dem fünften Gebote etwa? — Ach, auch Vater und
Mutter verklagen uns! — Zu dem ahten? — Es fcheint in der
That, als wolle wenigftens dieſes ung vertreten; denn wir find ja
feine Diebe? Aber wehel nicht ferne von ihm ſteht das zehnte
mit feinem: „Laß dich nicht gelüſten!“ Diefes ftellt und nun vol
lends bios, und macht dem ganzen Prozeß mit einem Generalvers
werfungsurtheil über uns ein Ende Da iſt's denn mit allen ımferm
Selbfiruhm aus. Zwar zögert man noch, auf ihn Verzicht zu lei⸗
ſten. Man rafft die fogenannten „guten Werke” in feinem Leben zus
fammen; aber kaum bat man begannen, dieſes zweideutigen Schaßes
fih zu getröften, al8 auch ſchon aus dem Heiligthume Gottes her ein
Richt Darüber ſich ergießt, in deſſen feheinenden und brennenden Strah⸗
ten auch unfer Beftes als eine wurmftichige Frucht unreiner Eigenliebe
fidy darftellt. So ift man denn gendthigt, fich felbft den Stab zu
breden. Was droht aber Uebertretern wie die, als welche wir uns
feldft erfunden haben, für die Zukunft ihres Lebens? — Man Tieft:
„Zrübfel und Angft über alle Seelen, die da Bofes thun;“ —
„Gottes Zorn vom Himmel wird offenbaret werden über alles gott⸗
loſe Weſen!“ Man lieft's, und bebt zufammen. „Wehe mir,” ruft
man, „ich Unglüdfeliger bin alfo verdammet, verflucht, verloren!“
Man wills noch nicht glauben; aber da ſchallts von allen Seiten:
„a, dul“ Und es ift, als riefen’s die Wände unferer Kammer
wand die Sparren im Gebaͤlk. Tanſende von Erinnerungen aus der
Vergangenheit unfres Lebens fammeln fi) gleich Hachegeiftern um uns
ber, und freien: „Du bi der Mana des Todes!“ Dis in unſre
> Das Gele.
Zrämme binem Deiber es mi aub, Yuied idreiiube „du Bis“
m den Etemen meine wis zu ion, mub auf jedem mumderer Zax
ixhl s eicrieben Se müiicn wu em aalab are. EG hridi
Kreuz wird uns anigelsden, ?. 6: wur umden vell des
Kreuzes idultiz, indem wu dem Afude, meiden Seraö Deren erlag,
uns ijelbü verralen tublen.
Haben wu m in Nom Sim Dei Arım Eher uf mb ae
newmen, ie vie mm ter Get, ter mm zetemmuiegt hat, zu jemer
Zu zub wiederzm zu triüre. ini dem Schutern mut Schammen Der
Eeclbürerdammung szudt mn in den Hutiuhenen Summen
der Berishuung wur ui. Man altem in Eineli Are dei
verbanzuiävelle Geb, an weihen ta8 Urtbeil Limzü velljegen wart,
Dad um3 ein cwiges Berderken trebte: mm erfragt Dead
in ieiner Irsünellen Zieie, ma> tritt im ein gamı mened Rerbältuif
u dem Gbrülnäfreuge cin: in tasjenixe zündtnehumender Ihmermmmg
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Segen des neuen Tages muter dem Krane. Pelauiht man und
in miſerm Ränmerlein: unter dem Krenze beten wir. Spreden mir:
„Abba, lieber Vater! fo its das Ara, dus und Nu beberit macht.
Simon von Kyrene. 541
füllen Herzenspfalmen. Ruht ein Freudenſchimmer auf unferer Stirn,
jo iſt das Kreuz die Sonne, von der cr ausfloß. Sind wir recht
getroft, fo find wir’s in Des Kreuzes Schatten. Weberwinden wir die
Verſuchungen des Böfewichts, To ift Ehrifti Kreuz die Fahne, unter
der wir fiegen.
Freilich umfaßt man das Kreuz nicht immer gleich innig und gleich
warn. Man trägts oft wohl gleichgüftiger wieder, ja verdroffen, wie
eine Laſt. Dies ift der. Fall, wenn fich entweder unvermerkt die
Wurzeln unſres Lebens wieder tiefer in den Boden Diefer Erde ſenk⸗
ten; oder wenn der Herr einmal „unferen Berg ſtark machte,” und
wir auf's neue Anlap nahmen, in eigenem Werk und Weſen uns
zu befpiegeln. Aber der Gott, der eben fo treu im Demüthigen
it, wie im Zröften, weiß ums dann das Kreuz fchon wieder füß
zu maden, indem Er unfern alten Menfchen felbft einer erneuers
ten Kreuzigung preis gibt, und unter allerlei Noth, Schmach und
Drangfal das Bewußtfein unfres Elendes in uns belebt und frifcht.
Ueberhaupt kommen die Erfahrungen Aller, die im Glauben das
Kreuz Ehrifti auf fih nahmen, darin überein, daß fie je länger je
mehr auch in das Sterben deflen, der am Holze hing, Telbft mit
hineingezogen werden. Sie nehmen ab, Sie werden ihrem Bewußtfein
nach perfönlich ärmer, unwerther, hülfsbedürftiger. Ja, es bleibt ih⸗
nen mit der Zeit in ihnen felber nichts mehr, deſſen fie fich noch
als eines rundes ihrer Rechtfertigung getröften könnten. Je voll
fländiger fie aber mit allem eigenen Schiffhruch leiden, um fo köftlicher
wird ihnen, als die einige Rettungsplanfe in der Brandung, das
Kreuz von Golgatha. Wie wird e8 nun mehr und mehr fo innig
feſt umflammert, wie body und laut gepriefen, und mit wie heißen
Thränen gerührten Danks bethaut; und wie bewegt fich zulegt in
immer enger gezogenen Kreifen, den ihre Sonnen umkreiſenden Plas
neten gleich, das ganze innere Leben um das Kreuz!
Gefalle es denn dem Herru, die Geftalt des Kreuzträgerd Simon
an unferm inwendigen Menfchen immer deutlicher auszuprägen! Ent
jchleiere Er uns, damit jenes Bild fid) völlig in uns ausgebäre, ims
mer umfafjender das Verderben, womit wir von Natur behaftet find!
Nur jo werden wir das Kreuz Ehrifti tragen lernen mit heiligem
Stolz. Nur jo wird uns daſſelbe zum Baum des Lebens fid ver:
flären, von dem wir himmlifche Friedensfrüchte brechen. Nur fo wird
542 Dal Sehe.
ed und zur Bunderwair, verminelk mweldher wir Belt, Ted uud Zeukel
übersenden. Team:
XLV.
Die Töchter Jeruſalems.
„Beine nicht!“ rief der Herr nab uc. 7, 13 jener tramernben
Bünse bei Rain zu. Im Pieiem „Beine nicht!“ eutichleiert ſich
uns die eigenite Signatur jeiner amtlichen Eribeinmg und WBirliem-
keit auf Erden. Mit io beidem Gruße mäberte er ſich überall den
mübfeligen und beladenen Herzen: und ieim „Weinet nicht” war wich,
wie in den mebriten Füllen Das uniere: ein leeres Wort und ein
„leidiger Troit;” ſondern wit Kräften Gottes ging es verpaart md
tbat Bunder der Heilung. Kam Gr ja doch, mm die Uriadh aller
Tbränen auf Erden aufmibeben und unire Klage zu verwandeln in
einen Reisen. Auf Grund feiner Berdienfte ron mit velleiter Des
hi und im umfaflenditen Sinne dur die Zbrünenfammern
aller göttlich Beträbten jegt wie Zeitwelaumenball der Zumf: „Weine
nicht; denn es bat überwunden der Löwe aus um Stumme Tuba!“
Ein einziges Mal nur wihrend feines ganıen Erdenwandels
ſprach der Zürit des Friedens Weinet!“ Wie triftigen Grund
zum Trauren mußte das Auge des Herzenskündigers da entdedien:
Ber möchte nicht gern erfahren, was Ihn au Dieler feiner Abweichung
von feiner gewohnten Zuſpruchsweiſe zu bewegen vermochte? Nun,
Zreunde, wir fommen in umferm Betrachtungsgange beute zu der
Scene, ans der jenes fein einziges: „Weiner!“ zu uns benibertönt,
umd werden vernehmen, was es Tei, um das Der Herr gebeut, Daß
wir weinen jollen.
N
Die Töchter Jernſalems. 548
Sur. 23, 27— 31.
Es folgte ihm aber nach ein großer Haufe Bolfd, und Weiber, und bellagten und
beweinten ihn. Jeſus aber wandte fi um zu ihnen und fprah: Ihr Zöchter von
Jerufalem, weinet nicht über mi, ſondern weinet über euch ſelbſt und enre Kinder,
denn fiehe, es wird die Zeit fommen, in welcher man fagen wirb: felig find die Uns
fruchtbaren, und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüfte, die nicht ge⸗
fäuget haben. Dann werben fle anfangen zu fagen zu ben Bergen: fallet über und!
und zu den Hügeln: dedet und! Denn fo man dad that am grünen Holz, was will
am -biirren werden?
Sp taucht denn in dem Schauerbilde von nichts als Grauſamkeit
und Härte, das auf der Straße nad) dem Bafvarienberge fi uns
darftellt, endlich audy einmal ein Zug der Menfchlichleit auf, der
uns in etwa wenigftens das gepreßte Herz erleichtern will Es kommt
an den Tag, daß für den Heiligen Iſraels auch außerhalb des Heinen
Kreifes feiner Jünger noch nicht alles Mitgefühl erftorben fei. Es
geben fich innige Sympathieen für ihn fund, ja Thränen des Schmers
zes fließen um den hart geprüften Dulder. Doch fiehe, Ihm felbft
gewähren dieſe Kundgebungen mitleidiger Theilnahme keine Labung ;
vielmehr fteht er ſich veranlaßt, diefelben abzulehnen, ja zu fchelten.
Dies befremdet uns, ja flößt uns Beflürzung ein; denn wir fehen
bier, wie fcharfer Sichtung felbft auch die Empfindungen des Wohl;
wollens für den Herm noch unterworfen werden, und wie nahe die
Gefahr Liegen müfje, fi) einbilden zu können, man liebe Ihn jet mit
der Liebe, welche die Seele des neuen Lebens bildet, während man
dieſer Liebe doch noch völlig baar ift.
Kommt, forſchen wir der Urfache nad), aus welcher der göttliche
Dulder eine Feier feiner Baffion, wie fie in den weinens
den Frauen auf feiner Kreuzesftraße Ihm entgegentrat,
verwerfen mußte; und vernehmen wir fodann, welches
diejenigen Empfindungen feien, mit denen er fih auf
feinem legten Gange von uns begleitet ſehen wilf.
Möge e8 denn dem heifigen Geift gefallen, uns nicht allein zu dem
rechten Begriffe wahrer Bafftonsandacht zu verhelfen, fondern
vor Allenı auch das Weſen der letzteren felbft uns bleibend einzuhau⸗
hen! Ze doch Er allein, der Died vermag. Auf dem Boden ber
Ratur wachfen Die Blumen nicht, an denen auch das Auge und das
Herz Gottes ſich erlaben mögen.
1.
Die Straße, Die von Yernfalem nach dem Galvarienberge führt, iſt
544 Das Geilige.
mit Bollsmaffen bededt. Möchte fie es geiftlicher md kirchlicher
Weiſe auch noch bente fein! denn eine andre führt nicht zu Heil md
Leben. Freilich ſind's nicht lauter Paffionsfeiernde, Pie dert
zwifchen Serufalem und Golgatha uns begegnen. Bielmebr dürfte
folder nur ein fehr geringes verſchwimmendes Häuflen vorhanden
fein. Aber lieber entjchiedene Widerſacher auf der Krenzesftraße,
als dieſe ‚Straße vereinfamt und leer! Ad, in unjern Zagen, wud
feider! auch in diefer unirer Stadt, ericheint fie fehr verödet! Auf den
Straßen zu den Gößentempeln der Belt und den Zummelpläßen ter
Augen» und Fleiichesluft wimmelts und wogtd. Wie Biele aber
ſind's noch, denen höher Das Herz zu ſchlagen pflegt, wenn es zu if
nen heißt: „die Paffionszeit ift mieder da, und wir fdhiden ums dafs
neue an, dem Marterhügel zuzumandern, wo wir die Gründe unjerer
ewigen Erlöfung legen ſehen?“ — Unzählige ımter uns, beforge id,
fterben fort und fort des ewigen Zodes. Aber acuten Kraufheiten
erliegen die wenigiten mehr von ihnen. Die Meiften fterben an der
Bleich⸗ und Dörrfucht des vollendetiten Indifferentismus. Iſt's doch
mit ihnen allmälig dahin gediehen, daß jelbit Das Erhabenjte unter
dem Himmel fie langweilt, und die Worte: Kirche, Gottesdienft, Bre
digt fie nur noch gähnen machen. Die Unglüdfeligen! Sie willen
nicht, Daß fie in dieſen bedenflichen Lebenszügen jchon die Brandmale
des über fie bereingebrochenen Gerihts, ja die Signaturen, wenn
auch nicht jchon der Verwerfung, fo doc der Verwerflichkeit
an fi) tragen. Der Satan ſelbſt fcheint dieſe Menfchen irgend eines
energiichen Angriffs kaum mehr werth zu achten. Sie fallen ihm wie
abgeftorbene Bäume von jelber zu, und er findet fie in feinen Neben,
ebe er noch diefelben ausjpamnt.
Ihr, meine Freunde, gehört zu dieſer beflagenswerthen Gattung
nicht. Euch treifen wir ja noch im Geifte auf dem Wege zur Schi:
delſtätte. Ya, diefer Weg ift der Weg zum Himmel; aber, jehet euch
vor: denn auch er hat feine Riffe und Gruben, die in Die ewigen
Wüften münden! „Eine große Menge Volks,, lefen wir in un
ferm Evangelium, „folgte Zefu nad.” Es waren Died Teineswes
ges Lauter Gegner und lebelgefinnte. Biele unter ihnen begehrten
nur zu fehen, „wo es mit Jeſu hinaus wolle,” und nahmen alje
mindeftens ein geichichtliches Intereſſe an feiner Perfon und Sache.
Wiffet aber, daß Solches zum Seligwerden noch nicht ausreicht.
DBedenkts, die ihr mit jenen Leuten auf gleichem Standpunkt euch
Die Töchter Zetufaleme. " - 545
befindet. Es begegnen und heut zu Tage nicht Wenige wieder, und
ihre Zahl nimmt zu, die, wie andere auf Politif, Kunft, oder auf
was fonft für ein geiftiges Feld es fei, fo mit ihrer Theilnahme auf
die Angelegenheiten des Reiches Gottes, der Kirche und des Ehriften-
thums fich geworfeu haben. Welche Fortfchritte das Evangelium mache
in der Welt, wie e8 um den Sirchenbefuch ftehe da und dort, was
diefer und jener Verein Erkleckliches zu Stand und Weſen bringe,
was zur Hebung des öffentlichen Gottesdienftes gefchehen könne, wie
das Anfehn der kirchlichen Bekenntniſſe zu ſtaͤrken fei, was dieſe und
jene Secte glaube oder Iehre, ja fogar, in welchem Sinne man das
eine oder andre Dogma aufzufaflen, und wie man's am richtigften zu
formuliren habe: Das find die Gegenftände, für die fie ſich intereffl-
ten, nach denen fie zu fragen, von denen fie zu reden lieben. Schön
dies und loͤblich! — Aber es kann der Fall fein, daß fie mitten in
dem heiligen Lande, in welchem fie mit ihren Intereſſen fich bewegen,
ebenfowohl nur der Berdammniß erntgegenreifen, wie die DBejam-
mernswürdigen, die in den Steppen der äußerften Gleichgültigkeit,
oder gar in den Sümpfen der Frivolität ihr Element gefunden haben.
Es gibt eine natürliche Theilnahme an den göttlichen Dingen, und
mitunter fogar eine recht rege, durch welche dem alten Menfchen Fein
Haar gekrümmt, und dem Fürften der Finſterniß in keinerlei Weiſe
das Spiel verdorben wird. In dem Bewußtfein, Daß es eine folche ges
be, geſchah es, daß einmal ein alter an chriftlicher Erfahrung gereifter
Prediger einem jungen vielgereiften Theologen, der mit den Worten
fih bei ihm einführte: „Es wird Ihnen angenehm fein, etwas aus
dem Reiche Gottes zu vernehmen?“ die furze und trockne Antwort gab:
„Rein!* Der junge Mann ftugte, verftunmte, und z0g verlegen
wieder ab, Später aber it ihm dieſes dürre „Nein“ zum Segen
geworden, indem es ihm bei tieferem Nachdenken zu der gerade ihm
befonders heilſamen Einftcht führte, daß man an firchlichen Angelegen-
beiten faſt fchwärmerijchen Antheil nehmen könne, ohne darum jelbft
ein wahrer Chriſt zu fein. Wie jene Theilnahme felbft bis auf
die Paſſionsgeſchichte ſich erjtreden könne, begreift fich leicht. Diefe
Geſchichte, Die mit der reichen Mannigfaltigkeit ihrer Scenen, Perföns
lichkeiten und Charaftere einen Spiegel der Welt abgibt, wie follte
fie nicht auch ſchon da eine anziehende Kraft ausüben können, wo fie
nur, abgefehen von jedem religiöfen Bedürfniß, das noch gänzlich
ſchlummern kann, einer Empfänglichleit für rein Menichliches bes
35
546 Das Hrüige.
gegnet? Aber eine ſolche Theilnabme ik eben weſentlich ven Eriner
anderen umierfchieden, und but mi diem Glaubensichen, auf des
allein Gottes Augen jehen, nichtd gemein.
Etwas edlerer Ranır, ald das eben bezeichnete, it das Jutereie
derjenigen, deren Befreundung mit der Geſchichte und Suche Ebrifli
in der Verehrung deö legteren alö des „Heiligen in Iſrael“ wur
zelt. Gimelne dieſes Schlages befunden fi wohl auch unter jenem
nachdrängenden Volke, und auch unter uns begegnen ums ſolche höher
bejaitete Raturen nicht felten. Chriſtus ſchwebt ihnen als das voll
endete Ideal fittlicher Menſchengröße ver dem jtaunenden Blid. Arch
fie find der Ueberzeugumg, daß Ebritus in der Menſchheit Geikalt
gewinnen, und Alles in Allem bei ibr werden muijle, wenn der Zelt
ein goldenes Zeitalter ericheinen ſolle. Es bindert fie auch niches,
mit lebhafter Empfindung die Paſſion des Herr mit uns zu feiern,
indem fie hochherzig ergrimmen wider das ruchloje Geſchlecht, Das
den einzig Tadelloien, der die Erde betrat, and Kreuz jchlagen komme.
Aber beten fie auch mit uns: „D Lamm Gottes unichuldig, Das du
trägeit die Enden der Belt, erburme did unſer?“ O nein,
fommt ihnen nicht in den Sinn. So wenig fie eine Ahnung Davon
haben, daß Ehriftus, dem fie als der „Blüthe” und dem „Muſter⸗
bilde der Menichheit” geru alle Ehre amgedeiben laffen, noch etwas
Höheres gemwejen fein könne, als Dies, ebenjowenig laffen fie ſichs
träumen, daß der Menjchheit, wenn ibr gebolfen werden jolle, irgend
etwas Weiteres obliegen möchte, als Daß fie nur unter Zuſammenraf⸗
fung ibrer eignen Kräfte und mit Durchhultender Willensenergie jeuem
lebendigen Borbilde ſich zu verähnlichen firebe. Seht, jo geben Diele
trefflichen Leute allerdings mit uns den Kirchenweg, ja in einem ge
wiffen Einne fogar den Weg nah Golgatha; und dennoch fieht
ed außer Zweifel, daß ihnen jelbit noch die erjten und weſentlichſten
Erforderniffe des wahren inneren Chriftenthums: das zerbrochene Her
und der lebendige Glaube an Chriſtum als an den Gott gleichen
Mittler völlig abgehen. Entrüftet über die Mörder Jeſu, wiſſen fie
nicht, DaB fie jelbit deren Bluturtheil mit unterzeichnen. Denn ins
dem fie über den Menfchen in Jeſu nicht hinaus wollen, fiempeln
ja aud) fie Ihn, der eidlich betheuerte, daß er weſentlich eins fe
mit dem DBater, zu einem todeöwürdigen Gottesläſterer. Scheltend
auf die Pharijäer find fie im Grunde ſelbſt nur Sinnesgenofien ders
felben; denn fo wenig, wie Diefe, mögen auch fie von einem Seins
4
Die Töchter Jernſalems 547
etwas wiffen, der fie ald Sünder behandeln, und ihnen zumuthen
will, fih durch Ihn erlöfen zu laffen.
Ein drittes Verhältnig zu Chriftus, und namentlich zu dem Paf-
fionschriftus, veranfchaulichen uns die Frauen, die wir in ımferm
Auftritte weinend und wehllagend dein göttlichen Dulder folgen fehen.
Hier foheint uns nun die rechte Baffionsandacht zu begegnen. Hier
erbliden wir inniges Mitgefühl mit dem Mann der Schmerzen, herz
liche Rührung im Hinblick auf fein Kreuz, ja Thränen, Angefichte
der fpottenden Feinde um Ihn geweint, und in Diefem Allem unums
wundenes Bekenntniß, daß ein Unfchuldiger zum Richtplab gefüh⸗
ret werde, der der achtungsvollften Liebe, nicht aber der Verhoͤhnung
und des Hafjes werth ſei. Was will man mehr, als hier zufammen
trifft? Der Herr unterläßt es auch nicht, diefe theilnehmenden Ber
gleiterinnen Seiner Beachtung zu würdigen. Er wendet ſich nach ihr
nen um Wozu? Wir denken, fie zu loben, zu tröften, und fi
felbft an ihrem Anbli zu ftärken und aufzurichten. Aber wie ges
fyieht uns, da wir gerade das Entgegengefegte eintreten jehen? “Der
Herr weift die Traurigkeit der Weinenden ald eine verirrte ab, und
richtet ihre Thränen als etwas Unnützes und Unfruchtbares. Er, der,
wie Er überall, und auch in den tiefiten Leidenswegen, die vollfons
menfte Klarheit und Faſſung des Geiftes fich zu bewahren wußte, fo
auch nicht einen Augenblick die Ihm aufgetragene hirtliche Fürforge
für die verirrten Schafe aus dem Haufe Iſrael aus den Augen verlor,
ruft den Weinenden hinter Ihm zu: „Ahr Töchter Jeruſalems,
weinet nicht über mich, fondern weinet über euch und eure
Kinder!” Ein ernſtes beberzigenswerthes Wort, von dem nicht jene
Frauen allein, fondern zugleich gar Manche unter und getroffen wers
den! Ja, es fchlägt Alle, deren Andacht zum Kreuz ebenfalls nur in
einer natürlichen Rührung über das Tragifche des Lebensausgans
ges des Gerechten befteht, und die aud) nichts Anderes, als Thräs
nen des Mitleids und der Smpfindfamkeit für den Heiland haben,
Wie viel gemüthliches Zerfließen, dus bei lebhaften Veranſchaulichun⸗
gen der Marter Jeſu, bei muſikaliſchen Oratorien, bei feierlichen Kir⸗
chenfcenen, oder liturgifchen Andachten vorkommt, wird hier als uns
reines Opfer vom Herm ſelbſt zurüdgewiefen! Kaum zu ermeflen ift
es, welch’ eine Zülle von Unbußfertigkeit und phariſäiſch felbftgerechten
Weſens hinter folhen Gefühlftrömungen fich verfteden kann. Der Eine
iſt bei feiner Bafflonsandacht im Grunde nur gerührt über die eigene
35"
bus Das Heilige.
Tugend. Er denkt: „Es liebt die Welt, das Edle zu fchwärzen! Wie
einſtmals Du, da du zum Kreuze gingft, fo werde auch ich mißkannt
auf Erden!“ Und diefes Gedenken ift’s, was ihm das Herz bewegt.
O frevler Hochmuth des nichtswürdigen Sünders, in folcher Weiſe
den Gerechten aus der Höhe ſich an die Seite ftellen zu wollen! —
Ein Andrer fpricht bei fih: „Mit Dir, du Mann der Schmerzen, will
ich mich tröften in meinem Unglüd; mit Dir, der du einft auch nicht
auf Rofen wandelteft, aber durch's Kreuz zur Krone hindurchdrangſt!“
Er ſpricht's, und ihm zerſchmilzt bei Diefem Gedanken das Gemüth.
O ftrafbare Verblendung! Als litte auch er, wie jener, ſchuldlos, und
als wäre Gott verbunden, ihn für fein Leiden ſchadlos zu halten!
Was ift Pharifäismus, wenn es dies nicht ift? — Ein Dritter —
und Diefer zählt feine Genoffen nad) Zaufenden — rechnet fi) die Zäh-
ren des Mitgefühls felbft, die die Marter Chrifti ihm entloden, zur
Gerechtigkeit, und erhebt fie als vermeintliche Zeugniffe für feine
„Herzensgüte” zum Grunde feines Zroftes und feiner Hoffnung. Bes
klagenswerthe Veritrung! „Weinet nicht über mich!” ruft der
Herr. Bernehmt ihr's? Er verbittet ſich's, daß man Ihn bedaure,
und beflage. Er ift fein Unglüdlicher gewöhnlicher Art. Er unterliegt
feiner Lebermacht, weder einer menfchlichen, noch derjenigen dräns
gender Umſtände und Berhältniffe Er ftände augenblicklich ftatt mit
dem Kreuze, in der Krone vor uns, wenn Er wollte. Ganz frei
gab Er fih in feine Marter hin, um zu vollenden, was Ihm fein
Bater aufgetragen hatte; und der Name eines „tragifchen Lebensaus⸗
ganges,“ im hergebrachten Sinne leidet auf die Paffion des Herm
durchaus Feine Anwendung. Nirgends ift weniger der Ort für Thrä-
nen der Sentimentalität und des Mitleids, als an feinen Marterftät-
ten. Indem man fi) folchen Rührungen überläßt, verfennt man den
Herrn, ja würdigt Ihn herab, und verfehlt für die eigene Perſon
den Weg des Heils, der und von Gott gewiejen if. Darum ruft
der Herr ein für allemal in die Welt hinein: „Weinet nicht über
mich!” und ftellt fich damit aus der Reihe gewöhnlicher Elender umd
Unglüdlicher völlig heraus.
2.
Afo Thränen gehören zur Paffionsandacht nicht? — Wohl ge-
hören fie dazu; aber ihr Gegenftand muß ein andrer fein, als Die
Berfon des Herrn. Hört Ihn felbft: „Weinet,“ fpricht er, „über
euch, und eure Kinder!” — „Ueber uns?" — Ia, Freunde, ja}
—
Die Töchter Iernfalemb, 549
In der Hinfchlachtung des Herm vom Himmel gipfelt und vollendet
fih die Schub der Welt. Die Welt war fündig vom Fall im Pa-
radiefe an. Daß fie es war, trat in den Tagen Noahs, Nimrods,
der Richter und der Könige Iſraels grell zu Tage. „Die Miſſethat
der Amoriter” aber war „noch nicht voll.” Damit auch der Tegte
Scheingrund zu Entjchuldigungen und Befchönigungen fhwände, muß«
ten der Heiligungshaß, der Undank und die gottentfremdete Selbſt⸗
ſucht der Kinder Adams noch unzweideutiger fich offenbaren. Dem
menfchlichen Gefchlechte wurde Gelegenheit geboten, fein innerftes
Weſen fund zu geben, als ſich die Heiligkeit in Perfon ihm ge
gemüberftellte, und Gott der Herr über daffelbe dus Züllhorn feiner
Erbarmungen ausgoß. Beides geſchah in der Sendung Ehrifti, des
eingeborenen Sohnes, des guten Hirten. Wie erwies fih nun die
Belt? Sie liebte die FZinfterniß mehr, denn das Licht, entbrannte
wider den, der fie von der Sünde zu erlöfen fam, in Haß, und
ftieß ihn von fih, der durch den Mahnruf zu Wiedergeburt und
Belehrung ihren Hochmuth kränkte. An's Kreuz ſchlug fie den He
zold und Zräger der Gnade Gottes. — „Die Welt?" — Sa fiel
Schaue nur näher zu, und du wirft Dich ſelbſt mit unter dem Haufen .
finden, der dort den Herm der Herrlichkeit zur Schlachtbank führt.
Irgendwo erblicit du dein eigenes Angefiht. Iſt's nicht in Judas,
fo doch in Hannas; iſt's in dieſem nicht, dann in dem heuchlerifchen
Kaiphas, oder in dem verweltlichten Pilatus, oder in der gewiſſenlo⸗
fen Rathsheren einem, oder in wen font es fei. Irgendwo begegnet
Dir der Spiegel, der dir deine eigene moralifche Geftalt zurückwirft.
Schaue dich um, und fage, ob ſich die Scenen Gabbathas und Gols
gathas nicht geiftlicher Weiſe unausgefegt erneuern? Ob nicht auch
heute noch ein gewiffer Muth dazu erforderlich ift, den Namen Jeſu
auf offenem Markte zu befennen? Ob nicht nad) wie vor Diejenigen,
die Chriſtum lieben, fi Frömmler und Heuchler gefcholten hören mäfs
fen; und ob diejenigen, die den Fuͤrſten des Friedens Andern anpreis
fen wollen, nicht faft überall nur auf grimmige Abwehr floßen? Ja,
greife nur in deinen eigenen Bufen, und fprich, ob du, wie du biſt
von Natur, mit Zefu zu ſchaffen haben magſt? Was regt fi) in Dir,
wenn Er dir anfinnt, daß du Dich zu Seinen Schäden und Zöllnern
herunterfegen, oder deinen Mammon, oder was fonft für ein Goͤtze
es fei, ihm opfern folleft? Oder wenn Er auf dem Wege deiner
finnlihen Erluftigungen mit aufgehobenem Finger Dir entgegentritt,
550 Dei Heihge.
und von dir begehrt, daß tu Gott lebeſt und nicht der Welt, ud
auf Gottes Stege wandelũ, nicht auf dem Deinen: maß ii, Das bu
Daun zu enwñnden vilegit? Dis etwas Anderes, ald Abneigung, Bi-
derwille, Unmutb und Verdruß? Hort tu nicht von Allem licher, eis
von Ibm, und fällt Dirs jemals ein, zu Gottes Füßen Danfbar u
zerichmelzen, wenn dich Die Berihaft antönt: „Alto bat Gott Die
Welt geliebt, Daß er ſeinen eingebemen Zchn dahin gab?* D Pr
der, bis zu dieſem Augenblid noch ſcheint Ghriiius unter uns mm
Dazuiieben, Damit an Abm unſere Verderbtbeit und Beriunfenbeit in
die Erideinung trete. Wie dem, daß wur jen: Weinet nidt
über mid, ſondern weinet über euch,“ nicht verteben, sder
ale auf uns feine Anwendung leidend überbören wollen! Fürnwahr,
alle rechte Pamñonsandacht bebt damit an, daß wir webllagend wuire
Hände über das eigue Haupt zuſammenſchlagen, und uns ſelber rich⸗
ten, verdummen und des ewigen Todes wert erfennen.
Screckliche Tinge bekommen die Töchter Seruialems zu bören; wicht
aber, damit fie bemumgslos verzweillen ſollen. Bielmebr its au
bier die Das Verlorne jnchende Liebe, Die zu ibnen redet, und fie zur
quien Snınde noch zur Buße leuten mochte. Weinet über end
und eure Kinder!“ Unverfennbure Anipielung auf den entjegfichen
Fluch, den dus beihörte Belf vor Gabbatba auf fich herabbeſchwor;
und fomit zualeih Bezeichnung der Sünde, welche ald die Haupt
jünde Jiraels, und Folglich auch als Die Huuptquelle ihres ganzen wach
maligen Elendes vor Allem zu beweinen fe. „Es werden Tage
fommen,“ fährt der Herr fort, „in welden man jagen wird:
Selig find die Unfructbaren, und die Keiber, die nicht
geboren haben, und die Britite, Die nicht geſäuget baben!“
Welch eine Verkündigung! Was zu auter Zeit in Jftael als ein
großes Unglüd und eine ebenio große Schmach beflagt zu werden
pflegte, nämlich unfructbar und finderlos zu jein, das wird alsdaun
als ein beneidenswerther Vorzug geprieſen werden! — „Dann,“ führt
der Herr tert, (ſowobl bier, wie bei der vorbergehenden Rede unver
kennbar auf Ausiprüce der Propheten Jeſaias md Hoica bimüber
Deutend: denn im Worte feines Vaters lebte er, als in dem eigents
lichen Elemente feiner heiligen Seele) — „Dann werden fie ans
fangen au fagen au Den Bergen: Faller über uns; und au
den Hügeln: Bededer uns!“ Offenbar erweitert ſich bier der
Gefichtskreis Des Herm über die Schredfenstage Des Untergangs Yes
Die Töchter Jernſalems. 551
rufalems hinaus. Unverkennbar greift Sein Wort, ſich verallgemei⸗
nernd, bis auf Das Weltgericht des, jüngften Tags hinüber. Die als
dann als ſolche werden erfunden werden, welche in hartnädigem Uns
glauben und andauernder Unbußfertigfeit Ihn, ihren treneften Freund
umd einigen Seligmacyer, verwarfen, werden ſich in eine Lage vers
feßt erbliden, in welcher fie die Vernichtung dem ferneren Dafein
vorziehen werden. Sie werden die Berge anrufen, über fie zufams
menzuftürzen, und für immer fie unter ihrem Schutte zu begraben,
Aber die Berge fteben und fallen nur auf Gottes Geheiß, ımd Bolt
der Herr, ihr Feind jebt, hat Anderes über fle beichloffen, als die
Bernihtung. So werden file denn zu den Hügeln flehen, daß fie
vor dem Angefichte des zürnenden Richters fie bedecken möchten; aber
fein Schlupfwinfel wird auf und unter der Erde zu finden fein, der
dann den verfolgenden Blicken deſſen fie entrüde, welder „Augen
hat, wie Feuerflammen.“ Schmerliche Ausfiht! Und erwäget nur:
der hier die Schleier lüftet, ift nicht etwa ein wilder Eiferer, auf
deffen Drohungen nicht gar zu viel Gewicht zu legen wäre; ſon⸗
den Der iſt's, der die Wahrheit und zugleich Die Leutſeligkeit fels
ber iſt. Wie wird hiedurch der Nachdrud jenes Zurufs verftärkt, in
dem eine Bußpredigt am und ergeht, wie eine gemaltigere und ein
dringlichere auf Erden nie vernommen ward. — Der Herr fchließt
feine Anfprache an die Töchter Serufalens mit dem Ausruf: „So
man das am grünen Holze thut, was will am dürren
werden?" Diefe Worte koͤnnen nicht mißverftanden werden. Der
große Kreuzträger ftellt fich hier felbft als einen Spiegel des Zornes
Sottes dar. Weil Er der Gerechte, ja das Keben felber iſt,
beißt Er das „grüne Holz." Für feine Berfon gebührte Ihm Hert⸗
Tichteit und Wohlfein, nicht aber Leiden. Dennoch erduldet er
namenlofe Schmach und Folter. Was aber über Ihn ergeht, Das
muß mit demjenigen, was den Gottlofen gedrohet ift und bevor
ſteht, gleicher Natur und Gattung fein. Berhielte fich's anders, fo
hätte die Schlußfolgerung, die der Herr ımd aus Seinen Nöthen
auf das zufünftige Geſchick der unbußfertigen Sünder ziehen heißt,
feine Wahrheit, und der von Ihm aufgeftellte Vergleich wäre un-
angemeffen. Waren e8 „Gnadenleiden“ nur, welche Jeſum trafen,
wie fonnten dieſe dann zu einem Maßftabe für das künftige Loos
derjenigen dienen, mit denn die Gnade gar nichts mehr zu fchaffen
bat. Es waren aber Chriſti Leiden ſtellvertretend übernommene Straf-
Das Allerheiligite
— — — —
Das Allerheiligſte.
— — — —
xuvi.
Die Kreuzigung.
„Der Herr ift in feinem heiligen Tempel; es fei vor
ihm ftille alle Welt!" Mit diefen Worten des Propheten Ha-
bakuf (Kap. 3, 23.) begrüße ich euch heute, geliebte Freunde, da
wir im Begriffe fiehen, in das Allerheiligfte der evangelifchen
Geſchichte einzutreten.
Der feierlichfte aller Zage in Iſrael war bekanntlich der große
jährlihe Verföhnungstag, der einzige Zag im Jahre, an welchem
der Hohepriefter in das Allerheiligfte des Tempels einging. Ehe er
diefe geheimnißvolle Stätte betrat, mußte er, — fo gebot es das
Geſetz, — jeglichen Schmuds fich entäußern, und vom Haupte bis zu
den Füßen in fchlichte weiße Leinewand fich Heiden. Dann nahm
er die Schale mit dem Opferblut in feine Hand und, vor Ehrfurcht
bebend, fchob er den Vorhang zurüd, um anbetend und gebeugt dem
Gnadenſtuhl zu nahen, und ihn mit dem verfühnenden Bfute zu bes
fprengen. Nicht länger jedoch verweilte er an dem heiligen Ort, als
bis das priefterliche Werk verrichtet war. Dann trat er wieder vor die
verfanmelte Gemeine heraus, und verfündete im Namen Jehovas allen
bußfertigen Herzen Gnade und Bergebung.
Bir werden diefen ſymboliſch höchſt bedeutfamen Akt jet zu
feiner vollen thatfächlichen Verwirklichung gedeihen jehen. Der Un⸗
vergleichliche, von dem das ganze altteftamentliche Prieſterthum goͤtt⸗
licher Abficht gemäß nur ein vorbildender Schatte war, verliert ſich
hinter den Dichten Vorhang einer bis zum Aeußerften fich fleigernden
Erniedrigung und Qual, um, fein eignes Blut in Händen tragend,
mit Gott, feinem Vater, priefterlih für uns zu handeln. Dem Ge-
fihtötretfe der begreifenden Vernunft entrückt, und nur der glaͤubigen
558 Dei Ylcıhelige.
Abuung mod erreichbar, feht Er, was Mofes biſdernd im dus bie
tige Zignrenmwerf der beiligen Hütte verwob, nah allen Seiten jept
in That ud Weſen um. Tas Bie werden wir mu dem Saul:
blei unirer Gedanlen nie gumz ergrinden; aber wi fs, daß er
dort umire ewige Grlöiung zur ichließlichen Vollendung brachte.
Brüder! wonit werden wir Dielen feierlich erbabenen Momenten
zu begegnen haben? Mindeitend mit beiliger Zummiung des Ge⸗
mũths, mit andüchtiger Beicheufichleit, mit glänbig jeliger Bertiefung
in das große Neuterwerk, und mit dankbar zerfließenter Anbetung au
Gottes Throne!
Werde dieſes Alles von der Hund der Gnade und gewäbrt!
„Der Herr if in feinem beiligen Zempvel; es jei vor
Ihm ſtille alle Belt!
Matth. 27, 33. 34. Marc. 15, 22. 23. 25. ſac. 23, 32. 33.
3eh. 19, 18.
a4 wurben aber end Kingefährt pucca anbere Iebeilhäke, bei fie mit ihn ab»
gethan würden. Und ba Re an die Stätte lamen a en eigen, DD
dollmetſchet Schäbelltätte, it nfen, 1m ser wie Bein zu trinfen. Und de
fe ihn, aud mit ihm zwern lebelfhäter zu bei vn ein. einen zur Rechten und
einen zur Linken. Iefum aber milten inne. De ward die Erifi erfüllet, bie da
ne Er ik unter die Uebelthäter gerechnet. Und es war um bie dritte Stunde, Dei
e ihn
„Allda kreuzigten fie ihn.“ — Ber, der e8 nicht ſchon wüßte,
follte glauben, daß in dieſen wenigen ſchlichten Worten dus größte
und folgenreichfte Ereigniß der Weltgeſchichte, ja eine Begebenheit
uns berichtet werde, welche Jahrtauſende hindurch angebahnt und vors
bereitet ward, und den Mittelpunkt aller Beranftaltungen und Pläne
Gottes bildet! Und doch ift dem fo! Zritt aber nicht gerade vermöge
Diefer wortlargen Darftellung die Thatſache ſelbſt nur um fo grös
Ber hervor, und müffen wir nicht zugeftehn, daß der Ebarafter nüch⸗
terner Gegenftändlichleit, der überhaupt der Gefchichtichreibung der
Evangeliften, diefer ungetrübten Spiegel der Großthaten Gottes, eigen
if, überaus wohlthuend und glaubenftärkend auf uns einwüft?
Wir langen heute auf der Schädelftätte an. Wohlan, Jeſu Ans
kunft auf feinem Zodeshügel, der Kreuzigungsatt und das
aufgerihtete Kreuz feien die Gegenftände unfrer näheren Betrach⸗
tung!
Wenn es je zu und geheißen: „Zeuch deine Schuhe von den Füs
Ben, denn der Ort, da du fteheft, ift ein heiliger Ort,“ Dann wahrlich
heute! Dringe denn diefer Zuruf uns zu Herzen, und zu einer heiligen
inneren Feier werde uns unfer heutigen Anſchauen und Erwägen!
Wir treten noch einmal auf * Marterſtraße zurück, und ſchlie⸗
Ben uns im Geiſte dem Zuge zum Hochgerichte wieder an. Eben
bewegt er ſich an den Felſengräbern der Könige Iſraels vorüber,
Die alten Kronenträger fehlafen in ihren Kammern; aber ein Mor:
genroth des Auferftebens umzuckt ihr verdorrtes Gebein, da der Fürft
des Lebens an ihnen vorüberwandelt. — An dem Schauergrunde
Gehenna geht es jept vorbei, dem mit dem Blute der ſchrecklichen
Molochsopfer gedüngten. Es gibt aber ein entjeglicheres Gehenna
noch, als diefes; und wer unter uns wäre Dem entronnen, hätte
das Lamm dort nicht zu feinem ſchweren Todesgange fich vertan,
den? — Bir find am Fuße des verhängnißvollen Hügeld ange
langt. Ehe wir aber weiter fchreiten, werfen wir noch einen Blick in
das Bolfögedränge hinter und, und fpähen, ob denn unter all dem
Haß und Groll, der dort wie eine Höllenbrandung auffchlägt, nir⸗
gends auch nur eine Spur von Mitgefühl und herzlicher Verehrung
für den großen Dulder ſich entdeden laſſe. Und fiehe, einem holden
Sternbilde gleich in ſchwarzer Nacht, begegnet ımferm überrafchten
Auge ein thenerwerthed Häuflen. O, wir kennen fie bereits, diefe
in Thränen zerfließenden Geftalten. Zuerſt gewahren wir Die geſeg⸗
nete Mutter der beiden „Donnersjöhne”, die liebe Salome Bors
feuchten will fie ihren Kindern mit ihrer Zreue bis in den Zod; umd
wir wiflen, daß fi ein Johannes und ein Jakobus, dieſer erfte
Maͤrtyrer des neuen Friedensreihes, nachmald einer ſolchen Mutter
volltommen würdig erwiefen haben. Neben Salome wandelt Mas
ria, die Blutsverwandte, vielleicht die Schwefter der gebenedeiten
Jungfrau. Auch ihr ward die große Gnade, zwei Söhne, Jako⸗
bus den Jüngeren, und Yofes in die nächſte Gemeinidhaft des
großen Meifters aufgenommen zu fehn. Aber ad! als das Schwerdt
über den Hirten kam, Hatten auch fie mit der übrigen Heerde fid
zerſtreut, und feitdem war's der herrlichen Mutter, als liege es ihr,
wun ob, für ihre Kinder einzutreten, und durch Die eigne Treue Die
nen mit Dem Wanne, olme weichen ibr die Erde ein dunfies Grab, ja
eine Mörterböble dünfı.’— Ber ıber ik die Baufente dert, gelebut
auf den Jünger, „den eins lieb baue“? Dieie vor Allen tierf Ge
beugte, Die ihr abgehärmtes Angeſicht in ibr Ihränentudp werbälft,
wer ik fie? Die ſchwer geprüfte Mutter üts, am welder jet die
Veiſſagung des alten Eimeond Ah afült: „Ein Schwerdt wir
Durch deine Seele dringen!” Daß uber dies Bert in ſolcher Beik
ſich erfüllen würde, das batte faum ihre büiterke Abımay übe ver:
gefviegelt. Zürwabr, was lie empfindet, empfand fein zweites Ken
oem Da
mit deinem Eimer! Siebſt tu dein Kind zum
Kreuze sichn, fo Er das feine. In er dab Sein Son, der Den
‚ wie er der deine id! — D, febt den lichen Junger, wie
er, obwohl troſtlos ſelbſt, die Schmerzensteiche ſich be
nicht gar ausgefiorben if. Und fie flirbt nimmer aus; feid Darm
Setzen wir uns, Geliebte, nach dieſem flüchtigen Rückblick auf Das
Geleit des Herrn mit dem wogenden Zuge wieder in Bewegung!
Aur wenige Schritte noch aufwärts, und das Ziel der ſchauerlichen
Wanderung ift erreicht. Wo befinden wir uns? Wir iteben anf der
Höhe des Ealvarienberged. Golgatba: fdhandererregender Name!
Bezeichnung der verhängniß> und ſchreckensvollſten Stätte der gan-
zen Erde! Gebet, ein nadter, fahler Hügel, nur mit Miſſethaͤter⸗
blut gedüngt, und bededit mit den verdorreten Gebeinen gerichteter
Aufrührer, Mordbrenner, Giftmiſcher und anderer Auswürflinge der
Menſchheit. Eine Stätte des Fluchs, wo nimmer die Liebe waltet,
jondern nur die nadte Gerechtigkeit mit Schwerdt und Wage auf
dem Throne ſitzt. Ein Rabeuftein, vor dem ſich ſegnet, wer an ihm
Die Krenigumg- sot
woräbergeht; ein nächtlicher Sammelplatz hungriger Schafale und Hyd«
nen! Und denlt, Diefer Ort voll Graufens fell zu dem Berge fi
verflären,“ von dannen unfre Hülfe kommt, und defien Gcheimniffe
„viele Könige und Propheten zu fehen begehrten, und haben fie nicht
gefehn.” Fa, auf Diefem fehauerlichen Hügel werden unfre Rofen
blühen, und unfre Heils⸗ und Sriedensquellen fprudeln. Das Bella
unfrer Bergung liegt auf dieſer Höhe; Das Bethanien unſrer Ruhe
und ewigen Erquickung thut bier fih vor uns auf. Wohl hatten
Die Alten mit ihrer befannten Behauptung, daß der Berg Golgatha
den Mittelpunkt der ganzen Erde bilde, inſofern volllommen Recht,
als derfelbe wirklich den Sammelplatz abgibt, wo die Erldfeten der
Belt, ob leiblich auch durch Land und Meer gefchieden, tagtäglich
im Geifte zufammentreffen, und mit dem Kuß der Liebe fich grüßen.
Richt minder Recht hatten fie mit ihrer Sage, daß unter dem Cal⸗
varienhügel der Vater Adam begraben ruhe. In der That ifl dieſer
Hügel Adams Grab, fofern unter Ieterem der gefallene Sündenmenſch
verflanden wird, den wir Alle in und tragen, und der auf Golgatha
wirklich mit Chrifto gefreuzigt ward. Auffallend erſcheint's, daß die
Gelehrten heute noch Darüber ftreiten, wo der Berg Golgatha gelegen
babe, und daß zu einer ficheren Ermittlung diefer Stelle faum mehr
eine Ausficht vorhanden ift. Aber nach Bottes Abfiht follte jener
Berg ind Geiftige aufgehoben werden, ımd fo iſt's geſchehn. An
der Welt gläubiger Anfchauungen fand er feine bleibende Stelle,
Auf jener araufenvollen Höhe endet nun die Erdenlaufbahn des
Herrn der Herrlichkeit. Dort fleht er, der einzig grüne, gefunde und
fruchtbeladene Baum auf Erden, und an dDiefes Baumes Wurzel
legt die Art! Welch’ ein Zeugniß wider die Welt; und welch' ein
Allee, was Gott und Vorſehung heißt, vernichtender Widerfpruch,
fände leßterer nicht in dem Geheimniß der flellvertretenden Genug⸗
thuung feine Löfung. Tort ſteht Er, mit Schmach und Schmerzen
überhäuft, und von den Medelthätern, unter Die er gerechnet ft, kaum
unterfcheidbar. Aber geduldet euch! Nur einige Jahrzehnte no, und
Serufalem, dad ihn verwarf, preifet Ihn in Geſtalt eines rauchenden
Schutthaufens als den Liebling Gottes, am welchem ungeſtraft fich
Niemand vergreifen könne; und, umflofien vom Lichte des Heiligthums,
fteigen in Drei Welttheilen lebendige Völkerdenkmale auf, welche Die
Inſchrift tragen: „Chriſto, Dem Welterneuerer!“ he es jedoch
zu Diefer Wendung der Dinge kommt, gilt es noch eine ſchauerliche
36
562 Dei Ierheifighe.
Das Leben. Die Stinde jeiner Bluttaufe iſt vorbunden. Sammelt
end, Freunde, fommt und jeher!
2.
Herr Gott! was begibt fib auf dem Wurterberge! O Herz, du
Stein in unjerm Bujen, warum zeripringit du niht? Warum, du
fpröder, ftarrer Zels, löſeſt Du dich nicht auf in blutige Thränen? —
Bier im ſchrecklichſten aller Hundwerfe verwilderte Männer treten auf
den Heiligen Iſraels zu, und bieten ibm zuerit, wie es gebräuchlich
war vor der Execution, ein betüubendes Getränf aus Bein und Mor:
then. Der Hear verihmäht Dielen Tranf, weil er mit ungetrübten
Bewußtiein dem Rathe feines Gottes ſich unterziehn und die lebten
Tropfen feines Fluchkelchs trinfen will. Da nehmen die Henker das
Gotteslamm in ihre Mitte, und beginnen ihre Arbeit an Ihm da
mit, daß fie mit rohen Züuften die Kleider ihm vom Leibe reihen.
So ſteht Er nun da, Er, deilen Kleid einſt „Licht“ war, umd
die Sterne des Himmeld der Saum jeined Gewandes, ein nadter
Mann, nur mit dem Purpur feines Blutes noch bededt; und nackt
und jeglihen Schmucks entblößt nicht wor den Menfchen nur, fons
dern im Lichte der Stellvertretung aud vor Gott; gemahnend au
den nadten Adam im PBaradiefe, nur daß Gr nicht, wie jener, vor
der Stimme Gottes hinter die Bäume jich verbirgt, ſondern todes⸗
freudig ihr entgegentritt; gemahnend zugleih an den altteftament-
lichen Hohenprieiter, ſein geheimnißvolles Vorbild, der, che er das
Vollk verfühnend das Allerbeiligfte betrat, jeglichen Zierrath gegen eine
fchlichte weiße Leinewand vertaufchte. Nachdem man den Herm entfleis
det, und unter göttlicher Zügung nur feine Mittlerzier, Die Dornen:
frone, ihm belaflen hat, ftredt man ihn nieder auf das Holz, an
dem er verbluten foll, und führt jo, ohne es zu wiffen und zu wollen,
den im 22. Pfalme prophetifch vorgebildeten Moment herbei, aus wels
dem die Meffiasflage uns antönt: „Sei nicht ferne von mir; denn
Angft ift nahe, und ift bier fein Helfer! Große Farren haben mich
umgeben, und der Böfen Rotte bat ſich über mich hergemacht!“ —
D, welch’ ein Sterbebette für den König der Könige! Freunde, fo
oft wir auf dem weichen Pfühle des Friedens Gottes ruhen, oder in
trauten Bruderkreifen, Lieder der Hoffnung fingend, an ımfrer Pilger:
frage felig beifammenlagem, laßt es uns nicht vergeffen, daß der
Die Krenggung 563
Grund, um deswillen uns fo fänftig gebettet wurde, einzig darin zu
fuchen fei, Daß der Herr der Herrlichkeit einft, ein. geduldiges Lanım,
auf jenes Schauerlager für uns fich niederftredte.
D, feht ihn liegen! Die heiligen Arme gewaltfam über das Quers
bolz ausgeredt, die Füße auf einander gelegt, und mit Striden ums
wunden! So lag einft Iſaak auf dem Holze des Altars Morijas;
aber die Stimme, die dort vom Himmel rief: „Lege deine Hand
nicht an den Knaben!“ fchweigt über Golgatha. — Die Henker greifen
zu den Hämmern und Nägeln. Doch wer gewinnt es über fich, dem,
was fich jet ereignet, weiter mit zuzufchauen? Eine tiefe, ängftliche
Stille tritt unter der Gaffermaffe ein, ähnlich derjenigen, die in einem
Zrauerhaufe einzutreten pflegt, wern man anhebt, den Sarg zu ver:
nageln. Und wohl nicht auf Erden nur, fondern auch im Himmel
entftand in diefem Augenblide eine tiefe, feierliche Stille. — Die
entfeßlichen Eifen, in höllifher Effe geglüht, und doch auch wies
der im Heiligthume der Ewigkeit vorgefehn, werden den Händen und
Füßen Des Gerechten aufgefeßt, und — die dumpfen Hammerfchläge
fallen! Hörft du fie dröhnen, Menfh? Auf Dein Herz donnern fie
zu, in grauenvoller Sprache Zeugniß gebend von Deiner Sünde, und
zugleich vom Zorne des allmächtigen Gottes! O, wie viele Schläfer -
find fchon unter dem Wiederhall jener Hammerfchläge wach geworden
von ihrem Zodesfchlaf, und nüchtern aus des Teufels Strick! Ers
wache auch du, fchlaftrunfener Sünder! Auch du in fleifchliche Sicher⸗
heit Eingewiegter, werde endlich einmal nüchtern! — Wie Manchem
fhon zerbrach unter jenen Schlägen in heilfamer Buße das troßige
und flolzge Herz! O, warum zerbricht es Darunter nit auch Dir?
Denn wiffe, daß Du jene Hämmer einft mitgeſchwungen haft, und daß
du den himmelfchreiendften Frevel, mit dem fich je die Welt beladen,
in deiner eignen Rechnung verzeichnet findeſt! — Sehet, die Nägel
fehlugen durch, und aus Händen und Füßen entquillt dem Heiligen
das Blut. — DO, diefe Nägel haben den Feld des Heiles uns geöffe
net, daß er fein Lebenswafler, die himmlifche Balfamftaude gerißt,
daß fie uns ihre Narde gebel Ja, die Handfchrift, die wider uns
war, haben fie durchbohrt, und als nichtig an das Holz geheftet, und
find, indem fie den Gerechten verwundeten, wie der Nagel der Jael
dem Heiden Siffera, fo der alten Schlange tödlich durch's Haupt ges
drungen. D, daß nur Niemand an dem angehefteten Manne fich jept
verſehe! Diefe Durchgrabenen Hände fegnen flärker, als fie jegneten,
36*
|
fie noch frei und umgehmden fich bewegten. Sünde eined wen
derbaren Banmeikters ũnd fie, die den Zenmel einer ewigen Sirde
bauen; ja, eines Helden Hin, Die Tem Starten ſeinen ganen Hank
rath nebmen. Und glaubr's, es it fein Heil und feine Hülfe, als al-
fein in dieſen Händen! Und tieie blutenden Füße treten gewäal⸗
tiger auf, als da noch feine Feñel ihre Schrüte bemmte. Leber die
Höhen Zaniender von Feinden, tie fur zuver noch kübn ihr Haupt
erhoben, fdhreiten fie füegreich jeßt einber. Hügel md Berge emiedri-
gen fie unter ihren Zritten, die fie im unbiutigen Zuitande wimuner
erniedrigt baben würden. Und fein Blüben it noch Grünen in der
Ä
üite Dieier Welt, als allein unter Dem Rauichen Diejer Füße.
er entieplichite aller Alte it vollgogen, und das propbetiiche Pialm-
: „Sie baben mir Hände und Züße durchgraben“, u
feiner Erfüllang gelangt. Da wird denn der Zub des Holzes näher
an die aufgeworiene Grabe, in der es haften ich, berangerüdt. Kräf-
fige Männer ergreiten das an feiner Epige befeitigte Seil, und be
ginnen zu ziehen, umd das Kreuz mit jeinem Opfer richtet ſich ax,
bebt fich, Heigt zur Höhe. So ſpeit die Erde den Fürften des Le
bens von ihrem Angefichte binweg, und wie es jcheint, will auch der
Himmel Ihn noch nicht haben. Doch laflen wir die Schleier über
dieſe Schreden fallen! Gottlob! in jenem Warterbifde gebt über der
fündigen Erde ja eben die Sonne der Gnade anf; md der Held ans
Juda fleigt in die TS pbüre der „Geiſter, Die in der Luft herrſchen“,
nur empor, um dieſelben in einer gebemmißvollen Schlacht zu unſern
Gunſten ewig zu entwaffnen.
O jehet, welch' Schauſpiel, das fich jegt uns darſtellt! In dem
Momente, da der Gelreuzigte an jeimem Holze fib zur Höhe auf
fhwingt, fällt, aus feinen Wunden trinfelnd, ein Purpurregen durch
die Luft, und benept die Marterftätte, und Die Eimderborde, Die fie
mfteht. Dies Sein Vermächtniß für jeine Kirche! Er babe Dank
für ſolchen Nachlaß! Diefer roienfarbene Thau ift wunderthätig. Auf
geiftliche Steppen fallt er, und fie bfühen wie die Lilien. Wir fprew
gen ihn am die Schwellen unfrer Herzen, und find gefihert vor allen
Würgern und Racheengeln. Auf Tas Eis des Nordpols ſenkt ſich
diefer Thau, und das taujendjäbrige beginnt unter ibm zu ſchmelzen.
In die Glut des Südens ftrömt er nieder, umd die Luft wird durch ihn
fühl und lieblih. Wo dieſer Regen fällt, ſprießen Gottesgärten anf,
erblühen Rofenfelder; und was ſchwarz ift, wird in dieſem Bade
—
1»
Die Kreugigung. 565
weiß, was befledt, wird rein wie Licht der Sonne. Ya, was der
Thau und Regen der Ratur, die ohne denfelben bald zur den Wüſte
würde, das ift für die menfchliche Gemüthöwelt der Purpurregen, den
wir Dort vom Kreuze riefeln ſehn. Kein Gedeihen ohne ihn, ohne ihn
fein Wachsthum und fein Grünen, fondern überall nur Verwüſtung,
Unfruchtbarkeit und Zod. Wollen wir drum etwas thum, fo laßt ums
das Kreuz umfaflen, und einftimmen in das alte wohlbelanute Besslein:
D, daß mein Herze offen ftünd,
Mud fleißig möcht‘ auffangen
Die Tröpflein Bluts, die meine Sünd’
Am Holze dir abdrangen.
Ach, daß fih meiner Augen Brunn’
Aufthaͤt, und mit viel Stöhnen
Heiße Thraͤnen
Bergöfle, wie die thun,
Die fi in Liebe fehnen!
3
Da ragt's denn, das verhängnißvolle Holz: ein Felſen, an dem Die
Feuerwogen des Fluchs fich brechen, eine Wetterſtange, an der ein
Blitz herunterfährt, der unabgeleitet die ganze Welt zerfchmettert
hätte! Er, der erbarmungsvoll diefen Strahl auf fich zu lenken ſich
erbot, dort ſchwebt er, zwar in tiefe Nacht verhüllt; aber nichtsdefto-
weniger der Morgenftern, der der Welt einen ewigen Sonnentag
verkündet; ein Auögeftoßener zwar von Himmel und von Erde, aber
. gerade als folder das Beide verfnüpfende Band, und der Vermittler
ihrer erneuerten und ewigen Befreundung! Ach, feht, feine biutigen
Arme find weit auseinander geredt: allen Sündern breitet er fie ent-
gegen. Seine Hände zeigen gen Aufgang und gen Niedergang: von
den Enden der Erde wird Er fich feine Kinder ſammeln. Des Kreu-
ges Spiße deutet aufwärts in die Wolfen: weit über die Welt hinaus
wird die Wirkung defjen fich erſtrecken, was eben auf feiner Höhe ſich
vollzieht. Des Kreuzes Zuß haftet im Grumd der Erde: zum Wun⸗
derbaume ergrünte das Kreuz, von welchem wir die reife Frucht einer
ewigen Verſoͤhnung brechen. O, Freunde! hinfort bedarf es weiter
nichts mehr, als daß Gott ein Weinen durch unfre Reihen fende,
wie das Weinen zu Bochim, und dann vermittelft des heiligen
Geiſtes das Marterbild am Holz uns verfläre: fo find wir aller
Grdenforge und Noth entrüdt, und gehn unter Dem Geläute himmli-
ſher Sabbathaloclen mit allen Bedürfniffen unfres Herzens froh vor
566 Ss Alerheilighe.
Anker. Richts bedarf es hinfüro mehr, als daß wir, unfrer Rat
lofigkeit bewußt, die Hömer jenes Altars umfafien, welchen das Bint
geröthet, das „beflere Dinge redet, denn Abel“: und der Mann der
Schmerzen thut die Fülle feiner Schätze vor uns auf, md im über:
fhwänglich gefteigertem Maße erfüllt fi an und das Gegenswert
des Patriarchen Jakob über feinen Joſeph: „Die Segen deines
Baters geben höher, denn die Segen meiner Voreltern, und fleigen
bis zur Wonne der ewigen Hügel!”
Dort ftebt e8 aufgerichtet, Das Panier des ueuen Bundes, da,
wo es verftanden wird, nicht minder Schredden um ſich ber verbreitet,
als Entzücden, und nicht minder Wehklagen wirkt, als Jubel md Froh⸗
loden. Noch heute ſteht's, und es wird ewig ftehen, umd fürdhtet ſich
vor denen, die es fällen möchten, nicht mehr, als der Stab Mofis
einft ſich fürdhtete, da die Stäbe der Zauberer ihn umziſchten. Und
wo immer es entjchleiert in die Erfcheinung tritt, da iſt's auch von
Kroftäugerungen und Wunderwirkungen umgeben. Durd) die Böller
tragen wir, und erobern ohne Schwerdtichlag Land um Land md
Deite um Veſte. Sehet, wie die Miffionsfelder grünen, umd fid
ein Geiftesfrühling über die Heidenfteppen breitet! Hört, wie von
den Infeln des Meers die Friedensherfen zu uns herübertönen, md
fhaut, wie zwifchen den Gisbergen des Nordlands die Herzen in
göttlichem Liebesfeuer zu erglühn beginnen! Woher diefe Bandlungen
und Auferftebungswunder? Woher diefes NRaufchen und fi) Regen
auf dem großen Zodtenfelde? Das Kreuz wird durch die Lande bin
durchgetragen, und unter feinem Schatten ergrünt das Erdreich, umd
belebt fih Das Erftorbene. Ya, wo dieſes wunderbare Holz mit der
richtigen Deutung feiner Hieroglyphenſchrift fich zeigt, pflegen „Bike,
Donner und Stimmen“ von ihm auszugeben. Steine fchmelzen in
feiner Nähe, Zelien zerfpringen vor ihm, und Gewäfler, längſt zu
Lachen abgeftanden, fchlagen, als ob ein bemegender Engel in fie bin⸗
abgeftiegen wäre, aufs neue frifche und gefunde Wellen.
„Ich bin mit Ehrifto gefreuzigt,” frohlodt der Apoftel, und
bezeichnet mit dieſen Worten die ganze Frucht, die Das Kreuz allen
Gläubigen getragen hat. „Nicht feine Sünden find e8,* will er fa-
gen, „über welche dort der Fluch einberbrauft, fondern die meinen:
denn der Mann des Todes dort am Marterpfahle bin ich ſelbſt.
Ich büße, ich biute, ich verſchmachte dort; ich zahle meine Schulden:
Denn Ehriftus zahlt und büßt an meiner Stelle!" Wei aber Banins
RN
. Die Krensigumg. "567
fih hier rühmt, das kommt uns Allen zu, vorausgefebt, daß auch
wir durch das lebendige Band des Glaubens und der Liebe mit dem
Gefreuzigten eins geworden find. ‘Freilich werden wir dann in die
Gemeinfchaft des Kreuzes Chrifti auch in dem Sinne mit binmf-
gehoben, daß unfer natürliches Ich zum Tode verurtheilt, und unfer
alter Menfch fammt Lüften und Begierden tagtäglich, bis der Lanzen-
ſtich des leiblichen Zodes ihm ein ewiges Ende macht, theild durch die
Demüthigungen, die Gott uns zuſchickt, theils durch den Geift der
Zucht, der in und wohnt und waltet, dem bittern Prozeſſe eines fort-
gehenden Sterbens unterworfen wird. Unter diefen Todeswehen aber
fehn wir das Kreuz von Golgatha erft feinen vollen Friedensglanz
entfalten. Wie ein Regenbogen wölbt fich's über unfre Nacht, wie
eine FZeuerfäule leuchtet's auf allen unfern Kummerftraßen uns voran.
D, freue e8 denn auch uns feine Friedenslichter auf den Pilgerpfad!
Schlage e8 als Baum der Freiheit und des Lebens auch in unferm
Daſein ſtarke Wurzeln! Werfe es, im Glauben erfaßt, auch uns
feine Himmelsfrüchte in den Schooß, und erwarme und erweitre fich
in feinem Schatten auch und Herz und Gemüthe zu dem Sange:
Sei gefegnet, theures Kreuz,
Schanplatz ew'ger Siege,
Sterbebett all’ meines Leid's,
Meines Friedens Wiege!
Grabftein über'm Afchenfrug
Meiner Sünden alle;
Kreuz, daß meinen Tod erſchlug,
Sei gegrüßt mit Schalfe! — Amen. —
—eobedor ——
XLVII.
Die Kleidertheilung.
Unſrer groͤßten Dichter einer, und zugleich einer der, wie man es
nennt, „vom Gfüde bevorzugteſten“ Menſchen, die vielleicht je auf
Erden gelebt, bekennt auf der Höhe eines 75jährigen Alters, er
wiſſe fih aus feinem langen Leben auch nicht einer Zeit von vier
568 Das Ußerpeilighe.
Wochen zn Armen, in der er ein eigentliches Behagen empfunden
habe, „Es war,” spricht er, „das ewige Waͤlzen des Steines, der
immer auf’8 neue gehoben fein wollte." — Dagegen bezeugt der Apoftel
Baulus Phil. 4, 11 von fih: „Ich babe gelernt, bei was ich im-
mer bin, vergnügt und zufrieden zu fein;” und mit der That feines
ganzen Lebens hat er dieſe Ausfage befiegelt.
Welch' eine Kluft zwifchen diefen beiden Männern! Der eine, von
Geſchick und Welt auf den Händen getragen, wälzt, fo lange er at
met, den Stein des Sifpphus. Der andre, meiſt von der Welt mit
Füßen getreten, und ein Srenzträger, wie wenige, liegt fein Lebenlang
mit feinem Herzen an der Küfte eines unwandelbaren Friedens vor
Anker,
Bemeßt nach dem grellen Abftande, in welchem ſich Diefe beiden
Männer zu einmder befinden, den ungleichen Werth einer zweenfachen
Erbſchaft: der Erbfchaft, mit welcher die Welt ihre Kinder abzulsh⸗
nen pflegt, und derjenigen, deren die Reichsbuͤrger Ehrifti fich zu ge
tröften haben. Die eine iſt gerfließender Schaum, der den Gaumen
reizt, aber nimmer fättigt. Gründliche Befriedigung und wahre Be
glückung gewährt einzig und ewig nur die andre
Welches ift das Vermähtniß, das und Ehriftus binterlaffen hat? —
Kommt! Einen Theil deffelben, und einen weientlichen Theil werdet
thr in diefer Stunde näher famen lernen. —
Matth. 27, 35. 36. Marc. 15, 24. Kur. 23, 34* Joh. 19, 23. 24.
Die Kriegsknechte aber, da fie Iefum gefrenzigt hatten, nahmen fie feine Kleider,
und machten vier Theile, einem jeglichen Kriegsknechte einen Theil, dazu auch den
Rod. Der Rod aber war ungenähet, von oben an gewirfet durch und dur. Da
ſprachen fie untereinander: Laſſet und den nicht zertheilen, fondern darum Ioofen,
weß er fein foll. Auf daß erfüllet würde die Schrift, die da faget: Sie haben meine
Kleider unter fich getheilet, und haben über meinen Rod dad Loos geworfen. Sol⸗
ches thaten die Kriegäfnechte, und dad Bolt ftand und fahe zu. Und fie faßen allda
und hüteten fein.
Ein merkwürdiger Vorgang, zu dem wir heute kommen, merkwürdig
auch ſchon für den, der mit uns noch nicht glauben kann, noch
mag. Ein Beerbungsakt vollzieht fih in der Scene, bei Dem, theil⸗
weife wenigftens, wir felbft fehr nahe betheiligt find. Ein Sterbe
bette gibt ſich uns hier zu fohauen, ein Erblaffer, ein VBermächtniß, und
Beerbte. Selig, wer den leßteren ſich beigugählen berechtigt if}
Die Meibertheilung. 569
Kommt, treten wir dem Auftritt näher, und richten ımfere Blicke zu-
exit auf den Zeftatorz dann auf deſſen Nachlaß; und endlich auf
die Erben.
Verleihe der Herr, daß die Begebenheit, deren wir heute Zeugen
fein werden, ſich ihren geiſtlichen Sinne nad) vollſtaͤndig unter uns
erneuern möge!
1.
Zeftator heißt, wie ihr wißt, derjenige, der eine Erbichaft hin-
terläßt. Ein ſolcher begegnet uns in unfrer heutigen Geſchichte. Frei-
lich follte man ihn am legten an einer Stätte fuchen, wie die, an der
wir heute wieder zufammentrefien. Bir ftehen auf der Höhe Golgathas,
Allerdings iſts ein zum Theil glänzen der Kreis, der uns hier um-
gibt. Ratheheren, Prieften und Cohortenführern begegnet unfer Auge.
Da follte man nun wohl meinen, daß, wenn ein Teftator ſich hier
befinde, derſelbe nur ımter diefen Würdeträgern zu fuchen fein müſſe.
Aber dem ik nicht alfo. Schauet über euch, und gewahrt zwifchen
den zwei Genoffen feines Unglüds den blutigen Mann am Holz des
Fluches. Nein, wer fo ftirbt, wie diefer hart Gefchlagene, der ſtirbt
nicht wohl. „Unfer Ende,” möchten wir rufen, „fei einft nicht wie
dieſes Dulders Ende!" D Schauer ohne Gleichen! Entjelich find
Die Schrecken, die ihr feht. Aber was find fie gegen Die geheimnißvol⸗
len Qualen, die erft hinter Dem Vorhang der außeren Gefchichte
ihn überfluthen? Ach, weich’ ein Abfchied von der Belt! Ein Heer
hohnlachender Höllengeifter die Umgebung feines Sterbelagers ; bie
Dede, in die er gehüllt if, der Fluch des Geſetzes; die Atmofphäre,
in der ex verathmet, Durchglüßt von Grimm und Zom; fein lepter Zranf
Die Roth, die Angft eines Verworfenen ; das Abfchiedslied, das ihm
gefungen wird, ein fatanifcher Hohn und Spott; feine einige Zuflucht
ein verhülltes Baterantlig, Das ihn eines fpürbaren Liebesblickes wicht
wehrt würdigt; feine Ausficht ein Tod, „deſſen Gewalt der Teufel hat;
und der ihm die Augen zudrüdt, kein Engel mit der Palme, fonts
dern eben jener finftere Schreckenskönig!“ Faßt dieſes Alles in einen
Blick zufanmen, und was werdet ihr fagen? Nicht wahr, das heißet
Armuth, Elend, Roth und Drangfal, und ift ein Sterben in der
vollften und fehauerlichiten Bedeutung diefes Wortes! Aber wie ge-
febieht euch, Brüder, wenn ich euch nun eröffne, dieſer ärmfte aller
Armen fei eben der, den wir zu fuchen ausgegangen ſind? „Wie,“
böre ih auch fagen, „Der doch nicht der Zeflator ma?" — Bir
570 Yal Baheiighe.
—— — ja, Gremde, Er ii es, und fein Anderer.
Ga, a he he an hen der
fie gilt, im Biderfprucdhe fieht. Sie ik fein bitterer Hohn, ſendern
tiefe Wahrheit. Jeſas von Razaretb, König der Juden!“
beißt fie. — Wie,“ ruft ihr, „der Elende dort ein König!" — D FZrem:
de, er ift ein Mehreres uud Größeres noch, deun Das! Die Jeile dert
befagt zu wenig. Wir fireichen fie, und fegen flatı ihrer: „eins
von Nazareth, der König aller Könige!’ — Der „König allaı
Könige?" — Nein, au dieſer Zitel redet noch zu unbeftimmt. Er
weiche einem anderen, die Aufichrift laute: „eins von Razaretb, der
Sohn des lebendigen Gottes!" — Doch auch diefe Siguatur
genügt noch nicht. Wir tilgen auch fie, und fchreiben: „Iefus von Ra-
zareth das A und D, der Erfte und der Lepte, der Schöpfer
und Träger aller Dinge, Gott hochgelobet in Ewigkeit!“
Bei die ſem Epitaphium mag's verbleiben! — „Und die ſe Bezeich⸗
nung hätte wirllich Grund?" — Den feſteſten und ummuftößlichkten !
Er war’s, Er iſt's auch zwifhen den Schuern feines biutigen
Sterbebeites noch, und wird e8 ewig fein. Sein iſt Alles: Him⸗
mel und Erde; die Seligleiten des Paradiefes; die Lebensbänme am
Strom der Gottesftadt, und die Ehrenfrone an deren Säulen. Bas
er aber von Aufang ber befuß, befaß er einzig nur für fi, und höd-
fiend ein Etwas nur davon für Die treu gebliebenen heiligen Engel.
Uns Sündern durfte er auch nicht das leifefte Schimmerchen von
feinen Herrlichleiten zu Theil werden laſſen, wenn er feiner Ehre und
feiner Majeftät nichts vergeben wollte. Die göttliche Gerechtigfeit, die
uns verdammen mußte, legte gegen jede Mittheilung folcher Art den
entichiedenften Einfprudy ein; ebenfo die göttliche Heiligkeit, die nur
Sündenreine fegnet, und die göttliche Wahrheit, die nie leere Worte
macht, und fomit auch feine Drohungen ausfpricht, die fie nicht mit
der That beflegelte. Wollte nun der reiche Herr vom Himmel nichts:
Deftoweniger dies und jenes von feinem Eigenthum auf uns vererben,
fo war vor Allem noth, daß er jene erhabenen Widerfacherinnen um:
jeres gefallenen Gefchlechts in einem heiligen von Gott felbft verord⸗
neten Wege zufrieden ftellte. Und biezu hat er ſich verftanden, ins
dem er es übernahm, an unferer Stelle den Gehorfam zu leiften,
ben wir ſchuldig blieben, und an feiner Perfon den Fluch vollziehn
Die Kleidertpeifüng. 571
zu laſſen, der auf uns laſtete. Und fiehe, Beides vollführte er in
den graufigen Momenten, in denen er heute und begegnet, und baut
fo durch ftellvertretendes Erdulden unfres Unglücks Seinem eigenen
Glüde zu uns Unglüdswürdigen die Brüde, Weil er aber durch
diefe Genugthuung fich die Vollmacht erwirbt, uns, die Sünder, in
die Gemeinſchaft feiner Seligfeit aufzunehmen, fo dürften wir wohl
daran thun, die Infchriften, die wir eben auf fein Kreuz gefebt, wie
gegründet fle an fich auch immer feien, Doch wieder zu entfernen, und
es bei der erften und urfprünglihen: „Yefus von Nazareth,
König der Juden,” zu belaffen. Sie bleibt an ihrem Orte die
bezeichnendfte: denn warum litt und ſtarb der Herr, als weil er nicht
blos der Sohn des lebendigen Gottes und nur ein Befehlshaber
über die Welt und ihre Kreaturen fein, fondern zugleich der König
und fegnende Friedensfürft eines aus den Sündern gefammelten geift-
lichen Ifraels werden wollte,
2.
Den großen Zeftator Fennen wir. Der blutende Mann am Holze
ift es. Eben dadurch, daß er dort hängt, erwirbt er fich die Ermäd-
tigung, die rechtmäßig enterbten Adamskinder in ihr verfcherztes Erbe
wieder einzufeßen. Worin befteht aber feine Nachlaſſenſchaft? Theil-
weife, und zwar ihrem edelften Beſtandtheile nach, fpiegelt fie fich
in unferer heutigen Geſchichte. Ein Kleinod fchimmert Daraus hervor,
mit welchem wir zugleich das Unterpfand empfangen, daß e8 uns an
feinem Guten mangeln werde. Laßt von der Höhe des Kreuzes
den Blick zu defien Zuß hemmieder gleiten. Da Tauern vier Henlers-
knechte bei einander, mit großer Gefchäftigfeit ein eigenthümliches Wert
verrichtend. Sie haben den Mann beerbt, den fie an's Holz gefchla-
gen haben. Sie erbten Alles, was derfelbe noch befaß: feine Klei⸗
dDungsftüde Eben find fie damit befchäftigt, das weite Ober:
gewand zu zertrennen, und es ftüchweife unter fich zu vertheilen. Wie
fie aber das Unterfleid näher befchauen, erkennen fie in ihm ein
feltenes Kunftwerk; denn das Gewand ift ohne irgend eine Naht,
und durch und durch aus einem Stück gewoben. „Diefer Rod,“
denfen fie, „darf nicht zerfchnitten werden,” und kommen mit einander
überein, das Loos um ihn zu werfen. Sie werfen’d; und der Glüd:
liche, dem der Zreffer fällt, ift im Beflg des ganzen Rockes.
Faffet diefe würfelnde Gruppe unter dem Kreuze nun wohl in’
Auge Was diefelbe bier vornimmt, ift überaus bedeutfam und
572 Dad Ukerheilighe.
finnreich. Auf den erften Blick möchte man wicht weniger deuten, als
eben dies; aber ſchon der Umftand, daß uns fünmmtl — na
heiligen Geiftes jene Kleidertheilung melden, verbärgt uns deren ſum⸗
bolifches Gewicht und göttlichen Gedanfeninhalt. Hiezu kommt, daß
die Söldner, natürlich ohne es zu ahnen, mit ihrer Kleidertpeilung,
fowie mit der Werfung des Looſes um den ungenähten Rod, eime
faft taufendjährige biblifche Weiffagung zur Erfüllung bringen. Ihr
lefet in unjerm Gvangelium bei fänmtlichen Evangeliften Die Worte:
„Soldyes geſchah, auf daß die Schrift erfüllet würde.” Und es iſt
euch bekannt, daß es der 22. Pſalm ift, auf den diefer Fingerzeig
hinüber deutet. Yu dieſem heiligen Liede, das ald ein prophetiſcher
Herzenderguß des gefchlachteten Gotteslammes bezeichnet werden darf,
fpriht der Mittler im voraus durch den Mund Davids, feines leben
digen Schattens, die Gedanken und Empfindungen aus, die einft am
Kreuzeöftanme ihn bewegen würden. „Hunde,“ heißt es dafelbft un⸗
ter anderem, „haben mich umgeben; der Böfen Notte hält mich um-
zingelt. Sie haben meine Hände und Füße durdhgraben. Ich möchte
alle meine Gebeine zählen. Sie aber ſchauen ihre Luſt an mir.“
Und num folgen die Worte: „Sie theilen meine Kleider un:
ger fi, und werfen das Loos um mein Gewand.” Bas
fagt ihr zu diefer Stelle? Muß em Ausſpruch des Geiftes der Weiſ⸗
fagung, wie Diejer, nicht auch Die Ungläubigſten überrafchen umd
flugig machen? David vermochte wenigitens das Letztere in jenen
Worten nicht von ſich felber auszufagen. Dieſer Zug paßte nur zum
Bilde des Dulders, in deffen Leben wir ihn fi) heute thatſächlich
verweben fehen. Der Blutende auf Golgatha ift alfo der geheim:
nißvolle Mann, der fid) im 22. Pialme als den Mittler der Welt ans
fündet. Wenn nun fohon Das dem ımjcheinbaren Alte der Kleider:
theilung ein nicht geringes Gewicht verleiht, daß er den Herm Jeſum
als den wahren Meffias kenntlich macht; fo werden wir das Haupt-
gewicht deflelben doch noch in etwas Anderm entdeden. — Ber
Allem fragt ſichss, aus welhem Grunde der Herr in jene pros
phetiſchen PBaffionsklagen des genannten Pſalms die Worte habe ein-
fließen laffen: „Ste haben meine Kleider unter ſich getbeilt,
und das 2008 geworfen um mein Gewand.” Gewiß that Er
dies nicht allein in der Abficht, irgend einen am fi) geringfügigen
Umftand nambaft zu machen, aus defien ſpaͤterem Eintreffen erhellen
Die Kleidertheikung. 578
follte, daß Er in der That der verheißene Mefftas fei. Bedenkt, daß
e8 vielmehr feine wirklichen Betrachtungen und Gefühle am Kreuze
find, die er im 22. Pſalme ausfpricht. Theils find es Klagen und
Aeußerungen des Schmerzes, theils aber auch herzerhebende Berge:
genwärtigungen der unvergleichlichen Früchte, die aus feinen Leiden
den Sündern erwachfen würden. In die letztere Klaffe füllt der Aus:
fpruh: „Sie theilen meine Kleider,” u. f. w. Der Her ride
tet fi darin an den gefegneten Crgebnifien feines Blutvergießens
auf. Worin aber erblickt er diefelben? Darm natürlich nicht, daß
fih die Simder in feine irdifchen Kleider theilen würden. Offen⸗
bar aber nimmt Er diefe äußere Kleidertheilung als ein finnvolles
Symbol, und fieht darin eine andere ungleich höhere, weil geifl-
liche, abgefchattet. „Aber welche andre” — So, Geliebte, würden
wir noch fragen können, wenn in der heiligen Schrift nirgends fonft
von einer Bekleidung die Rede wäre, die Ehriftus ums erworben
habe. Nun aber wißt ihr, daß einer folchen hänfig Erwähnung ge
ſchieht. Diefes geiftliche Mleidervermächtniß foll ums dort finnfich ver:
anfchaulicht werden. Sehet, Dies der Zweck jened Vorganges auf
der Schädelftätte.
Es ift der ernfteften Beherzigung wertb, was wir von Adam
fefen. Ehe er der Sünde Raum gab, prangte er in dem weißen
Ehrenfleide einer volllommenen Unfchuld. Als ein liebes Kind ward
er gehalten in des Vaters Haufe. Er durfte Ihm nahen und an
fein Herz fich werfen, wann und wo e8 ihm beliebte. Alles war ihm
unter feine Füße gethan, und feine Seligfeit floß in nie erfchöpften
Strömen. Die heiligen Engel waren feine Gefpielen, und der Friede
Gottes feine Speife früh und ſpat. Kaum aber, daß der unglück⸗
felige Fall gefchehen war, verkehrte fic fein ganzes Verhältniß. Wir
fehen ihn jegt vor dem Angefichte Gottes fliehen, ja fi) verbergen;
und hören ihn das: „Adam, wo bift du?“ mit dem Mäglichen Rufe
erwiedern: „Ich fürchte mich, denn ich bin nadend; darum verftedte
ich mich!“ Was aber offenbart fich in dieſem feinem Belenntniß, als
unfer eigener natürlicher Zuftand. Adams traurige Blöße ift die unfre.
Auch wir „ermangeln‘‘, wie der Apoftel fpricht, „Der Herrlichkeit, Die
wir vor Gott haben follten,” Nadt find wir. Nicht ein Faden der
Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ift und geblieben. Bis auf den letz⸗
ten Schimmer hat die Sünde uns den Glanz unferer urfprüngfichen
Schöne abgeftreift. Diefer Umftand ift aber entfelich und verhäng-
mei left, ie gewiß find wir ven der ⸗
geſchleñen, baben wir nicht eine Heiligfeit im Licht Seiner Augen
zu itellen, die fidy Ibm, wenn auch im verjüngten Maßntabe, als em
reiner Abylanz Seiner eigenen Bolllommenbeit zu erfenuen gie. We:
ber aber ſelch Geihmeide nehmen? Vom eignen Webitubl beben
wirs micht ab. Aber es wurd anderweit für und geiergt. Hört ibr
den Ruf: „Zieber an den Herrn Jeium Ehritum" Dies
ter Ruf bilft ıms auf die Srur der ſelignen Eutdeckung.
Wir fehren zu den Kriegäfnechten unter Dem Kreuz zunid. Sie
find eben beſchäftigt, in das Obergewand des großen Sterbenden
fh zu tbeilen. Hier it ibnen eine Zerſtückelnug nicht verwehrt.
Sie bleiben damit ganz in dem Pille, das fie ımd unter göttlidher
Tirecien vor Augen malen ſollen. Das Obergewand verriunbild-
Iuht die auswirfende Kraft: und Lebensfülle Jein, md in zwei⸗
ter Bedeutung die uns zugedachte Geittesbegabung Dieſe iſt
tbeilbar, und erideint in Der Gemeine der Gläubigen aud ver:
tbeile. Tem Einen fiel von dieiem Rablaß mehr, Tem Andern
meniger zu. Tem wurd Me Gnadengabe der „Erlenntniß“, Jewem
die des „Weilfagens nach demſelben Get”, einem Dritten Die Des
Die Kleidertheilung 975
Berge verfebenden „Blaubens“, einem Vierten die der „Geifters
unterfcheidung”, u. |. w. Zum Seligwerden wird irgend ein bes
fiimmtes Maß dieſer Geiftesgaben überall nicht erfordert. Ein
Erbftüd aber gibt e8, das für Jeden, der im Gericht beftehen will,
ſchlechthin unentbehrlich ift. Auch deſſen Sinnbild findet ihr in den
Händen der Söldner unter dem Kreuze. Seht, außer dem Ueberwurf
des Herm ift ihnen noch eine andere Beute zugefallen; und fie bil
det den eigentlichen Kapitalfchag ihrer Erbfchaft. „Es ift der
Zeibrod des Schmerzendmannes, den Er unter dem Mantel zu tras
gen pflegte: ein merfwürdiges Kleid, aus weißem Linnen, ohne Naht,
aus einem Stück; alſo ein Kleid, wie es der Hohepriefter anlegen
mußte, wenn er am großen Verföhnungstage in's Allerheiligfte einging.
Daß man einen folchen Priefterrod auf der Bruft Jeſu findet, daß
derfelbe auf der Mörder einen fi) vererbt, und zwar ganz und uns
getheilt ihm zufällt, das ift Alles höchſt bedeutfam. Einem Kinde
fann e8 nicht entgehen, daß e8 bier vor einer thatfächlichen Geheim⸗
fchrift ftehe, Hinter -der irgend etwas Großes und Tiefes zu fuchen
fein müffe. „Was ift aber der Kern diefer heiligen Symbolik?“ —
Wer wäre unter euch, Freunde, der das nicht ahnete? —
Unter dem glänzenden Gewande feiner wunder= und thatenreichen
Erſcheinung trug der Heiland noch ein andres: das Kleid Seines
bis in Noth und Tod hinein geleifteten volllommenen Gehorſams.
An demfelben mangelte nichts. Diele Augen haben es gemuftert:
Menfhenaugen, Eungelaugen, Augen der Teufel; aber alle haben fle
ihr Wunder dran gefehen. Selbſt die Augen Gottes befchauten’d mit
Entzüden, und vom Himmel fiel die Stimme: „Dieſer ift mein lieber
Sohn, an dem Ih Wohlgefallen habe!’ — Es war ein Kleid, nur aus
den goldenen Fäden der reinften Gottes: und Menfchenliebe gewirkt;
und wie ohne Fleck, ſo ohne Naht: aus einem Stüde war es gewo⸗
ben. — Ihr jeht, diefer Gerechtigkeitsſchmuck des Sohnes Gottes
ift’s, der uns durch den „ungenähten Rod“ verfinnbildficht werden
follte, um den dort am Kreuze das Loos geworfen wird. „Aber
wie?” fragt ihr befremdet. „Auch er gehörte zu der Nachlaffenfchaft
Jeſu für die Sünder” — Ohne Zweifel! Hört die Schrift! „Gleich⸗
wie durch Eines Menſchen Ungehorfam Viele Sünder geworden find“,
jagt Paulus, „alfo werden durch Eines Gehorfam Viele Gerechte.“
Und wiederum: „Gleichwie durch Eines Sünde die Verdammniß über
alle Menfchen gefommen ift, alfo ift auch durch Eines Gerechtigkeit
576 Bas Bäcrheiigße.
die Rechtfertigung des Lebens (d. i. die das Beben ſchafft,) über alle
Menichen gekommen.“ — Nicht bles Bergebung war uud zugedack,
fondern noch ein Beiteres und Größeres. Paulus beyengt Apfig. 26,
18, e8 habe ibn der Her verfichert, daß die Semen empfaben fellten
„Bergebung der Sünden, und das Erbe fammt den Heili-
gen.” Hier wird alfo ein Zwiefahes nambaft gemacht. Berge:
bung würde uns nur gegen die verdiente Strafe fihern, ab mit em
negativen Gut der Unverdammlichkeit belehnen. Aber nah
dem Rathichluß des erbarmenden Gottes fellten wir auch poſitir
erhöht, geſegnet und beiefigt werden; und hiezu bedurften wir eimer
Gerechtigkeit, die uns nicht allein der verſchonenden Sroßmutb,
fondern zugleich dem Tiebenden Bohlgefallen des heiligen Gettes
empföhle. Und auch fie erwarb uns Ebriflus, indem Er im fleliver:
tretender Erfüllung des Gefehes jenen unvergleichlihen Gehsrfam
Gott vor Augen fiellte, der, wie er Seitens Gottes uns aus Gmaten
zugerechnet, fo unfrer Seits durch den Glauben ergriffen wir,
und, nach gefchehener Aneignung, die Junge unfres Herzens und zu
dem Sange des Propheten löit: „Ich freue mid) in dem Herm, ud
meine Seele iſt fröblich in meinem Gott; denn Er bat mich ange
zogen mit Kleidern des Heils, und mit dem Rod der Gerechtigfeit
mich gefleidet, wie ein Bräutigam mit priefterlihem Schmucke fi
ziert, und eine Braut in ibrem Gefchmeide pranget. Denn glei wie
die Erde ihr Gewächs hervorbringt, und der Gurten fein Geſäctes
wachſen läſſet: aljo wird der Herr Herr Gerechtigkeit und Lob wach⸗
fen laften vor allen Voͤlkern!“ —
3.
Von der Erbſchaft richten wir einen flüchtigen Blid noch auf die
Erben. Wer überfonmt den koſtbaren Schmuck? Denkt! der Mir:
der einer, die unter Dem Kreuze beiſanmen fipen, iſt der Glückliche.
Dieſer Umſtand bejagt uns nad) Gottes Abflht, daß feine Gottle⸗
figfeit, wie groß fie inmmer fei, al® ſolche unbedingt von der Erb⸗
ſchaft ausichliege. Es kommt nur darauf an, daß das Siunbißdfide
der Stellung jener Henker, und ihres Verhaltens zu dem Klei⸗
nod, fih wejentfich in uns erfülle —
„Ihrer Stellung’ — So is! „Sie hüten das Kreuz,“
und bezeichnen uns damit die Landungsfäfte, zu der als zu umfrer
fegten Zuflucht der Wind des Herzensbedürfniffes auch unfer Schiff
fein treiben muß. — „Ihres Verhaltens zu dem Kleinod —
X
Die Meivertheilung. 677
Allerdings! denn zuerft wiſſen fie die Koſtbarkeit des ungenähten
Nodes zu würdigen; zum Andern fehen fle ein, daß derfelbe nur in
feiner unzerftüdten Ganzheit einen Werth habe und ein wahrer
Schatz fei; und endlich laſſen fie ſich's gern gefallen, daß fie zum Be⸗
fiß des feltnen Gewandes durch Wurf des Loofes, mithin ohne eignes
Berdienft und völlig Eoftenfrei, gelangen follen. — Berfteht ihr. diefe
Bilderfchrift? Ich denke nicht, daß fie einer weiteren Deutung für
euch bedürfen wird, Werdet arme Sünder, lemet Gottes For-
derungen an euch verftehen, und feid Damit zufrieden, aus Gnas
den gerecht zu werden: fo hat ſich das Symbol unter dem Kreuze
in fein thatfächliches Gegenbild in euch umgeſetzt. —
Wie wird der Erbe des ungenähten Rodes über den ihm zugefal-
lenen Gewinn gejubelt haben! — Wir, Freunde, erbten das Gewand,
das und zu Gegenftänden des göttlihen Wohlgefallens madt;
und die Saiten unfrer Herzensharfen follten [hweigen? — Ohne
Zweifel legte der Glückliche fein Erbitü unverzüglich an, und trug’s
hinfort. Laffen wir den Winf nicht außer Acht, der au uns
hiedurch gegeben it: „Ziehet an den Herm Sefum Chriſtum!“ —
Sicher fiel e3 jenem Menfchen niemals ein, dem kunſtreich gewobenen
Kleide fremdartige Lappen aufzufegen. Hüten auch wir und vor dem
Wahn, als fei die Gerechtigkeit, die wir in Ehrifto haben, unfrerfeits
irgendwie noch durch eigene Zuthat zu ergänzen; haften wir vielmehr
die Begriffe: Rechtfertigung und Heiligung wohl auseinander!
— Schon jenes irdiſche Kleid des Gefreuzigten wird auf das Gemüth
des Söldners, deſſen Eigenthum es ward, muncherlet Einfluß aus-
gebt, und ihn bald bewegt, bald erjchüttert, bald befchämt, bald er:
hoben, und jedenfall das Bild des Mannes, von dem er es ererbte,
nimmer im Spiegel feiner Erinnrung haben erbleichen Taffen. Ermeſſet
darnach, mit wie gewaltigen und heilfamen Wirkungen erft das Wefen
jenes Schattens, die Ehriftusgerechtigkeit felbit, für Das Herz
und Leben derer verpaart gehen wird, die fle in lebendigem Glanben
fich anzueignen mußten! — Der Waffenknecht mochte, was feine
Oberfleider betraf, mitunter ärmlich genug einhergehn; und doch
war ihm, ſchaute man tiefer, nicht abzuftreiten, daß er foftbarer ge⸗
fleidet fei, al8 mancher König. Verhält ſich's nicht gleicher Weile
mit den Kindern Gottes, deren Außerer Aufzug oft, namentlich in
Tagen der Anfechtung, nichts weniger als glänzend iſt; und Doc ruhet
das Auge ded ganzen Himmels auf ihnen mit Luft, und am fie ergeht
37
378 Des Aerheilighe.
das Wort des göttlichen Bräutigams im Hobenliede: „Tu Pitt aller:
Dinge Ichon, meine Zreundin, und it fein Zleden an dir!“
Wünſcheu wir ıms denn Glüd, tbeure Brüder, zu dem ummergleid-
lichen Erbtbeil, das der Mann am Areuze ums binterlafien bat. Halter
wir, jo viele unirer Grund Tuben, den Beerbten uns beizuzäblen, das
Bewußtſein m uns wach und friſch, Daß wir in Chrüte ver Get
fhen gerechtfertigt find, und die Liebe Gottes nice nah dem
Grade unirer periönlichen Heiligung uns zugemeilen wird. \umer
geläufiger werde uns die Glaubenslooiung, mit der wir Die Bel
überwinden: „Jebova Zidkenu“, d. i. „Der Herr it uniere
Gerechtigkeit!“ und immer entichiedener beige eö in ımierm riefen
Innen:
Weil ganz muß fein, ohn' Fled und Naht,
Was Sort nicht ſoll verfinden,
So geb’ ich's aui, mein'n Hodzeitälaa
Im eignen Werk zu Inden:
Und fude draußen alle Pracht
Die einſt mich Ihmud’ und fröne.
Mir felber fag’ ih gute Nacht,
Und leb' in Ehriki Ehöne! — Amen.
—8>0 —
XLVII.
Die Ueberſchrift.
„greibeit und Gleichheit!“ hieß Das Loſungswort Des be
fannten Aufrubrs der Rotte Korah in der Wüſte. Nicht Moies
und Aaron allein follten berrichen, tendern ein Jeder im Wolfe
gleihberechtiat, und „die ganze Gemeine beilig fein.” —
Ta fprach der Herr zu Moſe: „Sage den Kindern Iiracl, ımd nimm
von ihnen zwölf Stäbe, von jealihem Züriten ihrer Väter Günter
einen: und ichreibe eines jealihen Stummfürften Namen auf feinen
Stab. Aber den Namen Aaron follit du ichreiben auf
den Stab Levi. Tem je für ein Haupt ihrer Väter Hänier ſoll ein
Die Heberfärift. 579
Stab fein. Und lege fie in die Hütte des Stifts vor der Bundes-
lade, da Ich euch zeuge. Und welhen Ich erwählen werde,
dDeffen Stab wird grünen, daß Ich vor mir fille das Murren
der Kinder Ifrael, Das fle wider euch murren!“
Ihr wißt, der Befehl Jehovas wurde vollzogen. Die Stämme
brachten ein jeder feinen Stab, und Mofes legte fie an den bezeichnes
ten Ort im Heiligthume. Des andern Morgens aber, da er die Hütte
öffnete, fand er „den Stab Aarons grünen, und die Blüthe
aufgegangen, und Mandeln tragen.” (4 Mof. 17, 8) Er
zeigte ihn dem Volke als ein göttlich Zeichen, daß dem Stamme Levi
das Priefterthum und die Pflege der heiligen Hütte gehöre. —
Wir fommen heute auf unferm Betrachtungsgange zu einer Stätte,
wo wir in ähnlicher Weife und unter ähnlichen Verhälniffen, wie
einst im Lager Afraels, ein dürres Holz mit dem Namen eines großen
Hohenpriefterd bezeichnet finden, Auch Ihm wurde Seitens einer
wilden Meutererbande das Fönigliche wie. das priefterlihe PBrimat
beftritten. — Hat e8 Gott dem Herrn gefallen, auch Ihm Zeugniß
zu geben? Hat auch fein Stab gegrünt, in Blüthen fich gekleidet,
und Mandeln getragen? — Ich denke: ja; und noch Föftlichere trug
er, als der Stab Levi. Er hat e8 den Stäben aller Gewaltigen und
Weiſen in der Welt an Fruchtbarkeit zuvorgethan. Kommt, Freunde,
und befchauen wir uns dieſes Wunder in der Nähe!
Matth. 27, 37. Marc. 15, 26. Fuc. 23, 38. Ich. 19, 19— 22,
Und oben zu feinem Haupte hefteten fle die Urfache feines Toded, was man ihm
Schuld gab, befchrieben. Und Pilatus ſchrieb die Ueberſchrift, und fegte fie oben
auf dad Kreuz, und war gefhrieben: Jeſus von Nazareth, der Juden König. Und
es war geſchrieben auf hebraifhe, griechifche und lateiniſche Sprache. Diele Ueber⸗
ſchrift Tafen viele Juden. Denn die Stätte war nah bei der Stadt, da Jeſus gekreu⸗
zigt ward. Da fprachen die Hohenpriefter der Iuden zu Pilato: Schreibe nicht: ber
Zuden König, fondern daß er gefagt babe: Ic bin der Juden König. Pilatus ant-
wortete: Was ich gefhrieben habe, das habe ich gefchrieben !
So ftehen wir denn wieder auf dem Marterberge. Lautes, wildes
Getümmel um uns her. Bom Kreuze des göttlichen Dulders ſchim⸗
mert die Auffchrift uns entgegen: „Jeſus von Nazareth, der
Yuden König.” Dreifach wurde fie daran verzeichnet, und zwar,
auf daß alle Welt fie Täfe und verftünde, in der griechifchen, latei⸗
nifchen und hebräifchen Sprache, alfo in den drei Sprachen der Theo⸗
37
BB Dad Aüerheiligfe.
logie. Pilatus hatte es fo verordnet, theils durch eine dunkle ehr:
furchtsvolle Ahnung dazu beftinunt, theils in der Abſicht, zu qu
ter Letzt noch den verhaßten Juden einen Schlag zu verfeßen. As
Diefe die Anfchrift lefen, eilen fie ergrimmt zum Procurator, md
herrfigen ihn an: „Nicht, wie du gefchrieben haft, Darf es heißen!
Herunter mit jener Tafel vom Kreuze des Läſterers! Schreibe, a
babe aumaßend geſagt, daß er der Juden König ſei!“ Pilatus
aber entgegnet kurz und entſchloſſen: „Was ich gefchrieben habe, des
babe ich gefchrieben!" — Recht fo, Pilate! Was du fchriebft, fchrieht
du nicht in Willkühr; fondern ein Andrer führte Dir Dabei die Hand,
Geweiffagt haft du, wie einft Bileam, und bit mit Deiner Aufſchrif
wider Wiffen und Wollen ein Zeuge der Wahrheit geworden!
„Jeſus von Nazareth, König der Juden.” Dieſer Titel
fei unfer beutiges Thema; und in den gefreuzigten Manne den wir:
lichen König Iſraels anzuſchauen, fei der liebliche Zweck unfrer ferneren
Betrachtung, Wir erkennen ihn ald den König am Kreuz zuerft m
der Majeftät, die ihm dort umgibt; dann an den Stiegen, Die ram
Holz davonträgt; zum dritten an der Reichsgründung, die er u
ſelbſt vollzicht; zum vierten an den Gerichten, die er dort verhängt,
und endlih an dem Regimente, das er vom Holze herab ausübt.
Begleite der Herr unfre Erwägung mit feinem Segen, und helfe Ex,
daß fid) die Schrift des Kreuzes in das Mark unfrer Herzen übertrage!
1,
Den König Iſraels willft du ſchauen! Komm, Freund, md
folge mir! Wohin? Nach Zerufalem ehva? Nein, nach dem Marter:
hügel Golgatha! Siehft du den Mann dort in feinem Blute jchwin.
men? — „Wie,“ fprichft du, „dieſer ein König?’ — Schüttle niet
das Haupt, fondern wife: Dir nur fehlt Das Licht, nicht Ihm de
Majeftät. Tritt in die Tempelhallen des alten Teſtaments zurück und
fiehe da in heiligen Liedern und Gottesſprüchen die Kerzen brennen,
die dir Golgatha beleuchten. Zünde deine Fackel an den Pſalmen
Davids an, in denen dur einen großen König flagen hörſt: „Sie baden
mir Hände und Füße dDurchgraben, und geben mir Galle zu trinken in
meinem Durfte;” und er bleibt doch ein König! — Vernimm den alten
Prophetenfprud) des Sehers Jeſaias von einem Manne, der zwar „u
unferer Miffethaten willen werde zerichlagen “ werden, „auf Deflen
Schultern“ aber nichtödeftoweniger die „Herrichaft ſei,“ und deſſen
„Friedens Fein Ende werden“ folle auf Erden. Lies Sacharias Wert:
Die Heberfchrift. 581
„Schwerdt mache dich auf über den Mamı, der mir der Nächte
it!“ und höre den Herold durd) die Wüfte rufen: ‚Siehe, das tft
Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.” Eile mit diefen Lichtern
nad der Schädelftätte zurüd, und fage, ob dich's noch fo fehr be-
fremden fann, über dem mittleren der drei Kreuze die Schrift zu fin-
den: „Jeſus von Nazaretb, der Juden König!” Eine
ganze Wolfe heiliger Zeugen umgibt gefenkten Haupts das Kreuz:
ehrwürdige Geftalten, erprobte Heilige; Patriarchen und Seher, Sän-
ger und Propheten, Könige und Priefter. Nein, dieſe macht das
Königsbild in feinem Blut nicht irre. Anbetend, umd nicht flugend,
lefen fie die Schrift der Kreugestafel: „Jeſus von Nazareth,
König der Juden.“
Fragſt du, wo denn die Majeftät Diefes Königes ſei? Fürwahr, fte
iſt vorhanden, wenn auch augenblicklich wie der Goldglanz der Bun-
deslade unter den Widderfellen. Aergere dich nicht an der dunklen
Wolke, die Ihn umgraut! Der Blid des Glaubens auges dringt
durch fie hindurch, und begegnet in duftigem Hintergrunde einem Res
genbogenkranz von Engelhäuptern und Seraphsangefichtern. Sehen
fie traurig, weil ihres Königs Auge im Zode bricht, fo tragen fie
doc die Balmen jchon in den Hünden, mit denen fie. Ihn zu ſei⸗
ner Thronbeiteigung begleiten werden. Und wer ift dort in den ent
legneren Firnen der himmliſchen Welt die leuchtende Schaar, die in
Anbetung verfunfen unter den Bäumen des Lebens auf ihren Ange:
fihtern liegt? Die Heiligen Gottes find’, die ſchon das Reich er:
erbten, che noch der Herr der Herrlichkeit zur Erde niederftieg. Aber
Er ſprach, als fie den Staub der Pilgrimfchaft vom Fuße ſchüttel⸗
ten: „Ich Taffe mein Leben für diefe Lämmer!“ und auf dieſes
Königswort hin öffneten fih auch ihnen die Paradieſesthüten. He-
noch iſtss, und Methuſalah, Noah md Abraham, Iſaak
md Jakob, Moſes und Elias, und wie fie weiter heißen.
Seit lange ſchon genoffen fie die Früchte der Verdienfte ihres Bür⸗
gen, bevor derfelbe noch fein Werk auch nur begonnen hatte. Nun
fehen fie Ihn den verheißenen Sold für jie bezahlen, und Die Woh-
zung der Seligkeit, in der fie haufen, mit den Stützpfeilern des Rech⸗
tes untermauern. Und was bleibt ihnen übrig bei dieſem Anblid,
als ambetend vor dem Wunderbaren in den Staub zu finfen, und
zu befennen, daß fte auch mit ihren verflärten Augen die Tiefen
einer ſolchen Erbarmung nicht zu ergründen wüßten ? — Und ſchauet
582 Das Alerheiligke.
weiter noch im Geifl. Die Menfchenheerde dort aus allen Voͤllem,
aus allen Zahrhunderten, die Augen ſehnſuchtsvoll zum Kreuz empor:
gerichtet, den Blick voll heiligen Friedens und ftiller Hoffnungsfeig-
feit, wer ift fie, Ddiefe in unabfehbaren Kreifen den Todeshügel um
drängende Schaar? Seine Gemeine iſt's, das Volk der Grlöjeten,
überall und zu allen Zeiten die Beften und Edelften der Menſchheit in
fi) fchließend. Seht, Weihrauchfchalen in ihren Händen! Bon nichts
mehr wollen fie wiffen, diefe Feiernden, ald von dem erwürgten Lamme.
Herrliche Belränzung des Marterberges! Lieblicher Ehrenbogen um
den Kreuzespfahl! — Wiſſet, dergleichen Gefichte fiehet Der Glaube,
der die Schleier zu heben verfteht, und in das Inwendige ſchauet.
Und wie er diefe Bilder fieht, verwandelt fih das Kreuz vor ihm in
einen Thron, in ein Diadem der Dornenfranz um des Schmerzens⸗
mannes Stim; und mit ehrfurdhtsvoll gebeugtem Knie lieſt er die
Pilatusinfchrift: „Zefus von Nazareth, der JZudenkönig!‘
Ja, e8 gibt fich am Kreuze eine Majeftät fund, zu deren Gemah-
rung ed des Glaubensauges nicht einmal bedarf; eine Majeftät, wie
diejenige der aufgehenden Sonne, wenn eben noch die Schatten und
Nebel drunten ihr Wefen trieben, als wäre ihnen auf Erden Di
Reich befchieden. Aber nun tritt fie hervor, „wie ein Bräutigam and
feiner Kammer,” und fchreit nicht, noch Täffet fie ihre Stimme hören
auf den Gaſſen; und nichtsdeftoweniger jagen die Schatten vor if
rem Angeficht auseinander, und Die Nebel zerrinnen in nichts unter
dem lange ihrer Flügel. So bethätigt fi) des Menfchen Sohn an
feinem Hol, Er, „die Sonne der Gerechtigfeit mit Geneſung m
ter ihren Flügeln.” Welch’ ein fatanifcher Rauchqualm um ihn ber!
Welch' wüftes, höllifches Nachtgewölfe, das Ihn umgibt! Hört Diele
Hohngefchrei aus den aufgeriffenen Mäufern des Volks und jene
Führer: „Er hat Andern geholfen, er helfe ihm felber, ift er der
Chriſt, der Auserwählte Gottes! Bift du der Juden König, To zeigt,
und ſteig' herab vom Kreuze!“ Aber fehet den Verhöhnten, wie unte
diefer Höllenbrandung in feinem heiligen Königsangefichte auch nich
eine Miene ſich verändert, Mit erhabener Ruhe ſchaut er von jeine
Höhe darein, und die Küjterer find befchämt, verwirrt, und fallen in
ihre eignen Schwerdter, inden fie, während fie den Herrn der Her
lichkeit zu läftern vermeinen, nur mit lauter Stimme als denjenige
Ihn preifen müffen, „der Andern geholfen habe.” Wir geimahren
dieſe feine koͤnigliche Ruhe, diefen uͤbermenſchlichen Gleichmuth, dieft
Die Meberfihrift. 583 *
himmlische Geduld; und Angefichts ſolcher Majeftät, die allein ſchon
hinreicht, feine Widerfacher zu vernichten, meinen wir die Anfchrift auf
jeinem Hole nur um fo glänzender erftrablen zu fehn: „Jeſus
von Nazareth, der Juden König.“ |
2.
Ja, Er iſt's! Du erkennſt Ihn an feinen Siegen, die Er am
Kreuzespfahl erringt, und deren eriter als ein glorreiher Doppel:
fieg erfcheint, indem Er ihn über fich ſelbſt und zugleich über den
hölliſchen Verſucher davon trägt. Ein mächtiger Anfechtungs-
ſturm dringt auf Ihn ein, und zwar in dem aus dem Volk zu
Ihm heraufdröhnenden Rufe: „Er hat Andern geholfen; ift er
der Ehrift, der Auserwählte Gottes, fo helfe er ihm
jelber und fteige herab von feinem Kreuze.” Ein flar-
fer Anlauf des Böfewichts; faft ein ftärferer noch, als den er auf
der Zempelzinne einft mit feinem „Biſt du Gottesfohn, fo laß dich
hinab!’ wider den Herrn wagte. Wie fehr entſprach jenes angera-
thene: „Steig herunter!“ den Bedürfniffen der menfclichen Na⸗
tur unſres Friedensfürften! Folgte Er diefem Winfe, ſo war nicht
allein Er ſelbſt mit einem Male von aller feiner Qual erlöft, fondern
auch der fäfternde Widerfacherhaufe auf eine beifpiellofe Weije aus
dem Felde geichlagen, und fat noch unzweideutiger, als es nachmals
durdy Jeſu Auferstehung von den Zodten gefehah, von deſſen Gott-
heit überführt. Verlockender Gedanfe, mit einem Schlage die wü-
thende Rotte verſtummen zu machen, und ihre Kniee in den Staub
zu zwingen! Aber hinweg mit ihm! Iener Rath ift nicht gehener!
Ein FZalftrid ift er; eine Leimruthe des liftigften Vogelſtellers; ja
ein Fels unter dem Waſſer, an dem furz vor der Einfahrt in den
Hafen noch das Schiff des ganzen Verföhnungswerks ftranden foll,
Jeſus durchſchaut das teuflifche Gewebe, und fpricht im Geifte:
„Hebe dich hinter mich, Satan!” Nein, nicht herunterfteigen, ſon⸗
den biuten, opfern und den Sold der Sünde zahlen
will Er. Mit erhabenem Schweigen weiftt Er die Aufforderung
ab, und bleibt an feinem Holze, Auch nicht einmal vorübergehend
nur bat der Held in feiner Bahn gewanft. Kommt, flechten wir
Ihm einen Delzweig durch die Dornenfrone, und umwinden mit Feier:
fränzen die Kreuzesinſchrift: „Feſus von Nazareth, Der Juden
König!”
Ya, ein Löniglicher Sieger hängt in Ihm am Kreuze. Du möchteft
er 5684 Das Akterheitigfte.
denken, Niemand fei befiegter je geweien, ald Er. ber das Fem⸗
rohr des Glaubens belehrt dich eines Anderen. In dem Gemälde,
das Durch dieſes angefchaut fich dir entfchleiert, fichft Du das Auge
Immanuels nicht brechen, fondern zerichmetternde Blitze ſprühen;
feine Hände nicht gefeffelt, fondern frei ein wunderbares Kriegsfchwert
ſchwingend; feine Züge nicht im Stod, fondern binraufchend über einen
flurmumtobten Plan. Heiß it der Streit; wild das Getümmel; ein
Kampf der Verzweiflung, der fich entipann, und die Menfchheit de
Preis, um den die Schlacht geichlagen wird. Die ftreitenden Par:
theien der „Fürft über das Heer des Herm,” und — die Hölle
Wie toben und fperren fih die Abgrundsengel! Es foll ihnen der
Raub genommen, das Scepter entwandt, und das Recht, das fie
durd) Gottes Gericht über uns gewonnen haben, wieder entriffen wer
den; und der Mann im Dornenkranze its, Der ihre Macht bedroht
und brechen will. Da bleibt denn im Rüſthaus des Höllenpfuhles
nichts unergriffen, wa® irgend Hoffnung auf Steg gewährt. Aber der
„Held aus Juda“ fpottet der „bebenden Lanzen.“ Er biutet, aber
dieſes Blut ift der Feinde Sturz, Er fällt in der Widerfacher Hände;
aber dies wird das Mittel, uns aus ihren Händen zu erlöjen. Er
läßt ſich feffeln von den Belials-Rotten; aber feine Ketten gebüren
unfre Freiheit. Er leert den Zorneskelch; aber nur, Damit er ibm
für uns mit lauter Gnade fülle. Er läßt fih in die Ferſe ftechen;
aber in demfelben Augenblick zertritt er der alten Schlange den Kopf;
und nad einer ganz andren Kriegsregel, als die gewöhnliche, erjchlägt
er den Feind, wie Sinifon, mit feinem Falle. Solches thut der Ram
am Hole. Mag nun der Eine klagen, daß der „Schönfte der Ma:
ſchenkinder“ fo erniedrigt fei, und ein Andrer ſich heiſer fchreien:
„Steige herab, und zeige, wer du biſt;“ wir Hagen und fchreim
alfo nicht, Die wir mit Glaubensaugen zu ſchau'n verftehen. Uns
dünkt, daß Er nicht herrlicher erfcheinen würde, wenn Er, umflunge
von Engelharfen, in majeftätifchen Glanz vom Kreuz herniederſtiegt,
als er dort in feiner Blutgeftalt vor unfern Augen ſchwebt. Wir fehe
unfern Michael mit Siegesſchmuck bededt auf taufend Drader
bäuptern ftehn, und rufen, in Die Pofaune des Triumphes ſtoßend:
„Sefus von Nazareth, der Juden König!” —
Ein dritter Sieg wird am Kreuze errungen, von allen der größte
und wunderbarfte. Ich nenne ihn den Sieg des Gefepgebers
über das Gefeg. Wiſſet, an Luft und Liebe und zu reiten,
Die Ueberſchrift. 685 ;
gebrachs im Himmel nicht. Im reichften Maße waren fle vorhanden.
Nur fehlte die Berechtigung zu dem großen Werl. Das Geſetz,
das heilige und unverbrüchliche, war der Riegel vor der Schatzkammer
der Erbarmung. Das Gefeß legte gegen unfere Erlöfung fein Veto
ein. „Kein Heil den Sündern,” ſprach ed, „bevor fie zahlten, was
fie ſchulden!“ Und fiche, felbit die ewige Majeſtät fah fich gebunden
durch dieſen Einfpruch. Aber die himmlische Weisheit wußte Rath,
auch Diefe Feſſel rechtmäßig zu löfen. Der ewige Sohn flieg zur
Erde nieder, um das Nein des Gefeßes in Inuter Ja zu verwandeln.
Er Tieß fih „unter das Geſetz“ thun, und erfüllte es ftellvertretend
in einer Weife, daß er auftreten und fprechen durfte: „Wer kann mich
einer Sünde zeihen?“ Doh dadurch war der Riegel von den
Gnadenfchleufen noch nicht weggefchoben. Es galt auch noch Erduldung
des Fluchs, dem wir durch Schändung des Gefeges verfallen waren.
Er unterzog fih auch Dem, und trank den Zorneskelch. Blieb ein
Tropfen darin zurüd? „Nicht einer!” urtheilt das Geſetz. Und wie
mn der Gnadenruf vom Hinmel niedertönt, hat das Gefeg nichts
mehr dawider einzuwenden. Die göttliche Gerechtigkeit tritt ihrer
hehren Schweiter, der Liebe, das Scepter ab, und zwar ohne hier:
durch ihrer eignen Glorie auch nur im Geringften etwas zu ver
geben. Wir ftaunen ob diefer Ueberwindung des Geſetzes ohne Ge-
waltthat im Wege Nechtens, und Iefen huldigend die Kreuzesfchrift:
„Sefus von Nazareth, der Juden König!”
Ja, er iſts! Aber wo ift fen Reich? Eben pflanzt Er’s von
feinem Holz herab. Dieſe Blutstropfen dort find das Gold, um das
Er fi fein Volk erfauft, und dieſe Sterbefeufzer, die feiner Bruft
entfteigen, die Glocdenklänge, mit denen der Geburtstag feines ZJions
eingeläutet wird.
Nicht dort hat Er fein Reid) gegründet, wo Er das Volk um fich
verſammelte, und predigend zu ihm redete auf dem Berge der Se-
ligkeiten. Nicht dort, wo Er Zunfen der göttlichen Wahrheit fireute
Durch Die Nacht, und vor dem Yadeljcheine feines Himmelslichtes Die
Schatten des Todes auseinanderftoben. Nicht dort, wo Er die fin-
fern Geifter bannte, und durch feine Wunderhülfen Schaaren Muͤh⸗
feliger fi zu ewigen Danke verpflichtete. Nicht dort, wo Er mit
dem Glanze feiner Thaten die Welt entzüdte, und fi) von den Ho⸗
Rannc’s der Begeifterten umllungen hörte, Hätte Er nach dieſen
: 586 Das Alerheiligke.
Triumphen die Welt wieder geräumt, fo wäre Alles beim Alten ge
blieben auf der Erde, und Er felbit ohne Königreich und Leute. Kein
Jeruſalem erhübe ſich im ZTodesthal; feine Fahne der Freiheit wehete
von Zion; fein Zuda Gottes „gen Morgen gelagert“ begegnete unjerm
Bid, und fein Bruderchor zöge duch Die Wüfte, und jünge: „Bir
reifen nach) dem Vaterland!” Nein, mit Lehre, Predigt und Exempel
war's hier nicht gethan. Auf „Bundesblut“ mußte Die neue Stadt
gegründet werden. Und es geihah! Die durdhbohrten Hände dert
am Pfahl des Fluches eroberten die Welt, und bauten inmitten dei
Reichs der Finſterniß das Reich des Lichtes und des Friedens. O
Wunder fonder Gleihen! Ja, Pilate, was du gejchrieben haft, ge
fchrieben bleibe es für die Ewigkeit: „Jeſus von Nazareth,
der Juden König!“
4.
Die Juden abmeten nicht, daß Er es fei. Sie mwagten zu rufe:
„Sein Blut komme über uns und unfre Kinder!“ Ihr wißt, das Blut
ift gefommen, und zwar mit der Stimme, die die Unglüdjeligen
in ihrem Wahnſinn zu hören begehrten. „Wehe“, fchrie das Bin,
und forderte Rache wider fie vom Himmel. Schaut, was fidh ereignet:
Schweres Wettergewölf zieht fich über Jerufalem zuſammen. Lodernd
Kriegesfackeln brechen us Land. Ein Wald von Zeindeslangen un
ftarrt Die heilige Stadt. Der Tempel geht in Flammen auf. Die
Mauern jlürzen. Kein Stein bleibt auf dem andern, und das Blut
der Kinder Abrabams fließt in Etrömen. Und was dem Schwert
entrann, muß hinaus in's Weite, fort von den geliebten Hügeln, ven
den Gräbern der Väter fort in ode, unwirthbare Fremde. Und Zirad
bleibt das gejchlagene Volk bis diefen Tag, und fehleicht nur nod
umber als Mumie feiner einftigen Herrlichfeit, Aber nach göttlicer
Abſicht geichiebt's, daß dieſe achtzehnhundertjährige Salzſäule, dieſts
Wunder des brennenden Buſches, der Doch nicht verbrennt, nach wie vor
vor unjern Augen dajteht. Dies Volk foll uns in feinem Elend em
bleibend Denkmal fein, Daß Der, deffen Blut jie über fich hereinde
ſchwuren, ein König war und ift, der fich nicht ſpotten läßt. Und in de
That, nicht weniger leſerlich, als an das Kreuz, iſts dieſem Wolfe mit
den Zeuerlettern des Gerichtes an Die Stirn gefchrieben: „Iefus von
Nazareth, der Juden König!" Doc wir harten einer Zeit, und
fie it nicht mehr fern, da der Herr auch noch in einer andern und
erfrenlichern Weiſe an diefem alten Bundesvolle es offenbaren wird,
Die Ueberſchrift. 587
daß Er fein wahrer und eigentlicher König fei. Wenn fie einft „wei-
nend kommen werden und betend,” und Er die Verftoßenen „aus dem
Lande der Mitternacht fammeln” und „auf geraden Wegen, längs Waf-
ferbädhen hin, fie leiten, und zu ihnen jagen wird: Ich bin Sfraels
Bater, und Ephraim ijt mein eritgeborner Sohn:“ dann wird aud)
der hartnädigfte Unglaube nicht mehr ftußen, fondern ehrfurchtsvoll
die Hände falten, wenn er am Kreuz Die Inſchrift Tiefet: „Jeſus
von Nazareth, der Juden König!”
Ja, unfer König ift er! Vom Holze herrſcht Er. Vom Holze führt
Er das Regiment in feiner Friedensſtadt bis Diefe Stunde. Wohl
hängt Er heute dort nicht mehr; aber wo Er fih dem Glaubensauge
darftellt, und, um Großes auszuwirken, in Gefichten fih offenbart,
erfcheint Er nad) wie vor in feiner Blutgeftalt, am Holze fchmebend.
Vom Kreuze her nimmt er die Starfen zum Raube, und führt Er in
den Siündern das Gnadengericht zur Buße aus. Vom Kreuze her
erniedrigt Er die „hohen Augen”, und fehmelzt die fteinernen Herzen
im Feuer feines Liebesblids. Vom Kreuze ber tröftet Er die befüm-
merten Seelen, und trocdnet die weinenden Augen der Zerfnirfchten.
Bom Kreuze her erwedt Er das Jauchzen in der Hebräer Lager, und
ermuntert fein Volk zum Freudenreigen vor der Bundeslade DO,
in wie mannigfaltigen Erweifungen tritt e8 tagtäglich in die Erfchete
nung, daß Er als der Gefreuzigte der wahre König des geiftlichen
Iſraels fei. Ja, der in der Dormenfrone regiert die Welt der Geifter
und der Herzen, und die größten Wunder, in denen Er auf Erden
fid) verherrlicht, verrichtet Er mit feinen durchgrabenen Händen. Darum
bleibt Golgatha die Stätte unfrer Huldigungen, und der Ort, wo
wir nicht aufhören, anbetend zu rufen: „Sefus von Nazareth,
der Juden König!”
So hat denn in der That, fo lange die Welt fteht, feine Men-
fhenhand etwas Gewifferes und Gegründeteres gejchrieben, als was
Pilatus höchft: providentiell an die Kreuzestafel ſchrieb: „Jeſus
von Nazareth, der Juden König!” Wartet nody eine kurze
Meile, und Zeichen am Himmel, Engelerfcheinungen, fallende Sterne,
und Gräber eröffnende Poſaunenklänge werden es beftegeln. So ent:
falte ich denn feine blutbenegte Fahne auch vor Dir, Gemeine! und
rufe Dir als ein Herold Gottes zu: „Schwöre zu Diefem heiligen
588 Das Allerheiligſte.
Banner! Huldige dem Monarchen in der Dornenkrone, und baue
auch du mit der Schaar, die Niemand zählen kann, ehrfurchtsvoll das
Knie vor der KreuzessAuffchrift: „Jeſus von Nazareth, der
Juden König!”
Eine große, ernſte Woche iſt's, Geliebte, in die wir miteinander cin
getreten find. Diefe Char⸗ und Gnadenwoche, wie ift fie überfchwäng-
(ich reich an Weckſtimmen, Bußrufen, und Lodungen und Heimfuchungen
der Erbarmung! In diefer Woche ging einſt der König Iſraels feine
Marterſtraße. In diefer Woche brach fein heiliges Auge im Zode für die
Sünder. Die ganze felige Bevölkerung des Himmels liegt in dieſer Woche
um den Stuhl des Lamınes auf dem Angefiht. Und eure Kniee follen
fteif, eure Naden flarr, eure Zungen flumm, und eure Herzen kalt
und fteinern bleiben? O, das fei ferne! Zu einer Woche der Hulk
digungen werde fie auch in unfrer Mitte! Hier find meine Hände;
wer nimmt fte, und fohließt fi mir an, dem Schmerzensmanne Her
und Leben darzubringen? Was bisher fern geftanden, der Sind
verhaftet und der Welt, das trete endlich herzu, und ergieße fi in
Reuethränen zu feinen Zügen! Was erft mit halbem Herzen Ihm
angehörte, Das werde ausgeboren in diefer Woche und ganz Sein
eigen! Was laͤngſt ſchon Ihm ſich zugefchworen, fpreche, den Bund
erneuernd, im Blid auf die Urkunde feiner einftmaligen Uebergabe
mit Pilatus: „Was ic gefchrieben babe, das habe id ge
fhrieben!“ und das grüße fich unter einander frohlodend mit dem
Rufe: „Süd zu dem Könige auf dem Kreuzesthrone!”
Brüder, es wird fo gar lange nidyt mehr währen, fo leſen wird
nicht mehr auf den Holze blos, fondern in flrablendern Lettern af
dem wallenden Königsmantel des Wiederkehrenden: „Jeſus von
Nazareth, der Juden König!" D, da dann Keiner von und
zu den Bergen fprechen müffe: „Fallet über uns!“ und zu den Hi
geln: „Bedecket uns;“ fondern ein Jeder mit freiem Gewiſſen Ihm
entgegenjubeln könne:
Sei und gegrüßt, du Hort Fahr' immer bin nun, Belt!
Und Brüurgam unfrer Seelen, Eintt Sterne, Sonn’ und Mond!
Der du erfheinft, hinfort Wir haben Ihn ja jekt,
Dich ganz und zu vermäblen!' — Indem die Fülle wohnt! — Amen
— OB OO
Bater, vergib. 589
XLIX.
Vater, vergib!
Gemahnend an den ſiebenſtimmigen Poſaunenakkord, unter
deſſen mächtigem Schalle einſt, wie Joſna 6, A berichtet wird, die
Manern Jerichos zufammenftürzten, und der hiedurd) den Iſraeliten
den Eingang in's gelobte Land eröffnete, durchtönen das geheimniß-
volle. Dunkel der Paffionsgefchichte fieben Worte, die Größeres be-
wirkten, als das Gejchmetter bei Sericho, und die wie fieben wunder:
bare Glockenklänge daherziehn, der fluchbeladenen Welt ihre Erlöfung,
den Mühfeligen und Beladenen den Sabbath Gottes einzuläuten. Wie
fieben Himmelslichter bligen fie auf, diefe Worte, und beleuchten uns
das Heiligthum des Herzens Jeſu, und zugleich die innerften Tiefen des
Kreuzgeheimniffes. Sieben Blüthen erfchließen in ihnen fich an dem dür⸗
ren, ſchauerlichen Kreuzesſtamm, zwar biutbethaut, aber darum gerade
himmliſche Freude und Erquickung hauchend. Die einzelnen Töne ber
fiebenfachen Harmonie begegnen uns vertheilt in den vier Evangelien. .
Keiner der Evangeliften hat die Worte alle; fondern der eine be
wahrte uns Diefe, Der andre jene.» Auch Diefer Umftand gehört mit
zu den Zeugniffen, daß die vier Bücher, die fie uns hinterließen,
ein Ganzes bilden. Bier Stimmen, aber nur ein Chorus, nur
eine schon durch ihren Siebenklang als heilig bezeichnete Sym⸗
phonie. Daß dem Lucas die Aufzeichnung des erften jener Worte
zufiel, entfpricht feinem apoſtoliſchen Sonderberufe; dem vorzugsweife
war ihm die Aufgabe geftellt, Chriftum als den barmherzigen Sün⸗
derfreund ung vorzuführen. Und wie verherrlicht fich der Herr in
diefer Eigenfchaft namentlich in dem Auftritte, bei dem wir heute
auf unferm Betrachtungsgange. angelangt find. — Seine große hohe:
priefterliche Fürbitte tönt uns an, Ich weiß nicht, was vor unferm
Ohre Erwünfchteres und Süßeres verlanten könnte! —
Matth. 27, 32—44. Marc. 22, 32. Fuc. 23, 34% 35. 37.
Und die vorüber gingen, läfterten ihn, und fhüttelten ihre Köpfe und fpradhen :
ini dich! wie fein zerbricht Du den Tempel Gottes, und baueſt ihn in dreien Tagen!
590 Daß Allerheiligſte.
Hilf dir nun felder! Biſt du Gottes Sohn, fo fteig herab vom Kreuze! Debgleihen
auch die Hobenpriefter verfpotteten ihn untereinander, fammt den Schriftgelehrten uud
Aelteften und ſprachen: Andern bat er geholfen und Tann ſich ſelbſt nicht helfen. I
er Chriſtus, der König in Iſrael, To fleige er nun vom Kreuze, daß wir fehen, fo
wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertraut, ber erlöfe ihn nun, lüſtet es ibn;
denn er bat gefagt: Ich bin Gottes Sohn, der Chrift, der Auserwählte Gottes. G
verfpotteten ihn auch die Kriegsknechte, traten zu ihm, und brachten ihm Eflig und
ipraden: Bift du der Juden König, fo Hilf dir felber! Deffeldigengleichen ſchmahten
ihn auch die Mörder, die mit ihm gefreuzigt waren. Jeſus aber ſprach: Bater, ver-
gib ihnen, denn fie wiſſen nicht, was fie thun!
Wir treten in die Schauernacht des Hügeld Golgatha zurüd; do
heute nur, um diefelbe von einem Sonnenftrahl der Erbarmung durd-
zudt zu jehn, wie cin befeligenderer Die fündige Erde niemals ange
leuchtet hat. In der Zürbitte des Blutenden am Kreuz entfaltet
diefer Strahl feinen Glanz. In ihr wirft zugleich der göttliche Dulder
von feinem Holz herab die erite Frucht feiner Paffton der Menſchheit,
die zu erlöfen Er gefonmen, in den Scooß. DBerfenfen wir und
mit unter ganzen Andacht in das bewundrungswürdige hobepriefter-
fihe Gebet, und nachdem wir uns den Inhalt deffelben vergegen-
wärtigt haben, betrachten wir den Berehtigungsgrund, auf dem
die Bitte fußt, und endlih die Schranken, innerhalb deren fie
Erhörung findet,
Sei der Herr nicht ferne von uns, und fchaffe Er dem Worte fer
ner Gnade einen reichen Wiederhall in unfern Herzen!
1.
Entfeglicd gehtss auf Golgatha her. Ein Chor aus dem Abgrımd
herauf brauft dem himmliſchen Chore voran. Die Macht der Finfter:
niß erfchöpft fih in Ergüffen der Wuth und Läfterung; und weh:
Daß gerade Die Männer, Deren Beruf es ift, das Heilige zu hüten,
als die eifrigften Werkzeuge der Hölle fid) erfinden laſſen! Ohne es
jedoh zu ahnen, verfehlen diefe Beltalsfinder ihres Zweckes dei.
Sie beabfichtigen den Mann am Kreuz berabzuwürdigen, und mil
fen ih nur verberrlichen, Sie find darüber aus, Ihm die legten
Reite feiner Krone vom Haupt zu reißen, und heben nur die Schleier
von feiner Majeftät. Vernehmt die Spottreden, mit Denen fie den
Heiligen begeifern; aber bemerft zugleich, wie dieſe Ausbrüche kei
Licht befehn nur die ehrenditen Zugeftändniffe für Ihn enthalten.
„Er bat Andern geholfen,” beginnen fi, „und fann ibm
ſelbſt nicht helfen!” Zürwahr! dies unumwundene Belenntuip
. Bater, vergib, 591
feiner Haffer, daß er „Andern geholfen“ habe, ift von hohem
Gewicht, indem es der gefchichtlichen Wahrheit der meffianifchen Wuns
der, Heils- und Erlöfungsthaten Jeſu, die uns die Evangelien be-
richten, ein neues Siegel der Beglaubigung aufdrüdt. „Er hat Gott
vertraut“, fahren fie fort. Ermeſſet hienach, Geliebte, wie unzweis
dentig fich in feiner ganzen Erfeheinung fein gen Himmel gefehrtes
und Gott ergebened Weſen ausgeprägt haben müſſe, daß es felbft .
einer flumpffinnigen Brut, wie jene Nichtswürdigen, nicht verborgen
blieb! „Er hat geſagt,“ rufen fie, „Sch bin Gottes Sohn,
der Auserwählte Gottes!" Kaum es ums anders, als höchft
willfommen fein, auch durch feine grimmigften Gegner es beftätigen
zu bören, Daß der Herr fidh felbft für den Sohn Gottes erklärt,
und alfo mit dem Geheimniß feiner ewigen Geburt nicht hinter dem
Berge gehalten habe? „Der du den Tempel zerbricht,” zifcheln
fie weiter, „und baueft ihn in dreien Tagen, Hilf dir nun!“
Seht, wie fie auch das befiegeln müffen, daß er auf das beftimmtefte
feine Auferftehung von den Todten vorherverfündigt habe, Nicht min-
der beglaubigen fie Durch ihr: „Iſt er der Ehriftus, der König
von Sfrael, fo fteige er nun herab vom Kreuze,” daß der
Heiland ſich wirklich und wiederholt dieſe bedeutfamen Titel beigelegt
habe. Was beginnen fie alfo, die Läfternden Buben? Sie wollen
in ihrem Grimm einen Edelftein zerfchlagen, und geben demfel-
ben, indent fie ihn zertrimmern, nur Raum, in feinen funkelnden
Splittern noch erjt recht feine Nechtheit zu bewähren. Sie zerpflüden
un ihrem Zorne eine Wunderrofe Gottes; aber bringen gerade Dadurd)
nur, ohne es zu ahnen, den Glanz und Schmelz der einzelnen Blätter
diefer Blume des Himmels erft recht zur Erfcheinung. —
Der Herr vernimmt an feinem Kreuze die giftigen Stachelreden,
die von unten her zu ihm herauffchallen. Er weiß, woher fie font
men, und wem die Xäfterer, ohne daß es ihnen fund ift, als Organe
dienen. Gr hört aus ihren Wuthergüffen nur einen roheren Wieder:
ball jener Zumuthungen heraus, mit denen der DVerfucher, der Fürſt
des Abgrunds, einft in der Wüſte Quarantania an ihn herantrat.
Wie aber dort, fo iſt auch hier das Bewußtfein, daß er auf einer von
feinem himmliſchen Vater Ihm gewiefenen Straße fi befinde, der un:
durchdringliche Schild, mit dem er alle jene Feuerpfeile des Böfewichts
auffängt und entkräftet. DO, daß wir einen Blick jetzt in fein Inneres
werfen könnten! Aber tiefes Schweigen verhüllt uns daſſelbe gleich)
580 Des Abcrheilighr.
logie. Pilatus batte es io verordnet, tbeils Durch eine Dumfle der
furchtönolle Ahnung dazu beitimmn, theils in der Abi, zu ze
ber Legt noch den verbaßten Juden einen Schlag zu veriegen Alt
dieſe die Inichrift leien, eilen tie erarimmt zum Precurater, m
berrihen ihn an: „Nicht, mie du aeichrieben bait, Durf es beiben!
Herunter mit jener Tafel vom Kreuze Des Lällerers! Schreibe, a
babe aumaßend geſagt, daß er der Auden König tet!“ Pils
aber entgegnet kurz und entihlenen: „Was ich geichrieben babe. tar
babe ich geichrieben!" — Recht io, Tilute! Was Du ſchriebñ. tchriekt
Du nicht in Willführ; ſondern ein Andrer fübrte dir dabei Pie Hm.
Geweiſſagt baft du, wie einit Bileam, und bit mit Deiner Anficeii
wider Wiſſen und Wollen ein Zeuge der Wahrheit gemerden!
„Jeſus von Razaretb, König der Juden.“ Dieier Zud
fei umjer beutiges Thema: und in dem gefreuzigten Manne den mil:
lichen König Jiraels anzuichuuen, ſei der liebliche Zweck unirer fermeren
Betrachtung. Wir erkennen ihn als den König am Kreuz zuert u
der Majejtät, dieihn dort umgibt; Dann an den Ziegen, Meerm
Holz davonträgt; zum dritten an der Reibsgrüundung Me al
ſelbſt vollzicht; zum vierten an den Gerichten, die er dort verkän,
and endlid an dem Regimente, das er vom Holze berab ausübt.
Begleite der Herr ımire Erwägung mit feinem Segen, und helfe &,
daß ſich die Schrift des Kreuzes in Das Marf unirer Herzen übertrage!
1.
Ten König Siraela willit du ſchauen! Komm, Freund, und
folge mir! Wohin? Nach Iernfnlen enma? Nein, nach Dem Warter:
hügel Golgutha! Ziebit du den Mann dert in feinem Blute ſchwim—
men? — „Wie,“ ſprichſt Du, „Dieter ein König?“ — Schüttle nict
das Haupt, ſondern wiſſe: Dir mur fehlt Das Licht, nicht Ihm die
Majeität. Zritt in die Zenwelballen Des alten Teitaments zurück und
fiehe da in heiligen Liedern und Gortesipricen die Kerzen brennen,
die Dir Golgatba beleuchten. Zünde deine Zadel an den Pfalmen
Davids an, in Denen Du einen großen König flagen hörſt: „Zie baben
mir Hände und Füße durchgraben, und geben mir Galle zu trinfen in
meinem Durſte;“ und er bleibt Doch ein König! — Vernimm den alten
Prophetenipruch Des Schers Jeſaias von einem Manne, der zwar „um
unferer Miſſethaten willen werde zerichlagen “ werden, „auf Deifen
Schultem“ aber nichtödeitomeniger die „ Herricbaft jei,“ und deſſen
„öriedens fein Ende werden“ folle auf Erden. Kies Sacharias Wort:
—
Die Heberfhrift. 58
„Schwerdt mache dich) auf über den Mann, der mir der Nädfte
it!” und höre den Herold durd) die Wüfte rufen: „Siehe, das tft
Gottes Lamm, das der Welt Sinde trägt.” Eile mit diefen Lichtern
nah der Schädelftätte zurüd, und fage, ob dich's noch fo fehr be-
fremden kann, über dem mittleren der drei Kreuze die Schrift zu fin-
den: „Jeſus von Nazareth, der Juden König!” Eine
ganze Wolfe heiliger Zeugen umgibt gefenkten Haupts das Kreuz:
ehrwürdige Geftalten, erprobte Heilige; Patriarchen und Seher, Sän-
ger und Propheten, Könige und Priefter. Nein, Diefe macht das
Königsbild in feinem Blut nicht irre. Anbetend, und nicht ſtutzend,
lefen fie die Schrift der Kreugestafel: „Jeſus von Nazareth,
König der Juden.”
Fragſt du, wo denn die Majeftät dieſes Königes fei? Fürwahr, fle
ift vorhanden, wenn aud augenblidlich wie der Goldglanz der Bun⸗
deslade unter den Widderfellen. Aergere Dich nicht an der dunklen
Wolfe, die Ihn umgraut! Der Blid des Glaubensauges dringt
durch fie hindurdy, und begegnet in duftigem Hintergrunde cinem Re
genbogenfranz von Engelhäuptern und Seraphsangefichtern. Sehen
fie traurig, weil ihres Königs Auge im Zode bricht, fo tragen fie
doch die Balmen ſchon in den Händen, mit denen fie Ihn zu ſei⸗
ner Thronbefteigung begleiten werden. Und wer ift Dort in den ent
fegneren Zirnen der himmliſchen Welt die leuchtende Schaar, die in
Anbetung verfunfen unter den Bäumen des Lebens auf ihren Ange
fihtern liegt? Die Heiligen Gottes ſind's, die fehon das Neid) er-
erbten, ehe noch der Herr der Herrlichkeit zur Erde niederftieg. Aber
Er ſprach, als fie den Staub der Pilgrimfchaft vom Fuße ſchüttel⸗
ten: „Ich laſſe mein Leben für diefe Lämmer!“ und auf Diefes
Königswort hin öffneten ſich aud ihnen die Paradiefesthüren. He-
noch iſts, und Methufalab, Noah und Abraham, Iſaak
md Jakob, Mofes und Elias, und wie fie weiter heißen.
Seit lange ſchon genoffen fie die Früchte der Verdienfte ihres Bür-
gen, bevor derſelbe noch fein Werk and nur begonnen hatte. Nun
fehen fie Ihn den verheißenen Sold für fie bezahlen, und Die Woh-
nung der Seligfeit, in der fle haufen, mit den Stüßpfeilern des Rech⸗
tes untermauert. Und was bleibt ihnen übrig bei dieſem Anblick,
als anbetend vor dem Wunderbaren in den Staub zu finfen, und
zu befennen, daß fie auch mit ihren verflärten Augen die Tiefen
einer ſolchen Erbarmung nicht zu ergründen wüßten? — Und ſchauet
552 Sei Ycfenge.
weiter neh m Ge. Tue Merickenbeerde dert sus allen Böllern,
aus ıllen Jahrhunderten, tie Auges kburuheieel mm rem; euper-
gerichter, den Blick voll beiligen Friedens mu? Killer Demmmgsielig
fer, wer iä ne, dieſe u mmabrehburer Ketten den Zedestiuel um
drãngende Shaun? Seine Gemeine uts, das Bell der Grlötere,
überall und zu allen Zeiten die Berten mut Edeliten ter Meuichbeu in
ſich ſchliehend. Sebt, Beibtauchichalen in ibten Hinten! Ben wide
mehr wollen He wiñen, dieſe Feiernden, als veu dem erwürgtze Sram,
Herrlihe Bekrãmmg des Marterberges! Sieblüber Ehreubegen m
den Arenzespiahl! — Biner, dergleichen Geñchte neber der Glaube,
der tie Schleier zu beben vericht, und im das Irendige Ichune
Und wie er Diele Bilder iebt, vermutet ih dus Krag rer ibm in
einen Thron, im ein Diadem der Dornenkranz um des Schmerzen
mannes Stim; und mit ebrfurchtsvoll gebengtem Auie lielt er Die
Plamsinihrift: Jeſus von Razaretb, der Andenföänig!‘
Ja, es gibt ih am Areme eine Majeñät ind, zu Deren Gem
rung es des Glaubensanges nicht einmal bedarj; eine Majeñät, mie
diejenige der aufgebenden Sonne, wenn eben noch die Schatten uud
Nebel drunten ihr Weſen trieben, als wire ibnen auf Erden das
Reich beichieden. Aber num tritt fie bervor, „wie ein Bräutigam ans
feiner Kammer,“ und jchreit nicht, nech länſet fie ihre Stimme bören
auf den Gaflen; umd michtsdeitoweniger jagen Die Schatten vor ib
rem Angefiht auseinander, und Die Nebel zerrinnen in nichts unter
dem Glanze ihrer Zlügel. So berbürigt fh des Menihen Sobn ın
feinem Hol, Er, „die Sonne der Gerechtigkeit mit Geneſung m:
ter ihren Zlügeln.” Welch' ein ſataniſcher Rauchqualm um ihn ber!
Welch wüſtes, hoͤlliſches Nuchtgewölfe, das Ibn umgibt! Hört dieſes
Hohngefchrei aus den aufgeriſſenen Mäulen des Volks und jener
Zührer: „Er bat Andern gebolfen, er belfe ibm ielber, iſt er der
Ehrift, der Auserwählte Gottes! Biſt du der Juden König, To zeige,
und fteig’ herab vom Kreuze!“ Aber ſehet den Verböbnten, wie unter
Diefer Höllenbrandung in jeinem heiligen Königsangefichte auch nicht
eine Miene fid) verändert. Mit erbabener Rube ſchaut er von jeiner
Höhe darein, und die Läſterer find beichämt, verwirrt, und fallen in
ihre eignen Schwerdter, indem fie, während fie den Herrn der Herr:
lichkeit zu Läftern vermeinen, nur mit lauter Stimme als denjenigen
Ihn preifen müflen, „der Andern geholfen habe.” Wir gewahren
dieſe feine Lönigliche Ruhe, diefen übermenjchlichen Gleichmuth, dieſe
Die Meberferift. 583 ee
himmlifche Geduld; und Angefichts ſolcher Majeftät, die allein ſchon
hinreicht, feine Widerfacher zu vernichten, meinen wir die Infchrift auf
feinem Hole nur um fo glängender erftrahlen zu ſehn: „Jeſus
von Nazareth, Der Juden König.“
2.
Ja, Er iftis! Du erkfennft Ihn an feinen Siegen, die Er am
Kreuzespfahl erringt, und deren erjter als ein glorreiher Doppel:
fieg erfcheint, indem Er ihn über fich felbft und zugleich über den
hölliſchen Verſucher davon trägt. in mächtiger Anfechtungs-
fturm dringt auf Ihn ein, und zwar in dem aus dem Volk zu
Ihm heraufdröhnenden Rufe: „Er hat Andern geholfen; ift er
der Ehrift, der Auserwählte Gottes, fo helfe erihm
felber und fteige herab von feinem Kreuze” Ein flar-
fer Anlauf des Böfewichts; faſt ein ftärkerer noch, als den er auf
der Zempelzinne einft mit jeinem „Biſt du Gottesfohn, jo laß Dich
hinab!“ wider den Herrn wagte. Wie fehr entſprach jenes angera-
thene: „Steig herunter!” den Bedürfniffen der menfchlichen Na⸗
tur unfres Friedensfürften! Folgte Er dieſem Winfe, fv war nicht
alfetn Er felbit mit einem Male von aller feiner Qual erlöft, fondern
auch der läſternde Widerfacherhaufe auf eine beifpielloje Weife aus
dem Felde gefchlagen, und faſt noch unzweideutiger, als es nachmals
durch Jeſu Auferstehung von den Zodten gefchah, von deffen Gott-
heit überführt. Verlodender Gedanfe, mit einem Schlage Die wi-
thende Notte verftunmmen zu machen, und ihre Kniee in den Staub
zu zwingen! Aber hinweg mit ihm! Iener Rath ift nicht geheuer!
Ein Fallſtrick ift er; eine Leimruthe des fiftigften Vogelſtellers; ja
ein Fels unter dem Waffer, an dem furz vor der Einfahrt in den
Hafen nod) das Schiff des ganzen Verföhnungswerks firanden foll,
Jeſus durchſchaut das teuflifche Gewebe, und fpricht im Geifte:
„Hebe dich hinter mich, Satan!” Nein, nicht herunterfteigen, ſon⸗
dern biuten, opfern und den Sold der Sünde zahlen
will Er. Mit erhabenem Schweigen weißt Er die Aufforderung
ab, und bleibt an feinem Holze. Auch wicht einmal vorübergehend
nur bat der Held in feiner Bahn gewankt. Kommt, flechten wir
Ihm einen Delzweig durch die Dornenfrone, und umwinden mit Feier⸗
fränzen die Kreuzesinfchrift: „Sefus von Nazareth, Der Juden
König!”
Ya, ein Löniglicher Sieger hängt in Ihm am Kreuze. Du möchteft
584 Dab Akerheiligkr.
deuten, Niemand jei befiegter je geweien, als Er. Aber das em
rohr des Glaubens belehrt dich eineö Andern. In dem Gemälde,
das Durch Dieies angeſchaut ſich Dir entichleiert, fiebit Du das Auge
Immanuels nicht brechen, ſondern zerichmetternde Blige ſprüben;
feine Hände nicht gefeflelt, Tondern frei ein wunderbares Kriegsſchwen
fhwingend; jeine Züße nicht im Stock, ſondern binraufcbend über einen
flurnumtobten Plan. Heiß it der Streit; wild das Getiumel: ein
Kampf der Verzweiflung, Der fi entipann, und die Menſchheit der
Preis, um den die Schlacht geichlagen wird. Die fireitenden Rar:
theien der „Fürſt über das Heer des Herrn,“ und — Die Hölle
Wie toben und jperren fid) die Abgrundsengel! Cs toll ibnen der
Raub genommen, Das Ecepter entwandt, und das Recht, das fie
durdy Gottes Gericht über uns gewonnen haben, wieder entriffen wer:
den; und der Mann im Dornenkranze iſts, der ihre Macht bedroht
und brechen will. Da bleibt denn im Rüſthaus des Höllenpfubles
nicht8 unergriffen, was irgend Hoffnung auf Sieg gemwübrt. Aber der
„Held aus Juda“ jpottet der „„bebenden Lanzen.“ Er biutet, aber
diejes Blut ift der Feinde Stun. Er fällt in der Widerſacher Hände;
aber dies wird das Mittel, uns aus ihren Händen zu erlöien. Er
läßt ſich feifeln von den Belials-Rotten; aber feine Ketten gebüren
unfre Zreibeit. Er leert den Zorneskelch; aber nur, Damit er ibn
für uns mit lauter Gnade fülle. Gr läßt jih in die Ferſe ſtechen;
aber in demjelben Augenblid zertritt er der alten Schlange den Kopf;
und nach einer ganz andren Kriegsregel, als Die gemöbnliche, erichlägt
er den Feind, wie Simſon, mit jeinem Falle. Solches thut der Mam
am Hole. Mag nun der Eine flagen, daß der „„Schönite der Men⸗
jchenfinder” jo erniedrigt ſei, und ein Andrer ſich heiter ſchreien:
„Steige herab, und zeige, wer du biſt;“ wir lagen und jchreien
aljo nicht, die wir mit Glaubensaugen zu ſchau'n veriteben. Uns
dünkt, daß Er nicht herrlicher eribeinen würde, wenn Er, umflungen
von Engelbarfen, in majeſtätiſchem Glanz vom Kreuz berniederitiege,
als er dort in feiner Blutgeitalt vor unſern Augen ſchwebt. Wir jeben
unſern Michael mit Siegesſchmuck bededt auf tauſend Drachen
häuptern ftebn, und rufen, in die Poſaune des Triumphes ſtoßend:
„Jeſus von Nazuretb, der Juden König!” —
Ein dritter Sieg wird am Kreuze errungen, von allen der größte
und wunderbarfte. Ich nenne ihn den Sieg des Gejepgebers
über Das Gejeg. Wiſſet, an Luft und Liebe und zu reiten,
Die Ueberſchrift. 585
gebrach's im Himmel nicht. Im reichften Maße waren fle vorhanden,
Nur fehlte Die Berehtigung zu dem großen Werk, Das Gefeg,
das heilige und unverbrüdhliche, war der Riegel vor der Schaßfammer
der Erbarmung. Das Gefeß legte gegen unfere Erlöfung fein Veto
ein, „Kein Heil den Sündern,“ fprad) es, „bevor fie zahlten, was
fie ſchulden!“ Und fiehe, felbft die ewige Majeität fah fich gebunden
durch Diefen Einſpruch. Aber die himmlifche Weisheit wußte Rath,
auch Diefe Feſſel rechtmäßig zu Löfen. Der ewige Sohn flieg zur
Erde nieder, um das Nein des Gefehes in lauter Ja zu verwandeln.
Er ließ fih „unter das Geſetz“ thun, und erfüllte es ftellvertretend
in einer Weife, daß er auftreten und fprechen durfte: „Wer kann mich
einer Sünde zeihen?“ Doch dadurd war der Riegel von den
Gnadenfchleufen noch nicht weggefchoben. Es galt auch noch Erduldung
des Fluchs, dem wir durch Schändung des Gefeßes verfallen waren.
Er unterzog fih auch Dem, und tranf den Zomesfelh, Blieb ein
Tropfen darin zurüd? „Nicht einer!“ urtheilt Das Gefeg. Und wie
nun der Gnadenruf vom Himmel niedertönt, hat das Geſetz nichts
mehr dawider einzuwenden. “Die göttliche Gerechtigkeit tritt ihrer
hehren Schweiter, der Liebe, das Scepter ab, und zwar ohne hier:
durch ihrer eignen Glorie auch nur im Geringften etwas zu vers
geben. Wir ftaunen ob Diefer Heberwindung des Geſetzes ohne Ge-
waltthat im Wege Nechtens, und leſen buldigend die Kreuzesfchrift:
„Zefus von Nazareth, der Juden König!”
Sa, er iſt's! Aber wo ift fein Reich? Eben pflanzt Ers von
feinem Holz herab, Diefe Blutstropfen dort find das Gold, um das
Er fich fein Volk erfauft, und dieſe Sterbefeufzer, die feiner Bruft
entfteigen, die Slodenklänge, mit denen der Geburtstag feines Zions
eingeläutet wird.
Nicht dort hat Er fein Reich gegründet, wo Er dad Volk um fich
verjammelte, und predigend zu ihm redete auf dem Berge der Se
figfeiten. Nicht dort, wo Er Zunfen der göttlichen Wahrheit ftreute
durch Die Nacht, und vor dem Kadelfcheine feines Himmelslichtes die
Schatten des Todes auseinanderftoben. Nicht dort, wo Er die fürs
ftern Geifter bannte, und durch feine Wunderhuͤlfen Schaaren Müh—
feliger fi zu ewigem ‘Danke verpflichtete. Nicht Dort, wo Er mit
dem Glanze feiner Thaten die Welt entzücdte, und fih von den Ho⸗
ſtanna's der Begeifterten umllungen hörte, Hätte Gr nah dieſen
568 Das Ukerbeiligke.
Banner! Huldige dem Monarden in der Dornenkrone, md benge
auch du mir der Schaut, die Niemmd zäblen kann, ebrfurchtsvoll das
Kuie vor der Kreuzes-Aufibritt: „Jeſus von Nazaretb, Der
Juden König!“
Gine große, ernite Woche tits, Geliebte, in Die wir miteinander ein:
getreten find. Tiefe Char⸗ und Gnadenwoche, wie it fie überichmung-
lich reich an Beditinmen, Bußrufen, und Lockungen und Heimjuchungen
der Erbarmung! In Diefer Woche ging einit der König Iſtaels ſeine
Marterfirage. In dieier Woche brach ein beiliges Auge im Tode für Die
Sünder. Tie ganze ſelige Bevölkerung des Himmels liegt in dieſer Woche
um den Ztubl des Lammes auf Dem Angeiiht. Und eure Kniee jollen
fteif, eure Raden itarr, eure Zungen itumm, ımd eure Herzen falt
und fleinern bleiben? O, das ſei feme! Ju einer Woche der Huf
digungen werde fie auch in unirer Mitte! Gier find meine Hände;
wer ninmmt fie, und ſchließt fich mir an, dem Schmerzensmanne Her
und Leben durzubringen? Was bisber fern geitanden, der Sünde
verhaftet und der Welt, das trete endlich berzu, und eraieße ſich in
Reuetbränen zu feinen Zügen! Bas erit mir balben Herzen Ibm
angehörte, Da8 werde ausgeboren in dieier Woche ımd ganz Sein
eigen! Was längit ſchon Ibm fi wugeichworen, ipredhe, den Bund
erneuernd, im Blick auf Die Urkunde feiner einitmaligen Uebergabe
mt Plans: „Bas ich neichrieben habe, Das babe ich ae
ſchrieben!“ und dus grüße fih unter einander froblodend mit dem
Rufe: „Glück zu dem Könige auf dem Kreuzesthrone!“
Brüder, es wird je gar lange nicht mebr währen, ſo leien wir's
nicht mebr auf dem Holze blos, ſondern in itrablendern Yettern auf
dem wallenden Königömantel des Wiederkehrenden: „Jeſus vor
Razuretb, der Juden König!“ O, daß dann Keiner von una
zu den Bergen ſprechen müſſe: „Fallet über uns!“ und zu den Hü—
geln: „Bededet uns; jondern ein Ieder mit freiem Gewiſſen Abm
entgegenjubeln könne:
Sei und gegrüßt, dan Hort Fabt' immer bin nun, Welt!
Und Brüurgam unfrer Seelen, Sinft Steme, Sonn’ und Mond!
Der du erſcheinſt, binfort Wir baben Ibn ja jekt,
Dich ganz und zu vermäblen!' — In dem bie Fülle wohnt! — Amen.
— GB —
Baier, vergib. 589
XLIX.
Bater, vergib!
— — — —
Gemahnend an den ſiebenſtimmigen Poſaunenakkord, unter
deſſen mächtigem Schalle einſt, wie Joſua 6, 4 berichtet wird, Die
Mauern Jerichos zufammenftärzten, und der hiedurch den Ifraeliten
den Eingang in's gelobte Land eröffnete, durchtönen das geheimniß⸗
volle Dunkel der Paffionsgefchichte fieben Worte, die Größeres be:
wirkten, als das Gefchmetter bei Jericho, und Die wie fieben wunder⸗
bare Glockenklänge daherziehn, der fluchbeladenen Welt ihre Erldfung,
den Mühfeligen und Beladenen den Sabbath Gottes einzuläuten. Wie
fieben Himmelslichter blißen fie auf, diefe Worte, und beleuchten uns
das Heiligthum des Herzens Jeſu, und zugleich die innerften Tiefen des
Kreuggeheimniffes. Sieben Blüthen erfchließen in ihnen fich an dem dür⸗
ren, ſchauerlichen Kreuzesftanım, zwar biutbethaut, aber darum gerade
himmliſche Zreude und Erquickung hauchend. Die einzelnen Töne der
fiebenfachen Hamtonie begegnen uns vertheilt in den vier Evangelien. -
Keiner der Evangeliften hat die Worte alle; fondern der eine be-
wahrte uns Ddiefe, der andre jene.» Auch diefer Umſtand gehört mit
zu den Zeugniſſen, daß die vier Bücher, die fie uns binterließen,
eın Ganzes bilden, Vier Stinmen, aber nur ein Chorus, nur
eine fchon durch ihren Siebenflang als heilig bezeichnete Sys
pbonie. Daß dem Lucas die Aufzeichnung des erften jener Worte
zufiel, entfpricht feinem apoftolifchen Sonderberufe; denn vorzugsweiſe
war ihm die Aufgabe geftellt, Chriſtum als den barmberzigen Sün⸗
derfreund uns vorzuführen. Und wie verherrlicht fich der Herr in
diefer Eigenfchaft namentlich in dem Auftritte, bei dem wir heute
auf unſerm Betrachtungsgunge. angelangt find, — Seine große hohe:
priefterliche Fürbitte tönt uns an. Ich weiß nicht, was vor nnjerm
Ohre Erwünfchteres und Süßeres verlauten fönnte! —
Matth. 27, 32—44. Marc. 22, 32. Fuc. 23, 34% 35. 37.
Und die vorüber gingen, läfterten ihn, und fehüttelten ihre Köpfe und ſprachen:
Beni dich! wie jein zerbricht du den Tempel Gottes, und baueit ihn in dreien Lagen !
5% Des Alerjeilighe.
Hilf Dir num ſelber! Bir du Gottet Sohn, fo Reig herab vom Kreuze! Desgleichen
auch Die Hobenprieiter veripotteten ihr untereinander, fammt den Ehriftgelehrten nd
Aelteſten und fpraden: Antern bat er geboiien und kann ſich ſelbit wicht belfen 3%
er Chritud, der König in Jiraei, io Heige er num vom Krenze, dab wir fchen, fe
wollen wir ibm glauben. Er bar Gott vertraut, ber erlöfe ihn wum, lüftet es ihn;
Denn er bat geiagt: Ich bin Gones Sohn, der Chrint, der Auserwählte Goties Es
veriporteten ibn au bie Kriegäfnebte, traten zu ibm, und brachten ibm Effig uud
ſprachen: Biſt du der Iuden König, jo bilr Dir felber! Deſſelbigengleichen fcamäbten
ihn auch die Mörder, die mit ibrı gefren:igt waren. Jeſus aber fprach: Pater, ver-
gib ihnen, denn fie willen nit, mas fie than!
Bir treten in die Schauernacht des Hügel Golgatha zurück; doc
heute nur, um diejelbe von einem Zomnenitrahl der Erbarmung durch⸗
zudt zu ſehn, wie ein beieligenderer die jündige Erde niemals ange
leuchtet bat. In der Zurbitte des Blutenden am Kreuz entfaltet
diejer Etrahl feinen Glanz. In ihr wirft zugleich der göttliche Dulder
von feinem Holz herab die erite Frucht jeiner Paſſion der Menſchheit,
Die zu erlöfen Er gekommen, in den Schooß. Verſenken wir ums
mit ımjrer ganzen Andacht in dad bewundrungswürdige bobepriefter-
lihe Gebet, und nachdem wir uns den Inhalt defielben vergegen-
wärtigt haben, betrachten wir den Berehtigungsgrund, auf dem
die Bitte fußt, und endlih die Schranfen, innerbalb deren fie
Erbörung findet.
Sei der Herr nicht femme von uns, und jchaffe Er dem Worte fei-
ner Gnade einen reichen Wiederball in unjern Herzen!
1.
Entjeglih gebrs auf Golgatba ber. Gin Chor aus dem Abgrund
herauf brauft dem himmliſchen Chore voran. Die Macht der Finfter:
niß erfchöpft jih in Ergüffen der Wuth und Läjterung; und wehe!
daß gerade Die Männer, Deren Beruf es it, Das Heilige zu hüten,
al8 die eifrigiten Werkzeuge der Hölle fich erfinden laffen! Ohne es
jedoch zu ahnen, verfeblen dieſe Beliulsfinder ihres Zweckes doc.
Ste beabfihtigen den Dann am Kreuz berabzumürdigen, und müj:
fen ihn nur verberrlihen. Cie find darüber aus, Ihm die legten
Reite feiner Krone vom Haupt zu reißen, und heben nur die Schleier
von feiner Majeitit. Vernehmt die Spottreden, mit Denen fie den
Heiligen begeifern; aber bemerft zugleih, wie Diefe Nushrüche bei
Licht beſehn nur die ehrendſten Zugeftändniffe für Ihn enthalten.
„Er hat Andern geholfen,” begimmen fie, „und kann ihm
felbit nicht helfen!“ Zürmwahr! dies unummundene Bekenntniß
. Bater, vergib. 591
jeiner Haffer, daß er „Andern geholfen“ habe, ift von hohem
Gewicht, indem e8 der gefchichtlichen Wahrheit der meffianifchen Wuns
der, Heils- und Erlöfungsthaten Jeſu, die uns die Evangelien be-
richten, ein neues Siegel der Beglaubigung aufdrüdt. „Er hat Gott
vertraut“, fahren fie fort. Ermeſſet hienach, Geliebte, wie unzwei⸗
deutig fih in feiner ganzen Erfcheinung fein gen Himmel gefehrtes
und Gott ergebened Weſen ausgeprägt haben müſſe, Daß es felbft.
einer flumpffinnigen Brut, wie jene Nichtswürdigen, nicht verborgen
blieb! „Er hat geſagt,“ rufen fie, „Ich bin Gottes Sohn,
der Auserwählte Gottes!" Kaun es uns anders, als höchft
willfommen fein, auch durch feine grimmigften Gegner es beftätigen
zu hören, Daß der Herr fih felbft für den Sohn Gottes erklärt,
und alfo mit dem Geheimniß feiner ewigen Geburt nicht hinter dem
Derge gehalten habe? „Der du den Tempel zerbrichſt,“ zifcheln
je weiter, „und baueft ihn in dDreien Tagen, bilf dir nun!”
Seht, wie fie auh das befiegeln müffen, daß er auf das beftimmtefte
jeine Auferftehung von den Todten vorherverfündigt habe. Nicht min-
der beglaubigen fie durch ihr: „Sit er der Ehriftus, der König
von Sfrael, fo jteige er nun herab vom Kreuze,” daß der
Heiland fich wirflid und wiederhoft diefe bedeutfamen Titel beigelegt
habe. Was begimen fie alfo, Die Täfternden Buben? Sie wollen
in ihrem Grimm einen Edelftein zerfchlagen, und geben demfel-
ben, inden fie ihn zertrümmern, nur Raum, in feinen funfelnden
Splittern nod) erft recht feine Aechtheit zu bewähren. Sie zerpflüden
in ihrem Zorne eine Wunderrofe Gottes; aber bringen gerade dadurd)
nur, ohne es zu ahnen, den Glanz und Schmelz der einzelnen Blätter
diefer Blume des Himmels erft recht zur Erſcheinung. — |
Der Herr vernimmt an feinem Kreuze die giftigen Stachelreden,
die von unten her zu ihm berauffchallen. Er weiß, woher fie fom-
men, und wem Die Käfterer, ohne daß es ihnen Fund iſt, ald Organe
dienen. Er hört aus ihren Wuthergüffen nur einen roheren Wieder:
ball jener Zumuthungen heraus, mit denen der Verſucher, der Fürft
des Abgrunds, einft in der Wüſte Quarantania an ihn herantrat,
Wie aber dort, fo ift auch hier das Bewußtfein, daß er auf einer von
jeinem himmliſchen Vater Ihm gewiefenen Straße ſich befinde, der un:
durchdringlihe Schild, mit dem er alle jene Feuerpfeile Des Böſewichts
auffängt und entfräftet. O, daß wir einen Blid jet in fein Inneres
werfen Eönnten! Aber tiefes Schweigen verhüllt uns daffelbe gleid)
592 Dab Aterheifigfe.
einem Zempelvorbang. Ob in diefen Momenten, da das Maaß der
wider ihn ausgeſchäumten Kränkungen überlief, die Gluth einer hei⸗
figen Entrüftung in Ihm empor ſchlug? Ob durch feine Seele jetzt
Donner rollten, wie das „Anathema Maran atha!“ des Apo—⸗
tele? Ob fein Herz mit einem „Vergilt den Böfewichtern nach ib:
ren Werken!" an Den ſich wandte, der fih einen „ Rächer der
Böfen“ nennet? und ob in den Tiefen jeines eigenen Gemüthes
wohl ein richterlihes „Wehe! * verlautete wider die Kinder Belials,
die Fluchwürdigen? Wäre es der Fall geweien, feine Heiligfeit
würde Dabei rein ausgegangen fein, und felbft die Hölle hätte Ihm
die Ehre geben müffen, daß Er Recht daran thue, von der Erlöfung
einer Brut, wie Das Gefchlecht der Kinder Adams, für immer abzuftehn.
Doc ftille! — Seht, feine Lippen bewegen fih! — Er will reden.
Was werden wir nun vernehmen? Wird etwas der eben bejzeich⸗
neten Art vom Kreuze nieder Donnern? Man möchte e8 erwarten.
— Geht, Er öffnet jenen Mund. Aber — was tft das? Dür—
fen wir unfern Obren trauen? „Vater,“ beginnt er; — Doch mie
weiter? Etwa: „Leberhebe mich dieſes Kelchs?“ — Nein, nein,
den Kelch trinft er gern. Weiß Er doch, wanm Er ihn leert. —
©o denn: „Bater, lindre meine Noth?“ — Auch nicht einmal dus!
An ſich denkt der Dulder gar nicht, fondern nur an feine Peiniger,
an feine Mörder. Und was beanfprucht er fiir dieſe? — Das Ge:
. ih? — Behüte! — So dem Schonung etwa und Milderung
ihrer Strafe? — Freunde! es betet in dem Blutenden ein König,
und der fpendet, wo er ſchenken will, nicht Halbes. „Vater,“
ruft er, „vergib ihnen!" — Wie? — wirflih? ihnen? — Wen
meint er? — Die Satansknechte doch wohl nicht, die ihn an's Kreuz
gefchlagen? Dody nicht die heizlofen Tiger, Die jeßt noch mit den
giftigen Bilfen ihres Spottes Ihn zerfleifhen? — Ja, ſie find
ed, ſie, die er bei feiner Kürbitte im Auge hat. Für fie begehrt
er Gnade und Bergebung! Wir jenfen unſer Haupt und beten
an. Welch' ein Wort das: „Vater, vergib ihnen;“ und in dem
Worte, welch' eine That! Sa, diefe That it größer, ald die alän-
zendften Wunder, mit Denen er wie mit leuchtenden Denfmalen jeinen
Weg durch die Welt bezeichnete. Wohl ſchön war Chriſtus in dem
Berflärungsafte Tabors; aber bier jtrahlt Er in noch hehrerem Lichte,
„Vergib ihnen!“ DO, ift es möglich? Mit dieſem Worte, dus Te
ehrlich gemeint iſt, wie es klingt, bededt er die fchuldbeladenen Häup-
Bater, vergib. 593
ter feiner Mörder felbft mit dem goldnen Schild der Liebe, um ges
gen die Gefchoffe des wohlverdienten Gotteszornes fle zu fihern. Mit
diefem Worte, Das felbit Die Engel in anbetendes Erftaunen verfegen
mußte, nimmt er die Bluthunde in die Arme feiner Barmherzigkeit,
und trägt fie zu den Thronesftufen feines Vaters empor, um fie ſei⸗
ner Gnade zu empfehlen. Denn wiffet, das „Vergib ihnen!“
heißt im Munde Jeſu nicht blos: „Rechne ihnen nur dieſe an mir
begangene Mörderfchuld nicht zu.” Nein, wo Jeſus fein: „Vergib!*
fpricht, da umfchreibt e8 einen weiten, weiten Kreis, und umfaßt
tügend das ganze Schuldregifter. In Seinem Munde heißt das
„Vergib“: „Verſenke das ganze Sündenbild ihres Lebens in des
Meeres Tiefe, und gedenfe feines ihrer Fehle mehr; fondern bes
tradhte Die Sünder hinfort als rein vor Dir, und verfahre mit ih-
nen als mit Heiligen!” — Es gibt Menfchen auf Erden, für die
Niemand mehr beten mag, weil fie gar zu tief verfanfen. Es gibt
folche, die nicht einmal felber mehr für fih zu beten wagen, weil
ihr Gewiffen ihnen zeugt, daß Nichtswürdige, wie fie, auf Erhoͤ⸗
rung nicht mehr rechnen dürften. Welch’ eine Ausficht wird Leuten
diefer Gattung bier eröffnet! Ach, wenn denn für fie auf Erden
auch Fein Herz mehr fchlägt, jo mag ja das Herz des Königs
aller Könige noch für fie fchlagen. Wenn unter ihren Freunden
denn auch feiner mehr fich findet, der ihrer fürbittend gedenken mag,
fo fchämt fich vielleicht der Herr der Herrlichfeit noch nicht,
ihren Namen zu des Baterd Thron zu tragen! O, weldhe Hoffnung
erblüht auf Golgatha der Sünderwelt! — Und wenn der große
Fürfprecher dort für einen Miffethäter eintritt, wie fchlägt Das
durch! — Proteftire eine ganze Welt: — Er betet felig, wen er
will. Mit unabweisbarer Macht dringt feine Stimme an des Ewi⸗
gen Herz. Seine Anliegen find Gebote. Berge von Sünden zer:
ftieben vor Seiner Fürſprache. — Wie höchſt bezeichnend und tief
bedeutfan ift es, daß der Herr mit jenem „Vater, vergib!’” den
Siebenklang feiner Kreuzesworte eröffnet! Diefes „Vergib“ beleuch⸗
tet uns nicht blos den Himmel der Leutfeligfeit und Liebe, den er im
Bufen trägt; zugleich zuckt'ss wie ein erhellender Blig durd) das Dunfel
der ganzen Paffionsnacht, und entziffert und die geheimnißvolle Stel
fung, welche der Heilige Iſraels hier als Bürge, Mittler und Hoher⸗
priefter einnimmt.
38
2
„Ms Hoherpriefter®" fragt ihr. Freilih ja! Fühlt ihr's doc
alle, daß er mur in Eigenjchaft eines jolchen eine Bitte wie diejenige
wagen fonnte, die und eben aus jeinem Munde anflang. Bon feiner
eigenthũmlichen göttlichen Beamtung abgeſehen, erſchiene jene feine
Bitte als ein Titanenſturm gegen die Ordnung Gottes; ja, als ein
empöreriſcher Verſuch, den Thron des Allmächtigen von ſeinen Grund⸗
veſten, welche Recht und Gerechtigkeit heißen, herunterzuſetzen.
Wie kann Der heilige Gott mit Sündern verkehren? ‘Darf Er
etwas Anderes, als ein: „Hinweg von mir, Berledte!” für fie ba
ben? Wie darf der Gott der Gerechtigkeit Miſſethäter behan-
deln gleih Gerebten? Muß Er nit, wenn Er fich jelbft nicht wi-
deriprechen will, „einem Jeglichen vergelten nach jeinn WBerken" —
Wie ziemt es dem „Gott der Weisheit“, blindlings in den Mar
ſchenhaufen hinein zu greifen, um den, den Er gerade erbafcht, zu
Seiner Herrlichkeit zu erheben? Gebührt ſich's nicht vielmehr, daß
Er forglich fichte und Icheide, und wäre es nicht ohne dies um feinen
Ruhm, ein Gott der Ordnung zu fein, geichehen? Vermag der
wahrhaftige Gott Gefege zu geben und Drohungen ergehen zu
laffen für die Liebertreter, um dennoch, wo wirflih das Gefe mit
Füßen getreten ward, jein „Berflucht fei jedermann, der nicht bleibt
in Allem” begnadigend zu breden und zurüd zu nehmen? Un
möglih! — Will Er nicht felbit aegründeter Anklage verfallen, To
muß Gr trog alles menjchliben „vergib, vergib“ Fluch zahlen,
wem Fluch gebührt, und Zorn, wen Zorn. Alles dies fteht feljenfeit.
Und dennoh — — Seht, dort hebt e8 feine Flügel den Thron der
Majeitit entgegen, Das aroße „Beraib!” vom Marterbügel, umd
durchkreuzt dem Anicheine nach alle jene ewigen und unantaftbaren
Sapungen und Schranken. Ja, Die Berge Sinai und Ebal fehiebts
zur Seite, und beachtet Den Cherub des Geſetzes nicht, der die Pforte
des Paradiefes hütet und beordert üt, nur Gerechte einzulaffen.
Unbefümmert um Das Flammenſchwerdt deffelben ſchwingt ſich's mit
ſcheinbar unerhörter Kühnbeit über die ebernen Wälle der taufend-
fachen göttlichen Fluchdrohungen hinaus, welche den Unreinen uner-
birtfih den Zugang zu Gottes Wohnungen verfperren, und verlangt
in grellftem Widerfprucdy mit der unauslöfchlichen Auffchrift über dem
ewigen Heiligthume: „Ich will den aus meinem Buche tilgen, der au
mir jündigt,” für Rebellen, Gottesläfterer und Mörder Begna-
Bater, vergib. 505
digung, ja den Einlaß in die Behaufungen der feligen Gottesfinder. —
Solches thut das „Vergib!“ „Und wäre doch fein Himmelsfturm ?
— a, Freunde, es ift ein folcher; aber ein wohlberechtigter, ein
tief gegründeter, ein heiliger! Die Gnade begehrende Liebe am Kreuz
ift auch eine allen Gottesordnungen unterthänige Liebe. Was etwa
von Schein der Vermeſſenheit ihr anhängt, ift nichts, als eben Schein,
Sie weiß, was fie thut, indem fie ihr „Bergib! zu dem empors
ruft, bei welchem „fein Wechfel ift des Lichtes, noch der Finſterniß.“
Sie ift ſich der „„Ziemlichkeiten des Haufes Gottes” in dem Augen-
blide wohl bewußt, da fie Segen und Freiheit für. Leute begehrt, die
das Geſetz verdammt und zur Hölle verweifen muß. Sie richtet fich
mit ihrer Bitte nicht an eine göttliche Willführ, die nicht eriftirt;
jondern appellirt wie an Gotte8 Barmherzigkeit, fo zugleih an feine
Gerechtigkeit. Ihr „Vergib“ ftößt feine der göttlichen Ordnungen
um, fondern läßt fie alle unverfehrt und unangetaftet ftehn. Ja, fie
ift jo weit entfernt, zu wollen, daß der Allmächtige irgendwie fich
jelbft, oder fein Wort verleugne, daß fie vielmehr Gottes Ehre als
das höchſte und letzte Ziel all’ ihres Thuns und Zrachtens im Auge
hat, — „Aber fann Gott in Ehren bleiben, wenn er Mörder mit
Gnadentronen lohnen ſoll?“ — Ja, Freunde, Er fann; und Dies
ift eben das „Endlich große Geheinmiß der Gottfeligfeit”, von wel-
hem und das Evangelium die Siegel bricht, das aber nur dem
Glauben fich erfchließet. Der Zefus, der bier für feine Mörder
bittet, fteht eben aud an dieſer Mörder Stelle, und vertritt fie
Haben fie das Geſetz gebrochen, fo tft er der Bürge, der ed an
ihrer Statt erfüllt, Sind fie die des Todes Schuldigen, fo iſt er
das Lamm, das ſich für fie von Gott zur Sünde machen ließ, damit
die Sünde ihnen nicht mehr zugerechnet werde, Beluden fie ſich mit
dem Fluche des Geſetzes, fo ift er der Mittler, von dem gefchrieben
fteht: „Chriſtus hat uns erlöfet vom Fluche des Geſetzes, da er
ward ein Fluch für uns.” Sind fie nad) Gottes Necht den Mächten
der Finfterniß verfallen, fo gibt er als williges Opfer ſich den Feuer⸗
pfeilen derfelben bloß. Trifft fie das Urtheil: „Welches Tages du
von Diefem Baume iffeft, wirft du des Todes fterben,” fo läßt er
diefes Urtheil an feiner heiligen Perfon vollziehn, Damit es heißen
könne: „Iſt Einer für Alle geftorben, jo find fie Alle geftorben.” —
„Mio Genugthuung, Sühne, Stellvertretung®” — Ja, Freunde, Dies
find. die inhaltfchweren Worte, welche den Grund der Berechtigung
38”
596 Daß Merheiſigte
euch bezeichnen, von Dem die Fürbitte Jeſu getragen wird. Jetzt mu
die ganze Welt verftummen, und die Hölle dazu, wenn Gott felbit
Läſterer und Mörder, für welche Jeſus in den Riß trat, zu Gnaden
annimmt. Denn allen Ordnungen Des ewigen Heiligthums ift ihr
volles Recht wiederfahren, und Die Gerechtigkeit im Throne kann
nicht Ginfpruch mehr erbeben, wenn Die ewige Liebe Simder ſegnend
an ihr Herz drückt. Wie trofmwoll aber und tief beruhigend ift es,
die görtliche Bergebimgsgnade auf ſolchen Zundamenten rubn zu ſebn!
Jetzt begreiten wir fie wohl, die Betonung volllommener Gewißbeit,
Zeitigfeit und Zuverficht, womit das große Wort „Bater, vergib!“
Dahertönt. Der Hobeprieiter ſpricht's aus dem Allerheiligften heraus,
und zwar in dem Momente, in welchem er eben dic Schuld der
Schuldigen bezahlt. Daß er dies wirflih thue, und bierin Die
wahre Bedeutung feines Leidens zu ſuchen fei, Das will er von feiner
Kreuzesböhe herab ein für allemal tbatjächlich der Sündermelt ver
Augen malen; und darım Tendet Er gerade aus feinem Blute ber
aus Dies entichiedene unbedingte Gnadengeiuch zu Gunſten der ärgs
ſten Sünder, feiner Mörder, binauf gen Himmel. —
3.
„Aber wie fonnte der Herr Diele verftodten Böfewichter gerade der
göttlihen Barmherzigkeit empfehlen?“ — „Verſtockte“, merkt euch
dies wohl, Geliebte, waren fie mit nichten, die er bei feiner Für:
bitte im Auge hatte. Für Menfchen, Die die „Sünde zum Zode*
begangen haben, üt freilich fein Heil und feine Rettung mehr, mıe
denn auch nach apoſtoliſcher Weilung für ſolche nicht mehr gebetet
werden fol. Ter Herr meiß aber wohl, was er thut. „Vergib ib:
nen?” beginnt, er ullerdings ganz allgemein; aber alfobald befchränft
er jelbit feine Worte, und zwar To, daß fih .B. ein Judas, md
gewiß auch manche der Obern Des Nolfs, aus dem Segensfreife Seiner
Zürbitte ausgeſchloſſen jeben. Dieſer Zufag „Sie willen nit,
was fie thun!“ zieht Die Schranfe. Durd ihn hebt der Her
aus dem großen Haufen, der ihn umgibt, eine Auswahl von Men:
fchen beraus, der allerdings die mehriten feiner Kreuziger beigehören
mochten. Es waren Leute, Die nicht, wie jene Pharifäer, Die Jeſum
beichuldigten, die Teufel durch der Teufel Cherften auszutreiben, Die
Sünde wider den heiligen Geiſt begangen hatten, fondern in einer,
allerdings nicht unverfchuldeten, Verblendung Jeſum dem Zode
übergaben. — Beachtet nun zuerft das erhabene Selbſtbewußtſein,
Bater, vergib.. 597
das der Herr auch bier wieder, auf der unterften Stufe feiner Er-
niedrigung, in dem „Ste wiffen nicht, was fie thun!” Fund
werden läffet. Denn was iſt's doch, das hinter dem mit Nachdrud
ausgefprochenen „Was“ verborgen liegt, ald ein: „Wenn fie fidys
bewußt gewefen wären, daß fie es in mir nicht allein mit einem Un:
fchuldigen und Gerechten, fondern mit dem Herm der Herrlichkeit zu
thun hätten, fie würden mich nimmermehr gefreuzigt haben!” Dann
liegt in dem „Sie wiffen nit, was fie thun!” der Gedanke:
„Vergib ihnen, Vater! Denn indem fie mich hinopfern, zahlen fie ja
in meiner Perfon unbewußt Das Löſegeld für fi, und ermöglichen’s
dadurch, daß Du unbefchadet deiner Gerechtigkeit Dich über fie erbar-
men kannt.” Endlich und vorzugsweife ift Das „Sie wiffen nicht,
was fie thun!“ in demjelben Sinne aufzufaflen, in welchem ich
verftanden werden müßte, wenn ich von Jemandem, den ich aus feiner
Noth zu retten gekommen wäre, der aber meine Abficht verkennte, und
ſchnöde mid) zurückwieſe, ebenfalls fpräche: „Er weiß nicht, was er
thut!” Es wäre in foldyem Falle meine Meinung diefe: „Geduldet
euch; bald, wenn er inne geworden fein wird, wer ich bin, und zu
weldyen Ende id in feine Hütte trat, wird er ſich befinnen, und
ſich Schon anders zu mir ftellen!” Ich fpräche mit meinem Worte eine
Weiffagung aus; und eine folche enthält unverkennbar auch das
„Sie wiflen nicht, was fie thun,” des Herrn. Es liegt darin eine
verhüllte Vorherverfündigung der zukünftigen Buße und Umkehr
derer, für die er bittet. Wurde ihnen doch auch fchon in dem „Va⸗
ter, vergib ihnen!” ein mächtiger Antrieb zur Buße mit auf den
Weg gegeben, und eine lieblihe Brüde zur Sinnesänderung gebaut,
Und blickt nur eine Heine Strede vorwärts, fo feht ihr fchon, zu⸗
nähft in dem römifchen Hauptmann unter dem Kreuze und deſſen
Schildträgern, jene Weiffagung dem Anfange nad) in Erfüllung gehen.
Beachtet dann die Volksmaſſen, wie fie an ihre Bruft fchlagend von
Golgatha nad) Serufalem zuridwogen, und wenigitens theilweife
unverfennbare Spuren aufrichtiger Neue blicken laſſen. Gewiß waren
unter diefen auch fie, denen das „Vater, vergib!” gegolten hatte.
Und waren fie unter dieſen nicht, dann unzweifelhaft unter Den
drei Taufend, denen am Pfingfifeite das Wort der Apoftel durch's
Herz ging. Denn hört dort Petrum reden. „Diefen Jeſum,“ fpricht
er, „welchen ihr gefreuzigt habt, hat Gott zum Herm und Ehrift
gemacht.“ Die Geſchichte aber meldet von dieſen Kreuzigern:
598 Das Alerheilighe.
„Da fie das hörten, fpradhen fie: Ihr Männer und Brüder, was
follen wir thun?“ a, Diefe waren es, die einſtmals „nicht wußten,
was jie thaten.” Jetzt ward es ihnen had. DO, wie ſchlug mm
nachträglich nody Das „Bater, vergib ihnen!” beugend und zer⸗
malmend an ihr Herz! Wie ergoß fi erft jet Die Liebe, die in
jenen Worten einjt ji fund gegeben, alö eine zerfchmelzende Ziegel:
gluthb dur ibre Seelen! Wehe, ibren einigen Retter und Seliy-
macher fchlugen fie ans Holz! Wie, daß unter ſolcher Erwägumy
ihre Augen nicht zu Tbränenquellen bätten werden follen? Die Buße
aber, die dem Bergebumgstroite erit den Raum bereitete in ihrem In⸗
nern, vollendete fi) dann auch in Hingebung an den Herm und in
Treue gegen ihn bis m den Tod. Seht, fo bat das „Vater, ver:
gib ihnen, denn fie willen nicht, was fie thun!“ weder die
Satzungen der göttlichen Gerechtigkeit, nod die ein für allemal Seitens
Gottes feitgeitellte Heilsordnung irgendwie verfehrt. Die Ge
rechtigleit blieb in ihrem Glanze kraft der Genugthumg des ein
geborenen Sohnes, und ber Heilsordnung ward in der zu feiner Zeit
eintretenden Buße und Belehrung derer, denen das „Bergib!” ge
golten, ihr volles Recht. —
Freuen wir uns denn, geliebten Brüder, daß das beg
und unentbebrlichite aller Güter, die göttlihe Abfolution, die
Vergebung der Sünden, jo voll md fo rehtsfräftig ms
erworben ward. Was beifen uns alle Schaͤtze der Welt, wiffen wir
und im Himmel nicht angejchrieben und beerbt? — Bedenkt aber, daß
die am Kreuz erworbene Vergebung, ob immer fie and) ein reine
und freies Geſchenk der Gnade jet, Doch denen ewig vorenthaften
bleibt, die da willen, was fie thun, indem fie Ehrifto ihr Her
veriagen umd eben jo wenig auch denjenigen zu Theil wird, Die in
ihrem unwifjenden und mabnbefangenen Biderftreben gegen
Ihn verharren. Darım auf aus dem Zodesfchlafe der Sicherheit!
dem Pharijäertruge Valet gegeben! die Sünde, die uns anflebt, ai
Eünde verdammt! und Daun — (dies it die Straße, die zum Leben
führt,) fo bußfertig als glänbig zum Kreuz getreten mit des
Sängers Worten:
Erweitre Dich, mein Herzend Schrein,
Du ſollſt ein Schaghaus werben
Der Schaͤcher. 599
Der Schaͤtze, die viel größer fein,
Als Himmel, Meer und Erben.
Meg mit den Schägen dieſer Welt,
Und Allem, was dem Fleiſch gefällt!
36 hab’ ein Beſſ'res funden:
Mein großer Schak, Herr Jeſu Ehrift,
Iſt dieſes, was gefloflen ift
Aus deines Leibed Wunden! — Amen.
— —
L.
Der Schäder.
Wenn der Apoftel Hebräer 9, 8 bezeugt, es fei, fo lange Die erfte
Hütte geftanden habe, „der Weg zum Heiligtbum noch nicht
geoffenbart” gewefen, fo fommt es ihm nicht von ferne in den Sinn,
den Alten etwa die Hoffnung des ewigen Lebens abfprechen zu wollen.
Wie Abraham fehon jene „Stadt“ fuchte, die einen „Grund“ hat,
und deren „Baumeiſter Gott” ift, fo wußte David, „der Herr führe
aud) über den Zod;” und die beiden Entrüdungswunder, an Henoch
und Elias vollzogen, ftanden hell genug am Himmel der Gefchichte,
um in Iſrael vermittelt ihrer Leuchtthurmfchimmer das Bewußtfein
von einer zufünftigen Welt gegen jede Gefahr auch nur einer zeit- -
weiligen Verdunklung zu fichern. Indeß, wurde auch das Dafein des
himmliſchen Heiligthums nicht bezweifelt, fo lag doch der Weg dahin
noch in Wolfen, und die Hoffnung auf eine einftige Aufnahme in
Daffelbe war ſchwankend und ſchwach. Warum dies? In den Zagen,
da das Geſetz noch regierte, überwog in Iſrael das Schuldgefühl
dasjenige der Rechtfertigung bei weitem. Ya, von Redtfertigung
im vollen Sinne diefes Wortes war überhaupt noch faum die Rede;
vielmehr erfchien der Troft augenblicklicher Straferlaffung und Berge:
bung als das Höchſte, zu dem ein gottesfürdhfiger Sünder gelangen
fonnte. Auch dem Frömmften blieb Gott fremd und ferne, und Die
Wohnung Gottes trat vor ihm wie das Allerheilgfte des Tempels in
undurchdringliche Verhüllungen und unnahbare Weiten zurück. Wie
600 Dad Alerpeiligke.
begreiflich alles dies! Das Geheimniß der WBiedereinfleidung des
gefallenen Adamsjohns in allen Schmud feiner urfprünglichen Heilig:
feit vermittelft Uebertragung eines fremden Gehorfams lag noch, wenn
auch von ferne gezeigt, unter fieben Siegeln verſchloſſen. Chriſtus
mußte erft wirklich erfchienen fein, und fein Werk geſchichtlich vollen-
det haben, ehe das Gottesktindfchaftsbewußtfein, und mit ihm die Hoff
nung des ewigen Lebens, in den Herzen armer, fehüchterner Sünder
Raum gewinnen und Wurzel fchlagen fonnte. Chriftus kam. Und
wollt ihr fehn, wie er den bis dahin verfchloffenen, oder doch immer
noch tief umwölften Weg zum Heiligthume, und das Heiligtum ſelbſt,
eröffnet bat, fo folgt mir heute nach Golgatha!
Suc. 23, 39— 43.
Aber ber Mebelthäter einer, bie da gehenft waren, läfterte ihn, und ſprach: Bik
bu Chriſtus, fo hilf dir felbft und und. Da antwortete der andre, firafte ihm und
fprah: Und du fürchteſt dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Berdamm-
niß bit? Und zwar wir find billig darinnen, denn wir empfangen, waß unfre Xheten
werth find; diefer aber hat nichts Ungeſchidtes gehandelt. Und ſprach zu Iefu: Her
gedenfe an mich, wenn dn in dein Reich fommft. Und Jeſus ſprach zu ihm: Wahe⸗
lich, ich fage dir, heute wirft du mit mir im Barabiefe fein.
Welch' eine Gefchichte! Wüßte ich doch kaum eine zweite, in der fo
das Anziehende mit dem Ehrfurchtgebietenden, das Rührende mit dem
Erhabenen fid) verichmölze, wie in Diefer! Allbefannt ift fie, umd
Doch immer wieder neu; unzählige Male betrachtet, aber niemals noch
“ erfchöpft. In welchen Glanze erfcheint uns hier das Kreuz! Im
welcher Verklärung das Blut, das daran vergoffen ward! Kommt,
treten wir erwägend einem Vorgange näher, in welchem fich nichts
Geringeres, al8 ein Borfpiel des jüngften Gerichts uns darſtellt,
indem Himmel und Hölle fich vor uns aufthun, und die Looſe der
Entfheidung zur Rechten und zur Linfen fallen.
Wir werfen zuerft einen Dli in die Herzen der beiden Schä-
her, und vertiefen uns dann in Das große königliche Berheißungs:
wort Immanuels.
Ein Bild der Menfchheit in der Verſchiedenheit ihrer Stellungen
zu Chrifto dämmert in der bedeutfamen Scene vor uns auf. Verleihe
Gott in Gnaden, daß wir uns mit gutem Grunde in dem Schächer
zur Rechten wiedererfennen mögen!
Der Schaͤcher. boi
1.
Aufwärts die Blide! Die drei Sterbebetten dort zwifchen Himmel
und Erde bilden den Mittelpunkt unfrer heutigen Betrachtung. Die
drei Blutenden find infofern ſämmtlich in gleicher Lage, als fie alle
auf der legten Station ihrer Erdenwallfahrt angelangt find, und un-
mittelbar vor dem ermften, dunkeln Borhange der verhängnißvollen
Ewigkeit ſchweben. Der in der Mitte zieht, ob auch von wilden
Sturm umbrauft, friedfam zur Einfahrt in den Hafen feine Segel
ein. Die beiden Andern dagegen jehn wir ſchiffbrüchig und bedroht
vom fürchterlichften Untergange mit der Brandung ringen. Sie öffnes
ten dem Wahn ihr Herz, jagten mit der empörerifchen Loſung „Frei-
heit, Gleichheit und Genuß“ der zeitlichen Ergößung nad), und wur-
den, unaufhaltfam von Sünde zu Sünde fortgeriffen, endlich als Meu-
terer aufgegriffen, und zur Sühne der öffentlichen Gerechtigkeit an's
Kreuz gefchlagen. Die Luft ift kurz, die Reue lang. Was brachten fie
aus ihrem gottvergeffnen Treiben an Beute mit heraus, als neben dem
leiblichen Elend, darin wir fie fchmachten fehn, den Wurm in ihrer
Bruft, der nicht ftirbt, und das Feuer im Gebein, das nicht erlifcht?
D, Unvernunft und Raferei, ftatt Gott, dem Allerhöchften, dem Teu⸗
fel fi zu Dienft begeben, deſſen Eöftlichfte Löhnungen immer nur
Belfazersfefte und Henfermahle find. Millionen Sünder haben’s mit
dem Schredenderempel ihres Lebensendes lauter, als es mit Worten
geichehen könnte, in die Welt hineingerufen: „Ihr, an den Scheide;
wegen, geht um Gottes und des Heild eurer Seelen willen nicht Links,
denn zur Linken Hafft die Hölle!” Dennoch find fie nicht zu zählen,
die ohne Unterlaß, jener Heerde vergleichbar, unter welche die unſau⸗
bern Geifter fuhren, ihren bethörten Vorgängern taumelnd in das
Meer des Berderbens nachſtürzen; und das Berzweiflungsgewinfel in
den ewigen Wüften wächft von einer Nachtwache zu der andern.
Die beiden Miffethäter haben eine Zeitlang ſtumm dahingehangen ;
aber von dem wunderbaren Mann, der zu ihrer Seite in feinem Blute
fhwimmt, und in dem die lebenvolle und leibhaftige Erfcheinung einer
übermenfchlichen Heiligkeit und Liebe auch ihnen keineswegs ganz vers
borgen blieb, den Blick nicht wenden Fönnen. Endlich regt fid) der
zu Zefu Linken; aber wehe! in ganz andrer Weife, als wir es zu hoffen
wagten. Mit einftimmend in die Läfterreden, die eben von unten ber
zu dem Marterlamme emporzifchten, fpricht er zu dem Mann im Dors
nenkranze: „Bift du Ehriftus, fo hilf dir felbft und uns!“
802 Das Ußerheiligke.
Zreilich ift der Sinn diefer Worte wenigftend mehrdeutig. Unverkemn⸗
bar hat auch jenes Mordlind von dem Manne zu feiner Seite den
Eindrud empfangen, daß er, falls er nur wolle, fich felbft und ihnen
wohl möchte helfen können; und jene feine Anſprache an ihm war
wirklich ein, wenn and) verzweifelter, Verſuch, den Herm bei feiner
Ehre zu faflen, und ihn dadurch zu einer That der Rettung zu be
wegen. Aber das Mißtrauen, das er in die Bereitwilligkeit Defjelben
zur Vollziehung eines ſolchen Wunders ſetzte, überwog im ihm weit
die Hoffnung; und fo ging fein Wort zugleich, ja vorwiegend, als
Laut der Verftimmung und eines bitteren Zroßes gegen Chriſtim
aus ihm hervor. Aber wer gab ihm den Gedanken ein, Daß ber
Hear, wenn er auch das Vermögen dazu befäße, ihm Dennoch nicht
werde helfen wollen? Sein Gewiflen zeugt ihm dies. Die fleden:
lofe Reinheit des geheimnißvollen Dulders warf auch bis in deu
dunkeln Spiegel des Bewußtſeins dieſes Webelthäters einen hellen
Wiederſchein, und verdammte ihn vermöge der bioßen Entfaltung
ihres Glanzes in feinem Jımerften als eine fittliche Mißgeburt. Aber
war diefes innere Gericht nicht für ihn ein Segen? Es hätte ibm
zum Segen werden können. jedenfalls führte es einen entfcheidenden
Moment für ihn herbei. Hätte er der auf ihn eindringenden Wahr⸗
heit Raum gegeben, und, mie das hehre Bild des Heiligen ihn
richtete, fo fich felbft gerichtet, er würde dann feinen Fuß auf bie
Straße des Heils geſetzt, und jeine arme Seele, wie verkommen fe
war, gerettet haben. Aber er wollte in feinem Bettelftolz ſich felbft
behaupten, und ftatt Buße und Beugung entzündete fih in ihm em
teufliicher Haß gegen den, der jchon durch feine Gegenwart das Brand-
mal der Nichtswiürdigfeit ihm an die Stim drüdte. Co fuhr's dem
wie ein giftiger Natternbiß aus ihm heraus, das Wort: „Biſt du
Ehriftus, jo Hilf Dir felbft und uns!“ „Hilf dir ſelbſt!“
Elender Menſch! Wie hätte der, dem es ein Geringes wur, mü
einem Worte die Bande der Hölle und des Todes zu fprengen,
fih nicht jelber jollen helfen können, wenn höhere Rückſichten nicht
zu einem Andern ihm geratben hätten? — „Hilf uns!” O Srechbeit
obne leihen, den Herrm vom Himmel in dem Börtlein „uns“ mit
fih, dem Kinde Belinls, auf eine Linie herunterziebn, und obendrein
die Hülfe deſſen beanfpruchen zu wollen, wider welchen er jein Her
verhärtete und verftodte! Doch ſchlagen Radıflänge jenes im bitie
Galle getauchten Schächerworts immer noch haufig genug am unfer
Der Eiger. 603
Ohr. Wie oft hören auch wir mit verbiffenen Lippen fagen: „Schweigt
nur von euerm Gott; denn ift er, warum laͤßt er uns in unferm
Elend ſtecken?“ Schauerlicher Hochmuth des verfommenen Sünden-
wurms, Menſch genannt! Was verdienft du Beſſeres doch, trogiger
Rebelle wider die Ordnungen feines Reichs, als daß er in deinen
Noͤthen dich verfchmachten laſſe. Sie erft in der Afche, und unter:
wirf dich rüdhaltlos feinem Scepter: und warte Dann ab, ob er etwa
Gnade werde vor Recht über Dich ergehn laffen. Aber das eben magft
du nicht, und findeft Dich um deines Widerftrebens willen gegen ihn
in deinem Innern gerichtet. Das peinigende Gefühl feines Zornes
aber fleigert in deinem Herzen die Empörung gegen ihn, und vollendet
deine Abneigung zu Haß und Erbittrung, O, die mit ihren Fluch⸗
liedern wider „den alten Gott”, die wuthfchäumenden LKäfterer Jeho⸗
va's, deren Zahl in unfern Tagen Legion beißt, zeugen vermittelft
ihrer Läfterımgen doch nur für den Hocherhabenen, wider den fie to-
bend den Schild erhuben. Denn woher ihr grimmiges Gebelle wider
den Allerhöchften, fühlten fie nicht feine richterlihe Hand auf ihrem
Halfe? Woher ihr immer wiederholtes, Teidenfchaftliches Verneinen,
Daß er fei, fünden fie ſich nicht Durch feine Heiligkeit eingefchnürt und
beengt? Bon Gott macht fi nun einmal Niemand völlig 106. Viel⸗
mehr ift ein jeder gezwungen, in feiner Weife ihn mit verherrlichen
zu helfen. Chret er Gott nicht mit feiner Xiebe, fo ehret er ihn mit
feinem Haß. Daß Gott ein verzehrend euer, bezeugt der Zitane in
feinem Himmelsfturm fowohl, wie der Seraph auf den Feuerflügeln
feiner Inbrunſt.
Dem Schächer zur Linken wird feine Antwort. Für den Räuber
und Mörder in ihm wäre noch Hülfe gewefen; aber für den unbuß⸗
fertigen Spötter und Das verhärtete Kind des Unglaubens gibt
es feine Rettung mehr. Der Herr muß den Tinglüdfeligen fahren
laſſen. Man dente: Der Herr, der einige Retter im Himmel und
auf Erden! Wer erzittert nicht? Aber Gott ift ein Gott der Ord⸗
mmg, und aud) feine Gnade feine Willkühr. Wendet den Blick jebt
und fchaut zur Rechten des göttlichen Dulders. Hier bereitet fih ein
Schauſpiel vor, an dem ſich unfre Seele von der Beftürzung, womit
das vorhergehende fie erfüllte, wieder erholen mag. Der erquickliche
Gegenſatz ftellt fi) uns in dem andern Schächer dar, der zwar nicht
weniger tief verfchuldet ift, als fein bejammernswerther Schickſals⸗
gefährte; den wir aber am Rande der Hölle noch zur guten Stunde
604 Des Ulecheiligße.
den Strick des Satans yerreiien und vom fich werfen, umd Dun in
einen eg fich bimiberichwingen jebn, der auch moch auf der legten
Station vor dem Berderbens - Abyrunde nicht zu jpät betreten wird.
Was auf Das Herz dieſes Mannes, der, wie man and Den ewangeli-
chen Berichten ichliegen möchte, nicht fange vorber felbit noch im Das
allgemeine Gejpötte wider Jejum mit eingeitimmt batte, vorzugöwetie
einen jo geſegneten und jo energiih umgeſtaltenden Einflug geübt,
wird und ausdrücklich wicht gemeldet. Gewiß aber war es, mem
nicht das Wort des Herm auf dem Wege: „Weinet nicht über mid,
tondern über euch, und eure Kinder,” io Doch jein Drobender Zuraf:
„Geſchiehet Died am grünen Hol, was wird am dürren mwerden;”
und wenn auch dieſes nicht, ſo unfehlbar jein berzergreifendeö Gebet
für jeme Mörder, und überbaupt der ganze Glanz der Hoheit und
Heiligfeit, in dem er ſtrahlte. Genug, die Veränderung, die im umern
des armen Sünders ſich vollzogen bat, gibt ſich als eine Durdhgreifende
und enticheidende fund, und ericheint wenigitend ald Anfang einer
vollftändigen Wiedergeburt und Emeurung des beiligen Geittes. Det
hängt er, noch ſtumm, an jeinem Holze; aber jede Miene ſeines dem
göttlichen Dulder zugefehrten Angefichts redet, und eröffnet uns Blide
in die Belt jeines Junen. Dan fieht es deutlich, wie die böjen
Geiſter von ihm gewichen find, und mn ein feierlicher Engelzug bei
liger Gedanken und Bewegungen Durch jeine Seele ſchreitet. De
haͤmiſche Ausfall ſeines Unglücksgenoſſen zur Linken Jen Löfr ihm
erit die in Zerfnirihbung und Ehrerbietung ichweigende Junge. Gt
muß Einſpruch erbeben gegen Das zufummenfaffende „uns“ im dem
laͤſterlichen: „Huf uns, wenn du Chriſtus biſt!“ Er muß fi) losſagen
von folder Blaspbemie. Er fennt das Gewicht, je wie den umgehen:
ren Ernſt des Augenblids, der Angefichts der fich öfnenden Emiy
feit für ihn gekommen üt, und weiß jich binfidhtlih des Verbältai:
jes zu dem Torngefrönten mit feinem Mitihuldigen in feiner ges
ftigen Gemeinihaft mehr. Er bat an dem hehren Manne genug ge
fehn, und genug von ihm gehört, um ſich fügen zu müffen: „Die
fer it der verheißene Zroft Iſraels; oder dieſer Zroft wird nimmer
kommen!“ Er erblidt in Ibm, wie den hellen Spiegel jeiner eignen
Berwerflichkeit, fo zugleich den einzigen und legten Anfergrund für
feine Hoffnung. Nicht zu befchreiben it darum das Entfeßen, das
ſich feiner bemächtigt, da jenes frevle Wort feines Mitgehenkten daher⸗
tönt, — „Und Du,” beginnt er, freilich richtend, aber hiezu befugt,
Der Schaͤcher. 605
weil er zuvor ſich felbft gerichtet, „Fürchteft Dich auch nicht vor
Gott, Der du doch in gleiher Berdammniß biſt?“ — Ad,
ihm felbft erbebte das Gebein bei dem Gedanken an den Richter der
Lebendigen und der Todten. ‚Und du,” dies ift der Sinn feiner
Worte, „der du felbft am Todespfahle in deinem Blute fchwinmft,
der Ewigkeit fo nahe ftehft, wie ich, fürchteft dich nicht vor Gott,
der den Sündern ein verzehrend Feuer iſt, und der eben fo gewiß,
als er diefen Gerechten rechtfertigen wird, denen fluchen muß, die,
wie du, demfelben Hohn zu fprechen fich erfühnen! Irre Dich nicht,
Gott Täßt ſich nicht fpotten!” — Ach, wie rührend und wie herz
ergreifend ift diefe Bußpredigt des einen Delinquenten an den andern!
Dod hört ihn weiter! „Und wir,” fährt er fort, find billig in
Diefem Gerichte; denn wir empfahn, was unfre Thaten
werth find.” O hört diefe Sprache aufrichtiger Beugung vor der
Majeftät des Geſetzes! Vernehmt diefe lautere Selbftanflage, in der
er fi) allerdings, was die Verſchuldung angeht, dem andern Schächer
vollfommen gleichftellt. Fürwahr, wo foldhe Sprache ertönt, da fchickt
fih fchon der Himmel au, die weiße Fahne auszufteden. Und denfe
nur Niemand, e8 hafte etwas Entehrendes an folcher Sprache. Im
Gegentheil ift fie die Sprache männlicher Selbftbefreiung aus dem
Strid der Lüge, muthiger Huldigung, der Wahrheit dargebradht, und
entjchloffener Umkehr vom Wege der Finfterniß auf den des Lichtes
und des göttlichen Heils. Einer der geläufigften Kunftgriffe des
Fürften diefer Welt, wodurd er feine Schlachtopfer an feine Fahnen
zu fefleln wußte, beftand von Alters her darin, Daß er den Menfchen
die Buße als etwas Unwürdiges, Crniedrigendes und Weibifches dars
zuſtellen ſuchte. Wir halten dafür, daß umgefehrt Faum etwas ver-
ächtlicher fein könne, als abflchtlich den Spiegel meiden, der uns die
Dinge zeigt, wie fie find, und auf dem Ruhepolſter einer jämmer-
lichen Selbfttäufchung fein Behagen finden. — Doch hören wir den
Schächer! „Diefer aber,” fährt er fort, „hat nichts Unge—
fhidtes gehandelt.” Welch' ein neues, Tiebliches Zeugniß Dies
für die Unfchuld Jeſu! DO, wie muß es aus der ganzen Erfcyeinung
des Herrn jo deutlich herauszulefen gemwefen fein, Daß er, wie der
Apoftel fagt, „von feiner Sünde wußte!” Aus allem Schmach⸗ und
Beichuldigungsgewölf, womit die Hölle Täfternd ihm bededte, brad)
immer wieder das Licht feiner göttlichen Unfträflichkeit und Schöne
fo fiegreich hervor, daß die Blindeften verwundrungsvoll davor zurüd=
606 Das Uccheiägße.
bebten, und allaugenbfidfich feine befannte WBeifiagung fait buchikibiih
fih erfüllte: „Wenn Diele ſchweigen, io werden die Eteine mir He
fianna ſchreien!“
Doch hört weiter! Jetzt folgt dus wahrhaft iritaumenswärdige.
Das Gnadenwerk im Herzen des Schaͤchers wirft feine legten Schleier
ab. Wer bütte Denken mögen, daß wir in jener Schuuerböbe fo eiwas
erleben würden! Nachdem der Schächer jeinen Lüfternden Mitzebenften
zurechtgewieſen, und ibm das Eine, mas Roth iſt, fo derüthig mad
liebevoll, wie eindringlich und ernſt an das Herz gelegt bat, neigt er
jein Antlig wieder dem Manne zu, der je länger je mehr feime eimige
Hoffnung und feine ganze Liebe ward, und fpricht zu ihm fo anfpruchs⸗
los und gebeugt, wie bingebend und vertrauensvoll: „Herr, gedente
an mid, wenn dn in deinem Reihe kommſt!“ Was if das!
Bir find überrafcht, wir trauen unjern Ohren mm. Welch' Belenzt
niß; und das in dieſer Stunde, unter dieſen Umſtänden, von Die:
fes Mannes Lippen! Hier üt ein göttlich Hellſehn in tieffter Nacht!
Reichte doch kaum irgend eines Apoſtels Erleuchtung bis zu der Glau⸗
benshöbe dieſes Schächerd binan. „Herr,“ ipricht er; nicht: „Rab
bi,” nit: „Lehrer oder „Meiſter;“ nein, in dem „Kyrie“ legt er
ihm den Majeftätstitel bei. Aus der Geftalt eines zertretenen Burmsd
greift er damit den himmlischen Ehrenkönig heraus. „Gehe du,”
will er fagen, „in Schmach und Unglüd fo tief verhüllt, wie du nur
magft; ich kenne dich doch! Tu bit mehr, unendlich mehr, als alle
Menichen find! Du bit nicht von der Erde: du famft von Oben!“
„Gedenke mein,“ führt er fort, mit unausjprechlichem Anfchmie
gen und trauteftem Kindesfleben. O wie inbaltreich it dieſer Seuf⸗
zer! Er it Ausdrud lebendigiter Ueberzeugung von dem Dafein ei
ner zufünftigen Welt: denn nicht Hülfe für die leibliche Noth, in der
er fchmachtet, jondern etwas gar Anderes und Höheres begebrt der
Schächer. Es ift ferner lautes Zeugniß von der Rothwendigfeit einer
Bermittelung, wenn Sünder felig werden follen. „Vertritt mich!“
will er fagen, „fpricd für mich Sünder qut, lege ein Wort der Em;
pfehlung für mich ein.“ Sa, es ift unverbolenes Bekenntniß: „Du,
Mann im Domenkrange, bift der Mittler; darum fliehe ich zu Dir mit
der Juverficht, deine Fürſprache bei dem Bater, aber auch nur fie,
werde mid vom ewigen Tode retten!“ — Dem flehentlihen „@es
dDenfe mein!“ läßt der Schächer die Worte folgen: Wenn Du in
Deinem Reiche (nicht: in dein Reich) kommſt.“ Was will ex du
der Schacher 607
wit fagen? Etwa: „dein Entwurf fanf nicht in den Staub? Stirb
mu; auch aus des Todes Kerker gehft du triumphirend wiederum her:
vor! Dein Reich wird fiegen, und dein Thron ewiglich beftehn!?“
Gewiß, Geliebte, nichts Anderes, als dies, hat er im Sinne „Dir,”
will er fagen, „gehört die Welt; die Fahne deines Friedensreiches
wird wehn von einem Pol zum andern! Wenn du denn Deinen
Thron wirft aufgerichtet haben, o, jo würdige auch mid), den armen
Schaͤcher, der Aufnahme unter die Geringften deiner Knecdhtel" Geht,
dies iſt feine Meinung. Welch” ein Herold von Ehrifto in tieffter
Kreuzesnacht! Weldy ein heller Leitftern für Alle, die auf dem ſturm⸗
bewegten Meere des Lebens noch den Nubehafen fuchen! Erftaumen
muß man über den hohen und Durchfchauenden Glauben diefes Schaͤchers.
Aber ihr überzeugt euch hier auf’s neue, wie ſchnell dein erachten Heiles
bedürniß die tiefften Geheimniffe des Himmels fich erfchließen. O,
würdeft nur erft einmal auch du mit Schmerzen deiner Gottentfrem-
dung Dir bewußt, und fühlteft, daß du feines Dinge fo fehr bends
thigt feieft, al8 der Gnade; fürwahr, es fenkte bald auch auf Dich der
Geiſt der Erleuchtung fih herab, und auch du gewahrteft, über alle
deine Zweifel binweggehoben, im Evangelium und deffen Heilsordnung
nicht lauter Weisheit nur, Zufammenhang und göftliche Vernunft,
fondern zugleich den einzig erdenfbaren Rettungsweg für Weſen, die,
was fie auch immer zu leugnen fich erfühnen, Doch das nicht leugnen
fönnen, daß fie Schuldner find wor dem Geſetz, und des Ruhms er:
mangeln, den fie vor Gott haben follten. Ya, e8 begegnete uns dann
bald auch auf deiner Lippe das Wort, welches nicht weniger dem
Könige auf feinem Thron, und dem Zugendhelden in feiner Bürgers
trone, als dem Bettler hinter feinem Zaun, und dem geächteten Sträfs
fing im der Kette den Loſungsruf bezeichnet, auf welchen allein der
Hüter bei der Himmelspforte einft das Schwerdt vor ihnen fenten
wird; ich meine da8 „Herr, gedenfe an mid in deinem Reichel”
Der Schächer hat geredet. Vernehmt nun des Herrn Antwort.
Das Großartigfte will fih vor uns entichleiern. Der Hohe und Er:
babene, den der Schächer hinter der dorngefrönten Blutgeſtalt ent-
deckte, tritt nun wirflih in der vollen Glorie eines folchen hervor.
Golgatha wird zur Krönungshöhe, das Kreuz zum Thron des Welten-
richters. Der Mann im Dornenkranze nimmt das an ihn gerichtete
Gebet des armen Suͤnders an, und drückt dem hohen Glauben deſſelben
608 Das Allerheiligſte.
das heftätigende Siegel auf. Nein, kein ablehnendes: „Du verirrteit
dich mit deinen Hoffnungen!” fein zurechtweifendes: „Du fchwärnft,
und erwarteft von mir zu Großes!” vielmehr ein ermunterndes: „Hoffe
fühner noch, denn du verfiehft dich an mir nicht!” Mit dem vollen
Bewußtfein des eingeborenen Sohnes vom Vater, der er war, fo wie
des wahren umd einigen Mittlerd zwifchen Gott und den Menſchen,
fpricht er, den Blick voll Huld und Gnade dem Schächer zugewandt,
und laut, daß Alle, die umberftehn, e8 vernehmen: „Wahrlich, ih
fage dir, heute wirft du mit mir im Paradiefe fein.” Da
habt ihr das große königliche Wort, welches, wenn es auch mur das
einzige Zeugniß Jeſu von fich felber wäre, die Frage, wer Er ſei, für
immer entfcheiden würde. Da habt ihr's, das Wort, das, Die Macht
des Todes brechend und einen Himmel voll Troſt erfchließend, wie
ein Zriedensaflord des Paradiefes fchon über Millionen von Sterbe
betten hingeflungen ift! Das Wort, das auch vor unfern Ohren
einft ertönen möge, wenn unfre Füße fehon im dunfeln Thale war
dern! Das Wort, das die ganze Frucht des Leidens und Sterbens
Ehrifti, des Blutbräutigams, in Eins zufammenfaßt! Da fchwebt es
bin mit feinem feligen Klange, und fucht auch unfere Herzen, wm
jest fchon ein Stüd Himmels in fie hineinzutragen. O, nehmt &
wohl in Acht, Diefes Wort! Es ift die föftlichfte Gabe, die der Her
von feinem Kreuze uns in den Schooß geworfen.
Jede Silbe in dem Worte werde von uns wohl erwogen. „Bahr:
lich,“ beginnt der Herr; und dieſes „Amen“ oder „Wahrlich“ if
das Infiegel auf feinem Worte. Wie ſchwer wiegt diefe Betheurung
von folhem Munde an der Schwelle der Ewigfeit ausgeſprochen!
Wie iſt fie jo ganz dazu gemacht, all unfre Zweifel zu zerftreuen! Un⸗
ausfprechlich erhebend ift die Wahrnehmung der Zülle von Zuverfiät
und Gewißheit, die ſich in dem Zuruf des Herm an den Schaͤcher
fundgibt! Felfenfeft fteht es ihm felbit, daß er „der Weg, Die Wahr:
beit und Das Leben“ fei; unerſchütterlich feſt, daß er die Schlüſſel
der Hölle und des Todes trage, den Sünder durch die Todesnächte
in das ewige Leben führen werde, und jenes Leben ein feliges, ein
Paradies fei. Wie aber gereicht Diefe feine eigne Gewißheit unferm
Glauben an Ihn zur Befeftigung und zur Belebung! Was neben jener
feiner Zuverfiht in feinen Worten uns fo hoch entzüdt, ift der die
jelben in höherem Chore durchtönende MWiederhall der Armenfünder;
bitte, Das „Herr!“ des Schächers erwiedert der Dorngekrönte mit
der Schaͤcher. 008
feinem: „Ih fage dir!“ Denn was befagt dies Anderes, als:
„Ih bins! Du haſt dich nicht an mir verfehn! Du fannft zu hoch
nicht von mir denken!“ Auf das „Gedenke mein” erfolgt des Herm
„Mit mir wirft du fein;* d. h. „Ich werde deiner nicht erft zu ges
denken brauchen: denn man gedenkt der Fernen und nicht der Ges
genmwärtigen.” — Dem „Gedenke meiner einft* antwortet der Herr
mit feinem „Heute.” „Nicht in ferner Zukunft erſt,“ will er fagen,
„jondern heute fchon ift dein Erlöfungs- und dein Krönungstag!*
— Auf des Schähers: „Wenn du in deiner Königsherrlichkeit er⸗
fheinft," entgegnet der Herr: „Ich bin ſchon König! Ich nehme
dich mit in's Paradies! Mit diefer blutenden Hand öffne ich die
die Pforten der Welt der Seligkeit!“ — Es wirken die Worte des
erhabenen Dulders an den Schächer endlich auch Dadurch fo über-
aus wohlthuend auf uns ein, daß fie ein untrügliches Zeugniß von
der Bollfommenheit und Allgenugfamfeit der durch ihn vermittelten
Erlöfung für uns in fi tragen. Denn auf welchen Grund hin ges
ſchieht es, daß Jeſus einem Sünder, den nad) Gottes Recht der
Fluch des Geſetzes treffen mußte, fo zuverfichtlich ftatt des Fluches
die Seligkeit zufpriht? Nicht auf den Grund einer willführlichen,
göttlihen Amneftie, die mit dem Weſen eines volllommenen Gottes
fi) nimmermehr vertrüge; nicht auch auf den einer vworausgefeßten
fhwächlichen Vaterliebe Gottes, vor deren Augen zulegt der Unter⸗
ſchied zwifchen Gerechten und Ungerechten fid) verwifchte, und Die
ihren Thron über den Zrümmern der Heiligkeit, Gerechtigkeit umd
Wahrheit errichten müßte; fondern er verheißt das Paradies Tediglich
auf Grund feines ewig gültigen Mittler» und Hohenpriefterwerfes.
Ein großes, ſinn- und gedankenvolles Schaufpiel, dad dort an den
drei Kreuzen auf Golgatha fi) uns darftellt! Ein Bild der Welt!
Ehriftus in ihrer Mitte; aber den Einen ift er gefeßt zum Auferftehn,
den Anden zu Falle; ein Geruch des Lebens zum Leben jenen, und
Diefen ein Geruch des Todes zum Tode. Jeſu LZeutfeligkeit feiert dort
ihren Triumph und erfcheint in Strahlen der Verklärung. Denn feht:
Ein Sünder zu feiner Rechten, ein Sünder zu feiner Linfen; aber er
ſchämt diefer Gefellfchaft fih fo wenig, daß er fich vielmehr in ihr,
weil er hier feine Menfchenfreundlichfeit bethätigen, hier heilen und ers
retten kann, erft recht zu Haufe, in feinen Elemente fühlt, — Ihr feht
an den drei Kreuzen ferner eine thatfächliche Auslegung feines Wortes:
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben,” Denn wer dienf
39
610 Das Alerheiſigte
dem Schächer zur Rechten, im Gegenfaß feines Unglücksgenoſſen auf
der andern Seite, als Brücke, über weldhe er aus dem Fluchſtande
in den der Gnade hinüberjchreitet? Wer wird ihm, und in einem
gewiffen Grade jeinem Schickſalsgefährten nicht weniger durch feine
bloße Ericheinung zu Dem wunderbaren Lichte, defien Strahlen ihm
fein Innerſtes beleuchten, und alle Zrugbilder des Wahnes ihm zer
bligen? Und wer ninunt ibm endlich Das Zodesbewußtjein aus der
Bruft, und jebt an deſſen Stelle die ſeligſte Lebenshoffnung; ja flößt
dieſſeits der Gwigfeit jchon feinem Herzen ein neues Leben des Friedens,
der überirdifchen Freude, des göttlichen Kindſchaftsgefühls umd des
füßejten Himmelsheimwehs ein? Its nicht der Domgelrönte Dulder
dort, der foldhes Alles wirket? — Endlich gewährt und die Scene
auf den Marterhügel eine Veranſchaulichung der unermeßlichen Macht
und Bunderwirkfamfeit der Verdienſte unjres großen Hohenprieſters.
Denn wie Das „Heute“ in des Herm Berfündigung alle jenjeiti-
gen Fege⸗ und Läuterungsfeuer für feine Gläubigen ald in feinem
Blute für immer erlofchen durftellt, jo gewährt ımd das „Du wirk
heute mit mir im Baradieje fein“, möge unter dem „Paradiefe“
wie wir unjrestheil glauben, der Himmel jelbit, oder, wie Andre
dafür Halten, nur ein Himmelsvorbof zu verftehen fein, einen groß
artigen Beweis dafür, daß Ehrifti priefterliche Genugthuung zur Recht
fertigung und Bejeligung des Sinders volllommen ausreiche. Freilich
ift wohl zu beachten, Daß der Schächer fib in einem Zuftand wahrer
und gründficher Bußfertigkeit befand, und, nachdem er in der Buße
mit der Sünde brach, mit dem lebendigen Glauben an Jeſum, dem
er fein Herz geöfmnet, alle Keime einer nachfolgenden Heiligung in fi
aufgenommen hatte, Keime, die fih auch alfobald ſchon unter anderm
im der mitleidigen Liebe, in der er fich den bedenklichen Zuſtand jeis
nes Mitfchuldigen zu Herzen geben ließ, zu entfalten begannen. "Aber
nicht um dieſer Keimlein zufinftiger Tugenden willen, die natuͤrlich
einen Erfag für einen vollfommenen Gehorfam des Geſetzes nicht
bieten fonnten, wurde der Schächer im göttlichen Gerichte gerecht ge:
ſprochen; jondern er empfing den göttlichen Gnadenfpruch in der ibm
zugerechneten Gerechtigkeit feines Bürgen, welche den angehenden
Heiligen den Augen des Richters der LXebendigen und der Todten
nichts weniger empfiehlt, als den bereits vollendeten.
Denkt, Geliebte, num einige Nugenblide vorwärts, und was jeht
ihr über der Höhe Golgatha's fich begeben? Die drei an ihren Mar-
der Shacher. | 611
terpfählen neigen ihr Haupt, und die große Scheidung kommt zum
Vollzuge. Ach, der dort zu Jeſu Linken fährt auch zur Linken ab, und
die finſtern Mächte werden ihn, der ſelbſt noch mit dem Tode in den
Gebeinen den Herrn der Herrlichkeit läſtern konnte, als einen ihrer
getreuften und confequenteften Schildftappen jubelnd bewilllommt ha-
ben. Der Schächer zur Rechten dagegen ſchwingt fid) zur Seite feines
Zriedensfürften, und mit in deffen Ehrenwagen aufgenommen, unter
den Zujauchzungen aller heiligen Engel in die ewige Gottesitadt, das
himmliſche Serufalem, hinüber, Er war der erſte Herold, der durch fein
Erfcheinen im Paradiefe den verflärten Geiftern die Botſchaft über:
brachte, daß Ehriftus die große Befreiungsſchlacht gewonnen habe, Ale
Erftling des Schmerzenslohns des göttlichen Bürgen, fo wie der aus
der Wunderfaat feines Blutes entfproffenen feligen Menfchenernte mag
er noch heute den Anbetern des Lammes droben ald ein vorzugsweiſe
lieber Reichsgenoſſe ganz fonderlih am Herzen ruhn. Uns bleibt er,
wie ein unvergleichliches Denkmal der Allgenugfamfeit des Blutes
Ehrifti, und ein hoher Leuchter, auf dem als Flamme die freie Gottes»
gnade ftrahlt, fo ein überaus bedeutfames Richtzeichen, ja ein von
Gott uns aufgepflanzter Leuchtthurm für unfre Lebensfahrt. O feid
verfichert, Freunde, Die geiitigen Fußtapfen des Schächers nit dem
„Gedenke an mich“ auf feiner Lippe, bezeichnen uns noch heute die
einzige Straße, die gen Zion führt. Darım ihm nad), wer immer du
feift; fein , Gedenke mein“ zu dem Ddeinigen gemacht, und dann unter
dem Kreuze des biutenden Sünderfreundes, fo beherzt im Glauben,
wie arm am Geifte in des Schächers Sinn gefprochen:
Allein die Gnade macht mir Muth,
Die Gnad' in Ehrikti Jeſu Bint.
Brauft Sünde wie ein Strom daher,
So it die Gnad’ ein braufend Meer.
Nichts bin ih, doch was darf's auch deß?
Die Gnade ſucht ein leer Gefäß.
Nicht Gnad’ und Werf, nein Sünd’ und Gnad'
Gott wunderſam verpaaret bat.
Wohl weiß ih, daß der Gnade Schritt
Die Sünde bannt und mmtertritt;
Doch was mid angenehm und rein
Bor Gott macht, bleibt Sein Blut allein. Amen. —
—9>0 ——
612 Das Allerheilige.
LI
Das Vermächtniß der Liebe.
Ein holdes Bild iſt's, das aus den prophetifchen Worten Michas
4,4 uns anfchaut: „Ein Seglicher wird unter feinem Bein:
fio@ und Feigenbaum wohnen ohne Scheu.” Wir dürfen
nicht glauben, den Sinn diefer Worte ſchon erfchöpft zu haben, wenn
wir fie nur im Allgemeinen auf den Frieden deuten, der in den Zagen
des neuen Bundes die gläubigen Herzen beglüden werde. Der Pre
phet winkt zugleich mit feinem Bilde auf eine jener mefflanifchen Zu
funft angehörige Häuslichkeit und Verbrüderung hinüber, die
nicht blos den Heiden, fondern, während der Herrfchaft Des Gefekes,
auch ſelbſt Dem Volke Iſrael ihrem innerften Weſen nach ein unbefamn-
tes Land war. Freilid, war das Band der Familie bereits geknüpft;
aber ed war mehr Das der gefeglichen Ordnung, als Das der heiligen
Liebe. Es war faft nur der Gefichtspunft der Ueber⸗ und Unterordnung
oder der gegenfeitigen Dienftleiftungen, aus welchem man fid) einander
anfah; ein höherer Gefichtspunft wurde nur erft leife geahnet. Hans:
fürft war der Bater der Zamilie; Die Mutter, des Haufes dienende
Magd; die Kinder kannten faum ein anderes Verhältniß zu den El⸗
tern, al8 das des chrerbietigen Gehorſams; und die Verwandten fanden
ihre Beziehungen zu einander in ihrem Stammbaume nur und etwu
im Erbredt. Das Gefühl eines Vereinigt- und Zufammengebunden:
feins in Gott zu gemeinfamer Wallfahrt nach dem SJerufalen da dro—
ben, zu mechjeljeitiger Förderung in göttlichen Leben und Wandel,
und zu thatfüchlicher Darftellung himmlifcher Befreundungsverhäftmifie
im dunfeln Erdenthal Fam in den Alten noch nicht zum Durchbrud;
und e8 darf und dies um jo weniger wundent, Da fle fi) des Herrn
als eines traulich mit ihnen in Hütte und Kammer, und nicht bios
im Tempel, wohnenden Hausfreundes noch nicht bewußt, und des Get:
fte8 der Kindichaft, der da rufet „Abba, Lieber Vater!“ noch nit
theülhaftig worden waren. Nähern wir und dagegen den gläubigen
Hausgenoffenfchaften und Freundfehaftsbündniffen des neuen Zeftu
mentes, fo fühlen wir uns glei von einer ganz andern Luft ange:
weht. Wir wandeln zwifchen Diefen Schöpfungen gefelliger Bereinigung
Das Vermaͤchtniß der Liebe. 613
wie zwifchen Gewächſen eines andern Himmelsftrihe. Ein andrer
Schmelz liegt auf den Blättern; ein andrer Duft haucht uns aus den
Blüthen an. Ya, es macht fi uns ſogleich bemerkbar, Chriftus habe
eine neue Gemeinfchaft geftiftet: Die Gemeinſchaft der Hei-
ligen; und ein neues Band gefnüpft: das „Band der Voll:
fommenbeit“, welches ift Die Liebe zu Ihm, aus Ihm, und durch
Ihn.
Begehrt ihr von dieſer lieblichen Sache ein Weiteres zu vernehmen,
ſo folget mir heute nach Golgatha.
Joh. 19, 25— 27.
Es ftanden aber bei dem Kreuz Jeſu feine Mutter, und feiner Mutter Schweiter
Maria, Cleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun Iefus feine Mutter fahe,
und den Jünger dabei ftehn, den er lieb hatte, fpricht er zum feiner Mutter: Meib,
ſiehe, dad ift dein Sohn. Darnach fpriht er zu dem Jünger: Siehe, das iſt deine
Mutter. Und von ber Stunde an nahm fie der Jünger zu fid.
Welch' ftilles, freundliches Bild, das heute aus den Schauern Gol-
gatha's vor uns auftaucht! Iſt's doch, als wären wir 'plößlich auf
einen ganz andern Schauplatz verfeßt, als auf dem wir bisher ge
ftanden. Nach dem Sturm, Erdbeben und Feuer tritt das „ftille
fanfte Saufen“ ein. Nichts Herzzerreißendes mehr in Diefer Scene.
Alles fo freundlich, fo Tieblih und holdſelig, und das Ganze wie
ein Stüd blauen, heiteren Himmels nach dem Ungeftüm! Wie wohl
thut dem Herzen ein folcher Ruhepunkt auf der Betrachtungsfahrt
durch) das wetterſchwüle Reich der Paffionsgefchichte! Wir geben dem
geſchichtlichen Gemälde, vor dem wir ftehn, die Auffehrift: „Das
Vermächtniß der Liebe.” Wir hätten daffelbe auch „Der Liebe
Triumph“ überfchreiben können. Kommt, und betrachten wir mit-
einander zu unfrer Freude zuerft Die Liebe, der Ehrifti drittes
Wort vom Kreuze fhon begegnet; fodann die Xiebe, Die
fih in dDiefem Worte fundgibt und bethätigt; md endlich
Die Riebe, die durch das Wort auf Erden gepflanzet wird,
O, daß von der Kiebesfülle, die wir heute fich wogend ergießen
fehn, ein Bächlein aud in unfre Herzen überftrömte! Gott walte
Dies in Gnaden!
1.
Mir fammeln und wieder um das Kreuz. Wo fönnten wir lieber
weilen, als in feinem Schatten, Es geht ja alle Zage der Flug un⸗
‚614 Des Akerheilighe.
jerer Gedanken wie bimgriger Bienlein dabin zurüd. “Denn weil wir
alle Zuge leider! wieder ſündigen, bedürfen wir auch täglich für
das vermundete Gewiſſen neuer Heilung. Wir Arme, wenn wir zu
jenem Hügel nicht flieben könnten! O Golgatha, du biſt men Ara⸗
rat, mo ich täglich aus der Angitrlutb lande! Mein Zoar bift du,
dad mich vor den Flammen Sodoms ficher Hell! Meine Rebeis:
Höhe, von der ich in's gelobte Land bimüberjchaue, und mein Zaber,
wo ic) frohlode: „Hier iſts gut fein! Hier wollen wir Hütten
bauen!“
Ein lieblich Schauſpiel ſtellt ſich uns heute unter dem Kreuze dar.
Der Schönite der Menichenfinder ftirbt Doch nicht unbeweint. Zwiſchen
der Wuth und dem Ingrimm itebt au die Liebe bei feinem Ster⸗
bebette, umd fieht thränend und zärtlich ibn umfafiend zu ihm emper.
Gewabrt ihr das Hüuflein dort, das ſchmerzensreiche? O, ein hold⸗
jeliger Kreis, der da inmitten Der Sutunsrotten uns begemet: ein
verſtecktes Roienbeet unter wilden, wirrem Dorngeftrüppe; eim lichter
Lilienkranz um das Zodeslager des Gerechten! In folder Ginfaf-
jung aber ſtehet dus Kreuz in der Belt auch beute noch: freilich
immer noch von der wuthſchänmenden Hölle umtobt, aber zugleich
umgeben von dem Schönften, was auf Erden zu finden if. Dem
jucht man beilige Thränen, Liebe aus Gott geflefien, Geduld, die
nicht ermattet, und Dankbarkeit, die Alles bingibt; we wachſen diefe
holden Himmelsblumen, als unter dem Krau? Bir feımen fie
ſchon, die Getreuen Dort, Die eine Ichendige Randzeichnung bilden zu
dem Worte Des Hohenliedes: „Liebe it ſtark wie der Tod, und fe
wie Die Hölle. Ibre Gluth iſt feurig und eine Flamme des Gem,
daß auch viele Waſſer fie nicht mögen auslöichen, noch die Ströme
fie eriäufen.“ Was kümmert ſies, ibr Leben in Gefahr zu ſehn?
Ibr Leben ward der Mann am Krene! Was fragen fie nach dem
Spott und Hobn der Welt? Bon einer Belt, die ihren König mit
Dornen frönte, begebren auch fie nichts Anderes, noch Beileres!
Hütte man fie ſammt ihm an dus Kreuz geichlagen, fie mürden Die
Erde wie ein leckes, morſches Schiffswrack ımter ji weggeitoßen,
und ihren Anker triumpbirend in die Wolken binaufgeichiendert ba-
ben. Bus fonnte die Erde noch für fie für Reise baben, machden
Seine Segenstritte auf dieſem Dornen- und Tirtelnader nicht mehr
rauſchten? Sebt cu die rapfern Herzen etwas nüber an. Wer find
Re? Merlkwürdig, bis auf Einen lauter Srauen. Die Starten
Das Vermaͤchtniß ber Liebe. 615
find geflohen; die Schwachen hielten Stand. Die Helden wurden
verzagt; die Zarten, die nichts zu geloben ſich vermaßen, überwanden
die Welt. Das machte: fie breiteten ihre Herzen aus vor Gott, ſpre⸗
chend: „Halte du uns wanfende Rohre aufrecht”; und lehnten fich,
indem fie e8 fprachen, feftiglich auf Gottes Arm: da wurde Seine
Kraft in ihrer Schwachheit mächtig. Wie oft ereignete fich Achnliches,
wie dort! Iſt des Mannes die Glanzthat der zufammengerafften
Kraft, fo ift die That der durchhaltenden Geduld des ſchwachen Wei⸗
bes. Gehört dem erfteren das Heldenthum, das den Knoten durchhaut,
fo gehört letzterer das größere der fill fich opfernden Treue bis in
den Tod. |
Unter den lieben Frauen beim Kreuze nimmt eine vor allen Ans
dern unfre Theilnahme in Anſpruch. Es ift die Gebenedeiete, die
den Blutenden am Holze einft unter ihrem Herzen trug: die ſchmer⸗
zensreiche Mutter Marin. Es ift wahr, hart war der Stand der
Mutter Eva am Grabe ihres Lieblings Abel; ein tieferer Schmerz
noch durchdrang das Herz des Patriarchen Jakob, als man ihm das
biutige Gewand feines geliebten Joſephs zeigte. Aber was war je
ned Weh gegen dasjenige des Mutterherzens, das Dort beim Kreuze
biutet? O, denkt nur, wo Maria ſich ftehen flieht, um was fie zu
Hagen hat, und um wen ihre Thränen fließen! Denkt, weld’ ein
Sohn! Welch' ein Sterbebette! Welch' ein Tod! DO, wer wird fi
fähig dünken, die Empfindungen zu fehildern, die hier Mariens Herz
dDurchftürmen? Doch Eins werde feitgehalten, das Eine, daß die
grambeladene Jungfrau feine Berzweifelnde war. Auch dur
ihre Thränennacht fchimmerten gleih hellen Sternen noch fo mandye
Borte ihres Sohnes hindurch: von der Nothwendigfeit der LXeiden,
die fein harrten, und von der „Herrlichkeit darnach.“ Und ob es auch
ſchwere Arbeit koftete, felbft jet noch daran fich feft zu Hammern, und
ob auch ein ungeftümes Heer ängfligender Zweifel Mariens Bnuft
durchtobte: eine troſtlos Zagende war fie fo ficher nicht, als Die
apoftolifhe Bezeugung feine Lüge ift, daß Gott die „Seinen nicht
über Vermögen verfuchet werden läffet." Nein, „wo das Gold tm
Ziegel ift, da ift auch jederzeit der Schmelzer nahe,“ und wo ein
Kind des Höchften Ieidet, da Tiegt auch immer zwifchen der Laft und
der belafteten Schulter lindernd und erleichternd die Mutterhand Je⸗
hova's. Erfahren ſchon wir es fo, Geliebte, wie wird es eine Maria
erſt erfahren haben! Ihr feht ja auch, daB fie, wenngleich auf den
616 Das Aterheilighe.
Jünger fi lehnend, unter dem Kreuze Doch noch aufrecht ſteht, md
nur ein milder Thränentkau von ihren Wangen gleitet, aber fein
Angftgeftöbne über ihre Lippen gebt. Als des Pinchas Weib die
Bundeslade in der Feinde Gewalt erblicte, fanf fie vor Beitürzmg
todt zu Boden. Maria fieht dort Aergeres, als jene einft; Ddennod
bleibt fie leben. Zreilih muß fie Ehriftum noch einmal unter gro
Bem Weh gebären. Der irdifhe Sohn ſtirbt ihre dahin, ſammt
den irdifchen Verhältniffen, in denen fie bisher zu ihm geftanden, und
‚den irdifchen Borftellungen von Ihm und Seinem Königreidhe, fo
weit auch fie denfelben bei fih Raum gegeben hatte. Dagegen hat
fie Chrütum jegt durch den Glauben gleichfam aus feiner Afche als
einen ganz Andern wieder zu nehmen: ald einen neuen Chriſtum,
als einen bis dahin noch nicht Gekannten, als einen Herm, König
und Friedensfürften von ungleich höherer Art und Ordnung, als alle
menfchlihen. Und ohne Kampf md Schmerz gelangte fie zu dieſen
Ziele nicht.
Zu Maria’8 Seite, und diejer als Stäbe dienend, begegnet unferm
Auge der Apoftel Johannes. Diefer „Adler Gottes“ verfucht auch
im Sturm und Dunkel Golgatha's die Schwingen feines durchblicken⸗
den Geiſtes; aber durch dieſes Wettergewoͤll weiß er den Gteg doch
nicht zu finden. Cr fieht fih von Raͤthſeln unringt, vor Denen
feine Deutungsfunit an ihrer Marfe tteht. Doch wo fein Begriff mr
in ein Bült umd Leer bineinzufchauen glaubt, wittert feine Ahnung
nichtödeitoweniger unermeßliche, verborgene Himmelsichäße. — Er führt
fih bier wieder, wie er jo gern zu tbun pflegte, als „den Züns
ger“ ein, den „Zeius lieb hatte.“ Mit dieſem Ausdrud? deutet er
uns an, was fein Stolz war, feine Krone, und fein höchiter Ruhm.
Zugleich benennt er uns Damit den Guell, Daraus er all feinen Troſt,
feine Hoffnung und feine ganze Stärke jhöpfte Diefer Quell wu
Die Liebe, nicht mit der er den Herrn, fondern mit der ihn der Hen
umfaßte. Und freilich wüßte auch ich etwas Köftlicheres und Begeh
renswertheres nicht, als Das Ichensfriiche und wohlbegründete Bewußt⸗
fein: „Jeſus iſt mir gewogen, Jeſus liebt mich!“ Welch” fanftes
Aubefilfen Dies in wilder Sturmesnacht! Welch mächtiger Stab und
Steden für die Wandrung durch die Wüſte! Welch' ſüßes Labjal in
den Gruben, darinnen fein Waſſer it! Und welch' ein immer firömen
der Brunn der Ermutbigung im Leben und Sterben! Wer mit Io
hannes fi) unterzeichnen darf: „Der Jünger, die Jängerin, den aber
Das Bermächtwih bee Liebe. 617
die Jeſus lieb hat,“ der hat in dieſer Zitulatur die ſichere Gewähr
für Alles, defien er bedarf, und was fein Herz ſich winfchen mag.
Müßte er im Uebrigen auch fih nennen: „Den Mann, über den alle
Wetter gehn,“ oder: „den Elenden, den die Welt mit Füßen tritt;“
o, wenn er nur berecbtigt ift zu zeichnen: „Der Jünger, den
Sefus lieb bat,“ was will er mehr? Diefes Bewußtfein vergoldet
und verfügt ihm Alles!
Wührend die Lieben drunten ftill trauernd zufunmenftehn, hängt
der große Dulder ftumm und verblutend an feinem Ho. Er ift im
Heiligthume, und pflegt, das Volk der Sünder auf dem Herzen tra-
gend, göttlichen Prieſteramtes. „Ach,“ mochte die gebeugte Mutter
denfen, „wenn Er nur einmal noch feine holdfeligen Lippen zu mir
Öffnen, und nur ein Wörtlein des Abfchieds noch mir gönnen wolltel“
— Aber wird Er in der erhabenen Stellung, die Er eben einnimmt,
auf das noch achten können, was drunten am Fuße Seines Kreuzes
vorgeht? Wird Ihm noch Zeit und Ruhe bleiben, an etwas Anderes
zu denken, ald wie Er fid) waffne und wehre gegen die Feuerpfeile
des Böjewichts, die Ihn umfchwirren, und wie Er das große welt
umfaffende Werk vollende, mit welchem Er eben in das letzte Ents
wicklungsſtadium eingetreten it? Kaum möchte man's für möglich
halten, Siehe, was begibt fih da? O, wann ereignete ſich Hold»
jeligered und Rührenderes als dies? Wahrlih, bis an das Ende
der Tage wird man von Diefer Sohneszärtlichfeit noch jagen! Mitten
aus feinen Todesfoltern heraus richtet der göttliche Dulder von feiner
Kreugeshöhe her mit einem Male den Blid auf das zufanmenftehende
Häuflein der Getreuen drunten, und wer in feinen Augen zu lejen
weiß, Tieft darin eine Theilnahme und eine tröftende, aufrichtende und
ermuthigende Liebe, wie fie die Welt noch nicht gefehen hat. Nein,
Freunde, was immer ed auch für Ihn Großes zu bedenken und zu bes
ſchicken gebe, feine Kindlein verliert er nicht einen Augenblid aus dem
Gefichtsfreife jeiner fürforgenden Beachtung. Was Er au) in feinem
Regimente Weites und Unermeßliches zu überfchauen und zu bewachen
babe; dennod wird in Ewigkeit fein Augenblid erfcheinen, da nicht
unter al feinem Walten un Großen, zugleich, ja vorzugsweife das
Auge feiner Liebe auf den Einzelnen ruhen wird, die ihm der Vater
gab. Sie find fein erftes Augenmerk, ob fie aud) der Zahl oder dem
Außeren Anfehn nad) zu Dem, was er ſonſt zu xegieren, oder zu vers
‚618 Das Uberheiige.
"forgen bat, wie vereinzelte Zröpflein zu Dem weiten, wogenden Ocean,
wie verlorene Blumen zu dem unermeblichen dunfeln Urwald, in dem
fie ttebn, fich verbielten: Er nmdet die Zropilem wohl beraus, um
fie mit dem Lichte feiner Liebe zu Purdhitrablen: Gr entdeckt Die m
Balde zeritreuten, einiamen Blumen, um fie zu pilegen, zu betbanen,
und feine Bruft Damit zu ichmiden. —
Der Herr richtet den Blick zuerit auf jene Butter, Die liebe, die
ichwer geprüfte. Durch Das zum Schächer geivrechene Wort vom
Paradieſe hatte er freilih and ibre Dlide und Gedanten fiben über
Tod ımd Grab bimwegaehoben. Doch blieb Pie Arme eimitweilen,
für wie furzge Zeit auch immer, in der fortan für fie emtfeglich ver⸗
ödeten Belt allein zurück: und fiebe, aud für diefe Ermäguna be⸗
mwahrte fib der Schmerzensmann am Kreuze ſelbſt inmitten feiner
Belterlöfungsiergen noch Raum in feinem Herzen. Auf's freundliche
fiebt er die Thränenreidhe an, dimmet den Mund, und jpricht, wicht in
weicher Zerflofienbeit, fondern mit großartiger Rube, Faflung umd
Karbeit des Gemüthes, binminfend auf den Yınger, auf Den Die
Mutter fi gelebnet: „Weib, ſiebe, das ift dein Sohn; md
Dann zu Johannes, auf Maria deutend: „Siebe, das if deine
Mutter!" — Wenige Borte; aber wer erihöpft die Fülle zartfix-
nigiter Ziebe und Alles bedenfender Zärtlichkeit, die darin ausgegoſſen
it? Wie tröſtlich nußte dem gebeugten Mutterberzen ſchon die ganze
fait beitere Art und Weile jein, in Der der Sterbende bier fein Te
ftament vollzog. Ter Klang feiner Stimme, md der friedensreiche
Blick, der fein Wort begleitete, ſagten ihr ja fhen: „Maria, dein
Cohn iſt nicht verloren! Er tritt nach des Lebens Mübfal nur in
Das ſelige Vaterhaus zurück, um dort aud dir die Etätte zu bereis
ten!® — Und nun der Borte Inbalt! Wie wunderzart verkleidet
Er in fie fein letztes Lebewobl an feine tbeure Mutter! Wie fein
veramitultete er Durch Den Dem Johannes gegebenen Wink, daß die ſchon
fchwer gemug Geprüfte wicht auch noch Zeuge fei des letzten und här⸗
teften feiner Kämpfe; und mit welder Fürforglichfeit gcht er zugleich
auf alle, auch die unſcheinbarſten Yedürfniffe der Verwaiſten für das
Stück armen Erdenlebens ein, Das fie noch vor fi batte! Fürwabr,
wenn je dem göttlichen Gebote: „Du jollit Vater und Mutter ehren“
eine tiefe und umfaffende Genüge geicheben it, dann bier auf Gel
gatha!
Man hat befremdet wohl gefragt, was den Heiland bewogen habe,
Das Vermaͤthtuiß bet Liebe, 619
bet der Anrede an Maria ftatt des zärtlihen Mutternamens des frem-
der klingenden Wortes „Weib“ ſich zu bedienen; und wenn auf diefe
Frage geantwortet wurde, er habe dies gethan, theils, um durch den
fügen Mutternamen die Wunden ihres blutenden Herzens nicht noch
ttefer aufzureißen, theils, um in fich felbft nicht einen Sturm menſch⸗
licher Empfindungen herauf zu befchwören; theils aber auch, um die
Mutter nicht den Roheiten des umberftehenden Haufens bloß zu ftellen,
fo hat dies Alles ficher feine- Wahrheit. Der Hauptgrund aber, aus
welchem er ftatt des Wutterlautes den allgemeineren Gattungsnamen
„Weib“ oder „Frau“ gebrauchte, liegt hier, wie in der befannten Scene
auf der Hochzeit zu Kama, ungleich tiefer. Er wollte allerdings der
Maria zu verftehm geben, daß hinfort das irdifche Sohnesverhältniß,
in welchem er feither zu ihr geftanden, einem höheren weichen müffe.
„Dun, meine Mutter,“ wollte er jagen, „wirft fortan meiner Zöchter
eine fein, und ich dein Herr! Du glaubft hinfort an mich, und id
werde dich feguen! Du erfafleit meines Gewandes Sam, und id
vertrete Dich! Du beteft mich an, und ich bin dein Hoherpriefter umd
dein König! Mutter, Bruder, Schweiter find fortan mir Alle, Die
huldigend zu meiner Fahne fchwören. Die Beziehungen nach dem
Fleifche und der Weile dDiefer Welt haben ein Ende, und andere,
geiftigere, himmliſche treten an deren Stelle!” — Seht, dies wars,
was der Herr der Maria zu bedenken geben wollte; und daher das
nur auf den erften Anblick befremdliche „Weib“ ftatt Des trauteren
und zärtlicheren „ Mutter.” Ja, e8 ziemte fi) jebt um fo weniger
mehr für ihn, fie „ Mutter” zu nennen, da diefer Name im Hebrätfchen
zugleich Den Nebenbegriff einer „Herrin“ in ſich fchließt, er aber eben
fich anſchickte, als der Herr aller Herren den Thron der ewigen Majeftät
zu befteigen, Doch wenn er auch die liebe Maria aus dem Kreife ihrer
rein menfchlihen Mutteranfchauungen in einen höheren Anſchauungs⸗
freis hinaufzubeben fich bemüht, fo vergißt er darum doc) weder, daß
er ihr Sohn, noch daß fie feine theure, fehwer geprüfte Mutter fei;
und bedenkt zugleich, daß der Menſch in feiner Schwachheit des Men-
fchen bedürfe, und neben Gottes Herzen auch mindeftend ein Herz
auf Erden befiken müffe, in das er vertraulich das feinige ausfchüt-
ten, und auf deſſen Liebe und Treue er unter allen Umftänden feſtiglich
zählen dürfe. Aus diefen Gründen will er in findlicher Zürfonge, fo
weit es immer thunlich, der Maria aud) menfchlich die Lücke wieder
anafüllen, die fein Heimgang in ihrem Leben zuruͤckeließ, und will
620 Das Aterheiligie.
ihr auch in irdifcher Weiſe ſtatt Seiner wieder einen Sohn zur Seite
geben, dem fie ihr ganzes Vertrauen fchenken, und auf deſſen Schul
tern fie fi) in allen ihren NRöthen, Sorgen und Kümmernifjen lehnen
fönne. Und diefen neuen Sohn vermacht er ihr in feinem- Schoof
jünger, dem treuen, feelenvollen Johannes. Iſt es nicht, als ob er
fagen wollte: „Wohl weiß ih, meine Mutter, wie einfamen, öden
Weges auf Erden eine Wittwe gehen muß, wen die Krone ihres
Hauptes dahinſank. Aber fiehe! Hier ift der Jünger, der am meiner
Bruft lag, und an dieſer Stätte recht eigentlich Dazu bereitet wurde,
dein Pfleger zu werden und deine Stütze. Er ift zu Allenı mir bereit,
und der ich nicht Gold und Silber babe, vermache dir al meine Ar
fprüdhe an dieſes Jüngers Liebe, Dankbarfeit und Zreue. Er fei dein
Sohn!“ Wie freundlich dies, wie zart und wie leutfelig! So at er
geliebet, „bis an das Ende;“ fo berüdfichtigte er zärtlich alle Noth⸗
durft feiner Lieben. Und wie er weiland gethan, fo thut er heute noch.
Er ift „der mitleidige Hobepriefter" bis diefe Stunde. Auf's men
ſchenfreundlichſte gebt er auf alle Bedürfniffe derer ein, die ihm ver
trauen, fo daß ein Jeder in feinem Stand, daß ihr Wittwen, Waiſen,
Armen, Gebrechlichen, oder welcher Klaſſe der Mübfeligen und Bele-
Denen fonft ibr beigehört, in der beſonderſten Weile feiner Fürforge
euch getröiten dürft.
Nah dem „Siehe, Weib, das ift dein Sohn!” jpricht er zu
Sobannes: „Siebe, das it deine Mutter!“ O, welch' en
Beweis der Liebe und Des Vertrauens, womit der Heiland jenen
Jünger bier begnadigr! Cine Lat legt er ibm auf; aber er weiß,
Sobannes werde darin die höchſte Ehre und Seligfeit erblicken, die
ihm auf Erden bätte zu Zbeil werden können. Und der Heiland im
fi) in jeinem Jünger nit. Jobannes verfteht die Weiſung feines
Meifters, fiebet Maria an, und jeine ganze Seele fpricht zu ik:
„Meine Mutter!“
3.
„Bon der Stunde an,“ meldet die Geſchichte, „nabm der
Jünger die Maria zu ſich.“ Johannes befaß alfo, und uw
zweifelhaft in Jeruſalem, ein eigned Haus. Maria befaß ein ſolches
nicht. Joſeph war Damals bereits entfchlafen. Man dürfte wohl aus
unfrer Geſchichte fehließen, daß der Heiland Maria's einziger Sohn
gemweien fe. Der Nusdrud „der Jünger nahm ſie zu ſich“
bejagt übrigens nach dem Grundtest ungleich mehr, als Daß er fi
Das Vermaͤchtniß ber Liebe. 621
nur in feine Behaufung und feine Pflege aufgenommen habe. In
fein Herz nahm er fie auf, und hat fie hinfort auf feinen Händen
getragen. Es läßt fi ja denken, wie ein Johannes die Maria hins
fort geliebt, und mit welcher Zartheit und Zreue er fie durch's Leben
geleitet haben werde. Gereichte es ihm doch zur höchften Freude, in
ihr einen Gegenfland zu befigen, an dem er in etwa wenigftens das
bethätigen konnte, was er an Dank und Zärtlichkeit für den empfand,
der ihm für alle Ewigkeit die Seele gerettet hatte. So wuchs der
Maria. die ganze Eoftbare Liebesernte zu, die in der Gemüthswelt des
Füngers unter dem Thau des heiligen Geiftes ihrem Sohne entgegen»
blühte. Und weil des Johannes Liebe ja im Grunde nichts Andres
wear, als ein heiliger Funke aus Jeſu eigner Bruft, fo wurde Maria
durch Johannes nach wie vor mit der Liebe ihres göttlichen Sohnes
felber fortgeliebt.
„Weib, ſiehe, das ift Dein Sohn! Siehe, Johannes,
Das ift Deine Mutter!” DO achtet wohl auf diefe Wortel Gie
enthalten nichts Geringeres, als die Stiftungsurfunde einer neuen
Familien -Gemeinfchaft auf Erden. In diefer Gemeinfchaft ift Chriftus
das Haupt, und alle feine Gläubigen bilden vereint die eine große
eng verbundene Hausgenofienichaft. Aus einem Samen gezeugt und
mit einem Geifte getränft, find fie Alle zu einem Erbe berufen,
und es wird fie, die gegenwärtig in der Welt Zerftreuten einft eine
Stadt mit ftrahlenden Mauern umfangen. Sie erfenmen einander
bald an der gemeinfamen Gefinnung, Richtung, Mundart und Hoff-
nungsfreude, und lieben fi) mit einer Liebe: der Liebe, die aus
dem Herzen ihres Hauptes in das ihrige überfloß. So lange file
hienieden weilen, fteht ihre Hütte unter dem Kreuz; und ihr täglich
Brod ift Gottes Wort, ihr Odem das Gebet, und der Friede Gottes
die Luft, in der fie frei und felig fih bewegen. Der innerfte und
weſentlichſte Familienzug diefer geiftlih Berfchwifterten ift aber der,
daß der Egoismus in ihnen gefreuzigt, und Chriftus der Mittelpunkt
al? ihres Dichtens und Trachtens geworden ift.
Wer den Johannes um die fehöne Aufgabe, der Mutter Jeſu eine
Stüße zu fein, beneiden möchte, der wifle, daß ihm zu gleicher Ehre
der Weg geöffnet ward. Er gedenfe zurüd an den vorhin erwähnten
Ausipruch des Herm: „Wer ift meine Mutter? und wer find meine
Brüder? Siehe da, die am mich glauben, die find meine Mutter,
meine Brüder, meine Schweſtern!“ Gelüftet dich denn wirklich nach
622 Das Aberpeiligße,
dem Vorzug des Yohannes, fo fieheft du, Daß er auch Die zu Shell
werden Tann. Sei aus Liebe zu dem Herm ein treuer Beiftand feiner
Kinder: die Hungernden ſpeiſe, die Dürftenden tränfe, und nament-
lich beſuche fromme Wittwen in ihrer Verlaffenheit, und du übft deu
„Mariendienft,“ der allein ihm wohlgefällt. Ja, werde der Lab
men unter feinen Gläubigen Zuß, der Blinden Auge, der Waiſen Rath
und Berforger; und aud) du vertrittft, wie dort fein Junger, Gene
Stelle auf Erden. Allerdings fab ſich Johames „nen durch die nene
Pflicht an's Leben geknüpft,“ aber du fiehft, daß, wenn du mer willk,
das Leben auch für dic, in gleicher WBeife neuen Reiz gewimmen kann,
Liege dem himmliſchen Friedensfürften nur darum an, Daß er auch dir
für feine ftille geheiligte Hausgenoffenfchaft Die Augen öffnen wolle;
und wie er dam zu leßterer, feiner geiftigen Gemeine, um deren Liebe
für Dich werbend, fprechen wird: „Siebe, Weib, das ift Dein
Sohn;“ fo wird er bald unter Hindeutung auf irgend eine feinem
Herzen theure Schaar Mühfeliger und Beladener an dich die Worte
richten: „Siehe, das ift deine Mutter!“
Sa, Freunde, wenn es überhaupt auf Erden beffer werden, md
der Belt ein goldenes Zeitalter kommen foll, fo kann dies nur vers
mittelft des Chriſtenthums gefchehen. Denn fagt jelbft, mas der Welt
noch fehlte, um ein Himmelreich zu fein, wenn jene zarte, tiefe, ſelbſt⸗
verleugnende Liebe, wie wir fie Jeſum heute bethätigen fahen und
empfehlen hörten, die Königin in aller Menfchen Herzen wäre? Run
ift es aber mit dem ganzen Chriftenthum ja nur Darauf abgefehen,
daß Ehrijtus in jedem einzelnen Sterblichen Gertalt gewinne. Denkt
euch aber: jeder Einzelne ein Iebensfrifches Spiegelbild des Schön
ften der Menfchenkinder, wie Er, Gott lebend, und die Brüder fie
bend, wie Er! O wahrlich, das höchfte und herrlichite Ideal menſch⸗
licher Gemeinjchaft wäre jo verwirklicht! Ueberzeugt euch denn, daß
ihr nicht blos, damit ihr jenfeits jelig werdet, fondern auch ſchon,
damit Die Erde wieder zum Paradiefe fich verfläre, zu Jeſu geladen
und gelocet werdet; denn, — an Johannes nehmt ihr’ wahr, —
wer in lebendigem Glauben an Jeſu Herz fi) wirft, trinft bald auch
aus Seinem Herzen Seine Liebe.
Wir jcheiden von unfrer boldfeligen Gefchichte; doch muß ich vorher
noch eines Vorfalls gedenken, der fid) vor mehreren Jahrzehnten im
Dab Bermödtuih der Eiche. 623
Paris ereignete. Hier hatte fi) eime Gefellichaft gebildet, zu der ſich
wöchentlich Die berühmteften Ungläubigen der damaligen Zeit einzufinden
pflegten, um, wie fie ſich ausdrücten, die „Abgefchmadktheiten der Bibel
aufzudeden,“ und fie zum Gegenftand ihres Gefpöttes zu machen.
Eines Abends aber, als diefe Menfchen wieder recht bei ihrem Werte
waren, und zu ihrem teuflifchen Zwecke einige Abfchnitte der Evans
gelien worgelefen hatten, hub plöglich der bekannte Philofoph Diderot,
der bisher felbit nicht der letzte und wortfargfte unter den Läfterern ges
weſen war, mit einem Ernſte, den man an ihm nie gewohnt geweſen,
an: „Es verhalte ſich nun, meine Herren, mit dieſem Buche, wie es
wolle, das geftche id) frei zur Steuer der Wahrheit, dag mir Niemand,
weder in Frankreich, noch irgend fonft wo in der Welt, befannt ift,
der mit mehr Kunft und Talent zu fchreiben und zu reden vwermöchte,
als die Fifcher und Zöllner, die dieſe Gefchichten hier gefchrieben haben,
Ic wage zu behaupten, daß auch feiner von uns nur in annähernder
Weiſe eine Erzählung zu fchreiben im Stande ift, die fo einfach fei,
und zugleich fo erhaben, fo frifch und rührend, und von fo gewaltis
ger Wirkung auf das Gemüth, und von fo ungeſchwächt Durchhaltendem
Einfluß auch nah Jahrhunderten noch, wie jeder einzelne und auch
der unjcheinbarfte Bericht über das Leiden und Sterben Jeſu Ehriftt
vor uns daſteht!“ — Er ſprach's, und mit einem Male war flatt
des Lachens, Das furz zuvor noch) den Saal durddröhnte, ein alls
gemeines, tiefes Berftummen eingetreten. Man fühlte die Wahrheit
jener Rede, und fühlte wohl noch etwas mehr, ald das. Schweigend
ging man auseinander, und lange währte ed nicht, da hatte Die
ganze Geſellſchaft der Lacher fich aufgelöft. — Sagt aber, ob auch ihr
nicht heute wieder Alle bei der Meinen Scene, die wir betrachteten,
Aehnliches empfunden habt, wie damals jener ungläubige Franzoſe?
Ya, nichts in der Welt trägt fo den Stempel urfrifcher, gefchichtlicher
Wahrheit an der Stim, als das Evangelium; und was es immer
Schönes auf Erden geben mag, wer Augen hat, zu fehn, wird ein⸗
geftehen müflen: das Schönfte, Hehrfte, Heiligfte fei und bleibe die
evangeliſche Geſchichte.
Schwebe ums denn das heute in derſelben angeſchaute holde Bud
feiner Liebe ftiftenden Liebe am Kreuze umnvernüdt vor Augen, umd
helfe e8 auch in unfrer Mitte die überirdiichen Verwandtſchaftsbande
fnüpfen, die Zeit und Tod überdauern werden. Allaugenblicklich erinnre
uns dieſes Bild an die erfte und herrlichſte Aufgabe unfres Lebens:
624 Das Alcrheilighe.
den Herrn Jeſum lieb zu haben in den Seinen, bis auch an uns
eine Wahrheit geworden das Wort des Sängers:
Sie wallen mit vereinten Herzen,
Der Welt von innen unbelannt.
Sie tennen feine Trennungsichmerzen.
Ein’s reicht dem Andern feine Hand.
Sie wollen ſich mit Freuden dienen,
Mit Herz und Auge, Hand und Auf,
Bis zu dem völligen Gennf
Des großen Worteß: „Ich in ihnen! — Amen. —
—H—
Ln.
Eli, Eli, lama Aſabthani!
„Sei du mir nur nicht ſchrecklich, meine Zuver ſicht in
Der Noth!“ So ruft Jeremias im Buche feiner WBeiffagungen
Kap. 17, 17, nachdem er eben den Herm fagen hörte: „Ich prüfe
Das Herz, und ergründe die Nieren, und gebe einem
Jeglichen nach feinem Thun, nah den Früdten feiner
Werke” Der Prophet gedenft an feine eigenen Sinden, und die
Empfindungen, die diefe Betrachtung in ihm hervorruft, ergießen ſich
in dem Beterfchrei: „Sei du mir nur nicht ſchrecklich!“ Dice
wenigen Worte umjchliegen einen reichen Inhalt. Der Prophet erklärt
darin, Daß er zu jedem Opfer, das von ihm gefordert werden möchte,
bereit jei; Daß er gerne tragen werde, was Gott ihm aufzuerlegen
für gut befinde; ja Daß er, wenn es fo fein müffe, von der Welt ver:
fannt, verftoßen, mit Füßen getreten fein, und in allen Wüſten dDarben,
in allen Kerkern fchmachten wolle; nur das ihm Gott „nicht ſchrecklich
ſei.“ Und allerdings bezeichnet er mit den lebteren Worten das
Einzige, wovor die Seele allen Eruftes zu erzittem Grund hat, Denn
was immer Dunfles auf Erden uns begegnen mag, ift Gott umjer
Freund, fo fichtet fich Durch Diefes Bewußtfein Alles; und Er felbit
nimmt dem Schredlichiten durch die Beimifchung feiner himmliſchen
Zröftungen und überrafchenden Hülfsleifiungen und Erleichterungen
Eli, Eli, lama afabthani! 625
feine Schauer. Und Tießen auch die göttlichen Erquickungen vergeblich
auf fih warten, ſo bleibt doch die gewiffe Hoffnung auf die be
porftehende jenjeitige Auflöfung aller Mißtöne des Erdenlebens ung
zugefellt, um auch über das fehwärzefte Trübfalsgewälf, das hienieden
uns umlagern fann, unfre Seele wie auf Engelflügeln hinwegzuheben.
Fehlt aber diefe Hoffnung, gebricht's an jenem Bemußtfein, und fteht
der Allerhöchfte fremd, ja, als Feind uns gegenüber, was ift dam
das freudenreichfte Dafein, als ein Trank mit Galle gemifcht, als ein
Feſtmahl Belfazers, in das, alle Luft vergiftend, das verhängnißvolle
„Tekel« von der Wand hereinbligt? Denn bald ift der Traum
des Erdenlebens ausgeträumt, und man erwacht vor dem Richterthrone
Deflen, der bei Mofe fpriht: „Das Zeuer ift angegangen durch
meinen Zorn, und wird brennen bis in die unterfte Hölle!" — „OÖ,
ſei du mir nur niht f[hredlih, meine Zuverficht in
der Noth!" — Ja, aud wir rufen’ aus voller Seele dem Pro-
pheten nach. Aber haben wir Grund, auch der Gewährung diefer
Bitte uns zu getröften? Wir hätten feinen, lieben Zreunde, wäre
das nicht gefchehn, deſſen wir heute Zeugen fein werden. Aber kommt,
und fehet zuerjt, wie fchredlich es fei, „in die Hände des lebendigen
Gottes zu fallen;“ und fchauet dann mit frohlodendem Geifte, wie
und an wem diefe Schreden fi gebrochen haben. —
Matth. 27, 45 — 47. Marc. 15, 33 — 35. Fuc. 23, 44. 45.
Und ed war um bie fechöte Stunde, und von ber fehöten Stunde ward eine
Finſterniß über dad ganze Land bid zu der neunten Stunde, und die Sonne verlor
ihren Schein. Und um die neunte Stunde ſchrie Jeſus laut und fprah: Eli, Eli,
lama afabthani! das ift verboffmetihet: Mein Gott, mein Gott, warum halt du
mich verlaffen? Und Etliche, die dabeiftanden, da fie das hörten, ſprachen fie:
Siehe, er rufet dem Clint!
Das vierte der fleben Krenzesworte, Das geheimnißvollfte und er-
fohütterndfte von allen, ertönt vor unferm Ohr. Will es uns bei
demfelben Doch fait gefchehn, wie zu Serufalem einft unter der be
kannten Stimme, die vom Himmel fiel, dem um Jeſum her verſam⸗
melten Volke. „Etliche,“ erzählt der Evangelift „fprachen: es Donnerte;
Andere: es redete ein Engel mit ihm!” Niemand aber wußte recht,
was er aus dem wunderbaren Laute machen folle, obwol Alle ergriffen,
beftürzt, und von unheimlichen Schauern durchriefelt daſtanden. Aehn-
(ich ftehn wir heute unter dem Wiederhall des Rufes, der vom Kreuze
40
626 Das Alerhelliche.
herab tönt; und ich geftehe, daß mir felbft die Seele erzittert, in
dem ich mich mit euch den unergruͤndlichen Zeidenstiefen nähern foll,
aus denen das „Eli, Eli, lama aſabthani!“ hervordringt. O
wie viel lieber Lüge ich ſchweigend vor dieſem Auftritte auf meinem
Angefichte, als daß ich darüber zu euch reden möchte! Wie es Lu:
ther'n einſt erging, als er in Dielen räthfelhafteten und ergreifendften
At der ganzen Paffionsgeichichte nachdenfend jich verienfte, wißt ihr.
Drei Tage und drei Nächte blieb er ohne Speife und Trank, und
faß ſchlummerlos, aber unbeweglich wie eine Leiche, in einer Stes
fung auf feinem Stuble dahin. As er endlich aus den Ziefen fer
ner Betrachtung wie aus einem geheimnißvollen Schachte wieder auf
tauchte, brach er, Die Hände faltend, in den Schrei der Beſtürzung
aus: „Bott, von Gott verlaffen! Wer kann das faſſen?“ — a,
wer kann e8? Gin undurchdringliches Dunkel, von dem wir une bier
umgeben ſehen! Aber fiebt auch der Verſtand hier bei der Grenze
alles menfchlich Begreiflichen fih angelangt, fo findet nichtsdeſtowe⸗
niger der Glaube auch zwifchen dieſen Rätbfelfchatten Weg umd
Steg. Ein heiliges Tenpellicht leuchtet ihm voran, und Stellvers
tretung beißt dieſes Lichtes Nanıc. Schauen wir in deren Be
leuchtung den erjchütternden Klageruf des fterbenden Mittlers näher
an, und richten wir den betrachtenden Blick zuerft auf die äußeren
Umſtände, die den Ruf begleiten; dann auf des Rufes Inhalt
und Bedentung; amd endlich auf die Frucht Des Friedens,
die und Daraus erwachſen tft.
War es je fir uns an der Zeit, das Gebet des Pialmiften ıms
anzueignen: „Laß leuchten dein Antlitz über deinen Knecht, und
meinen Gang gewiß fein in deinem Worte,“ dann, Freunde, heute!
l.
Gegen zwölf Uhr Mittags iſtss, da wir im Geifte auf der Schä—
delftätte wieder zujammentreffen. Faſt ganzer drei Stunden ſchon
ſchwebt der Heiland blutend am feinem Holz. In feiner Umgebung
hat fid) mittlerweile nichts verändert, außer daß wir in den Häuflein
der Getrenen, — mir wiften, aus welchen Grunde, — den Jünger
Sohannes und die Mutter Maria jet vermiffen. In Der den
Richtplag umlagernden Volksmenge iſt eine augenblickliche Stille ein:
getreten. Ob auch auf ſie das erhabene Verhalten des göttlichen
Dulders unter feinen Martern feines ergreifenden und befchämenden
Eindruds nicht verfehlte? Man muß es glauben, Mit ſchweigendem
efi, Ef, lama aſabſchani! 6
Ernfte blicken fle au feinem Holze empor. Man vernimmt das Stöhnen
der beiden Schächer in ihrem Todesfampfe, und hört die Blutstropfen
der Sterbenden deutlich auf die Erde niederfallen; und ebenfo ver:
lautet von Zeit zu Zeit das ftille Weinen und halb erſtickte Schluchzen
des treuen Srauenhäufleins, zu dem auch wir im Geifte uns gefellen,
mit bangem Herzen fragend, ob denn der Vater droben über feinem
Sohne ewig ſchweigen, und nicht endlich in einem weltdurchleuchtenden
Zeichen beurkunden wolle, daß der dem Anfcheine nad) nicht allein
von der Erde, fondern auch vom Himmel Verſtoßene fein Uebelthäter,
fondern wirflih der „Heilige Iſraels,“ und Sein, des Vaters,
auserwählter Liebling ſei? — Doc fiehe, e8 erfcheint ein Zeichen!
Aber was für eins! Mein Gott! wer hätte Derartiges erwarten follen ?
Unfer Befremden fteigert fih zum Grauen; unfre Beftürzung zum
Entſetzen. Die Sonne, eben in den Scheitelpunft eingetreten, zieht,
als wäre Die Erde nicht mehr werth, ihr Licht zu trinken, ihre Strahlen
in fi zurück, und beginnt zufehends bei völlig unbewölktem Hinmel
fih zu verdunfeln, Erſt hebt's zu dämmern an, wie wenn der Tag
fi neigen wollte. Dann fteigert die Dämmerung ſich zum abendlichen
Dunfel, Endlich legt fih, einem ſchwarzen Leichentuche gleich, die fin⸗
fterfte Nacht nicht über das züdifche Land allein, fondern über den
ganzen beleuchteten Theil der Erde. Die Kreatur fteht entſetzt. Heu⸗
lend drangen die Heerden des Feldes in dichte Haufen fich zufanmen,
Das Geflügel der Luft flattert ängitfich feinen Schlupfwinkfeln zu ; und
die Volksmaſſen, die die Schädelftätte umftanden, jagen, die Hände
ringend und an ihre Bruft fehlagend, unter lautem Angſtgeſchrei gen
Jeruſalem zurüd, Zittern und Wehklagen verbreiten fih, als drohe
ein Weltuntergang, durch Paläſte und Hütten. — Den Vätern der
alten Kirche, wie einem Drigenes und Eufebins, waren, zum
Theil ans weit entfegneren Ländern, auch Zeugniffe Der Heiden, wie
3. B. dasjenige des Phlegon, eines Freigelaffenen des Kaifers
Hadrian, befammt, Die von einer gleichzeitig mit der Kreuzigung
Chriſti eingetretenen Sonnenfinfterniß meldeten, wie eine jo vol
ftändige , ſchreckhafte und wunderfame nie zuvor in der Welt geſehen
worden fei. Ya, eine alte Meberlieferung berichtet, wie ihr wißt, daß
Dionyfius Areopagita die dem Zode Jefu vorangegangene
Berdunffung der Sonne im fernen Aegyptenlande erlebt, und dabei
ausgerufen habe: „Entweder leidet in dieſem Augenblicke Die Gott
heit ſelbſt; oder fie hat Mitleid mit Einem, der die idee”
40
628 Das Allerheiligie.
Auch wir, Geliebte, ftehn erftarrt vor diefem Cchauerphänomen, u
welchen auch der Blindeite eine Handichrift des allmächtigen Gottes
nicht wird verfennen können. Aber was beſagt fie, dieſe riefige Hier
glyphe un den Säulen der Welt? Dan bat darin eine finubildliche
Kundgebung des Zornes Gottes wider Die Mörder Jeſu erbliden
wollen. Aber ſolche Deutung iteht mit dem Akte nicht in Einklang,
der eben auf der Höbe Golgatha's fih vollzieht, umd in welden
Gott durch die Tabingabe feines eingeborenen Sohnes nicht ſowohl
feinen richtenden Ernſt und jeine ftrafende Gercchtigfeit, als vielmeht
fein Erbarmen gegen die Mörder betbätigt. Man hat aus der Fin
fterniß auch den Gedunfen berauslefen wollen, es miüffe der Unter⸗
gang Chriſti auch den der Natur nach fich ziehen. Aber auch diefe
Erklärung ericheint wenig begründet, indem ja Ehriftus durch feinen
blutigen Verföhnungsted, erft recht der Natur Halt, Träger und
Erneuerer geworden it. Man hat gemeint, Das nächtliche Dunkel
habe bildlich andeuten jollen, daß mit Chriſto das Licht der Welt
erlöfche. Aber in Chriſti vermitteindem Opfertode iſt ja erft der Belt
das Licht Des Zroites und des wahren Lebens aufgegangen.
Man but ferner von einen „Mitgefühl“ felbit der vernunftlofen
Schöpfung mit den Wehen ihres Herrn und Gebieters fprechen wollen.
Aber für folche dichteriſche Anſchauung bleibt vollends bier fein Raum.
Es verdunfelte ja auch die Sonne nicht ſich ſelbſt, fondern der fie
in jenen Trauerſchleier büllte, war Gott der Herr. — Die Bedeutung
der plöglich bereingebrocbenen Nacht liegt ungleich tiefer, als Die eben
erwähnten Entzifferungen es auch nur abneten. Schen der Klageruf
des Dulders läßt es nicht einen Augenbli bezweifeln, daß die Fin-
fternig in unmittelbariter Beziebung zu feiner beiligen Perfon, und
der Lage Steht, in Der er eben fich befindet, Allerdings follte das
Wunder nadı Gottes Abſicht auch nebenher der Welt das Ungeheure
der eben in die Geſchichte eintretenden Begebenbeit bezeichnen, Daß
der Sohn der Ewigkeit, der Urquell alles Lebens, jelbit ein Raub
des Todes ward. Es ging aber der Hauptzwed des erfchlitternden
Phänomens dahin, in einem aroßartigen Bilde Die geheimnißvolle
Stellung und den inneren Zuftand, darin Der Blutende am Kreuge
eben fich befinde, abzufchatten. Wie binter einen Zempelvorbang tritt
der Herr, Den Augen der Menfchen ſich entzichend, hinter den ſchwarzen
Schleier der grauenvollen Nacht zurück. Drei volle Stunden hängt er,
Das Dorngefrönte Haupt gedanfenvoll auf die Bruft herabgeſenkt, von
Eli, Eli, lama afabthani ! 629
jener Finfterniß umfangen an feinem Hol. Er ift im Allerheifigften ;
Er ſteht am Altar des Herrn; Gr verrichtet Priefterwerf. Der wahr:
haftige Aaron ift Er, und zugleich das Lamm; das Opferfeuer aber,
Das ihn umlodert, brauche ich euch nicht erft zu nennen. Was während
diefer Stunden zwifchen Ihm und feinem himmliſchen Vater verhandelt
worden ift, Tiegt einftweilen mit fieben Siegeln verjchloffen in den
Tiefen der Ewigfeit verborgen. Wir wiffen nur fo viel, dag Er
hinter jener Verhüllung den heißeiten Kampf gefämpft, den glänzenditen
Sieg errungen hat, und feinen jtellvertretenden Gehorfam erjt mit
der Krone der Vollendung fehmüdte Wir wiffen, daß dus Grab
unfrer Sünden dort gegraben, die Handfchrift, die wider uns war,
„aus dem Mittel gethan,“ der Fluch, der auf ung Tajtete, getilgt, und
die Scheidemand befeitigt wurde, welche uns und unjern Gott von
einander trennte. Nennt den Anblik des großen Blutbeflofenen in
feinem Dunfel herzzerreißend; wir fennen ein entzüdenderes Bild im
Himmel und auf Erden nicht, als eben jenes. Uns ift der Mann
am Holze der ſchönſte Stern am Horizont der Welt. Wir fehauen
ihn an, und fühlen uns von jedem Harm genefen. Als Moſes
aus den „Dunkel“ zurüdetrat, „Da Gott innen war,” ſtrahlte
fein Angefiht in einem Glanze, den das beftürzte Ifrael nicht er
tragen konnte. Der Glanz, den wir aus dem Dunfel Golgatha's,
fofern wir gläubig in daſſelbe hineinzutreten mußten, auf unfern
Stirnen mit uns bringen, ijt fiebliher und milder: denn er tft der
Glanz eines Friedens, von dem die arme Welt nicht weiß, und
einer innern Siegesfreude Glanz, um welche ſelbſt die Engel uns be-
neiden möchten.
„Aber deute uns das ſchauerliche Dunkel!“ hör ich fagen. „Ent:
ziffre die graufenvolle Räthfelfchrift! Cröffne, was für Zuftinde fie
bezeichnet!" — Hört! Es bedeutet das Phänomen den Zurüctritf
einer andern Sonne, als die irdifche. Es bezeichnet Die Umdunkflung
einer innern Welt. Es fchattet den Niedergang eines Troſtes- und
Freudentages ab. Es weifet in eine Seelennacht hinein, in der
der legte heitre Stern erlöfchen will. Denft euch, wenn ihr es ver
mögt, einen Mann, der fündenfrei, heilig, ja göttlicher Natur, den
Allmächtigen fein Licht, Gottes Nahbeiheit fein Paradies, Gottes
Liebe feine Seligfeit nennt. Denkt ihn euch aber alles deſſen nun
beraubt, von feiner Erfahrung der Gnadengegenwart feines himm⸗
fifchen Vaters mehr erlabt, ja mit feinem: „Wenn id nur Dich habe*
630 Das Allerheiligfte.
zwifchen lauter Schauers und Schredgefichte der Hölle hineingebannet,
und von nichts, als von Bildern der Sünde und des Todes umgeben.
Denkt euch einen Solchen, und fügt, ob deſſen Zuftand nicht in einem
nächtlichen Dunfel ein überaus entfprechended Gleichniß fände? —
„Aber,“ höre ich euch entgegnen, „in ſolcher Lage wird Doch der
Sohn des lebendigen Gottes ſich nicht befinden?‘ Wenn Er aber
wirklich in folcher Zage ſich befinde? — Nicht wahr, dann würde au
für das, was er in feinem Innern erführe, ſelbſt die Verfinfterung der
Sonne noch als ein zu wenig fagendes Symbol erfcheinen! Was
übrigens in feinem Innern vorgegangen ſei, darüber will Gr ſelbſt
euch Auffchluß geben. Tretet näher herzu, und vernehmt fein vier:
tes Wort vom Kreugel
2.
Die dritte Stunde der grauenvollen Weltumnadhtung neigt fich zum
Ende. Schon beginnt die Sonne ihres Dunkeln Schleiers fich wieder
zu entkleiden. Da bricht der Dulder fein langes, banges Schweigen,
und herzergreifend tönt von des wie aus einem tiefen Schachte Auf
tauchenden Lippen einem Nothglodenfignal, aber zugleich auf
wieder einem Siegspofaunenklang vergleihbar, der unergründ
fihe Ruf daher: „Eli, Eli, Tama afabthani!" Bon Schaum
der Ehrfurcht Durchdrungen geben uns die Evangeliften Ddiefen Ruf
in derfelben Sprache, in der er aus dem Munde des Dulders kam.
Es iſt, als hätten fie beforgt, daß eine Ueberfeßung deſſelben iws
Griechifche irgend etwas von feinem Inhalte verwifchen könnte. —
Wie in Diefem Augenblide wir, jo, Geliebte, haben ſchon feit acht
zehn Jahrhunderten alle Gläubigen fhugend und ftaunend vor dieſen
Wort geitanden; aber wie fie ſannen, grübelten und forfchten, fie
haben das Wort in feiner Ziefe nicht ergründet. Bekanntlich bilden
die Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum haft Du mid
verlaſſen?“ den Anfang des 22. Pſalms, in welchem David, ge
trieben und geleitet vom heiligen Geifte, unter Anfnüpfung ar eigwe,
gegenwärtige Xeiden, das Loos eines die fündige Welt durchpilgernden
Gerechten ſchildert. Das Gewand feiner Schildrung weitet fich aber
un Fortgange dergeftalt, DaB des Sängers perfönliche Verhältniſſe
fi gleichſam darin verlieren, und ein Kind erfennen muß, daß daf-
jelbe großartigere und bedeutendere Erlehniffe, als die Davidifchen,
fuche, um denfelben als entfprechende Ausdrudsform ſich anzufchmie-
gen. Ja, es wählt das hingeworfene Bild des ſchuldlos Leidenden
Eli, Eli, Iama afabihani! 631
allmälig zu einer Erhabenheit heran, in der es feit Anbeginn der
Welt nur in dem Lehensgange eines Einzigen fein vollftändiges
Begenbild gefunden hat. Es tauchen in dem Gemälde einzelne Züge
auf, von denen in der Gefchichte Davids kaum hin und wieder nur
leife andeutende Schatten uns begegnen, und die jomit ihre volle
buchſtäbliche Erfüllung und anderwärts fuchen heißen. “Denn
nicht allein wird der Dulder des Pſalms als ein Fegeopfer aller Welt
uns vorgeführt; nicht allein fprechen zu ihm, die ihn ſehen: „Er
Hage es dem Herrn, der helfe ihm aus und errette ihn, bat er Luft
zu ihm;“ nicht allein muß er bange feufgen: „Ich bin ausgefchüttet
wie Waſſer, alle meine Gebeine find zertrennet, meine Zunge klebet
an meinem Gaumen, und du, Herr, legeft mich in des Todes Staub;“
Er muß aud) jehen, was David im eigentlichen Sinne nie erlebte,
daß man ihm „feine Hände und Füße durchgräbt,“ und daß Die
Feinde „fih in feine Kleider theilen, und das Loos werfen um fein
Gewand.” Ueberdies nimmt feine Paffton einen Ausgang, wie ihn
diejenige feines Andern je genommen hat. Denn lauter Siegesglorie
webt ſich zulegt um dieſes trefflih Bewährten Haupt; ja, Er über:
kommt fogar das Zeugniß, daß feine Leiden nichts Geringeres, als
Das Heil der Welt, und die Wiederbringung, Erleuchtung und
Beſeligung der Heiden zur Folge haben würden. Wer wäre fo blind,
um verfennen zu können, daß der fchwer Geprüfte, aber in ſolchem
Triumphe aus feinem Kampf bervorgehende Gerechte, den der Geift
der Weiſſagung uns im 22, Pfalm vor Augen malt, fein Anderer
fei, al8 der in Jeſu von Nazareth erfchienene Meffias. Dies ftände
ſchon außer Zweifel, wenn auch nicht Das neue Zeitament, wie es
wirklich thut, jenem Pſalme ausdrüdlich ſolche Deutung gäbe. Selbft
einer der Chorführer des neuften Unglaubens hat den 22. Pſalm,
weifjagend wie Bileam, „das Programm der Kreuzigung Ehrifti” ge
nannt; und ein Andrer wurde wider Willen zu der Neußerung fort:
geriffen: „Man möchte fait glauben, ein Ehrift habe Dielen Pſalm
gedichtet.”
Daß dem Her jener Pfalm in feiner Zodesnoth vor der Seele
geſchwebt, wollen wir nicht unbedingt in Abrede ſtellen. Rief Er
aber in der That fein „Eli, Eli“ mit bewußter Beziehung auf den be-
fagten Pfalm daher, jo ſprach er diefe Worte nicht, Damit, fondern
nur, weil jenes prophetifche Lied fich eben jegt in Ihm erfüllte.
Es war jemer Klageruf, wie ex aus feinem Munde ging, der reine
632 Das Allerheiligſte.
Ausdruck volllommenfter perfönlicher Wirklichkeit und Wahrheit. „Aber
war denn Chriftus wirklich an feinem Kreuz von Gott verlaffen?“ —
Nicht einen Augenblid, geliebte Brüder! Wie hätte Der von Gott
verlaffen werden können, der mit Ihm wefentlih eins, und wem
je, Dann gerade in dem Moment feiner unbedingt gehorfamen Selbſt⸗
bhinopferung am Kreuz der Gegenftand des höchften väterlichen Wohl⸗
gefallens war? In den Martertiefen aber, in die er eben binabge
funfen, und über welche das „Eli, Eli, lama aſabthani“ wie
ein beleuchtender Blitz dahin zudt, überfluthete Ihn eine ſolche Noth,
umgrauten Ihn fo fchredliche Todesfchauer, und brandeten foldye An⸗
fechtungen der Hölle um Ihn empor, daß Ihn ein Gefühl anmars
delte, wie das Gefühl eined aus der Gemeinjchaft Gottes Verbann⸗
ten und günzlid) den finftern Mächten Preisgegebenen. Nicht allen
breiteten fich alle Schreden vor Ihm aus, welche der furdtbare Mut
terfchoß der Sünde in die Welt hineingeboren; auf eine ung freilid
unbegreiflihe Weife ging Er aud) mit feiner heiligen Seele in die
Gemeinſchaft unfres Schuldbewußtfeins ein, und leerte vorempfin-
dend den ganzen Schauerfeld, des „Sündenſoldes“, d. i. Des im
Paradies gedrohten, in lauter Fluch getunkten, Todes. Und es „ſtand
Niemand bei Ihm.” Kein Gruß der Liebe ſchwebte vom Himmel zu
Ihm herab. Keine Engelerfcheinung erlabte Ihn in der unheimliche
Umgebung, in der Er fehmachtete. Seinem Innewerden hatte fih
der Bater in der That entzogen. Im Bereiche feines Empfindens
ftand Ihm derſelbe ald ein Fremder gegenüber, Führten Die Anfech—
tungen Gethjemane's den Herrn bis an die Grenze des Gehorſams,
jo verfegten Ihn die Anfechtungen des Kreuzes bis an diejenige des
Glaubens Nicht mehr ein Schritt, nein, nur eine Linie noch war
zwifchen Ihm und der Verzweiflung Schon griff nah Pſalm
69, 16 der entfegliche Gedanfe wie mit Geierfrallen in feine Seele
ein, es fönnte Diefe Tiefe Ihn „verfchlingen”, und „Das Loch
der Grube über Ihm zufammengehn.“ Da rang fich das
„Eli, Eli, lama afabthani” aus feinem Bufen los. Sehet nım
aber wohl zu, daß ihr in der Deutung dieſes Ausrufes nicht fehl
greift. Er ift nicht etwa Anklage Gottes, daß Diefer Ihn vers
laſſen habe; fondern vielmehr fräftige Gegenwehr wider teuflis
Ihe Anreizungen zu folder Anklage. Durch das wiederholte „Mein
Gott!” beurfundet Er ja, daß er mit dem nadten Glauben, Gott fe
dennoch fein Gott, durch alles gegentheilige Empfinden ſich fiegreich
Ei, Bi, lama aſabthani! 633
durchgerungen habe. Ja, ſchmiegt Er fich nicht mit dem „Eli, Eli“
in findficher Innigfeit an feinen himmlischen Vater an; und fagt Er
nicht Damit, ob immer auch das „Mein Gott“ ftatt eines „Mein
Vater“ auf ein Ueberwiegen der Ehrfurcht vor der ewigen Majeftät
in feinem Innern fchließen läßt: „Zwiſchen Dir und mir kann von
einer Scheidung nimmermehr die Rede fein!” — „Aber“, höre ich euch
einwenden, „er fragt ja doch, warum ihn Gott verlaffen babe?’ — .
Freilich wohl; aber erwäget Folgendes, Das „Warum“ fragt zu:
vörderft nicht nad dem Grunde feiner Paſſion überhaupt. Dieſes
Grundes blieb Er fih auch am Kreuze allaugenblidlih Har bewußt.
Es bezicht fih Diefes „Warum“ vielmehr ausfchließlih auf das
perfönliche Verhalten des hinmlifchen Vaters gegen Ihn, nament:
lich während der Dreiftündigen Finfterniß; und die Frage ift Kindes-
frage, gleichbedeutend mit der: „Warum trittit du von mir fo fern,
und verbirgeft dein Antlig vor mir?“ Dann aber ſpiegelt's uns als
ein lautes Denken des ringenden Mittlerd den ganzen zum "Siege
bindurdhbrechenden Kampf feines Innern wieder. In dem Momente,
in welchem der gräßliche Gedanke Ihn zu überfallen drohte, es fünne
diefe Hölle, die Ihn umloderte, fih um Ihn ber zufammenfchließen,
und da, foweit es möglidy war, Das namenlofe Unglüd eines ewi-
gen Berftoßenfeind von Gott in fein Bewußtfein trat, flüchtete Er fi)
vor Ddiefem grauenvollen Gedanfenphantom, vor diefen Feuerpfeilen
des Böfewichts, den Schild des Glaubens ihnen entgegenhaltend, wie
ein gejagtes zitterndes Reh in die Arme Gottes. md fo ergibt fi
denn als eigentlicher Sinn feiner Klagelaute dieſes: „Mein Gott!
warum verläffeft Du mich? Wie, daß du deine Hülfe mir entzieheit?
Habe ich Doch wider deine Gebote nicht mißhandelt! Bin ich doch
dein Kind, dein eingeborener Sohn, an dem Du Wohlgefallen haft!
Und bift und bleibft Du doch mein Gott! Wie follteft Du von mir
laſſen können? Du kannſt es nit! Du wirft mir aushelfen aus
Diefer Noth! Du wirft dein Antlig mir wieder leuchten laſſen!“ —
Seht, Klage, (nicht Anklage), Ruf um Hülfe, und fiegende Kin-
Deszuverficht: Dies find Die Drei Elemente, die in dem „Eli, Elt,
lama afabthant‘ ſich verfchmelzen.
Doc es fei genug geftammelt von einer Sache, die, unzugänglich
dem Begriff, felbft der gläubigen Ahnung nur ein geringes Etwas
ihrer erhabenen Bedeutung verräth. So viel aber ergibt ſich hier für
Jeden, Daß ohne Die Lehre von der Stellvertretung der Klageruf
634 Das Alerheiligke.
Ehrifti am Kreuz ein fhlechthin unauflösbares Näthfel bleibt. Ya
Berbindung mit diefer Xehre aber wird der Ruf zu einem Feierglol⸗
enflange, mit dem unfre ewige Erlöfung eingeläutet wird. Verleihe
Gott in Gnaden, daß er in Diefer Eigenichaft einen mächtigen, nie
mehr verklingenden Wiederhall auc in unſerm Innern finden möge!
Ja, Freunde, jo weit es — 8* möglich war, — (und im Blid auf
die geheimnißvolle Bergliederung, in welche Chriftus als „andrer Adam“
mit unferm Gefchlecyte eingegangen ift, haben wir uns die Grenzen
dieſer Möglichkeit nicht gar zu eng zu denken,) koſtete der Herr auch
den bitterften Tropfen des ganzen Fluchkelchs: die Verlaſſenheit
von Gott. Das „Mein Gott, warum haft du mich verlaf-
fen?” war allerdings der Kämpferruf, mit welchem Er das Berlaf:
jenheitsgefühl in fih durch den Glauben niederrang und fiegreih
überwand. Nichtödeftoweniger aber war ed kundgebendes Zeugniß,
daß Chriftus mit dieſem graufigen Gefühle in der That einen ernſten
Kampf zu beftehen hatte,
ragt ihr nun nach der Frucht, Die aus diefem Kampfe ung erwach⸗
fen jei, fo ift für uns ſchon das von tröftlicher und erhebender Beden-
tung, daß wir den Hermn in dem „Warum? auf's neue das Bewußt⸗
fein feiner vollkommenen Gerechtigkeit vor Gott fo deutlich beurkunden
hören, Denn wie hätte Er in Ermangelung ſolchen Bewußtfeins die
fübhne Frage an den Dreimalheiligen gewagt, „warum“ derjelbe Ihn
verlaften habe? Die wefentlichite Beute aber, Die wir jenem jeinem
Kampf entnehmen, iſt eine ganz andre nod. Wie verſahen ſich doc
Die unter dem Kreuge an Dem göttlichen Dulder, die in arger Miß
deutung jeines „Eli“ einander zuraunen konnten: „Er rufet den
Elias!” Anfänglich war dieſe Bemerkung allerdings nichts weniger
als Spott. Bielmehr brach einmal wieder in den Meuterern die Ab:
nung durch, es könne der Erhabene dort in feinem Blute wirklich der
Meffias fein. Weil fie aber aus den Weiffagungen der Propheten
Jeſaias und Maleachi wußten, Daß Elias dem großen Zukünftigen
als Bahnbrecher vorangehn folle, fo ftieg der Gedanke in ihnen auf,
ob nicht der göttliche Dulder eben jenen gewaltigen Gotteshereld zu
feiner Hülfe aus der unfichtbaren Welt herausbeſchwöre. Welche Ber:
fennung des großen Mittlers lag aber diefem Gedanken feiner Kreu⸗
ziger zum Grunde! Nein, nicht an fich, fondern nur an Die Sünder,
für Die Er eingetreten war, dachte Chriſtus bei feinem „Eli, Eli“,
ei, Eli, Iama aſabthani 635
und fein Abſehn ging zuerft dahin, ihnen mit diefem „Eli“ das Herz
des lebendigen Gottes wieder zu erobern. Denn wenn Gott Ihn
verließ, fo hatte er jeme verlaffen, die Er vertrat. Verwarf Gott
fein, des Bürgen, Werk als ein unzulängliches, fo war die Erlöfung
der ganzen Welt gefcheitert. Diefe Erwägung war e8 vorzugäweife,
Die Dem Herrn den Angftruf: „Mein Gott, warum haft du mid)
verlaſſen?“ abdrang, und es erhält demnach feine Frage auch die-
fen Sinn: „Nein, du verläffeft mich nicht; du genehmigſt mein
Werk; und fo halte ich Dich feit ald meinen Gott, und darum auch
ald den Gott derjenigen, deren Sache ich führe!” Der Bater im
Himmel aber hat e8 dieſem Sohneslaute an feinem Amen nicht fehlen
laſſen. Sinnbildlich ſprach Er's ſchon dadurch aus, daß er alſobald
die Finfterniß zerftreute, und der Sonne ihren vollen, heiten Zages-
glanz zurüdgab. Ya, es gehörte jene Verlaſſenheit wefentlich mit in
den Kelch, den der Hohepriefter für uns leeren mußte. Es kann hin-
fort für Alle, die durch das Band eines Tebendigen Glaubens mit
Chriſto verbunden find, von einem wirklichen Berlaffenwerden Seitens
Gottes nicht mehr die Rede fein. Wie für uns fein Nachtgewölk
den Himmel mehr umgraut; wie wir jederzeit in Gottes unverhülltes
Antlig ſchauen, und. allaugenblidlih des freien Zugangs zu feinem
Gnadenthrone uns getröften dürfen: fo wird auch Gott, was fonft
und auch verlaffen möchte, in Wahrheit nie mehr von uns weichen.
Verlaſſe uns Die Gunft der Welt, der Menfchen Zreundfchaft, das
Glück der Erde, des Leibes Kraft; verlaffe uns felbft, wie es ge-
ſchehen kann, die Empfindung der Nähe Gottes und die Friſche des
umern Glaubenslebens: Gott felbft bleibt uns in Ehrifto allewege
nabe und gewogen. Wie fremd Er mitunter gegen uns fich fkelle,
in welche Zrübfalstiegel Ex uns verſenke, wie völlig Er unferu Em⸗
pfinden fich entziehe: in allen Lagen bleibt uns die felige Befugniß,
nicht allein beherzt mit einem: „Warum verläffeft du mid), dein Kind
und den Vertretenen deines Sohnes?” Ihn anzugehen; jondern aud)
mit fühner Zuverfiht zu Ihm zu fprechen: „Du wirft, du kannuſt,
du darfit mich nicht verlaffen, weil das Verdienit Deines eingeborenen
Sohnes Di ewig an wich bindet!“
An dieſem Augenblide, Geliebte, wird auf unferu Gottesader die
entjeelte Hülle einer Pügerin binaus getragen, welche wohl zu den
allerkoͤſtlichſten Edelfteinen gehörte, die einmal aus dieſer großen Stadt
Die Krong Gottes ſchmuͤcken werden. Wer außer ihren Kindern und
636 Das Aerheifigke.
einem Heinen Häuflein gleichgefinnter Fremde, die Der Herr ihr zu
geriefen, kannte fie? Wer börte außer jenen auch nur einmal ihren
Namen? In der Verborgenheit eines dunkeln Tachfämmerleind lag
fie zwei Jahre hindurch am fchmerer, jchmerzensvoller Krankheit wie
auf Dornen gebettet; aber man glaubte fie auf Rofen liegen zu je
ben; jo voller Friede und beiterer Ergebung war fi. Das machte:
Ehriftus war ihr Leben. Je mebr ihr Fleiſch dabinſchwand, um ie
mehr fah man ihren Geiſt in Gott erftarfen. Je fichtlicher ihr äu—
Berlicher Menfch verfiel, deito berrlicher entfaltete und verflärte fich ihr
innerer. Ging ibr mitunter audy die Leidensfluth bis an die Seele, fe
haben wir fie Doc) nicht einmal feufzen gehört, gefchweige zagen geſehen.
Wollte ihr Glaube fih einmal verdunfeln, jo eilte ibr Blick alſobald
nad) Golgatha, und unter dem Wiederhall des „Eli, Eli, lama aſab⸗
thani” waren die Wolfen auf ihrer tim ſchnell wieder zerftreut.
„Er kann mich nicht verlaffen*, jprach fie lächelnd, „nachdem Er den
für mic) verließ, der meine Schuld bezahlte!“ Und als einmal in
den Tagen ihrer legten Todesfimpfe das Mitleid mir die Worte ab:
drang: „Ad, daß es Doch dem Herrn gefiele, in etwa diefen Schmer:
zenskelch zu mildern!“ entgegnete fie unter einer abwehrenden Handbe⸗
wegung mit einer feierlich ernften Betonung: „O ftille! feinen Tropfen
weniger! in jeder it von Seiner Weisheit und Liebe forgfam zus
gemeſſen!“ Auf's fchönfte geſchmückt mit dem himmliſchen Kranze des
feiteiten Glaubens, der lauterften Demutb, der durchbaltenditen Erge
bung und Geduld und der jelbitverleugnungsvolliten Liebe, ſchied fie,
eine triumpbirende Siegerin über Tod und Grab, aus Diefer Belt.
Sept fingt auch fie Das große Hallelujab mit der Schaar jener Per:
flärten, die „aus vieler Trübſal gekommen find, und baben ihre Kleider
gemafcben im Blute Des Lammes.“ Aber Gott bat abgewiſcht Die
Thränen von ibren Augen, und die Palme eines unvergünglicen
Zriumpbs ihr in Die Hand gegeben. Sie binterlieg als ihren letzten
Willen die ernjte Mahnung, dap man an ihrem Grabe von nichte,
al8 von der Gnade Christi und der Macht feines Blutes fügen
folle. Und etmas Anderes wollen auch wir nicht rühmen über ibrem
Hügel, als die Barmberzigfeit in Chriſto, und wollen nur binzufügen
den betenden Wunſch: „LUnfer Ende fei wie Diefer Gerechten Ende!“
Ich erzüblte euch Dielen Zug, tbeils, um mit einem neuen Beweiſe
euch zu erfreuen, daß Gott auch unter uns fein Volk noch babe, und
feine Werbethätigleit in unfrer Witte noch kein Ende nahm; theils,
Mi dürfe! 637
um an einem Erempel euch zu zeigen, wie das Geheimniß des Kreuzes
überhaupt, und wie namentlid) dasjenige der Gottverlaffenheit des
Mittlers ausgebeutet werden müſſe. Sei es aud uns befchieden, in
folder Weife die Früchte des Kreuzes Chriſti uns anzueignen, und
werde je länger je mehr in unferm Innern Wahrheit und Leben das
Wort des Sängers:
„Eli! — Du riefft's; und bis zur Stunde
Toönt's wunderwirtend mir durch's Herz.
Verrieth e8 Deine tieffte Wunde,
Mic, heift’8 von meinem berbiten Schmerz.
D Wunder! freie, offne Gaflen
Brach's fühnend mir in's Paradies.
Gott fann mid niemald mehr verlaffen,
Seitdem er Dich ftatt mich verließ! — Amen. —
— —ů —
LIII.
Mich dürſtet!
„Wer will mir zu trinken holen des Waſſers aus dem Brunnen
zu Bethlehem unter dem Thor?” So ſprach zu feinen Reiſigen der
König David, als er den Philiftern gegenüber, die Bethlehem inne
hatten, in einer Bergfefte lag, und daſelbſt nad einem frifchen Zrunfe
ihn gelüftete, Kaum war fein Wort erichollen, da brachen auch ſchon
mit gezudten Schwerdtern drei Helden in's Feindeslager, fchöpften
aus dem Brunnen zu Bethlehem, und brachten, nachdem fie abermals
ſich Durchgefchlagen, ihren Herm und Gebieter das gewünfchte Labjal.
Diefer aber weigerte ſich, es zu trinken, ja, goß es, einem Zrankopfer
aleih, vor dem Herrn aus, und ſprach: „Das laffe der Herr ferne
von mir fein, daß ich's trinfe! Iſt es nicht das Blut der Männer,
die dahin gegangen find, und ihr Leben gewagt haben?” David wollte
nicht gelabt jein, fo Tange die Seinen fchmachteten; und am wenigften
begehrte er die Erquickung auf jener Koften. Er hoffte von dem Herrn
eine nahe Hülfe für Alle, und erft dann gedachte er fammt feinem
Heere ſich zu erfrifchen.
6” Das Ierheifighe.
Wir kennen einen Andern, der aus ähnlichen Beneggränden, wie
David, ein Labfal, nur ein ungleich größeres, als das ans dem
Brunnen Bethlehems, als Zranfopfer vor dem Herm ausgoß, ımd
lieber verdurften, oder nur mit Galle fich tränfen laſſen wollte, als
ohne ung, feine Brüder nad) dem Fleiſch, gefüttigt fein, oder gar
im Weberfluß leben; ja, der auf die Lebenswafler der bimmlifchen
Sreudenquellen, die ihm zur Verfügung fanden, Verzicht Teiftete, um
nicht für feine Perfon allein beglückt zu fein, fondern, was David
freilich nicht vermochte, durch fein Darben uns die Mitgenoſſenſchaft
an feinen Seligfeiten zu erwerben, und dann erft, in Gemeinſchaft
mit uns, ſich zu erquiden. Ihr Eennt diefen Anden und Größeren
auch, von welchem der König Sfrael nur ein fhwacher, vorbildender
Scyatte war. Wir werden Ihn heute fchauen, und gerade in dem
Momente zu Ihm treffen, Da Er jenes große Werk der felbfiverleng:
nungsvolliten Liebe ausübt.
Matth. 27, 48. 49. Marc. 15, 36. Joh. 19, 28. 29.
Darnach, als Jeſus wußte, daß ſchon Altes vollbracht war, daß die Schrift erfüllel
würde, fpricht er: Mich dürfte! Da fand ein Gefäß voll Eifig. Und bald Tief einer
unter ihnen, nahm einen Schwamm, und füllete ihn mit Eifig, und legte ihn um
einen Dfopftengel, und hielt e8 ihm dar zum Munde, und tränfete ihn. Die Anders
aber fprachen: Halt, Taf fehen, ob Elias fomme, und ihn herabnehme!
Dem Anfehen nad gehört der Abfchnitt, nor welchem wir Beute
ftehn, nicht eben zu den bedeutfameren und fruchtbareren Der Paſ—⸗
fionsgefchichte. ber laffen wir uns durch Den Schein nicht irre leiten,
jondern graben wir in den Grund; und auch an Diefer Stelle werden
uns die Lebenswafler des unerfchöpflichen Heilbrunns, der ſich anf
Golgatha für uns anfgethban hat, reih und frifch entgegenſprudeln.
Wohl dürfen wir zu dem Herm mit dem Dichter fagen:
„Mir ift and jedem Weh, dem du dein Herz erfihfoffen,
Ein himmliſch Rofenbeet won Freuden anfgeiproffen.*
Der Ruf: „Mich dürftet!- fei der Gegenfland unſrer heutigen
Erwägung! Auch ihm kann e8 an tiefen geheimmißvollen Hinter⸗
grimden nicht fehlen; wie begegnete er uns ſonſt in dem erhabenen
Afkorde der fieben Kreuzgesworte? Zudem verlanfet er — in welchem
Momente? Er ertönt in der großartig feierlichen Rähe des blutigen
Berföhnungstodes! Ya, ein Zahrtaufend zuvor ſchon wurde auf Diefen
iM virkel! 1.027
Auf durch den Geiſt der Weiſſagung prophetifch hingedeutet. Worin
beſteht ſie denn, die Bedeutung dieſes fünften Worts des ſterben⸗
den Hohenprieſters? Es wird ſich ergeben, wenn wir das Wort in
feiner dreifachen Eigenſchaft, nämlich als Klageruf zuerſt, dann
als Ausdruck des Verlangens zu Gott, und endlich als Bitte
an die Sünderwelt einer näheren Erwägung unterziehen,
Schiden wir uns hiezu an, und laffe uns der Herr auch heute
nicht ohne einen neuen Heilsſchatz von binnen gehn!
Es iſt um die neunte Stunde, alfo um drei Uhr Nachmittags.
Eben erft tönte jenes erfchütternde „Eli, Eli, Tama afabthani!“
Daher, das allerdings Nothfchrei, aber zugleich Ruf des Sieges und
Triumphes mar. Die Summe taucht aus ihrer nächtlichen Verbüllung
wieder hervor, und der Himmel fieht wieder freimdlicher zur Erde
nieder. Ihr würdet aber irren, wolltet ihr dies als ein Jeichen deuten,
daß die feelifhe Märternacht des Herrn nunmehr vorüber fei. Sie
Dauert, wenn jetzt auch durch Die wiedererrungene Glanbensflarheit
wefentlich gelichtet, biß zu dem Momente feines Sterbens fort; md
auch Dad Wort „Mich dDürftet”! dringt noch aus ihren Dunkel zu
unferm Obr. Um dies bezweifeln zu Fönnen, müßte man mit dem
69. Pfalme nicht vertraut fein, deſſen Klagetoͤne in Diefem letzten
Stadium der Kreuzesnoth des Herm zu ihrer ſchließlichen Verwirk⸗
fihung gelangen. Freilih „wußte“ Jeſus, nach der ausdruͤcklichen
Ausfage umfrcs Evangeliums, daß feine Pafflon fi) ihrem Ende nä-
here. Mit klarem Auge fah er den Marterkelch bis auf die letzten
Tropfen geleert. Aber diefe „legten Tropfen” blieben noch darin
zurück, und wollten ebenfalls noch getrunken fein; und, glaubt es,
fie haben an Bitterkeit den bereits gefofteten nichts nachgegeben. Ach
feht, er fchmedt fie fehon. Die Wehen des im Paradies gedrohten
Zodes haben ihm ergriffen. Gr trat in die Stellung ein, für melde
der Geift der Weiffagung in dem eben genannten Pſalme Ihm Die
Klage in den Mund legt: „Ich habe mich müde geichrieen; mein
Hals tft heiſch; mein Geſicht vergeht mir, daß ich fo lange harren
muß auf meinen Gott! Mache dich zu meiner Seele, und erlöfe fie.
Die Schmady bricht mir mein Herz, und fränket mich. Ich warte,
ob e8 Jemand jammere, aber da tft Niemand. Ich harre anf Tröfter,
aber ich finde feine!” So lauten die Seufzer, in denen wir ihn
ders durch den Mund Davids ih ergießen hören; und am fle fchließen
640 | Das Alterheiligfe.
ſich dann die merkwürdigen prophetifchen Worte: „Sie geben mir
Balle zu effen und Effig zu trinken in meinem großen
Durft!” Auch diefer Zug, der in der That noch feinen Ruhepunkt
auf feinem Martergang bezeichnet, mußte noch verwirklicht in Das Pal:
fionsgemälde fi verweben; und zum Zeugniß, daß dies eben gefche
hen fei, oder, wie das Evangelium fih ausdrüdt: „auf daß die Schrift
erfüllet werde,” ruft der Herr von feinem Hole: „Mich dürfte!“
Ja, Klage-, Noth- und Angftfchrei ift diefer Ruf zu nächſt.
Dies ſetzt der erwähnte Pfalm, der einen Sturm der Anfechtung uns
vor Augen malt, außer Zweifel.
Aber welcher Art war die Noth, die fih in jenem Rufe kundgab?
Zunächft war fle allerdings eine förperlihde. Wie wund umd wie
ermattet langte der Heiland jchon auf der Höhe der Schädelftätte an,
und faft ſechs volle Stunden bereits hängt er an feinem Holz.
Die Blutgefäße feines heiligen Leibes find beinah erfhöpft. Ein
furdhtbarer Zieberbrand durchwüthet fein Gebein. Seine Säfte ver
dorrten; feine Zunge Hebt am Gaumen. Die Lippen glühen ihm,
und ein Tropfen Waſſers erfcheint ihm als ein großes Labfal. Soll
e8 Doch eine ftechendere Qual nicht geben, als die eines nicht zu
ftillenden heißen Durftes, Neifende, die in den brennenden Step
pen des Orients diefe Pein empfunden haben, machen uns Schilde
rungen von ihr, die und mit Entfeßen erfüllen. Sie verfichern uns,
daß, wenn fie in jener Lage alles Gold der Erde befefien hätten, fie
dDaffelbe fehon für ein paar Tropfen aus dem trübften unfrer Bäche
mit Freuden hingegeben haben würden. Gewahrten fie einmal ferne
einen ſchimmernden Fleck, den fie für einen Zeih, für eine Lagune
hielten, fo pflegten fie wie Raſende Darauf zuzuftürzen. Fand fichs
aber, daß das vermeintlihe Waſſer nur eine brennende Sandfläde
war, auf der die Eomnenftrahlen fpielten, fo verfeßte fie dieſe Ent⸗
täufhung in eine Verzweiflung, der fie nur durch ein lautes Heulen
entfprechenden Ausdruck zu geben wußten. Und denkt, auch dieſe
Marter blieb dem Heilande der Welt nicht fremd. Bis zu folder
Ziefe der Armuth und Bedürftigfeit wollte Er, der fo unausſprechlich
„reich“ war, fih entäußern! Und alles dies für uns, Damit wir
durch feine Armuth reich würden! Wer ift im Stande, Diefe Liebe
zu ermeſſen und würdiglich zu preifen ?
Doch auf Grauenvolleres noch, als leibliche Qual, deutet Der Kreu:
zesruf: „Mich dürſtet!“ Ya, gemahnt er euch nicht an das ſchauer⸗
Mic därftet! 641
liche Bild aus der unfichtbaren Welt, das der Herr felbft einmal in
einem feiner Gleichniffe uns vor Augen malte? Taucht vor eurer
Erinnerung der „reihe Mann” nicht auf, der fih auf Erden in
Purpur und föftliche Leinewand Meidete, aber, nachdem auch ihn der
unerbittlihe Tod Dahingerafft, in der „Pein und Flamme“ verzwei-
felnd die Hände rang, und, von einem namenlofen inneren Durft
gequält, den Vater Abraham anfchrie, er möge Lazarım fenden, daß
er nur das Yeußerfte feines Fingers in's Waſſer tauche, und ihm die
brennende Zunge neße; der aber auf feine Bitte, wie flehentlich die-
felbe aus der Behaufung der ewigen Nacht heraus an die Pforten
des Himmels ſchlug, ohne Schonung und Erbarmen abfhläglid
befchieden wurde? — „Nein“, hör’ ich entgegnen, „an diefen Mann
gedenken wir hier nicht! Wie follte an ihn der heilige, fündenreine
Dulder uns erinnern fönnen? Einen Frevel würden wir zu begehen
glauben, wollten wir das Dürften dieſes Geredhten mit demjenigen
jenes Höllenfindes zufammenftellen? Wir würden meinen, durch ſolche
Vergleichung in ärgerer Weiſe, als e8 die Juden thaten, Ihn unter
die Uebelthäter zu zählen! — So fpredht ihr; aber wiflet, Freunde,
Daß fo fi) nur vernehmen laffen fann, wer dem nicht glaubt, was
die Schrift von der ftellvertretenden Flucherduldung Jeſu
meldet. Wem dagegen über die Worte: „Die Strafe liegt auf
ihm, auf daß wir Frieden hätten” das Licht des heiligen Geiftes auf-
gegangen ift, den würde es in hohem Grade befremden, wenn der
Mittler nicht auch das Loos jenes Mannes der Parabel thatfächlid)
erfüllt, d.h. wenn Er nicht, fo weit es möglich) war, auch alle Qua⸗
len der Verdammten ausgefoftet hätte. Und er Eoftete fie aus! Der
bittre Spott, der auf's neue von unten her, und allerdings auch in
dem: „Laſſet jehn, ob Elias fonıme und ihm helfe!’ ſich vernehmen
ließ, war nur ein jchwaches, menfchliches Abbild der araufenvolleren
Anfälle, die Er hinter dem Vorhange der Äußeren Gefchichte zu er:
leiden hatte. Hier im Berborgenen umgaben Ihn „die Rotten Belials.“
Hier hoffen die finfteren Mächte ihre ausgefuchteften ‘Pfeile gegen
Ihn ab. Hier fichtete der Satan Ihn felber jeßt wie den Weizen; ımd
aus dieſer unheimlichen Umgebung, aus diefer Drangfalswürte, aus
dDiefer Grube, „darin fein Waſſer war”, und in der Er nur nod
glaubend, nicht aber mehr empfindend mußte, daß Gott fein
Gott fei, drang, gleichartig mit dem „Sende Lazarum!“ jenes
Berftoßenen, der Ruf hervor: „Mid dürſtet!“ Uns Sündern den
Ä 41
642 Das Allerheiligſte
Durft einer unendlichen Zroftlofigkeit zu erfparen, unterzog er fid
felber ftellvertretend folder Qual. O, welch' ein Xabebrum, Deu
Er durch fein Dürften uns eröffnet hat! Rufen wir Sünder jeßt:
„Sei du mir nur nicht ſchrecklich, meine Juverficht in der Roth!“ fe
tragen um des ‚Dürftenden Mittler willen raufchende Zriedensftröme
unferm Gebete das göttliche „Amen!“ zu.
2.
„Mich Dürftet!! Wornach dürjtet Ihn? Ich denfe, daß fid
dies jebt von felbft ergebe. Es war nicht irdifches Wafler nur,
nad) dem er Techzte; fondern Größeres, Höheres, Wefentlicheres. Ihn
verlangte allerdings nad) der Beendigung feiner Erlöferarbeit umd
der Vollendung feines großen Mittlerwerks. War diefes Ziel erreicht,
fo war Er ja wieder in fein Element, d. h. in die volle befefigende
Gemeinſchaft feines himmliſchen Waters zurücverfegt, und ſchaute
wieder, während Er jegt nur glauben mußte. Er hatte dann nicht
mehr erft mühfem zu dem Bewußtſein fi Durchzuringen, daß
Bott Ihm’ hold und väterlih gewogen ſei; fondem Er fchmedte
Solches wieder, denn er rubete wie weiland in des Vaters Schooß;
und ſtatt der fchauerlichen Bilder der Sünde des Fluches und des
Zodes ftrahlte Ihm auf's neue von allen Seiten der Glanz einer
fledenlofen Reinheit und Heiligkeit entgegen. Friede und Freude
fehrten dann zu Ihm zurüd. Das Natterngezifh der Abgrunds-
mächte war um Ihn ber verftumnt. Nur die Hallelujas der Engel
und vollendeten Gerechten umtönten ihn; jeder Mißklang löfte fich auf
in felige Harmonie, und die Atmoſphäre, in der er athmete, war wie
der Liebe, und nichts als Liebe. Ja, Ihn dürftete nach der vollen
Wiederenthüllung des Angefichtes feines Vaters, und wie nach des
Vaters erneuter, unzweideutiger Erklärung: „Du bift mein Tieber
Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!” fo nach der väterlichen Be:
fiegelung feines Erlöjerwerfes al8 eines untadelig vollbrachten!“ Daß
vor Allem hiernach Ihn gedürftet, fegen wir nicht willfürlich vor:
aus, jondern entnehmen’ aus dem hbierhergehörigen 69ften Pſalm,
der Ihm unter andern in feiner Kreuzesmarter auch die Worte auf
die Lippe legt: „Gott, hilf mir, denn das Waſſer gehet mir bis an
die Seele. Ich bete, Gott, zu Dir, erhöre mich mit Deiner treuen
Hülfe. Errette mich aus dem Kotl, auf daß ich nicht verfinfe. Er:
höre mich, o Herr, denn deine Güte ift fo tröftlih. Wende dich zu
mir nad) deiner großen Barnıherzigkeit; verbirg dein Antli nicht vor
Mich duͤrſtet! 643
deinem Knechte, denn mir iſt Angſt. Erhöre mich eilend. Nahe dich
zu meiner Seele, und erlöfe fiel” — Seht, Freunde, fo iſt fein
„Mich dürſtet!“ auch Ausdrud des Verlangens vor, zu und nad)
feinem bimmlifchen Vater. —
Denkt aber nicht, Er habe bei feinem „Mich dürſtet!“ nur ſich,
und was zu feinem eignen Frieden diente, im Auge gehabt. Hing er
doch nicht für Die eigne Perfon am Kreuze. Es verlangte Ihn nad
dem Rüdtritt in die Gemeinfchaft Gottes, weil feine Aufnahme in
dieſelbe auch denen, die Er priefterlich auf dem Herzen trug, Die
ihrige verbürgte. Erfüllte Er doch als andrer Adam in dem, was
Er erduldete, ihr Geſchick, und bereitete er ihnen doch in Dem,
worauf Er fich felbft einen Rechtsanfpruch erftritt, ihr fünftiges Erb⸗
theil. Er konnte, nachdem Er als ihr Sachwalter in ihre Stelle
eingetreten war, nicht gerechtfertigt, erhöht und gefrönet werden, ohne
Daß auch fie dabei betheifigt waren. Wie fehnte Er fi) aber nad)
dem nun nicht mehr fernen Momente, da Er vor den Bater treten,
und zu ihm jagen fonnte: „Hier bin ih, und die du mir gegeben
haft. Sch habe fie erlöfet, mit meinem Blute fie erfauft, und unta-
delig fie vor Dein Angeficht geftellt. Hinfort find fie Dein und mein,
und würdig, zu deinen Vorhöfen einzutreten!“ — Seht, auch diefem
Berlangen feines Mittlerherzens, ja dDiefem zuallermeift, gab Er in
dem Rufe: „Mich dürſtet“! finnbildfichen Ausdrud. O, in welchen
reichen Blüthenfchmuc der Liebe N er das Holz des Fluchs gefleidet!,
Dod wir verfennen nicht, dat das „Mich dürſtet!“ nicht blos
Sehnſucht nach Gott, ſeinem himmliſchen Vater, ſondern zugleich Bitte
an die Menſchheit ausſprach, welche letztere Er auf Golgatha leider!
in ſeinen Kreuzigern vertreten ſah. Ja, auch von ihr erbat Er
fi) einen Liebesdienſt. Ein Trunk kühlenden Waſſers für feine lech⸗
zende Zunge war es, was Er von ihr begehrte. Ueberſeht dieſen
Umſtand nicht. Auch in dieſem ſcheinbar geringfügigen Zuge liegt
etwas Großes verborgen. Wer, und wenn er der Cdelſten feines
Gefchlechtes einer geweſen wäre, hätte in Jeſu Lage den höhnenden
Feinden noch fold ein Wort gegönnt, und fie um eine Erweifung der
Freundlichkeit und Liebe angefprochen? Stolze Verachtung gebührte
diefen Menfchen. Aber zum Zeugniß, wie Er fo gar andern Sinnes
fei, denn feine Brüder nach dem Fleifch, und wie in feinem Herzen
fo gar nichts wohne von alle dem, was gekränktes Chrgefühl, Groll
41°
644 | Das Merheiligfte.
oder Gereiztheit heiße, erfucht Er die Widerfacher noch um eine Hand⸗
reichung mitleidiger Freundlichkeit, und fpricht zu ihnen bittend: „Mid
dürſtet!“ Was wollte er damit jagen, ald: „Seht, ich breche nicht
mit euch! ch bleibe euch treu gefinnt, und halte die Bande feft,
die mich mit euch verknüpfen!“ Wer noch nicht weiß, was es heiße:
„den Feinden feurige Kohlen ſammeln auf das Haupt,“ der ſchaue
ed bier. Wie tritt hier wieder die Heiligkeit unſres Herm in Die
Erfcheinung! Wie enthüllt fi bier auf's neue vor unferm Blick der
lautre Goldgrund feiner göttlichen Natur! Ja, „Licht“ war das Kleid,
das er anhatte, bis in feine innerjten, verborgenften Falten hinein,
lauter Licht! Er mußte aber auch jo beichaffen fein, der unfer Bürge
und Mittler werden wollte. in Stäublein auf der weißen Leine:
wand feiner Gerechtigkeit hätte hingereicht, Ihm die Tüchtigkeit zur
Bollführung feines großen Werks zu benehmen. |
Man follte. denfen, der wunderzarte Zug unbefangener Annäherung
und vertrauensvoller Herablaffung, wie er in dem „Mich dDürftet!“
zu Tage trat, habe die Kreuziger drunten mit einer Befchämung er:
füllen müffen, die ihnen faum mehr geftattet haben würde, die Augen
aufzufchlagen. Und freilich fcheint es, als habe derfelbe auch feines
verfühnenden und zu milderen Gefinnungen ftimmenden Eindruds auf
fle nicht ganz verfehlt. Wir fehen fie Anftalt machen, Ihm feine
Bitte zu gewähren. Es läuft Einer hin und holt einen Yſopſtengel,
‚und nachdem fie einen Schwamm in Eifig getaucht, und diefen an
das Rohr befeitigt haben, reichen fie denfelben zu feinem Munde
hinauf, und tränfen Ihm mit dem Schwanme. Freilich wird Ihm
auch dieſer kümmerliche Trank noch mit der Galle eines erneuerten
Spottes vermifcht. — „Halt! laß feben, ob Elias komme, und ihn
herabnehme!“ rufen Die Waffenknechte. Doch irre ich nicht, fo if
in Ddiefem Spott mehr Ernſt ald Scherz, und man beabfichtigt im
Grunde mit demfelben nur die befferen und weicheren Gefühle des
Mitleidd, ja jogar eine gewiffe Zuneigung zu dem blutenden Manne
zu verhüllen, die man in dieſem Augenblide in fid) aufwallen fühlt.
— Bollen wir unfere Gegner und wiedergewinnen, fo kann dies
ſchneller und ficherer nicht geichehen, als Dadurch, daß wir ung ei:
nen Liebeödienjt von ihnen erbitten, und uns jo ihnen zu Danf
verpflichten. Augenblicklich wird dies fie milder ftimmen. Freilich
ift hiezu ein Maß von Demuth und Liebe erforderlich, das nicht Je-
dermanns Ding ift. Der Heiland befaß aber dieje Liebe und Diele
Mich dürftet! 645
Demuth in unbegrenzter Fülle. Um num fich felbft in die Lage zu
verfegen, der Welt einen Dank zu fhulden, gibt Er diefer mit fei-
nem „Mich dürſtet!“ Gelegenheit, Ihm auf feinem Lebensgange
noch Das legte irdifche Labfal darzureihen. Welch’ ein rührender,
berzgewinnender Zug dies! O, daß er, fo weit e8 noch nicht gefchah,
auch unfre Herzen Ihm gewinnen möge! Denn daß Er uns ge
winne, Das iſt's vor Allem, wonach fein Dürften gebt. Die Ueber:
treter entjündigt, die Fluchbeladenen entbürdet, die Gebundenen erle-
Digt und die Gefangenen frei zu fehn, das ift der Hauptgegenftand
feines Schmachtens und Begehrens. Damit aber diefes große Ziel
der Menfchenerlöfung erreicht werde, dürftet Ihn fort und fort nach
unfrer Liebe, nach unfrer Hingebung an Ihn, nach unferm Kindes-
vertrauen auf feinen Sefusnamen. Wir wiffen fomit, wie und mit
welchem Tranke wir den Herm der Herrlichkeit noch heute erquicken
fünnen. Das erfte Labfal, dem Er unfrerfeits verlangend entgegen:
fieht, find unfre Buß- und Neuethränen. DO, tragen wir fie Ihm zu!
Dder foll e8 nimmer dahin fommen, daß wir einander weinend in
die Arme fallen, ſprechend: „Kommt, wir wollen wieder zum Herrn!
Er hat uns zerriffen, Er wird uns auch heilen; Er hat uns gefchlagen,
Er wird und auch verbinden?“ Soll es nimmer, weder dem Blute
gelingen, das vom Kreuze ftrömt, das harte Erdreich unferer Herzen
zu erweichen, noch der Xiebe, die fih in den Zod für und gege⸗
ben, unfre falten Seelen zur Gegenliebe zu entflammen? — O, der
Fülle durchfchlagender Weckſtimmen und mächtiger Anziehungskräfte,
die vom Kreuze ber auf uns eindringen! Werden wir und denn.
derfelben ewig erwehren wollen, als trachteten wir dem Ruhme nad),
unfre Herzenshärtigkeit als eine fchlechthin unüberwindliche dargethan
zu haben? Verhüte e8 Gott, und begnade Er uns mit Zöllnerbeugung
und mit Schächersfehnfucht! Es find Augen unter uns, die bald im
Tode brechen werden, und von Denen doch niemals noch die Magda:
Ienenthräne thaute, Ihr Augen der grauen Häupter unter und, zer
fließet, che die Verzweiflung euch auf immer erftarren macht! Augen
bliden hier mich an, die von Kindheit auf gefehen haben, was viele
Könige und Propheten zu fehn begehrten, und haben e8 nicht geſehn;
und doch haben fie das Eine, was Noth ift, auch von ferne noch
nicht erkannt. O ihr fo reich gefegneten Augen, weinet endlich eins
mal über eure Blindheit und euern fehnöden, ſchauerlichen Undank!
Augen ſchaun zu mir herauf, die nicht erft der Fackeln bedürfen, um
646 Das Alerheilice
ihre Miſſethaten zu entdecken, und nichtsdeitoweniger verfiagten Brunnen
gleihen, Die fein Waſſer geben. Ibr Augen der Ebebreiber, der
Mammonstnechte, der Kinder des Lũgenwaters unter und, c, che
das Weinen zu ſpät euch ankommt, meiner Tbränen wie Diejenigen,
die ein Petrus weinte, und mü denen ein David des Rachts jein
Bette jchmenmue! Solche Thrinen find das Zranfopfer, nach melden
den Herm der Herrlichkeit noch beute düritet. Gebe uns Gert, daß
wir damit zuerit ımd vor allem Andern jeinem Throne nahen mö-
gen. Sobald dies geſchieht, wechieln die Verrichtungen, kehren die
Verhaͤlmiſſe ib um. Er wird der Zrinfende, der Erquiden:
de; und die Zrinfenden md Genießenden werden wir. Und
jelig, wer die Wahrbeit jeines Worts an jih erfährt: „Wer des
Waſſers trinken wird, Das Ich ibm gebe, den wird ewiglich nicht dür⸗
fin; ſondern das Waſſer, das ch ihm geben werde, wird in ihm
ein Brunnen des Waſſers werden, dus in dus ewige Leben quillet.“
Ber möchte nicht im Blick auf ſolche Tränkung mit dem jamaritamifchen
Beibe ſprechen: „Herr, gib mir dafjelbige Waſſer, auf dab mich
nicht mehr dürften möge!“
„Mich dürſtet!“ Verklinge denn auch die ſes Krenzeswort wicht
mehr vor unſerm innern Ohre; und überbören wir auch da daſſelbe
nicht, wo es aus dem Muunde derjenigen uns antönt, im Did auf
welche der Herr einit zu denen zu feiner Rechten jagen wird: „Ich
bin durftig geweien, und ibr babt Mich getränkt!“ O, der Gnade,
daß uns armen Zindern Wege gebabnet find, in denen wir Den
wieder erquiden können, der aller Zreuden und Erquidungen Spender
und unerſchöpflicher Urquell it! Machen wir Gebraub von dieſer
hohen und jeligen Bergünftigung, und gönnen wir in unſerm Herzen
Raum und Wiederhall dem Sängerworte:
„Gib mit Allem, was du bait,
Dich dem Friedensfürkten:
Selbſt entbürdet jeder Laſt,
Stillſt du jo Sein Dürfen
Was au Labjal du Ihm bier
Eilteft zu bereiten,
Gr vergilt's mit Strömen dir
Em’ger Seligteiten!- — Amen. —
—n
Es iſt vollbracht 647
LIV.
Es iſt vollbracht!
Drei große Ruhe- und Abſchlußpunkte begegnen uns in der gött⸗
lichen Reichsgeſchichte: der erſte im Beginn, der andre in der Mitte,
der dritte am Ziel derſelben. Der erſte tritt mit der Vollendung
des Schöpfungswertes ein. „Gott fah an, Alles, was er ge⸗
macht hatte, und fiehe Da, es war fehr gut." Und „Gott ruhete
von feinen Werfen.” „Die Morgenfterne frohlodten mit einander,
und e8 jauchzten alle Kinder Gottes.” Das Weben und Walten Got:
tes in der Zeit nahm feinen Anfang, und die Erde war zum ewigen
Schauplatz Seiner Macht- und Liebesbethätigungen auserfehen.
Die Sünde trat in die Schöpfung ein; in ihrem Gefolge der
Fluch, der Zod und taufendfältiges Verderben. Eine unendliche Ber:
wüftung bedrohte das herrliche Gotteswerk. Da wurde der Schöpfer
aus Bewegung feiner unergründlichen Barmherzigkeit zum Erlöfer.,
Aus den Tiefen der Ewigkeit tauchte ein Heilsplan auf, der die Boll-
kommenheiten Gottes umfaffender noch und heller wiederftrahlte, und
die Engel am Throne in noch höherem Ehore jauchzen machte, als e8
einft die fech8 Tagewerke des Anfangs thaten. Unmittelbar nach dem
Fall im Paradieſe wurde die Verwirklichung des erhabenen Rathes eins
geleitet; aber erft nach Verlauf von vier Jahrtaufenden wurd fie zum
Ziel geführt. Ein großes: „Es ift vollbracht!” vom Berge Golga-
tha ber die Welt begrüßend, fündete die eingetretene Vollendung an.
Gott ruhete abermals von feinem Werke, und durch die Himmel
raufihte das neue Lied: „Das Lamm, das erwürget ift, ift würdig,
zu nehmen Anbetung, Preis md Ehre!“
Eine neue Nera hub von dieſem Momente an. Es iſt die der
fortichreitenden Entfaltung der Segenswirfungen des vollbradhten Ver:
föhnungswerfs. Dieje dritte Periode, von deren Lichte wir befchienen
find, findet ihren Abfchluß in der Erneurung und Verklärung der
erlöften Welt zu ihrer urfprünglichen paradiefifchen Herrlichkeit. Auf
dDiefes große Ziel deutet der Geift der Weiffagung Offenb. 21, 5. 6.
„Und der auf dem Stuhle füß, ſprach: Siehe, Ih made Alles
neu. Und er ſprach: Es ift gefchehn! Ich bin das Aund das O,
648 Das Ulerpeiligke.
der Anfang und das Ende. Ich will dem Durſtigen geben von dem
Brunnen des lebendigen Waſſers umſonſt!“ Sobald Diefes Dritte
„Ruben Gottes von jeinen Werfen” wird eingetreten jein, ruber ulle
Welt, und die Scheidewände zwiichen Hinnuel und Erde find für
immer gefallen.
Der Guell: und Ausgangspunkt aller noch zukünftigen Herrlichkeit
ift aber und bleibt das in der Mitte der Zeit vollbrachte geheinmiß⸗
volle Wert; und zu dieſem führt uns unfre beufige Betrachtung.
Ish. 19, 30*
Da nun Iefus den Eſſig genommen hatte, ſprach er: Es iſt vollbracht!
Da habt ihr’s, das größte und inhaltichwerfte Wort, das feit An⸗
beginn der Welt auf Erden vernommen ward. Siegesſchrei it’s; wer
hört es ihm nicht an? Es ift ein Ruf des Triumphs, der dem Reiche
der Zinfterniß feinen vollendeten Sturz, dem Himmelreich jeine ewige
Begründung anſagt. D Wunder! in dem Momente, da für den
Helden aus Juda Alles verloren fcheint, verfündet uns fein: „Es
ift vollbracht!” es fei alles gewonnen und zum Ziele geführt.
ALS Klang einer himmliſchen Hallpofaune tönt es daher, Das fechste
Kreuzeswort, und fignalifirt der fluchbeladenen Menſchheit den An-
bruch eines Frei- und Sabbathjabres, Das wohl immer umfaffender
feinen Glanz entfalten, aber niemals mehr ein Ende nebmen wird. Xu,
horcht euch nur um, und euch wird geicheben, als börtet ihr unter dem
„Es ift vollbracht!” Ketten zerfpringen und Kerfermauern zufammen:
brechen. Himmelhohe Schranfen jtürzen vor dieſem Laut, und Pforten,
ſeit Jahrtanſenden verfchloffen, bewegen ſich wieder in ihren Angeln.
Was aber war in den Momente vollbracht, Da jener große Ruf er:
ſcholl? Der Evangeliſt leitet feinen Bericht mit den Worten ein:
„Da nun Seins mußte, Daß Alles vollbracht war.” Denkt: „Alles!“
Was wollen wir mebr? Aber worin beftand’8? Es drängt uns, Die
Schleier zu beben, und im Einzelnen anzufchauen, was damals zu
Stund und Weſen kam. Auf ein Dreifaches führt fih's zurück.
Vollbracht war Die Arbeit des Bürgen, die Erlöfung der
Sünder, und die Wiedereroberung der Welt.
Werden wir uns deſſen näher bewußt, und fenfe der ganze Friede
fih in unfer Herz, den das „Es ift vollbracht!“ der Welt verkündet!
€ iſt vollbracht! 649
1.
„Es ift vollbracht!“ Mit lauter Stimme ruft er’s daher.
Sa, iſt's doch, als hätte er jenen legten Labetrunk nur begehrt, um
diefen Siegesfchrei fo recht mit voller Kraft, und herolds-, ja po-
jaunenartig ertönen zu laffen. Iſt's euch, als vernähmt ihr zumächft
darin etwas, wie Yeierabendglodenklang, der dem göttlichen Dulder
felber gelte, fo verhört ihr euch nicht. Der Herr fteht an dem
Ziele feines Werks. Er hat die unerhörte Aufgabe, der er in jenem
vorweltlichen Friedensrathe mit Seinem „Deinen Willen, mein
Gott, thue ih gern“ ſich unterzog, gelöft. Der Tod, dem er
fid) zu weihen im Begriffe fteht, bildete die Spike, aber auch den
Schlußſtein feiner Verföhnerarbeit, Nehmt nur das göttliche Pro⸗
gramm feines mittlerifchen Erdenlebens zur Hand, wie e8, in Bor:
bild und Weiffagung verfaßt, im Archive des alten Teſtaments ver-
borgen liegt, und überzeugt euch, wie daffelbe jet Punkt für Punkt
feine Erledigung gefunden bat. Bis zu den Eleinften und unfchein-
barſten Zügen hinzu ift das geheimnigvolle Meffiasbild, wie es in
wachſender Helle und Bollftändigkeit in den Schriften Mofls und
der Propheten an und vorüberwandelt, in der Perfon Jefu nunmehr
zu feiner Verwirklichung gediehen. Fragt ihr nach Micha's bethlehemit-
tifchem Wunderfnaben, deffen „Ausgang von Anfang und Gwigfeit
her geweſen ſei;“ oder nah dem Menſch geborenen Sohne mit der
„Herrichaft auf feiner Schulter,“ den uns Jeſaias vorführt; oder
nach dem Könige Sacharja's, dem fanftmüthigen und gerechten, der
auf dem Füllen einer Efelin feinen Einzug hält: in Jeſu Chrifto
trat er leibhaftig euch entgegen. Sucht ihr den „Weibesfamen, “
der mit verwundeter Ferſe der Schlange den Kopf zertreten, oder den
„Knecht Jehova's,“ der alle Gerechtigkeit für uns erfüllen, oder den
„andern Aaron,“ der in Wahrheit eine Verſöhnung zwifchen Gott und
der Sünderwelt vermitteln follte: blickt zum Kreuz empor, und hier
ſchaut ihr Ddiefes Alles vereint in Einem. Seht ihr euch um nad
dem Gegenbild der ehernen Schlange in der Wüfte, oder nach dem
des Paſſalammes und feines rettenden Blutes in Egypten, oder nad)
dem des erhabenen Dulders, der in den Schauergemälden des 22ften
und 69ften Pfalmes auftritt, und daſelbſt ftellvertretend bis zu dem
Klagerufe: „Mein Gott, warum haft du mich verlaffen?“ in das
Schredensloos eines Miffethäters eingeht: Dort hängt's in feinem
Blute vor euern Augen, und ruft: „Es ift voll bracht!“ Werft
bei dieſem Rure einen Blick in die Bücher der alten Propbeten zurıd,
und was ftellt ib euch dur? Gin unabiebbures Feld, über und über
mit entleeren Schalen, Hüllen und Gebiuien bedeckt. Die alten
Toren baben ibren Inbalt verleren. Der götliche Falier, den e
Burgen, durchotach ñe, um in das Reich der Wirklichk eit eimzuireten.
Ihr Inbalt zog in Jetu Fleiſch md Blut an; md io beſchräult ad
ibre ganze Bedeumng für uns binfert nur auf das Eine und, dej
fie Zeugniß geben, der gottlich verbeißene Meinias wi im Der Thu
gefemmen, und cin anderer nicht mehr zu erwarten. Alles, wetuh
das große Werf der Menienerlöiung bedingt mur, bunte in dem
Memente, Di fein: „Es if vollbracht!“ daber Hama, ſeine Gr
ledigung gefunden bis auf Eins, Das aber bei jenem Rufe in de
Idee ſchon vorausgenommen und mi eingerechnet wurde, weil cd u=
ausbleiblich bereritand, ja unmintelbur durauf, das Gum zum Ab
ſchluß bringend, wirklich erfolgte.
Dietes Eine wur das Ungebeuerite von Allem. Tasjenige mu
es, mad am llmreidenngien Zengniß gibt, daß Jeins wide für die
ciane Perien, iendern itellvertretend für uns am Aireme biz. Es
wur tein Tod. Tie Geſetze der Ranır durchfreusse es, u cu gri⸗
ner, durch und durch geiunder, und im Beden der Grigkeu wur:
zelnder Baum, unter den Streichen des „legten Armes“ dabiniaul
und rich verbluten mußte. Es widerũurin der Reichserdumg Geues,
daß cm Mann, der mit Adam nidi die verbetene Frucht geleüe
batte. dennod dem Urtbeil wre: Secdes Tages Mu von dieſen
Baume inet, wirt di des Tedes tern!‘ Es lief ſcnurũrtade ten
anzandehıren (Krusdrafieı des Seiisisuze cErgtaca, Tu cinca
Gerechtenr cin Tridut abgeferdert zurde. Der dert ausdrücklich aa
„Seid der Sünde‘ dezeihnet mut. Es Siderirtag der marınf:
tihen Werseigung des Werbäbrten: „Idie Qua, 10 zur Duicben,‘
daß Giner. der ur uhr en Zırtican des acid Gebets une:
mar bester Ü$ urüftieh, nidit lebte, ſendera Tard. Ju wicder⸗
deuen Raten dertete Er td az, das das auserieme Schg der
Sterdlidteu Secine Rerſen. Koch a md fr nk betracer,
fine Kinn ur Wr das Niiuziele Ind Er es aus, NR
Wim, auch zit der Vater u Himd, dus Yon vom ihm
uchere, „ii are es derrn von Va fünt.“ Admuk! Ns Ted
zure fer Zhrea ei Wmitige u Ya Grant’oie erihunet
te Iriaumgen ſetae Zuujee Durbbanien, uud ale Zugumgen des
—
Es ift vollbracht! 651
goͤttlichen Regiments entkräftet und aufgehoben haben, wäre es uns
nicht geſtattet, mit den Begriff deſſelben über die Grenzen eines ge-
wöhnlichen Sterbens, wie wir Alle e8 erfahren, hinauszugehen. Diefe
Erwägungen ſchon nöthigen uns vor allem Aufichluß, mit dem die
Schrift uns entgegentritt, das Sterben Jefu als ein Sterben außer-
ordentlicher, ja einziger Gattung aufzufaffen. Und freilich iſt's ein
Faktum, das in der Gefchichte alleine dafteht, und dem fein andres
zu vergleichen if. Er, der nach göttlichem Rechte für feine Perfon
mit dem Zode nichts zu fehaffen hatte, nahm denfelben dennoch als
den legten bittern Tropfen des Fluchkelchs in freiefter Hingebung an
unjrer Stelle hin. Schenft diefer Sache Glauben oder laffet e8;
die Schrift bezeugt fie mit vielen und ftarfen Worten ganz ausdrüd-
ih. Sie fagt unter Anderm, „aus Gottes Gnade,” (alſo nicht in
Folge einer Naturnothwendigfeit,) „babe Chriſtus den Tod geſchmeckt;“
fie fagt: „was Er geftorben fei, das fei Er der Sünde geſtorben.“
Und wenn fie fpridt: „Iſt Einer ftatt Aller geftorben, fo find fie
Alle geftorben,” fo bezeichnet fie damit das Stellvertretende feines
Zodes fo unzweideutig, Daß ich nicht wüßte, wie es unzweideutiger
bezeugt werden könnte. Zahlte Er aber fterbend für und der Sünde
Sold, fo konnte fein Zod natürlich nicht fein eine Himmelfahrt Elia,
noch ein heiteres Segelftreichen, wie das des alten Simeon, noch der
jubelnde Triumphzug eines Stephanus, noch der Friedensheimgung eines
Sohannes, nody ein Entichlafen, wie ed gegenwärtig Zaufenden von
Gläubigen gewährt wird: unter offnem Himmel, und mit Jubeln der
Erlöfung auf der Lippe. Nein, dann erforderte e8 eine ewige Ordnung,
dag Er, foweit ed möglich war, den Streichen des noch nicht ent-
waffneten Schredensföniges erlag, und den Fluchtod ſchmeckte, der
wicht am Herzen Gottes, fondern in der Gottverlafjenheit, und, wie
unter den Schrebildern der Sünde und des Gerichts, fo unter den
Feuerpfeilen der finftern Mächte geitorben wird. Und unter folchen
Scauern neigt Er ja auch fein Haupt. Beachtet das andauernde
Schweigen über Ihm in der Höhe, die bedenkflihe Zurüdhaltung al
ler bimmlifchen Mächte, die dreiftündige Finſterniß um ihn ber, die
Berhöhnungen und Läfterungen, die Ihn umgellen! Zürwahr! in Die:
fem Allem gewahrt ihr fein erquidlih Bild des Zuftandes, in wel-
hem Er in das dunkle Zodesthal hinabiteigt. Nein, Er ftirbt nicht
auf dem fanften Pfühle einer vorausgenommenen Geligfeit, wie jeßt
auf Seine Koften unzühlige der ärmſten Sünder fterben. Nichts⸗
652 Das Merheiſigte
deñoweniger ſtirbt Er in der Krone des Zrinmpbs. Gerade in
dem Momente, da das Henn ibm brad, trat tem „Es ik voll:
bracht!“ erit in Die gume Fülle ieiner Pedentung em Rem mu
Er mir ieiner Erlöierarbeit beim Ziele der ſchließlichen Bellendun
angelangt. In den Himmel Hang binein, das „Es it voll⸗
bracht!“ und weite das nie mebr verilimmende „Hallelnja dem
Lamme.” Die Hölle durchſcholls wie Donner Gettes, und rerfündet:
ihr Das Ende ihrer Herribaft. Auf Erden aber idhlägt bis ur Stunde
ein jeligerer Laut nicht an dus Chr der Sünder, als Meies „Es ik
vollkradt!” As der Poiumenitch des großen Halljabrs tiufs
daber, und it Me Preoflamation ımirer ewigen Errettung.
9.
Ja, Brüder, uns it gebolien. Ken Grund zur Sorge mehr,
außer für den, der fen Sünder jen mag, und, in Deu Phari⸗
jüermubn, ſich felbit genug zu fein, verrunnt, dem Schmerzensmam
am Kreuze den Rüden kehrt. Zind wir aber andem Simes, md
haben, der Wabrbeit die Ehre gebend, uns ielbit gerichtet vor dem
Herm, dann kommt! Iept feine Umwege mebr! Kein vergebliches
Bemüben, uns jelbit zu beifen! Kein fruchtleies Zufluchtuchmen zu
den mafjerleeren Brunnen diefer Welt, mas immer fie für ſtelze
Namen tragen! Auf Golgatba tönt uns die Friedensglocke. O⸗
werden wir uns in itiller feliger eier bewußt, was dert and md
geworden it! Bir ſprechen: „Tief find wir verichuldet!* — „Nict
mebr!* — ruft eine Stimme. Wer ruft ſo? — ®ir bekennen: „De
Todes find wir ſchuldig!“ — „Nicht nıchr!* beigrs. — Von mama
tönt uns Dieier Ruf? — Wir räumen ein: „Der Fluch it unter
Theil!“ — „Nicht mebr!* — O, dieſer Laut, aus meilen Munde
gebt er? — Brüder, lauſcht nur genau; alle dieſe Klänge klingen mit
dem „Es iſt vollbracht!“ daber, deſſen Wiederball nie mehr ver:
ſtummen wird. Was vollbrachte Er aber dert, der göttliche Friedens⸗
fürſt, als dag Er unire Schuld bezablte, ven Dem Fluche fich zer:
ichmettern ließ, der uns gebührte, und unierm Tode ſich als Beute
preisgab? Hat Er aber unjre Rechnung vor Gort berichtigt, mic
könnte Der Allgerechte in der Höbe eine bezahlte Schuld zum zeiten
Male fordern? Kennt ihr nicht des Ancitels Verfiberung, daß „nichts
Berdummliches mebr jei an denen, die in Chriſto Iein find?’ Geben
wir uns Ihm nur mit ganzem Herzen bin, und weder Die Menge,
noch die Schwere unſrer Sünden darf uns mehr erichreden. Zein
—N
@s if vollbracht! 653
gebrochenes Auge, fein erblaßtes Haupt, feine Durchgrabenen Hände
und Füße legen’8 uns fogar als eine Verpflichtung auf, daß wir
zu Seine Namens Berherrlihung nicht allein dem Verkläger aus der
Hölle und dem Richter in der eigenen Bruft, fondern felbit Mofi,
dem Sachwalter der ewigen Gerechtigkeit, mit der apoftolifchen Lofung
enigegentreten: „Wer will verdammen? Hie ift Chriſtus,
der geftorben iſt!“ Welche unſchätzbare Frucht alſo, die und das
Kreuzesholz getragen hat! — Doch wir geben uns auf’8 nene ernftem
Befinnen hin. „Ward die Strafe uns auch erlaffen”, folgern wir,
„ſo bleiben wir nad) wie vor doch fündig vor dem heiligen Gott!”
— „Ihr waret es!“ — ruft eine Stimme Wer ſpricht fo füße
Worte? — Wir fahren fort: „Wurden wir auch Gegenftände qroß-
müthigen göttlichen Berzeihens, fo find wir doch des Kindesrechts
bei Ihm verluſtig!“ — „Ihr waret e8!” — O hört! woher Diefe
föftliche Botfchaft? — Wir wiederholen: „Um Ehrifti willen dürfen
wir bei Gott auf Schonung rechnen; aber perfönlich unrein, wie
wir noch immer find, fönnen wir doch nicht anders, als mißfällig
fein in Gottes Augen?” — „Ihr waret es!“ — Wer verkündet
dies? — D Brüder, feid ihr denn im Stande, ed zu überhören, daß
auch dieſes tröftliche ‚Ihr waret es!“ duch das eine Wort: „Es
ift vollbracht! euh antönt? Was Er fterbend vollbracdhte, war
nicht blos das Werk der Genugthuung, durch welches er uns den
Fluch vom Haupte nahm; fondern zugleich fein ftellvertretendes Ge⸗
horchen, welches hinfort als „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt,”
feinen Gläubigen zugerechnet wird, Mit dem „Hinweg von mir, Ver⸗
fluchter!“ iſt zugleich das: „Gewogen und zu leicht befunden!” von
unfrer Band getilgt; und wir lefen jebt ftatt deſſen die große In⸗
ſchrift: „Ihr feid abgewafchen, ihr feid geheiliget, ihr feid gerecht
geworden durch den Namen des Herm Jeſu!“ Und daß wir ſolches
find, wird uns thatfächlich dadurch befiegelt, daß Gott fih nun in
Liebe zu uns nieder neigt, feinen Geift uns einhaucht, an Gängel⸗
banden der Gnade und Leutfeligfeit und führt, und, fobald wir unfern
‚Lauf vollendet, die Pforten feines himmlifchen Vaterhauſes vor ung
aufthut. Diefe Thatfache aber, DaB Verdammliche vor Gott wie Hei⸗
lige gehalten werden, ohne daß dadurd der Heiligfeit, Gerechtigkeit
und Wahrheit Gottes irgend ein Abbruch gefchieht, bezeichnet euch
dasjenige, was der Dulder an feinem Kreuz zu Stand und Wefen
brachte. Schon der 22. Pfalm bezeugt's, daß dies die Frucht feines
654 Das Allerheiligſte.
Todes fein witrde, indem er in feinem Schlußverfe fagt: „Sie werden
fommen und feine Gerechtigkeit predigen dem Bolf, das geboren wird,
daß Er es gethan (oder wohlgemacht) hat.” Wie berechtigt und
tiefgegründet erfeheint fomit der Siegesruf: „Es ift vollbradt!“
mit dem der Herr nach gethaner Arbeit fein Haupt zur Ruhe neigt.
Nach diefen Erörterungen werdet ihr nım auch das räthfelhafte Wort
Hebräer 10, 14 euch zu deuten wiffen: „Mit einem Opfer hat
Er für immer vollendet (oder zum Ziel geführt) Alle, Die da
geheiliget werden.” Ja, durd die eine That feiner Hinopfrung
legte Er für Alle, die an Ihn glauben, dergeftalt den Grund ihrer
Rechtfertigung, Heiligung und Erlöfung, Daß fie fi der erfteren
unbedenklich fchon jeßt als einer vollendeten Thatfache erfreuen dürfen;
daß fie die andre zwar erft als Keim, aber al8 einen ſolchen in
fih tragen, der mit innerer Nothwendigfeit einer vollftändigen zu
fünftigen Entfaltung ſich entgegendrängt; und daß ihnen Die Dritte
ebenfo gewiß und ficher in Ausficht fteht, als Chriftus, ihr Vertreter,
das herrliche Erbe des Himmeld in ihrem Namen bereits in Befig
genommen bat. Der Fähigkeit, der Anlage und den innerften
Grundzügen nad ift fomit in jedem Gläubigen wirflich der ideale
Menſch, der Menſch der zukünftigen verflärten Welt, bereits gefchaf
fen und Gott dargeftellt. Ja, ein Schöpferaft, ein geiftlicher nur,
vollzog fih am Kreuze. Wenn das Neue, das Dort gefchaffen wurde,
einft zu feiner vollendeten Entwicklung gediehen fein, und aller feiner
irdischen Hüllen und Schleier fi) wird entfleidet haben, Dann wird
erft die volle Wahrheit des Zriumphrufs: „Es iſt vollbracht!“
uns aufgehn, und die ganze Größe feiner Bedeutung fich uns entfies
geln.
3.
Denn ihr müßt wiſſen: nicht auf den einzelnen Sundern blog, de:
nen Er zur Rückkehr in ihren paradiefifchen Urſtand die blutbenetzte
Brüde baute, fondern auf der Welt als Ganzem ruhte Das Auge
des Gefrenzigten, ald Er das erhabene „Es ift vollbracht!” de
herrief. Hatte Er in dieſem Momente allen Suchen und Sehnen
der Welt die überfchwänglichfte Befriedigung befchafft, und ihrem
höchſten Ahnen und Begehren, wie e8 feit Zahrtaufenden in geheims
nißvollen Bräuchen und Gottesdienften, oder in Sagen, Liedern und
Bildungen einer weltverflärenden Kunſt fi) ausgefprochen hatte, zur
herrlichften Verwirklichung geholfen; fo nannte Er jeht Die ganze Erde
Es iſt vollbracht! 655
mit vollem Rechte fein. Er hatte den Bann, der auf ihr lag, gelöft,
der Fluch verhängenden Gerechtigkeit fie abgerungen, ımd die vermiü-
ftete, Die der Sünde halber durch göttlichen Richterfpruch den finftern
Mächten verfallen war, den letztern entriffen, und ſich felber fie er-
obert, um fie zum Schauplaß feines Königreidh8 zu weihen. Hinfort
gibt's nichts Unbegründeteres mehr, als die Beforgniß, daß die Erde
je wieder in bleibender Weife zu einem Krongut des „Fürften diefer
Welt”, oder zu einem Wüſt und Xeer der Barbarei und Sünde wer:
den könne. Chriſti Blut beanfprucht ihre Verwandlung zu einem Wohn:
fig der Gerechtigkeit, ihre Wiederverjüngung zu einem Paradiefe, ihre
erneuerte Verfchmelzung mit dem Himmel; und der ewige Water, der
feierlich feinem Sohne zugefchworen: „Heiſche von mir, fo will Ich
Dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigenthum,“
wird die Forderung des Blutes feines Eingeborenen nicht überhören.
Was auh an Wirren und Schreden über unfre Erde noch ergehen
mag: ihre Zukunft ift gefichert. Am Kreuz wurde. der Grund ihrer
unausbleiblichen Verklärung und Verherrlichung gelegt, und dem heit.
Geiſte ward der Auftrag, nicht zu ruhen, bis auf Koften Immanuels
das große Werf jener Neufchöpfung vollendet fei. Das Modell, das
er zu verwirklichen bat, ift längſt ihm eingehändigt. Gelüftet euch
nad einem Einblid in das himmliſche Programm, das ihn zur Richt:
fehnur feines Wirkens und Waltens dienen foll, fo kann euch diefer
Wunſch gewähret werden. Der Prophet Jeſaias u. a. rollt e8 im
Namen Gottes im 65. Kapitel feiner Weiffagungen vor euch auf,
und es lautet dafelbft vom 17. Berfe an aljo: „Denn fiehe, ich
will einen neuen Himmel und eine neue Erde ſchaffen, Daß man der
vorigen nicht mehr gedenfen wird, noch zu Herzen nehmen. Sondern
fie werden fich ewiglich freuen und fröhlich fein über dem, Das ich
fchaffe. Denn fiehe, ich will Jeruſalem fchaffen zur Wonne, und ihr
Volk zur Freude, Und ich will fröhlich fein über Jerufalem und
mich freuen über mein Volf, und foll nicht mehr darinnen gehöret
werden die Stimme des Weinens, noch die Etimme des Klagens.
Es follen nicht mehr da fein Kinder, Die ihre Tage nicht erreichen,
noch Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen. Sie werden Häufer bauen
und bewohnen; fle werden Weinberge pflanzen und derfelbigen Früchte
effen. Sie follen nicht bauen, das ein Andrer bewohne, und nicht
pflanzen, das ein Andrer effe. Denn die Tage meines Volks werden
fein, wie die Tage eines Baumes (immer grün und bfühend; und
656 Das Mlierheiligfe.
das Werk ihrer Hände wird alt werden bei meinen Auserwäblten.
Sie follen nicht umfonft arbeiten, noch ungeitige Geburt gebären,
denn fie find der Same der Gejegneten des Herm, und ihre Rad
fommen mit ihnen. Und ſoll gefchehen, ehe fie rufen, will ich ant-
worten; wenn fie noch reden, will ich hoͤren. Wolf und Lamm jollen
weiden zugleich; der Löwe wird Stroh effen wie ein Rind, und bie
Schlange Staub. Sie werden nicht ſchaden noch verderben auf mei-
nem ganzen heiligen Berge, fpricht der Herr!’ —
Brüder, wenn dieſes herrliche Bild wird LXeben und Weſen gewor—⸗
den fein, dann werden wir erjt recht inne werden, in welchem groß⸗
artigen und umfaffenden Sinne der jterbende Mittler fein: „Es if
vollbracht!” daherrief. Jene ganze Fülle der Erlöfung und Verklaͤ⸗
rung hatte er in dem Momente, da der große Ruf ericholl, erftritten;
und die neue Welt war in allen Vorbedingungen ihrer Verwirklichung
ſchon fertig.
Heben wir fie denn, die Schäße des Troftes und der Hoffnung, die
in dem „Es ift vollbracht!“ für uns verborgen liegen! Schaaren
wir, an unjre Bruft fchlagend, uns enger um das Kreuz, umd fchöpfen
aus dem Tode des Mittlers zugleich mit dem feligen Bewußtfein unſter
Entfündigung: Luft, Muth und Kraft, fortan nur Ihm zu leben, der
mit jo theuerm Löſegeld uns erfaufte. Begehren wir aber ſchon jebt
zu Schauen, was Gr aus und armen Ndamskindern durch fein Opfer
gemacht hat, fo werfen wir nur einen Blick in die triumphirende
Gemeinde droben! Sehet, dieſe vollendeten Gerechten dort waren
Leute einft, wie wir. Inter ihnen ift der Schächer, der Zöllner,
Magdalene, Zahäus, und weldye armen Sünder und Sünderinnen
ſonſt. Wer kennt fie wieder, die Verklärten, in ihren leuchtenden Ge:
wändern und unverwelflichen Lebensfronen an Gottes Thron? Wollt
ihr aber wiffen, wie fie zu diefer Herrlichkeit gelangten, jo lauſcht
der Offenbarung. „Sie haben“, bezeugt diefelbe, „ihre Kleider
gewaſchen und helle gemadht in Blute des Lammes.’ Seht,
Freunde, Dies ift Das ganze Geheimnig. In jenen Seligen bat das
„Es ift vollbracht!” gleichlam Geftalt gewonnen. Sie enthüllen
uns erft Die ganze Größe dieſes Worte. Sie bilden deffen lebendige
und veranjchaufichende Deutung. Ihnen nah! &8 geleitet uns fein
andres Banner zur Gottesftadt, als das des Kreuzes. Schließen wir
uns dem Wanderzuge an, der diefer Oriflamme folgt; und das voll
Bater, in Deine Hände! 657:
tönende Echo, das dem „Es ift vollbradt!” aus der Ziefe unfrer
Herzen entgegenfchalle, Taute- heute, morgen, und fonderlich in unfrer
legten Stunde: „Wer will verdammen? Hie ift Chriftus!” —
„Es iſt vollbracht!“ — Ihr meine Sünden
Berdammet nun mein Herz nicht mehr!
Bom Himmel ber hör’ ich verfünden:
Das Blut des Sohn's erlangt Gehör;
Am Kreuz hat's Frieden und gemacht. —
O füßed Wort: „Es ift vollbragt!« — Amen. —
— —
LV.
Vater, in Deine Hände!
An das Sterbebette des Sohnes Gotted ruft uns der feierliche
Glockenklang des heutigen Tages. Gottlob! es ift das Sterbebett
zugleich unfrer Sünde, unfres Fluchs und unfres Todes, „Es fei
ferne von mir, mich zu rühmen,“ fpricht der Apoftel Sal. 6, 4, „denn
allein des Kreuzes unfres Herm Jeſu Chriſti!“ Wir, die wir glau-
ben, ftimmen in diefe Worte ein, und fprechen mit dem Dichter:
Dein Kreuzeöholz, Herr Jeſu Chrift,
Mein's Herzens Welt und Wohnplag iſt!
Kein fhön’res Zeichen weiß ich mir,
Als dieſes blutige Panier.
Fragt man mich, wo mein Reichthum ſei,
Zum Kreuze weil’ ich froh und frei.
Mein Hort, mein’ Kron’, mein ganzer Stolz,
Mein Alles hängt an Deinem Holz!
Als der Erzvater Jakob feine Söhne, die zwölfe, um fein Sterbe-
bette verfammelt hatte, hörten fie ihn mit freudigem Angefichte jauch-
zen: „Herr, ich warte auf dein Heil!” Es war Das Heil, deſſen
blutige Saat wir heute auf Golgatha ftreuen fehen. Der alte Pa⸗
triarch grüßte daffelbe erſt aus weiter Ferne, und doch machte es
ihn ſchon zum Helden wider Satan, Tod und Hölle Als Jakob
fterbend feine beiden Enkel, die Söhne Joſephs, fegnete, legte er
ihnen die gefreuzten Hände auf das Haupt, und fprah: „Wer Je:
42
658 Dal Aerheitigfte.
manden fegnen will in Ifrael, der fage: Gott feße Dich wie Ephraim
und wie Manaffe!” So lebte ſchon die alte Kirche boffend und feb:
nend unter dem Kreuze, und dies je länger, je mehr, und mit um
fo larerem Bewußtfein, in je deutlicheren Zügen in Beiffagung und
Vorbild das Kreuz ihr vor die Blide trat. Der ganze Tempel mit
feinen Altären und biutbefprengten Gottesdienften nährte und beiebte
nur Die Ueberzeugung, daß „ohne Blutvergießen feine Vergebung ge:
ſchehe.“ Ja, das Kreuz ift der Pfeiler, auf dem das ganze Ehriften-
thum und alle Chriftenhoffnung ruht. Es ift der Baum des Lebens
inmitten des neuteftamentlichen Edengartens. Zwei Bermächtniffe der
Liebe wurden uns unmittelbar von der Hand des Herm hinterlaffen:
die Sacramente, Was zeichnete Er als Emblem in diefe beiden Dent:
male hinein? Nichts Anderes, als das Bild feines Kreuzes. Da:
durd) predigt Er's immer auf’s neue nahdrudsvoll und Jedermann
verftändfich: vom Kreuze fließe aller Segen. O, ergieße diefer Segen
fih denn auch in unfre Herzen, und ftröme er namentlich in reich:
fter Fülle denen zu, die heute im Genuſſe des heil. Abendmahles fo
recht umter das Kreuz zu treten gefonnen find!
Matth. 27, 50. Marc. 15, 37. Kur. 23, 46. Ich. 19, 30b-
Und Iefus fhrie abermal Taut und ſprach: Bater, ich befehle meinen Geift in
Deine Hände! — Und ald er das gefagt, neigete er das Haupt, übergab den Geifl
und verſchied.
„Umhüuͤll', o finitre Nacht, die Todeshoͤhe,
Daß Himmel nicht, noch Erd' und Hoͤll' ihn ſehe!
Sie trügen nicht den Anblick ſonder Gleichen:
Gott unter Leichen!“
Mit ſolcher Empfindung tritt ein gläubiger Sänger in dem Momente
an das Kreuz heran, in welchem auch wir demſelben heute nahen.
Das Unerhörte, Unglaubliche will geſchehen: Der Sohn der Ewigkeit,
das Leben ſelber, ſtirbt! Auf dieſer Thatſache ruht die ganze Kirche
als auf ihrem Grund⸗ und Angelſtein, und ohne fie gäbe es feine wirf:
lich vollbradıte Berföhnung; und weil folhe nicht, darum auch feine
zuverläffige Hoffiung für die Welt der Sünder, Die biblifche Theo—
logie will „nichts wiffen, als Jeſum Chriftum, und zwar den Ge
freuzigten.” Die Theologie des Himmels verräth ihren Kern und
Stem in ihrem ewigen Liede: „Das Lamm, das erwürget it, if
würdig!" Das Wahrzeichen des Chriſtenthums it das Kreuz, und
Bater, in Deine Hände! 659
roth Die Farbe des Banners Zions. Vom Blute, dus das Kreuz
gefärbt, zeugen die faframentlichen Stiftungen, die der Herr, wie
gejagt, auch als Ausdruck defien, worin feine ganze Sache wurzele,
der Kirche hinterließ; und das größefte und bedeutungsvollfte aller
Seite, das zeit, das unzählige Gedächtnißtage weltgefchichtlicher Er-
eigniffe bereits überlebt hat, und alle überleben wird, ift der Char:
freitag.
Kommt, und fehen wir den Sohn des lebendigen Gottes fterben!
Sein Sterberuf, der fieben Kreuzesworte letztes, wird uns als Fadel
dienen, in deren Lichte wir fowohl das Wie, ald das Warum
feines Sterbens erfennen werden. Treten wir den Weg unfrer Be:
trachtung an unter dem Wiederhall des Versleins:
Jeſu, mein Erbarmer!
Ach, was war ich Armer,
Und was thatft du mir!
D, du blutige Riebe,
Alfe meine Triebe
Streden fih nad Dir.
Liebe, ftärler ald der Tod,
\ Liebe, ewig unermeflen,
Du bleibſt unvergeſſen!
1,
Ufo nah Golgatha zurüd! Herz, jammle dich zu andachtspoller
Stille! — Bir betreten ein Heiligthum. Gibt es überhaupt auf
Erden Ergreifenderes und Feierlicheres nichts, als eine Sterbe-
ftunde, in welcher Zeit und Ewigkeit einander begegnen, und in de-
ren lautlofem Schweigen gleichfam die Glodenfchläge der andern Welt
vernehmbar werden; wie muß erft in einem Sterbemomente uns ge-
fchehn, wie der, zu dem wir heute kommen, und in welchem, ihr
wißt, wer, fein Haupt neigt und verfcheidet! Die Augen emporge-
rihtet! O, welch’ ein Sterbelager, das man dem Sohn der Liebe
dort bereitet hat! Diefem Berfcheidenden trodnet Niemand den Schweiß
von feiner Stine; Niemand erquidt ihn mit dem Worte des Xebens;
Niemand fpricht den lebten Segen über ihn. Wer ging einfamer,
verlaffener und von tieferer Nacht umfchattet aus der Welt, als er?
Dennoch verjeht euch nicht an Ihm! Nicht eine Schlacht iſt's, in
der Er und begegnet, ſondern ein Opferaft. Er erliegt nicht dem
Tode, gleich wie wir, fondern Er weiht ſich ihm, nachdem er ihn zuvor
mit der Macht über fein Leben felbft belehnt bat.
42*
660 Des Merheiligte
Bas if der Tod? Seit Jabriauſenden, wie ibr wißt, ift das
finiiere, von allem Fleiſch gefürchtete Weſen, das jener Rame bezeich
net, in der Belt, ımd treibt in ihr ſein fchmerlices Zerftänungswert.
Keine Periönlichkeit id er; aber ein Geihid, ein Berhängniß. Tie
junge Schöpfung, wie fie aus der Hand Des Allmichtigen berrorging,
durchichritt Dieles Uingetbim noch nit. Dort mur noch Alles Leben
und Hurmenie, von emem Mißton, wie der Tod ut, mech nicht
durchgellt. Tas Düitere Phantom ſab wert nur gemalt im Die
Bet herein, und zwar ans Der göttlihen Drobung, Die am den
Genuß der verbotenen Frucht geknũpft ward. In Folge des Sünden⸗
falls betrar’s den Schauplatz der Wirklichkeit, um fertın Alles, was
Siem but, als Schredensfönig feinem graufigen Scepter zu unter:
werfen. Unſre eriten Eltern jabens an ibrem Liebling Abel zueri
feine Majeſtät und Macht entfalten. O, welch' ein Schreckensbild,
Defien fie Zeugen werden mußten! Ta lag er am Staube, der blü⸗
bende Jüngling. Der Stern ſeines Auges wur erloſchen, der freund:
fihe Mund verſtummt, und die Glieder lilienblaß, und eritarıt zu
faltem Marmor. Wie laut fie ibn beim Namen riefen, er jchlug die
Dlide nicht mebr auf. Wie thränenreich fie ibn beichwuren, daß a
fie nur einmal noch ſeine Stimme bören laften wolle: er ichwieg, und
die Zübrenftröme ihrer Zärtlichkeit, in denen fie ibn badeten, brachten
feine ftodenden Pulſe nicht mebr in Bewegung. Und ebe fie ſichs
verfaben, mas ereignete fih Da? Mit bleiemem Gewicht und tau-
fend Schauern lagerte ih die Verweſung über den Erblichenen
ber, und die armen Eltern mußten trog aller ihrer Liebe mit Grauien
das Antlig von ibm wenden, und fi beeilen, ihren Augapfel als
eine Speije der Würmer unter die Scholle zu verſcharren. Da mußten
fie denn, wenn auch nur theilweiſe erit, was der Name Tod bedeute.
Bon jenem Momente an fübrte nım der Ted jein Schredensregiment
auf Erden fort, träufelte in jeden Freudenbecher feine Galle, umwob
jedes Verhältniß der Liebe mit dem Trauerflor der gewiſſen Ausficht,
daß auch ihm beute oder morgen die Stunde der Auflöfung und Jer—⸗
trennung ichlagen werde, und überbreitete die ganze Natur, auch du,
mo fie am lieblichiten blübte, mit einem ichwarzen Leichentuche. Und
wie er Jahrtaufende hindurch getban, jo thut er beute noch. Wer
aber das Ungeheure erft gunz erfannte, binter feiner Außenjeite auch
feiner verborgenen Schauer fih bewußt ward, und erfuhr, Daß die
Zrennung Leibes und der Seele, die er vollzieht, jo wie die Verfen:
Bater, in Deine Hände! 661
fung des erftern in das Reich der Verweſung nur erft das mildefte
feiner Gefchäfte fei, indem er als Gerichtöbote Gottes zugleich den
Auftrag habe, die Sünder der Hölle zu überliefern: Der wird vol-
lends mit Sirach ſprechen: „DO Tod! Wie bitter bift du!“ — Aber
freilich wird er auch um fo lauter aufjauchzen, wenn er vernimmt,
daß Einer da fei, der von fich bezeugen dürfe: „Sch habe Die
Schlüffel der Hölle und des Todes!" „Und ein Solder
eriftirte?" — Ja, Freunde; ihr ſchaut Ihm heute in's blutige An-
gefiht! —
Nur Sündern liegt die Zahlung des „Sündenfoldes“ ob.
Der „Heilige Iſraels“ und der Tod hatten mit einander nichts
gemein. Was erleben wir dDemohnerachtet heute auf der Schädelftätte?
— Ja, was? — Etwa einen lleberfall, einen Sieg und Triumph
des Todes? Das fei ferne! Nedensarten, wie Die: „Der Tod
nahete Jeſu,“ oder: „Der Zod befchlih ihn," oder: „Jeſus fiel
dem Tode anheim“, gehen den Irrgang, wenn fie bei Seinem Kreuz
verfauten wollen. Schauet auf! Nachdem Er fo eben das große
Siegeswort: „Es ift vollbracht!” dahergerufen, bewegt er auf’s
neue feine Lippen, und will reden, Was wird erfolgen! Ein weh-
müthiges: „So lebt nun wohl?" in Plagendes: „Ich muß nun
von binnen?“ Ein fehmerzlich Tifpelndes: „Meine Sinne ſchwinden
mir; ich erliege, und gehe den Weg alles Fleiſches?“ O, nicht doch!
Hört Ihn! Mit großer, lauter Stimme, und der Gewalt und Bes
tonung eines Mannes, der nicht aus Schwäche ftirbt, noch fterbend
einer „traurigen Nothwendigkeit” den abgedrungenen Tribut zahlt,
fondern der ein Herr ift über den Zod, aber in freier Selbftbeitim-
mung fi) dem Tode weiht, ruft Er, — und das Getöfe brecyender
Felſen, ftürzender Hügel und zerfpringender Grabeszwinger begleitet
feinen Ruf — : „Vater, in Deine Hände befehle ih meinen
Geiſt!“ und nach diefem Worte fenft Er, felbftthätig, wie ein Ar-
beiter nad) vollbruchtem Werk, das bfutige Haupt zur Ruhe auf feine
Bruſt herab, und „übergibt feinen Geiſt“, wie Johannes ſich aus-
drüdt. — „Wie, fo wäre Er jeßt wirflih todt?" — Er iſt's; jedoch
aus eigenem Entſchluß. Frei ward Er des Todes Beute. „Uber
das muß ja Großes bedeuten, und Größeres noch zur Folge has
ben?” — Wohl, Freunde, hat es das! — Bevor wir aber davon
handeln, laßt uns noch einige Augenblide in das Scheidewort des
erhabenen Dulders und vertiefen.
662 Des Aberheiligie.
„Bater”, beginnt Er. So bu Gr alſo mn femem Rewuntiein,
wenn auch nur in dem des Glaubens er, den Bater wieder. Dus
erite Bert, dus wir auf Erden überbaupt aus ſeinem Munde wer:
nabmen, war der Vatername: umd dieier Name ift auch fein legtes
Um ieinen bimmliſchen Vater bewegte ih all’ ſein Tichten und Deufen,
Zrachten und Begehren. Des Baters Willen zu vollbringen war feine
Speile und tein Tranf; die Liebe Des Buters eine WBonne un
Seligkeit: und die Biedervereinigung mit Ibm die Epige all ſeines
Hoffens und Verlangens. Mit dem Herolds- und -Ueberwinderraie:
„Es iſt vollbracht!“ wandte er fich noch einmal au die Belt
Es wur ſein Lebewohl an ſie, ein Lebewobl, wie es dem Pefieger
des Todes, Dem FZüriten des Lebens, dem Könige und Gebieter über
Alles, anſtand. Von du an zeg er fib gay m das Verbältmiß zu
jeinem Gotte zurück, und febrte nur Ibm noch jein Antlig zu. —
„Vater“! — Ja, Ruf wiedergemomener ſtarker Sohneszuverjficht
war Diejer Laut; nicht aber ſchon Ruf eines völligen Jurrubegefem-
menjeins an der Bruit Des Vaters. Immer baben wir aud noch das
„Bater, in Teine Hinde” als den Kampfesichrei eines ih
durchichlagenden Streiters aufzufafſen. Tie Hölle, die Ihn umtohte,
gab ihre Sache noch nicht verloren, ſondern fubr in aller Weiſe fert,
Ihn anzufechten und mit wüſten Schredensbildern Ibn zu ängſtigen:
und die Zodesfataftrenbe ſelbſt foitete Ihm, der das Leben wır,
feine geringe Ueberwindung. Wir haben uns Demnach den Sterbens:
ruf Jeſu allerdings als Den eines ſchwer Bedrängten vorzuftellen, der
jeine Seele in ein ſicheres Anl zu beraen ringt, und fie aus grauſi—
gem Gedrange in Die Hunde Des Allmächtigen flüchtet. Freilich
geichiebt Diele Zufluchmahme mit dein Arieden einer vollendeten Sie
gesgewißheit. Auch nicht von ferne fonmt Ibm der Sedunfe, daß
der Zod etwas mehr fein fönne, ala eine Verſetzung des perfönlichen
Geiſtes in eine andre Lebensipbäre. Leber die arme Menichenfraue:
„Sein oder nicht fein?” it Gr himmelhoch erbaben. GT weiß, daß Gr
nur entichlummere, un alſobald am «Herzen Gottes wieder zu erwachen:
und in dieſem Bewußtſein, in welchem Er die Arme des Vaters zu
feinem Empfange ſchon liebend ausgebreitet fiebt, ruft Gr: „In
Deine Hände, Vater, befceble ib meinen Geiſt!“ Great
nimmt dieſe Worte bekanntlich dem 31. Pialm; nur daß Er denielben
dur das vorausgeiandte „Vater“ die Seiner Stellung und
Würde angemeſſene Zorn gibt, und die im Pſalme unmittelbar fol-
—n
Bater, in Deine Hände! 663
genden Worte: „Denn du, Herr, haft mich erlöfet”, als Ihm, der
ja eben felbft ald der Erlöſer der Welt am Kreuze hing, wicht
geziemend, wegläßt. Wie bedeutfam aber ift es wieder, daß Er
mit einem Schriftſpruche die Welt verließ! Ganz war Er mit
Gottes Wort getränkt, und gibt uns ſterbend noch einen Wink, mit
was aud wir unfern inwendigen Menfchen zu nähren haben,
Sein legter Ruf ift erfchollen. Da neigt Er nach wohlvollbrachtem
Werk fein Haupt, und — das Unerhörtefte ift gefhehn! Der Sohn
des lebendigen Gottes erblaßte im Tode! Wir ftehn bewegt, erftaunt,
in Anbetung verfunfen; und was bleibt und übrig, als in den Her⸗
zenserguß feiner Gemeine einzuftimmen :
„Tauſend Danf, du unfer treues Herze!
Leib und Geift bet’t drüber an,
Daß du unter Martern, Angft und Schmerze
Haft genug für und gethan!
Auf dein Kreuz laß mih nun glänbig fehen,
Und dein Marterbild ftetd vor mir ſtehen;
Sp geht mir bis in mein Grab
Nichts an Seligleiten ab!“
Wo war der Herr nad feinem Verſcheiden? Wo anders, als
wohin fein Dürften und Schnen gegangen war: in den Händen feines
Vaters! Der Himmel feierte feinen Triumph; die Alkorde der En-
gelharfen umraufchten Ihn; Die vollendeten Gerechten am Thron
jauchzten ihre buldigenden Willlommsgrüße Ihm entgegen, und das
neue Lied nahm feinen Anfang: „Du bift würdig zu nehmen das
Buch, und aufzuthun feine fieben Siegel; denn du bift erwürget, und
haft ung Gott erfauft mit deinem Blut aus allerlei Gejchlecht, und
Zungen und Bolt und Heiden; und haft uns unferm Gott zu Kö-
nigen und Prieſtern gemacht, und wir werden Könige fein auf Erden!”
Nun aber iſt's unläugbar, daß geheimnißvolle Schriftiprüdhe darauf
deuten, es habe der Friedensfürſt, auch nachdem Er die irdiiche Hülle
abgelegt, feine Miffion noch feinesweges ſchließlich erfüllt gehabt. So
fagt u. a. Petrus in feiner erſten Epiftel, „Chriftus fei im Geift
(d.h. in feiner des Leibes entfleideten Berfönlichkeit) Hingegangen,
und habe geprediget den Geiftern im Gefängniß, Die
einftmals nit glaubten, da Gottes Langmuth harrte
zu den Zeiten Noä, als die Arche zugerüftet ward.” Und
vorzugsweife auf Diefe Stelle geitügt, bezeugt das apoftolifhe Glau⸗
bensbefenntniß eine unmittelbar nach dem Zode Chrifli eingetretene
664 Das Allerheiligke.
‚Niederfahrt zur Hölle” Die Deutung dieſes Ausfpruchs aber
erfordert große Vorſicht. Dasjenige, worauf Petrus binzielt, ge:
hört feinesweges mehr zur Erniedrigung des Herrn, gefchweige
zu feinem Berföhnerwerfe. Die genugthuende Vermittlung des
‚Bürgen war in dem Momente feines Sterbens ſchließlich voll:
bracht. Zrat Chriſtus nun in die Behaufungen jener abgefchiedenen
‚Geifter der Patriarchenwelt ein, fo gefchah dies, um denfelben, wie
das Wort im Grundtert e8 auch ausdrücklich ausſpricht, feinen
Sieg zu verfünden Ob es zugleich gefchehen ſei, ihnen auf's
neue Buße zu predigen, und den Glauben vorzuhalten, und Die
gläubig Gewordenen dann als lebendige Trophäen in den Himmel ein-
zuführen? — Man ift veranlaßt, e8 zu denken, wenn man Das andre
Wort des Apoftel (Cap. 4, 6) hinzunimmt: „Dazu ift auch Tod—
ten das Evangelium verfündigt, Daß fie zwar gerichtet
werden nah dem Menfhen am Zleifh, aber im Geifte
Gott Leben.” Jedenfalls aber haben wir uns zu befcheiden, mit
der Auslegung dieſer Stellen noch nicht beim Abfchluffe angelangt zu
fein; und fo bleibt vorläufig über dem Verweilen Ehrifti in der Zwi⸗
fhenzeit von dem Momente feines Todes bis zu demjenigen feiner
MWiedervereinigung mit dem Leibe, und über dem eigentlichen und
vollen Sinn der Worte: „Niedergefahren (oder: abgeftiegem) zur
Hölle,” noch ein Schleier des 2 eyeimutltes ruben.
Schleierlos dagegen jteht F Warum des Sterbens Chriſti
vor uns! Eine oberflächliche Betrachtung ſchon reicht hin, um dieſes
Warum mindeſtens der Ahnung nahe zu bringen. Höchſt auffallend
muß es zuerſt erſcheinen, daß ein Mann ſtirbt, der von ſich bezeugen
durfte: „Ich bin die Auferſtehung und das Leben,“ der am Grabe
eines Lazarus, an der Bahre eines Jünglingo von Nain, und bei dem
Todtenbette des Töchterleins Jairi thatſächlich beurkundete, daß Er
des Todes Meiſter ſei, und der nie eine Sünde beging, durch welche
er in Gemäßheit der im Paradieſe verkündeten Drohung das Leben
verwirkt hätte. Mehr noch überraſcht es, daß ein Individuum in Ihm
des Todes Beute wird, welches, weil nach ſeiner eignen Bezeugung
„Niemand das Leben von ihm nahm,“ nur zu wollen brauchte, um
ſolcher Kataſtrophe zu entgehn; und daß dieſer Mann unter Umftin-
den und Verhältniſſen verſcheidet, die eher einen von Gott und der
Welt verworfenen Uebelthäter und Rebellen, als einen Gerechten,
Bater, in Deine Hände! 665
ja einen Wohlthäter der Welt, in Ihm vermuthen laffen follten, Daß
Er aus freiem Entſchluſſe ftarb, ergibt fi) Jedem auf den er-
ſten Blick von felbft. Aber zu welchem Ende ftirbt Er diefen frei
gewählten Tod? Pielleicht, um uns ein Beifpiel heidenmüthigen Ab-
ſcheidens von der Welt zu geben? — O, nicht do! Wie entiprä-
he ſolchem Zwede doch fein Wort: „Ich muß mich noch mit einer
Taufe taufen laffen; und wie ift mir fo bange, bis fie vollzogen
werde“!? — Go denn etwa, um uns zu zeigen, daß Sterben eine
leichte Sache fei? — Ein Stephanus hat uns Dies allerdings
durd) feinen Heimgang gezeigt; aber au der Mann, den wir aus
dem Zodesthal heraus lagen, ja wimmern hören: „Mein Gott,
warum haft Du mich verlaſſen“? — Stirbt Er denn für das Wohl
feiner Nation? — Man pflegt wohl auch mit diefen Worten die Be-
deutung feines Sterbens zu bezeichnen; aber ohne felbft recht zu wifs
fen, was man damit fagen will; denn Chriſtus ftirbt ja weder in einer
Schlacht gegen Iſraels Feinde, noch bei einer Retterthat in brennender
Stadt oder verheerender Waffersfluth. — So ftirbt Er wohl, um feine
Lehre zu befiegeln? — Manche meinen’s. Aber welche feiner
Lehren hätte er am Kreuz befiegelt? Etwa diejenige, daß Gott mit
den Gerechten fei; oder die, daß „der Engel des Herrn um den fich
lagere, der Ihn fürchte; oder die, Daß „die Gottfeligfeit die Ver-
heißung auch ſchon Diefes Lebens” habe? Ich wüßte nicht, welchen
neuen Halt diefe Wahrheiten in dem DBerlaufe feines Berfcheidens
gefunden hätten. Eher jollte man meinen, darin Beläge für das
Gegentheil finden zu können. Ueberdies hatte ja aud Niemand jene
Wahrheiten angezweifelt, Daß fie einer erneuerten, thatfächlichen Be
ftätigung bedurft hätten. Wenn Chriftus etwas mit feinem Zode
befiegelte, fo war es das eidliche „Ja“, womit Er die Frage des
Hohenpriefters: „Bit du der Sohn des lebendigen Gottes’ beant-
wortet hatte. Ilm dieſes „Ja's“ willen fchlugen fie Ihn ans Kreuz.
Daß Er aber, treu feinem innerften Bewußtjein, bei demjelben feft
verharre, dies bezeugt er mit feinem blutigen Zode.
Freilich macht gerade der Umftand, dag Gr ald ein Solcher ftirbt,
das Myfterium feines Todes erſt vollfommen; aber die Siegel dieſes
Geheimniſſes find gelöft und feine Tiefen aufgedeckt. Männer, von
oben ber erleuchtet, ftehn bereit, jeden gewünfchten Auffchluß uns zu
gewähren. Aus den Zagen des alten wie des neuen Bundes treten
fie beim Kreuze zu uns heran, umd ihre Sprüche ergießen ſich wie
666 Des Auerbeiligue
Tempelleuchterllammen in das Dunkel der Schädelflätte. Giner der
goͤttlichen Herolde eröfmet ten Eber mit der Deyeugmg Ghriänd
babe „bezablen müjlen, mas er nicht geraubet habe!“ Gin Aundrer
mit: „Um unirer Mitetbaten willen ward Gr venmmla' Die
Strafe liegt auf Ibm, auf Daß wir Frieden hätten!“ Gin Driuer
„Ziebe, das it Gortes Lamm, das der Belt Simde trägt!“ Güs
Vierter: „Gott bat den, der von feiner Sunde wußte, für und zu
Zünde gemacht; und wiederm: „Ghrütus erlöjete uns vem Fludk
des Gelege, da Gr ward ein Fluch für uns: und wielerum: „Gbri:
fus bat euch veriöhnet mit dem Leibe ſeines Fleiſches durch Den Ted“
und abermls: „Mu einem Trier bu Er in Emigfeit vellendet.
die Da gebeiliger werden.” Und mir den Zeugninſen dieſer Botichafter
Grites vereinigen jüch Diejenigen Des Herrn ſelbit. So ſein Beau:
„ed Menſchen Sohn it gekommen, daß er ſein Lehen gebe zum Lie
geld für Viele; und dus audre: „Es ici rum, daß tus Beizeufenn
in die Erde falle und eriterbe, ion bleibt es allen; we es aber
eritirbt, bringt es viele Zrucdıt;” und uamentlid Das Wort der Rad
mablsitiftung von jeinem Leib und teinem Blute, gebtochen um ver:
geiien zur Vergebung Der Zimten. „3a“, böre id entgegnen, „mi
vernehmen dieſe Werte webl; aber fint nicht aud fie, die ums dat
Geheimnis deuten tellen, wieder ſelbũ Hierogiopben, weile int Gut:
sierung dürfen?” — Zie md, und allerdings bedarf zum zu
ihrem Beritindnine einer vorberacgangenen Beibe, die aber nicht
in Tenweln durch Zalbung und Sandaufdegen empfangen würd, iex
dern im Kämmericin unter Schmerzen und unter Thränen. Ernüchtert
aud euern Täuſchungen; tretet aus dem Jauberkreis der Lüge, in
welchen ibt gebannet ſeid, an das Licht der Vabrbeit beraus: mt
naddem ihr den Erigen erfannter in ſcinem Weien, di Heilig ut
der Herr Zehuerb“! im ganzen Umfang ſeines Sinnes veriiehen Lern:
tet, und einen Eindruck ron Der Majetär ſeines Geiches empfangen
habt, ergründer Me Nanır der Sünde, ermeñet, ın welchem MWape
dieſelde ein Gräuel tt vor Gou. mwägt dann cas icider auf der BVage.
mi Der cut Kon einũ wügen wird, und werdet mit curer Goucn
iremdung eu zuxierdt curer Wertebuuingd- und Erinnasbedüritiateit
berußt: und binnen Kurzem werdet ihr die eden vermemmimca Werte
mic Fackein ver eu enidiennen, WD die Baunae Xätbiciericheinuna
am Kreuze durbiitng, mie den Tag, ver aure Geiüerblufe era
ſchea. Idt aidum dann in dom Mann der Simmern den genug⸗
—
Bater, in Deine Hände! 667
thuenden Mittler zwifchen Gott und euch, und umfaßt frohlodend in
feinem Sterben das Opfer, das alle eure Schulden aufwog, und
euch in Ewigfeit vor Gott rechtfertigte,
„Bater, in deine Hände befehle ih meinen Geift!“
O, was Alles Tegte Er in feines Vaters Hände, als er Diefe Worte
dDaherrief! „Da Er vollendet war”, fpricht der Apoftel Hebr. 5, 9,
„iſt Er geworden Allen, die Ihm gehorfam find, eine Urfache der
ewigen Seligkeit.“ Er mußte alfo auch ſelbſt vollendet werden.
Als Gerehter mußte Ers durch Erfüllung des ganzen Gefehes ;
als Heiliger durch fiegreiche Ueberwindung jeglicher Verfuchung ;
als Bürge durch Zahlung aller unfrer Schulden, und als Mittler
und Berföhner durch erfchöpfende Leerung des uns zugemefjenen
ganzen Fluchkelchs. Nach allen dieſen Seiten hin aber war Er in
dem Momente vollendet, da Er verfchied; und fo legte Er in Die
Hände des Vaters mit feiner geiftigen Perjönlichkeit das Fundament
einer neuen Welt, ja, die erlöfete Sündergemeine felbit, als ein in
feinem Blut gereinigtes und nit feiner Gerechtigkeit geſchmücktes, den
Augen Gotted durchaus genehmes und wohlgefälliges Speifeopfer.
Sind wir dem Sohn der Liebe nun „gehorfam”, fo wiffen wir, wo
für alle erdenfbaren Fälle aud) uns die fichernde Freiftatt bereitet
ift. In welch’ Gedränge wir immer gerathen mögen: um Das Ver:
bleiben braudht ung feine Sorge mehr zu drüden. „Schrediich
iſtss“, Iefen wir Hebräer 10, 31, „in Die Hände des lebendigen
Gottes zu fallen!” Wir fagen: „Nicht fchredlih mehr; fondern
fauter Seligkeit!“ Verfolgt uns die Welt, ficht uns der Satan an,
fchrecft uns der Tod, vder was fonft und fchreden mag: wir rufen
beberzt, auf das bahnbrechende VBerdienft Immanuels uns jhügend:
„Bater in Deine Hände!” und find gewiß, Daß Diefes hohe
und erhabene Aſyl allaugenblicklich offen ftebe, uns bergend zu em:
pfangen. O, der unvergleichlichen Vorrechte, deren wir in Ehrifto
gewürdigt worden! Machen wir Gebrauch von ihnen! DBededen
wir die Züße defien, der fie uns erftritt, mit unfern Huldigungs-
füffen! Führen wir unjern Wandel friedſam in dei regenbogenfar-
benen Sonnenlichte der fteben Kreuzeöworte, und itimmen auch wir
die Saiten unfrer Herzensharfen zu dem glaubenswarmen Sunge des
innigften und tiefiten unfrer Kirchendichter:
„Was ſchadet mir des Todes Gift?
Dein Blut, das ift mein Leben:
Uxt werz ei Kırı:c Usgeiie
Bes Scuiten treibei zn zu ER,
Zı ki Ihurı meta Infer!
Barı ati ı6 Wi dveies cz
JIx beine Reieb Ätenter,
So tel dies Blin mein Spar fer,
36 mil berein m:& Nein:
66 jes iein meines Haxptes Kıem,
In weißer is will ver ten Ihrer
Des böhten Baters geben:
Ur? rır, em cr miG aumıtıen,
Als teine weligeihmüdie Drazt,
3x deinet Seite Ichen! — Immer —
LVI.
Die Zodesfeier.
„Ale eure Sorge wertet auf Ibn, denn er ſorget Tür euch!“
So leien wir 1 Petri Kar. 5, 8.7. Gin großes, bertliches Wert:
und welch ein bobes, ſeliges Vorrecht, Das es ımä wuerfennt! „Alle
uniere Sorge!“ Mic aud diejenige um unite ewigen Angelegen:
beiten! Oder fennt ihr eine Zorge dieſer Gattung nice? Tanſen⸗
den iſt ñe freilich eine fremde Zude. Wohl ſorgen ñe, und viel:
feiht Tag und Nacht: aber um mas, ala um ihr zeitliches Beiteben
und ihr ir diſches Bebagen. Und doch find auch fte zur Unñerblich⸗
feit geboren, und jagen, gleich uns, im Fluge der Ewigkeit zn, und
baben's auch einmal mit einem heiligen Gert, als dem Richter ihres
Lebens, zu tbun, und find, wie mir, Zünder, Die tes Rubms ver
Gert ermangeln. Aber bierüber find ihnen die Augen gebulten. O,
ſchauerliche Blindheit! Laßt mir den Troit, daß mwenigitens ibr von
derjelben genejen jeid, und zu dem lebendigen Bewußtjein eurer wahren
IN
Die Xobesfeier. 669
Berufung erwachtet. Gott ſchenkte uns die kurze Spanne zeitlichen
Dafeins vor Allem als Rüft- und Bereitungsfrift für das jenfeitige
Leben, zu welchem gefchaffen und verordnet zu fein unfern eigentlichen
Adel ausmacht, und unfern wefentlichiten Vorzug vor der vernunftlofen
Kreatur bezeichnet. Wiffet ihr aber, daß ihr das ewige Leben er:
erben werdet? Könnt ihr eurer legten Stunde getroft und wohlge-
muth entgegenfehn? Habt ihr Frieden, wenn ihr der Augen gedenfet,
die „Herz und Nieren prüfen” Vermögt ihr’s, wit freier, offner
Stim an den Spiegel des ewigen Gefeßes heranzutreten? — Ihr
blättert in dem Buche eurer vergangenen Tage; ihr fragt euer Ge
wiffen, und — verftummt. O, fühlt ihr’s, daß ihr ſchuldbeladen feid,
verzgagen müßt, wenn Gott den Maßftab feiner Forderungen an euch
legt, und nur das 2008 einer ewigen Verwerfung zu gemwärtigen habt,
falls einft nach Recht und Gerechtigfeit gerichtet wird? Heil euch,
wenn ihr's mit Angſt und Schreden fühlt! Ihr feid dann in den
Weg der Rettung eingetreten. Denn der erfte Schritt auf Diefen
Weg geichieht im Uebergange von der Lüge zum Licht der Wahrheit,
und vom Wahn der Selbftgerechtigkeit zum Selbftgeriht. —
Aber was beginnen, wenn ihr euch eures wahren Zuftandes bewußt
geworden? — Euch felber helfen? — In welcher Weife doch? —
Eure Schuld bezahlen? — Mit dem ewigen Tode nur wird fie
bezahlt! — Wieder gut machen, was ihr fehltet? — Gejchehenes macht
ihr nimmer ungefchehn! — In gottesdienftliche Zormen euer Leben
Fleiden? — Gott hat an übertünchten Gräbern fein Gefallen! —
Euch heiligen fortan? Die Seele aller gottgefälligen Heiligung ift
die Liebe; aber wie werdet ihr Den lieben Fönnen, den ihr fürchten
müßt? — An Gottes Erbatmung appelliren? Die göttliche Gerech⸗
tigkeit bindet der Barmherzigkeit die Hände! — Hier alfo füngt erft
recht die Sorge an. Aber wiffet, DaB uns das Privilegium erworben
ift, auch fie auf Gott zu werfen. „In der That?” fragt ihr freudig
überrafcht. Ja, Freunde! — Folgt mir im Geifte, und vernehmt,
wie uns heute der ewige Sabbath eingeläutet wird.
— —
Matth. 27, 51 —56. Marc. 15, 38 — 41. Suc. 23, 47 - 49.
Und ſlehe do, der Vorhang im Tempel zerriß mitten entzwei in zwei Stüde, von
oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felſen zerriffen, und bie
Gräber thaten fih auf, und ftanden auf viele Reiber der Heiligen, die da frhliefen,
und gingen aus den Gräbern nad feiner Auferſtehung, und famen in die heilige
670 Des Mirrheifigße.
StaN, und eribienen Vielen — Ter Hauptmann aber, der baberbamt, gegen ibn
über, und die bei ibm waren und bewabreten Iefum, ba Be fahen Dad Gräbeten,
und was da geihab, und daß er mit folbem Geſchrei verkbieb, erichraien He fehr.
and der Hanprmann preifete Geti und ipra: Wabrlich dieſer Merſch ik ein Ttemme
Menib und Grtted Sebn gemeien' Und alles Felt, das dabei wer
He ſahen, mus Da geſchab, ſchlagen au ihre Brut, unb menden wieder EM —
Es Handen aber alle feine Rerwandten von ferne, und viele Weiber, bie ba.
waren nadgerolget uns Galiläa, nnd harten ibm gerient, unter weldden war Paris
Magdalena, und Maria, tie Muner des Meinen Jakobi uud Joſes, une Saleme,
bie Mutter der Kinder Zebedäi, und viele andre, bie mit ibm hinanf gen Iernieica
gegangen waren, Die ſplcbhes Alles ſchaneten
Bir treñen beute auf der Schüdelitätte im dem großen Momente
wieder zuiammen, in melden der Mann der Schmerzen eben wit dem
ſiegsgewiſſen Landungsrufe: „Vater, in deine Hände hefeble ih
meinen Geiſt!“ iein Haupt zur Rube neigte und verſchied. Kaum
aber, daß Dies unerbörte Ereigniß eingetreten it, wechſelt Die Schauer
icme des Murterbügels. Tie Zurüdbaltung des Hüummels erreichte
ibr Ende. Tas: „Es it vollbracht!“ des iterbenden Mütlers
erbält Die alinzendite Beitätigumg; und an die Stelle des feindſeligen
Geninmels, das Ihn bisher umtohte, tritt eine erbebende, Den großen
Zodten verberrlichende Feier eines unvergleichlichen Zriunpbes. Wie
dieſe Feier von TC ben ber eingeläutet, md anf Erden be:
aangen wird, dies lei der doppelte Gegenitand unter beutigen
Betrachtimg.
Mögen unire einen Herzen in dieſe Feier mit eingehn, und der
Grundton der legter in ihnen nie mehr verflinzen !
: 1.
(Singeläuter wird die Feier. Wunder ſinds, in welde die
aörtliiben Glockenpulſe fich verfleiden. Folgt mir zuerſt m den Tem:
vel Jeruſalems. Ga it Drei Uhr Nachmittags, alle Die Srunde, un
der Die Gemeinde Iſtaels eben zum Abendovrer in den beifigen Nor:
böfen verlammelt it. Die Prieſter beainnen ihr gewobntes Werk.
Mus begibt ſich Da? In dem Momente, du Draußen auf Dem Gal:
varienhügel von Kreuze Gbrüti ber das „Buter, in Deine Hän—
de!’ ertönt, reipt im Tempel, — wer beidreibr die Beſtürzung der
Söhne Aarons? — ohne das eines Menſchen Hand ihn berübrt, der
Dichraewobene, ſchwere Vorbang vor dem Alerbeiltgiten, ven oben an,
bis unten aus, in wei Stücke mitten ennwei, und Der „Gnaden-
ſtubl“ mit Der Lade Des Zeugniſſes und den gelduen Cherubsgeſtalten,
—
”
Die Kobesfeier. 671
diefes Heiligthum, dem nur einmal im Jahre, und auch dann nicht
ohne Blut, dem Hohenpriefter allein fich zu nähern geflattet war, fleht
urplöglich bloß und enthüllt vor Jedermanns Blicken. Der allmäd)-
tige Gott war's, auf deffen Wink diefes Ereigniß eintrat. Ind was
war daſſelbe? Zuvörderſt eine erneuerte Kundgebung, Daß die Tempel⸗
bilder allerdings göttlich verordnete und prophetifch bedeutfame Hüllen
zukünftiger Heilsthatfachen geweien, nunmehr aber, nachdem die letztere
wirflich eingetreten, wie die Blüthe in der Zrucht, fo in dieſen
aufgehoben fein. Sodann eine fumbolifch veranfchaulichende Dar:
jtellung der unermeßlichen Segenswirkung, die jener blutige Tod im
Gefolge habe, dem eben auf der Höhe Golgatha's der Herr der Herrs
lichkeit fich mweihe. Das Allerheiligfte im Tempel war Schatte und
Typus des bimmlifchen Thronfaals, von welchem wir durch göttliches
Urtheil hinweggewiefen und ausgefchloffen waren. Was als Vor⸗
hang von demfelben und trennte, war unfer fündliches Fleiſch.
„Herr,“ hieß es bisher, „wer wird wohnen in deiner heiligen Hütte”
und die Antwort lautete: „Wer untadelig einhergeht!” Wer aber
durfte fich rühmen, ohne Tadel dazuftehn vor Gott? Da war „nicht,
der gerecht war, auch nicht Einer!’ — „Wer, hieß es, „ist unter
uns, der bei einem verzehrenden Feuer wohnen möge?” und der Bes
ſcheid darauf war wieder: „Wer in Gerechtigkeit wandelt!” Wem
aber blieb hier ein Andres übrig, als den Angſtſchrei des erfchrodenen
Propheten zu dem feinigen zu machen: „Wehe mir, ich vergehe; denn
id bin unreiner Lippen!“ Die Gerechtigkeit war verfcherzt, die Sin:
de herrſchte. — Urplöglich verfündet nun jenes Zeichen im Tempel,
daß jene unfre Stellung zu der Wohnung des Allerhöchiten eine
große und durchgreifende Beränderung erfahren habe. Und freilich
erfuhr fie eine ſolche. Was zum Heiligthume Gottes den Zugang
uns verfpertte, ward hinweggethan. Was fi zwiichen Ihm und
uns als Scheidewand erhub, ftürzte dahin. Keine Gefahr mehr droht
dem Eintretenden in die erhabene Behaufung, über deren Portal die
Inſchrift flammt: „Der Herr ift ferne von den Gottlofen!” Kein
Wagniß mehr its, in die Hände Deffen fich zu werfen, vor welchen
auch „die Engel nicht rein” find. Umklammre das Kreuz, und dann
fprich beherzt zu Mofe: „Zerreiße deinen Fluchbrief wider mich; denn
ich ſchulde Dir nichts mehr!” Glaube, und dann begegne dem höl⸗
fifchen Verfläger mit dem Zuruf: „Der Herr fehelte dich, du Satan;
ja, e8 ſchelte Dich der Herr, der Jeruſalem erwählet hat!” Ziehe an
672 Des erheilige.
den Herm Jeſum Chriſtum, und dann nur friih mir tindes werſicht
hinein in das große, lichte Haus du Droben, das Mir Tag uud Nach
binfert geöfmer ſteht! Waſche Deine Kleider im Mut des Yauımes,
und dann Dich aetreit mit deinem „Abu an des großen Buters
Herz geworfen, und Alles, was dir anliegt ımd Did drückt, Ibm in
den Schooß geihürtet! O, faſſe Den ieligen Gedanken, Den nab
Gottes Abit, und Dur jeine unvermütelte Veranftaltung, Der Riß
des TZempelvorbangs dir vor Augen malt! Ter Blutbräntigum bub
dir in deinem Zode die Pforten aller Hunmel aus Schloß md Au
gen! — Möchteit du aber noch fragen, ob wir wirklich auch bereis
tigt feien, jenem Riß im Heiligthume eine jo erquidlide Deutung zu
geben, io winſe, daß wirs vollfemmen find. Lied Hebr. 10, 19 23:
„Ze wir denn nun buben, meine Brüder, die Freudigfeit zum Gi
gang in dus Heiligthum durch das Blut Jeſu, welchen er uns geftiftet
bat zum neuen und lebendigen Wege, durch den Borbung, Tus if
durch fein Fleiſch; und haben einen Hobenpriefter über das Hans
Gottes: Ze lafler uns binzugebn, mit wabrbaftigem Herzen, in
volligem Glauben, durch der Herzen Beiprengung los vom boͤſen Ge:
wien, und gewaſchen am Leibe mir reinem Waſſer: und laflet uns
halten an dem Bekenntniß der Hofmung obne Wanken; denn er ik
treu, der fie verbeißen bat.” Halt Du vernommen? Der Zugang
zum Heiligtbum it uns eröfmer; der Weg ins Varerbaus wurd uns
gebabnt. — Durch wen? — Durch Jeſum Chriſtum. — In welcher
Weile? — Vermittelit eines Vorhangsriſſes. Dieſer Borbang mur
des großen Hobenprieiters „Fleiſch.“ Der Verbang ri, als Er ſeine
menichlibe Natur, nachdem er zurechnungsweiſe unire Simden auf ib
genommen, im Opiertod des Kreuzes für uns Dabingub. In dieſer
ttellvertretenden Vermittlungs= und Genugtbuungstbat uber erledigte
und erfüllte Er, was unire Rechtiertigung ver Gott, und in Deren
Folge, unite Zulanung zu Gortes Thron bedingte. So geſchah alıe
im Momente ſeines Beriheidens weſentlich, was vorbildlich m
demſelben Augenblick im Tempel ſich ereignete. —
Wir räumen dad Haus zu Jeruſalem wieder, das jetzt ohnebin
jeine Bedeutung verloren bat, und kehren nad Golgatha zurück, mo
und aus einem zweiten Wunder ein neuer Klang der FZeierglede
entgegentönt. „Die Erde erbebt, die Felſen reißen.” Bas
bedeuter dies? Großes, Hocherfreulibes! Ter Tod des Mittlers
bar über Die Zukunft der alten Welt entſchieden. Sie iſt mit ihrem
Die Todebfeier. 673
Weſen und ihren feitherigen Ordnungen dem Untergang geweiht, und
unter die Anwartichaft einer großen und umfaffenden Verwandlung
geftellt. Hört den Apoftel Hebr. 12, 26. 27: „Nun aber verheißet
Gott, und fpricht (bei Haggai nämlich): Noch einmal will id) bewegen,
nicht allein die Erde, jondern auch den Himmel. Aber folches: Noch
einmal, zeiget an, daß das Bewegliche fol verändert werden, als das
gemacht ift, auf daß da bleibe Das Unbewegliche.“ — Die gegen-
wärtige Schöpfung ift nicht die uriprünglihe mehr. Die Sünde
drang in fie ein, und überbreitete fie wie mit dem Xeichentuche der
Sterblichkeit, fo mit dem Zrauerflor eines unendlichen Verderbens.
Unzählige Verhäftniffe in der Natur wie in der menfchlichen Gefell-
ſchaft widerfprechen dem göttlichen Schöpferplan, und haben die von
Gott gewollte Harmonie der Welt geftört. In Folge des Sündenfulls
find dieſe Mißklänge eingetreten. Nachdem aber jener verhängnißvolle
Zall in dem Genugthuungswerfe des Erlöſers wieder aufgehoben
ward, muß natürlich auch feinen Zolgen das Grab gegraben fein.
Das Blut des Lanımes fordert die Wiederheritellung der Zuftände
des Anfangs. Und glaubt es: das Erzittern der Erde in ihren
Grundfeiten, das Schwanfen der Berge und Hügel, und das Zer⸗
fpringen der Felſen, das den Zod des ‚Herrn begleitet, ift nichts Ans
deres, als ein in finnbildfiche Naturphänomene verkleidetes „Amen“
des allmächtigen Gottes auf jene Forderung des Blutes feines Sohnes. _
Das „Schema,” (d. i. die gegenwärtige Geftalt) „diefer Welt wird
vergehn,“ fagt der Apoftel 1 Gorinther 7, 31; und dem lieblichen
Gefichte des Sehers Johannes (Off. Joh. 21, 1—3) muß feine voll-
fommene Berwirflihung werden: „Ich fah einen neuen Himmel und
eine neue Erde; denn der erfte Himmel und die erfte Erde verging ;
und das Meer it nicht mehr. Und id, Johannes, fahe die heilige
Stadt, das neue Serufalem, von Gott aus dem Himmel berabfahren,
zubereitet als eine gefchmüdte Braut ihrem Manne. Und börete eine
große Stimme von dem Stuhl, die fprah: „Siehe da, eine Hütte
Gottes bei den Menfchen; und er wird bei ihnen wohnen, und fie
werden fein Volk fein, und er felbit, Gott mit ihnen, wird ihr Gott
fein.”
Das Dritte Wunder dürfte unfer Herz am mächtigften bewegen,
Nicht Zelfen nur fpringen in der Umgebung Golgatha’8 krachend aus⸗
einander; auch uralte Grabgewölbe längft entfchlafener Heiligen thun
fi auf, und die Leichname, die fie bergen, beginnen, von Blitzen
43
674 Dad Merheiligſe
eines neuen Lebens durchzuckt, fich zu regen und zu rübren, um wak
der Auferftebuma des großen Todten gleichfalld aus ihren Kammern
bervorzugehn, und „Dielen“ in der beil. Stadt „au erſcheinen“
Welch' eine Begebenheit! Freilich ericheint fie in geheinmiſwolles
Dunkel gehüllt, und regt mancherlei Zragen in und au. Bar die
Erweckung jener Todten jofort eine vollftändige; oder hat fie ſich erü
allmählig vollendet? Und wenn etwa jenes der Zall mar, w
verweilten die Neubelebten bis zum Oſtertage? Blieben fie jo lanı
in ihren Grüften? Dies möchte faum denkbar fein. Wenn fie dem
erſt ipäter aus ihrem Staube fich erbuben, in welcher Leiblichlei
flanden fie auf? Im jener „geiftlichen“, von der 1 Gorintber 15
die Rede it? Wenn in dDiefer, wie fann dann Chriſtus noch „der
Eritling der Erftandenen ımter denen, die da ſchlafen“ beißen?
Ihr ſeht, an Schwierigfeiten fehls bier nicht. Doch will mich ke:
dünken, daß gerade der letztere Umſtand, daß nämlich Chriftus der
„Erftling der Auferſtehung“ genannt wird, zu Der Annahme
nöthige, es jeien bei feinen Zode eben nur, zur vorläufigen An-
Deutung Defien, was fpäter gefchehen werde, die Gräber gefpremat
worden, und gleichſam ein erſtes Morgenrotb des nahenden Lebens
propbetiich über die ſchlummernden Gebeine bingebligt, mährend Die
Wiedervereinigung der abgeichiedenen Geijter mit den Leibern erjt nah
dreien Zagen an dem großen Oftermorgen eingetreten jei. Uebrigens
ift die Thatſache jelbit über jeden Zweifel erhaben, und fände auch
ſchon ohne die Zeugen aus den Bewohnern Jeruſalems fer, auf
welche die Evangeliiten für die geichichtlihe Wuhrbeit derſelben ſich
berufen. Was aber Gott durch dieſes Wunder bezeugen wollte, liegt
far zu Tage. Die Machwirkungen des Ttellvertretenden Sterbens
Jeſu reichen bis in Die Zodtenwelt binab. Durch ſeine prieſterliche
Selbitbinopferung ward Gr aud der Fürſt des Lebens. Selbi
in dem ichauernollen Bereiche der Verweſung flürte Er den Sem:
fcherftubl deſſen um, der nad dem Ausdrude der Schrift „des
Zodes Gewalt batte“, und erjtritt fi die Machtuolllommenbeit,
nicht allein Die Seelen ieiner Erfauften in die Wohnungen des
ewigen Friedens einzuführen, sondern auch ihre Leiber den Banden
des Fluches zu entreigen, und zu feiner Zeit fein Volk, allſeitig zu
der paradiefiichen Urgeſtalt erneuert, in Förperlibem wie in gei:
ftigem Verklärungsglanze dem Vater vorzuführen. Diele Wabrheit
beabjichtigte der allmäcdhtige Gott zuerit durch Das mit Dem Tode
Die Aodebfeier. 675
Chriſti verfmipfte Wunder jener vorgängigen Gräberfprengung, und
dann Durch Die wirkliche Todtenauferweckung am dritten Tage uns
zu beflegeln. — Wer fie gewefen fein mögen, dieſe erften Trophäen
des glorreichen Ueberwinders des Schreckenskönigs? Ob unter ihnen
Abraham ſich befand, dem ja verheißen war, daß er in ganz be
fondrer Weiſe „den Tag des Herrn ſehen“ follte? Ob Mofes, von
dem der Apoftel Judas erzählt, daß der Satan um feinen Leichnam
noch mit den himmliſchen Mächten gehadert Habe? — Die Gefchichte
läßt und hier ohne Antwort, wie fie denn auch darüber fchweigt, wie
die Erftandenen, als fie den „Vielen“ ur der heiligen Stadt erfihies
nen, geftaltet gewefen, und wann, wo und in welcher Weiſe fie nadı-
mals in Den Himmel entrüctt worden feiern. Die Miffton jener aus
dem Staube der Gräber Hervorgerufenen befchränkte fih auf das
Eine, den Tod des Herrn als ein mit fÜöpferifcher Macht ſowohl
in die Vergangenheit, al8 in Die Gegenwart und Zukunft, und nicht
minder in die Ziefe, als in die Höhe hinein wirfendes Ereigniß
Darzuftellen, und in thatfächlicher Weife Zeugniß zu geben, wie über-
Ihwänglich reichen und feiten Grund wir haben, unter Chrifti Kreuz
mit dem Apoftel zu frohloden: „Tod, wo ift dein Stachel?
Hölle, wo ift dein Sieg? — Gott ſei Dank, der uns den
Sieg gegeben bat durd unſern Herrn Jeſum Chriſtum!“
So iſt fie denn in majefätiher Weiſe durch göttliche Zeichen und
Wunder eingeläutet, Die Feier des verföhnenden Todes unfres Herm;
und aljobald nimmt fie unter dem Kreuze auch felbit ihren Anfang.
Zwar gemwahren wir fein feftliches Gepränge, noch fchlägt Geräufch
von Cymbeln und Harfen an unfer Ohr. Aber im tiefiten nern
der Gemüthswelt Täuten die Gloden, wehen die Kränze; und Harfen-
Fang und Lied ift jede Empfindung, die in den Herzen der Feiernden
zum Kreuz emporwallt.. Wer find die ftillen Feftgenofien? Der zuerft
unfre Aufmerkffamfeit auf fi} Ienft, ift der römifche Hauptmann,
der Befehlähaber der Kreuzeswache. Stumm und wie in Gedanfen
vertieft fteht er da, und fchaut zum Holze des erhabenen Dulders
auf. Er hat dem ganzen Verlaufe der Kreuzigung mit zugefehn. Er
war Zeuge des bewundrungswürdigen Verhaltens des geheimnißvollen
Mannes. Gr vernahbm von defien blutbeflofienen Lippen die fieben
Worte. Und wie er in dem Momente, Da der Gerechte ftarb, felbft
unter feinen Füßen die Erde zittern fühlte, jo fah er aud mit eignen
43"
676 Das Alcrheifigke.
Augen, wie ringsumber die Hügel ſchwankten und die Zellen zerinlu:
terten. Da drängt fich denn mit einem Male Alles, was bis dahin
jein Innerftes bewegte, in einen gewaltig erſchütternden Eindrud
zufammen; und er macht jeinem Herzen Luft in dem lauten, unzmei:
deutigen, und den wahren Gott, den Gott Iſtaels, preiienden Aus:
ruf: „Fürwahr, dDiefer ift ein frommer Menſch, ja, er in
Gottes Cohn geweſen!“ — Bas er unter dem „Solme Get:
tes“ verftebt, Danach müßt ihr ibn nicht näher fragen wollen. Gin
Togmatiter it er nicht; nicht einmal ein im Katechismus unter:
wiefener Jude; jondern nur ein armer, blinder Heide. Aber nab
Allen, was er an dem Manne aus Nazareth wahrgenenmen, fand
es ihm außer Zweifel, derjelbe müſſe mehr ſein, als em Menib;
und der innerfte Kem der Wolke von Abnungen, die feine Seele
durchzog, war in der That nichts Geringereö, ald der bibliſche
Gottesjohn. Es gehörte aber auch nicht einmal ein allaufein
geichliffener Ceelenfpiegel dazu, um den Wiederſchein der göttlichen
Hoheit Jefu in fih aufzunehmen. Auch ſchon ein raubes, aber
ehrliches, wenngleich heidnifches Kriegerherz war für fie Spiegels
genug. O, feht doch, nicht blos der Hauptmann, jondern fogar auch
mehrere aus feiner Schaar find von gleihen Empfindungen, wie er,
übermannt, und flimmen beftürzt und von Schauern heiliger Ehrfurcht
dDurchriefelt in fein Bekenntniß ein, oder murmeln doch Achnliches.
Welch' ein lieblicher und bedeutiamer Auftritt! Gin Häuflein bfinder
Heiden, unter ihnen wohl auch diejenigen, welche Die Werkzeuge kei
Jeſu Kreuzigung gewelen waren, geben Ihm in einem Augenblide,
da er jammt feiner Sache verloren ſchien, einer Welt voll Widerſacher
zum Zroß, die Ehre des unummundenen ZJugeftändniffes, Daß Er ſei
der Sohn des lebendigen Gottes, und überrafchen uns, einem tröſtlich
aufleuchtenden Sternbilde bei dunkler Nacht vergleihbur, in ihrem
unverholenen Huldigungsafte mit einem wahrbaft berzerhebenden pre:
phetifchen Zufunftsgemälde. O, Zreunde! ibr jaht und vernabmt
nicht blos daffelbe, was jene Heiden; fondern unendlich Größeres
und Bedeutungsvolleres! Ihr jeid Zeugen, daß der Zod am Kreuze
nicht nur Zelten fprengte und Hügel Ichwanfen machte, fondern die
ganze alte Weltordnung aus ihren Zugen md Angeln hub, und fie
in die Bahn einer ganz neuen Entwicklung bineinwarf. Ihr fabt
von jenem Zode aus nicht blos über etliche Leiber entichlafener Hei-
ligen einen Blig der Auferftehung zuden, fondern über Das game
Die Kodedfeier. 677
Leichenfeld der Erde den Feuerftrom eines höheren und göttlichen Le⸗
bens fich ergießen. Ihr wißt nicht nur von einem mit dem Ster-
bensmoment des großen Dulders zufammenfallenden Zerreißen des
Zempelvorhangs ; fondern daneben von dem Zerfpringen einer vier-
taufendjährigen Weiffagungshülle, um den, welchen fie als Idee und
Bild in fi) gefchloffen hielt, bis zu den feinften Zügen verförpert in
die Welt der Wirklichkeit zu entlaffen. Nicht allein börtet ihr den
Dorngefrönten einen einzelnen Schächer mit dem föniglichen Wort
beglüden: „Sch fage Dir, heute wirft du mit mir im PBaradiefe fein ;“
fondern gewahret, wie bis zur Stunde Niemand unter dem Himmel
weder in reiner Liebe zu Gott entbrennt, noch in den Nächten und
Stürmen des Lebens zu gründlichen Frieden gelangt, bis er das
Auge des Glaubens zu jenem „Haupte voll Blut und Wunden” em-
porhub, welches feit achtzehn Jahrhunderten, der Hölle zum Verdruß,
allen erleuchteten Sündern zum Trofte, unverdunfelt über der Menſch⸗
heit fehwebt; und daß der Acer, heiße derfelbe Familie, oder Staat,
oder Kirche, auf den das Kreuz nicht feine wunderthätigen Schatten
wirft, nur Schierling und Dorngeftrüpp des Unheils treibt, nimmer
aber Gerudy eines „Feldes“ athmet, das „der Herr gefegnet hat.”
Jenes Alles ift in euern Gefichtsfreis eingetreten, und ihr nehmt's
noch alle Zage wahr; und ihr fönntet zaudern, unter entichlofjener
Losfagung von einer ungläubigen Welt das Belenntniß jener heid-
niſchen Kriegesmänner zu dem eurigen zu machen, und, wie fle dem
„Sohne Gottes“ huldigend, in ihre fille Kreuzesfeier mit ein-
zugehn?
Die römischen Söldner find übrigens die einzigen Feiernden auf
der Schädelftätte nicht. Wohl tiefer noch und inniger feiert die liebe
Gruppe der weinenden Frauen dort, die dem Meifter aus Galilän
dienend nachgefolget waren. Nein, auch im Zode können fle von Ihm
nicht laſſen. Wie Epheuranfen halten fie mit ihrer Liebe und ihrer
Hoffnung auch noch den gefällten Baum umfchlungen. Beachtet's
wohl, das heilige Feuer, das in der Tiefe ihrer Herzen brennt. Es
ift das Feuer reinfter Begeiftrung für wahre, fittlihe Größe
Diefe Begeiftrung kann hoffnungslos nicht weinen, und vielmeniger
noch auf einer bloßen Täufchung beruhn. Es muß das Reich des
fittlich Hehren, Edlen und Schönen Wirklichkeit, Beftand und
Wefen haben; und König in diefem Reiche it Chriftus, und
bleibt es ewig. Verzagt, ihr lieben Frauen, an diefem Reiche nicht,
678 Da Müerheilighe.
und od die ganze Belt es nur für einem ichömen Zramm erklärte.
Es bat allein Realität, und wird unter allen limiländen deu Sie,
behalten. Darum, ibr Brüder alle, icjliegen auch wir und Demjelben
an! Rufen au wir zum frag binauf: „Mit Dir, du belle Re:
aenitten, wollen wir eö balten!“ Schwören auch wir mu Dim
md Hand: „In Deinen Babnen wollu wir uns bewegen, durch
melche Enapäfle und Dunfelbeiten fie uns führen mögen! Reiche ums
Deine Rechte, du, Der du allem Riederen und Giteln fremd bii, und
lehre auch uns in deinen Außtapfen böber binauf unier Wejen urei-
ben!” — a, dies leiten die Laute, Die umter Dem Kreuze amch mmiter
Bruſt entquillen! — Doch wiſſet, daß in folder ſittlichen Be:
geiſtrung für den Herm und fein Reich die Feier jeines Todes ad
nicht abſchließt. Tie Zrauen hatten in Jeſu ein Mehreres ge
fucht, als ein Menſchheitsideal und einen Leititern auf dem Tugend
vfade. Vor Allem meinten fie eined Bürgen zu bedürfen, der ihre
Entiündigung bei Gott vermittelte, damit af Daun in Kraft des
Berföhnungs = Bemußtjeins und unter des wiederbefreundeten Geues
Beiſtand ein neuer Lebensanfang gemacht werden könnte. Dielen heij
Erſebuten aber glaubten fie in ihrem großen Meiiter wirtlich aefun-
den zu baben. — „Ind dieien Glauben gaben ie bei jeinem Zeit
auf?“ — Allerdings war Derjelbe durch den blutigen Lebensausgang
ihreö Freundes tief eridhüttert worden; aber Die Zeihen, Die ſie
eben geiehn, ichmwellten, einem Binde von Meran gleich, aufs neue
ihre Hoffnungsſegel, ja Düuchten ihnen nichts Anderes zu ein, ala
ein Zuruf des ewigen Vaters an fe: „Halter aus! Wartet ab! Gi
in dennoch Der, alä den ihr ibn umraßter!" — lin? wie ſchwach das
Döchtlein ihrer Zuverficht auch immer glimmen moechte; fie feierten,
meilihb abnend mehr, ala Mar bewußt, ihre Verſöhnung dud
Des SHohenprieiters Blur. O, geben wir in ibre Gemeinſchaft ein!
Die rechte, muhre, volle Feier Des Kreuzestodes Chriſti it nur die,
melde, ale von ibrem Grundlaut, von den Liede durchklungen wird:
„Tus Lamm, Das erwürget üt, üt würdia, zu nehmen Lob, Preis
und Ehre!“
Zu ſolcher Zeier femme es denn auch unter und! — Wir bören
in unierm Gwangelium ven „Ellichen“, Die gleichfalls Zeugen der
Gotteswunder beim Kreuze geweien, und in großer Yeflürzung „au
ihre Brut ichlagend“, nach Ieruialem „umgefebri“ ſcien. Der Zu:
Hand Diejer Leute bezeichnen euch die Vorjtufe einer mabrbaften
Der Lanzenſtich. 079
Charfreitagsfeier. D, Daß Keiner heute dieſe Berfanumlung verlaffen
möchte, der nicht wenigſtens durd) Gottes Gnade in dieſe Vorſtufe ver-
feßt worden wäre. Werdet euch bewußt, welche Riefenfchuld, abgefehn
noch von euern andern Sünden, ihr Dadurch fchon auf euch Ludet,
daß ihr einem fo gewaltig beglaubigten Herm und Könige, wie Der
am Kreuze ift, fo lange die gebührende Huldigung und Unterwerfung
verfagen fonntet. D, Daß euch nur Dies einmal zu Herzen ginge,
und hiemit eure Beugung vor Gott begänne! Fürwahr, nicht lange
würde es währen, jo flimmtet auch ihr freudeftrahlenden Angefichtes
mit ein in den Gefang der geheiligten Gemeine:
„Laßt und Ihm ein Hallelnjah fingen:
Maͤchtiglich find wir errett't!
Laßt und Ihm und felbft zum Opfer bringen,
Das Ihm fei geheiliget!
Blutige Arme, für die Sünder vffen,
Nehmt und auf, fo wie wir's gläubig hoffen,
Weil fein Mund fo freundlich ſpricht:
„„Kommt nur, ich verftoß’ euch niht!«« — Amen. —
— 0 0 O 00 —
LVII.
Der Lanzenſtich.
„Dieſer iſt's, der da kommt mit Waſſer und Blut!“
So, in großartiger Anſchauung, der Apoſtel Johannes in ſeinem erſten
Briefe Cap. 5, 6. Er fieht die Welt der Sünder vor ſich liegen:
über ihr die drohende Wetterwolfe des Fluchs; unter ihren Füßen
die Hölle, für die fie reif ift. Er riefe ein Wehe über fih aus, daß
er geboren ward, fühe er nicht durch Das riefige Nachtgemälde eine
majeftätifche Erfeheinung jchreiten, vor der, wie vor der aufgehenden
Sonne das Heer der Schatten, fo Alles, was Noth, Sorge und
Kummer heißt, zerftiebend davonjagt. Was von Anbegun her die
Melt bewußt oder unbewußt in ihren beiten Stimmungen und Stunts
den gefucht, erfchmachtet und gehofft, das fieht er in dem einen
Manne, auf dem fein entzüdtes Auge ruht, überfchwänglich jegt er⸗
60 Des Aterheifigke.
füllt; und bindeutend auf Ihn, der hinfert der Mittelpunkt all teines
Denfens und Grwartens, ja tein Eins und Alles if, ruft er me
ein Bächter von der Höbe feiner Warte feierlich umd freudig bemeu
binaus ins Weite: „Tiefer it's!“ — „Dort,* will er ſagen.
„Iehreitet er ber, der allem Unheil ein Ende macht, und der, mie die
ganze Bergungenbeit auf Flügeln der Sehnſucht Ibm entgegenüreher,
io die Zukunft Des Menichengeichlechtes, ja, Die der gungen
tragen, beitimmen und geitulten wird!“ — Verſieht fidh aber Je
bannes an dem Manne feiner Freude niht? O nen! Der Han:
fihe fommt ja, wie fein Anderer fommen fann: nicht mit Boridrüt
nur, mit Weiſung und Belehrung; jondern einzig in feiner Art: mi
„Buffer und mit Blut.“ Dies ift Sein eigenftes Wabrzeichen
Wie wir daſſelbe und zu deuten baben, werden wir heute näber ver:
nehmen.
Joh. 19, 31- 37.
Die Juden aber, dieweil ed der Rüfttag war, daß nicht die Keichname am Kran
blieben den Sabbath über (denn derſelbige Sabbathtag war groß), baten fie Pilanım,
daß ihre Beine gebrochen und fie abgenommen würden. Da lamen bie Kriegäinchte
und brachen dem eritern die Deine, und dem andern, der wit ibm geftenzigt mur.
Als fie aber zu Jeſu famen, da fie fahen, daß er ſchon geftorben war, brachen fie ibm
die Beine nit, jondern der Kriegsknechte einer öffnete jeine Seite mit einem Speer,
und aldbald ging Blut und Wafler heraus. Und der daB gefeben bat, der but cs
bezenget, und fein Zeugniß if wahr, und Derfelbige weiß, daß er Die Wahrdei tayrt,
ani das au ibr glaube. Denn ſolches it geibeben, daß die Schrift erfüllet märte.
Ibr ſollt ibm fein Bein zerbrechen. Und aberma!s ſpricht eine andere Schrift: Sie
werden jeben, in melden sie geitochen haben.
Die eben vernommenen Vorgänge berichtet uns allein Iobannes,
der finnige und riefblidende Jünger, der ficherer, als jeder Andere,
auch Die in tieftter Verborgenbeit blühende Geiſtesblume entdeckt, und
auf Das Leſen göttlicher Zeichenichriften ſich veriteht, wie Wenige.
Mit gehaftreihen Hieroginpben ficht er auch die legten Auftritte auf
der Schädelſtätte durchwebt. Beachten wir Die bedeutſamen Finger:
zeine, Die er und zu deren Verftändniß gibt, und nebmen wir mit
dankbarer Freude Die neuen finnbildfichen Aufſchlüſſe bin, Die ſowobl
über die Perſon, wie über die Heilswirffamfeit des Gefreuzigten
in dem, was wir heute auf Golgatba ſich creignen jeben, uns gebeten
werden,
Der Lanzenftid. 681
Erleuchte uns aber der Herr mit feinem Geifte, und erfülle Er an
und das Wort feiner Verheißung: „Ich will Dir geben die heimlichen
Schäge, und die verborgenen Kleinodien, auf daß Du erfenneft, daß
Ich, der Gott Iſraels, Dich bei deinem Namen gerufen habe!“
In dem Momente, in Weiden n wir ir heute zum Marterhügel kommen,
finden wir Dafelbft die Scene fehr verändert. An den Drei Kreu-
zen herrſcht tiefes Schweigen. Der Tod, das ftunme Ungethüm, hat
über diefelben feine ſchwarzen Flügel ausgebreitet. Die Maſſen der
Gaffer, die den Richtplatz umlagert hielten, haben, zum Theil tief
erfchüttert, und gefchlagenen Gewiflens, fich zerftreuet. Auch das
Häuflein der getreuen Frauen fcheint, von allem Weh und Harm bis
zum Erliegen müde, ſich in die Stadt zurüd gezogen zu haben. So
treffen wir denn nur noch die römifche Wache, und außerdem den
Jünger, „den Jeſus Tieb hatte”, welcher, nachdem er die Mutter
Maria in feiner friedlichen Hütte geborgen hatte, dem Drange feines
Herzens nicht widerftehen fonnte, den Ort, wo fein Eins und Alles
am Holze hing, wieder aufzufuchen. Wen hätten wir uns aber Tieber
zum Zeugen der legten Begebenheiten Golgatha's beftellt fehen mögen,
al8 diefen finnigen und geheiligten Jünger? Er erzählt uns nun in
aller Einfalt, was er dort gefchaut; aber fein ganzes unendlich tief
bewegtes Herz liegt mit allen feinen Empfindungen und Gedanken in
feinem kurzen und fchmuclofen Berichte vor uns offen.
Die Priefter und Schriftgelehrten, gewohnt „Müden zu eigen, “
während fie „Kameele verfchludten”, gedenken nicht an die himmel⸗
fehreiende Blutfchuld, die fie auf ſich Inden, fondern nur an den in
Afrael berrfchenden Gebrauch, Hingerichteten, deren Leiber man dem
Volke zur Warnung an einen Pfahl gehängt und fo öffentlich zur
Schau geftellt hatte, vor Anbruch der Nacht noch von ihren Prangern
wieder abzunehmen, und zu verfcharren. Diefe Gewohnheit beruhete
jedoch auf einem ausdrüdlichen göttlichen Gebote. Wir lefen 2. Mof.
21, 22. 23: „Wenn Jemand eine Sünde gethan hat, Die des Todes
würdig ift, und wird getödtet, und man ihn an ein Holz hänget, fo
foll fein Leichnam nicht tiber Nacht an dem Holze bleiben, fondern
foltft ihn deſſelbigen Tages begraben: denn ein Gehenkter iſt verflucht
bei Gott, auf daß du das Land nicht verunreinigeft, Das dir der
Herr, dein Gott gibt zum Erbe." Cine eigenthümlidhe, ja feltfame
Verordnung dies, in der wir uns wohl kaum zurecht zu finden wüßten,
682 Des Ukerheiligke.
hätte uns der Geiit des Herm nicht felbit den Schlüffel zu derielben
Dargereiht. Ter Umjiaud, daß Gott die „Gehenlten“ als vorzuge-
weife mit jeinem Fluch belajtete bezeichnet, nöthigte die Siuuigeren in
Iſrael zu der Annahme, es müſſe bier irgend etwas Borbildlides
zu juchen fein, indem ja ein nicht gebenfter Gottlojer in Babı:
beit nicht minder verflucht jein könne, als ein ſolcher, deſſen ent⸗
jeelte Hülle in der genannten Weiſe öffentlich zur Schau geftellt wur:
de. Sodann eröfmete der göttliche Befehl: „Begrabe deu Leid:
nam,“ und die Duran gefnüpfte Berbeigung: „So wirft du mit
demfelben den Zlud begraben, der auf dem Lande ruht,“
die troftvolle Ausfiht, daß eine Hinwegnahme und Tilgung des Ge
ſetzesfluchs wirklich im Neiche der Möglichkeit liege. Weil es fid
aber von felbit veritand, daß diefelbe durch Die Verſcharrung binge-
richteter Miffethäter nicht erzielt werden-könne, jo mußte Angefichts
jener Satzung endlich zugleich die Ahnung ſich erzeugen, daß es im
Rathichluffe Gottes liegen werde, in Zufunft durch den Zod und das
Begräbnig irgend einer herporragenden geheimnißvollen Perſon die
Aufhebung des Fluches thatſächlich zu bewerkſtelligen. Wenn um
gläubige Sfraeliten auf ſolche Gedanken geriethen, jo dachten fie ganz
der Abficht Gottes gemäß, der allerdings mit feiner die Gehentten
betreffenden Verordnung nichts Anderes, als eine prophetiſche Ber:
finnbildlihung der zukünftigen Erlöfung durch Chriſtum bezweckte.
Letzteres erhellt unzweideutig aus Gal. 3, 13. 14, wo der Apoftel
ſpricht: „Chriftus hat uns [osgefauft vom Fluche des Geſetzes, da
er ward ein Fluch für uns, (denn es ftcht geſchrieben: Verflucht ift
Jedermann, der am Hole hängt;) auf Daß (ſtatt des Fluches) der
Segen Abrahä unter die Heiden fäme, in Ehrifto Jeſu.“ Hier wird
Chriſtus alfo unläugbar als das Gegenbild der Gehenften in Zirael
dargeftellt. Er war an feinem Kreuze ftellvertretend der Träger unjeres
äluches, und ſtarb als ſolcher den öffentlichen Miſſethätertod. Nach
dem er aber jeinen Geiſt ald willig Dargebrachtes Opfer in die Hände
jeines Vaters befohlen hatte, wurde zugleich wit jeinem Leichnam der
Fluch, der auf der Erde und ihren Bewohnern lag, thatſächlich
begraben, indem hinfort Alle, die an Ihn glauben, des Fluches
ledig, und Erben eines unvergänglichen himmliſchen Segens find.
Wie tief bedeutſam erſcheint demnach, was wir heute zunächſt auf
Golgatha ſich begeben ſehen. Freilich wiſſen die handelnden Perſonen
dort nicht, was ſie thuen; aber das hindert nicht, daß ſie bei all
Der Lanzenſtich. 683
ihrem Thun wie an unfichtbaren Fäden von der Hand der göttlichen
Borfehung bewegt und geleitet werden. Sie erinnern fi nur, ohne
weitere Nachgedanken, an den Buchftaben der mofatfchen Vorfchrift,
und glauben, um fo mehr mit der Kreuzabnahme und der Verſenkung
ihrer Gerichteten eilen zu müſſen, da fich nicht allein ſchon der Tag
zu Ende neigt, jondern ed obendrein der NRüfttag vor dem „großen“,
d. b. dem in das OÖfterfeft fallenden, und darum befonders heiligen
„Sabbath” ift. Sie verfügen fi denn zu Pilatus, und bitten ihn
um die Genehmigung, den drei Todten, wie es üblich war, die Beine
zerbrechen und fie dann abnehmen umd verſcharren zu dürfen; und be-
ginnen fo an dem großen und gedanfenreichen Bilde zu weben, wel-
ches ſpäter durch Nikodemus und Zofeph von Arimathia vollendet
ward, Wir fehauen ihrem Vornehmen ftille zu, und fchöpfen daraus
Sriede und Seligkeit.
Der Landpfleger beanftandet die Gewährung der nachgefuchten Ge
nehmiqung nicht, und entjendet zugleich eine neue Wache nach dem
Richtplaß, welche die Beinbrechung vollziehen, und von dem wirklich
eingetretenen Zode der Gefreuzigten fich überzeugen follen. Als ein
den Gehenkten erwiefenes Werk der Barmherzigkeit betrachtete man’,
daß man denfelben vor ihrer Beerdigung zur Beichleunigung des etwa
noch nicht eingetretenen Zodes noch mit eifernen Keulen Die Gebeine
zerfchlug und dann ihnen den legten, den fogenannten „Önaden-
Schlag” auf die Bruft verfeßte. An den beiden Schädhern wird
mit diefem Verfahren der Anfang gemacht. Wie aber die Reihe auch
an den Herrn Jeſum kommen foll, nimmt man an Ihm fchon alle
Anzeichen des wirflichen Geftorbenfeins fo deutlich wahr, daß man
fi) die Mühe der Beinzerbredjung um fo mehr erfparen zu fönnen
glaubt, da einer der Waffenknechte Ihm einen Lanzenſtich in feine
Seite beibringt, der, wenn der göttliche Dulder etwa noch gelebt hätte,
allein fchon bingereicht haben würde, Ihn zu tödten. An und für fi)
erfcheint auch diefer Vorgang durchaus geringfügig; aber Johannes, der
ihn uns fo nachdrudsvoll berichtet, hat ihn mit anderen Augen ange-
Ihaut. Er erkennt auch in dem doppelten Umſtande, daß dem Hei-
land die Glieder nicht zerfchlagen wurden, und der Lanzenſtich die
Seite Ihm öffnete, eine Fügung Gottes, durch welche abermals nur
zwei uralte Weiſſagungen zu ihrer Erfüllung gekommen feien. „Solches
ift geſchehen,“ hören wir zuerft ihn fagen, „daß die Schrift erfüllet
würde: Man foll ihm Fein Bein zerbreden!“ Go heißt's
6 Dei Wrteigler.
2 Mei. 12, 16 m Pf us Corlzum, wekben is ber Era:
geitũ bier ansdrũclid tie Beteammı eines Berbildes te u
Beriebuuns der Belt dabinaeaebenen Gettesimumes beilesr Ss
Schatte dieies Zuhimitigen mus Tai Purılımm mimufshen Ge
ichlechts, um? ver Allem, zur Peeibumnı ber Heiſigleit des Berze
bildeten, ebne Feble tem Tas ibm aber fen Fein zerkrechen
werden turite, Dies icllse ıheils zur Andentina dienen, NS Ebrützs
ch unzeıbeilt dem allmächtigen Geu zum Zübnepter darkringes
werte, und Diejenigen, Die des Dur Ibhn enwüften Heils fbeilhaitiz
zu werden begebrien, Ibm gun; Mich ammemm Bitten: tbeils be
zweite Der Herr durch jene Berertmng Nie Auftelluny eines neuen
Mertmıls, welches, wenn der mubre Meittas erichienen fein rürde
dazu beitragen iellte, Ibn Jedermann in unzweitentigiier Zeile feunı-
ih zu machen. Und „ñebe,“ nut wıd num Iebaunes gleichjam in
unierem Gyangelium zu, „bier it das wor veriebene Zeichen! Ti
Thatſache, daß das heilige Geriß ſeines Leihes unertrimmert bleibt
drũckt tem großen Todten als tem wabren veriäbnenten Cferlamme
Das beglaubigende Ziegel auf. Er tü der Gerechte des 31. Piulms,
dem Gott alle jeine Gcheine bewahrt, daß ibrer nicht eine
jerbrohen wird!" —
Ebenjo fiebt der Evangelit in dem Lanzeniticdh eine erfüllte
Beiflagung. „Abermal,“ führt er fort, „inrict eine andere Schritt:
Eie werden ſeben, in welchen ſie geitodben baben'
Tas Wort des Herm bei dem Propheten Sachatja Karitel 12, 10
ichwebt ibm vor der Seele. „Aber über das Haus David,“ beißt
es daſelbit, „und über die Bürger zu Jeruſalem will ich ausgießen
den Geitt der Gnade und des Gebers; und fie werden ieben, in
welchen fie geitechen (oder men fie durchbobrt) baben.* Diele
Stelle war den Juden ein unauflöslihes Rätbiel, weßbalb fie denn
auch in Der griechiichen Ueberſetzung der fiebenzig Dollmeticher dem
betreftenden Worte des Grundtertes obne alle und jete Berechtigung
flatt der Bedeutung des „Durchbobrens,“ Piejenige des „Her:
abwürdigens“ oder „Verachtens,“ untergeicheben baben. Zeit:
dem aber bat ichon vielen Tauſenden ven ihnen die Stunde der
Aufklärung über den einzig wahren Zinn jenes Propbetenwortes ge
ſchlagen; und Hunderttaufenden, ja der ganzen Belt, wird fie neh
Ichlagen, ſei es als Gnadenjtunde, oder als Stunde Des Ge:
richts und des Unheils. Entweder geichiehts, daß fie, die Chrifto
—
Der Lanzenſtich. 685
bisher die gebührende Huldigung verfagten, ehe fie ſich's verfehen,
vom heiligen Geift ergriffen und erleuchtet werden, und nun in der
Wehmuth des Bewußtfeins, den Herrn der Herrlichkeit einft durch
ihre Sünden mit gefreuziget zu haben, thränenfeuchten Blicks und
um Vergebung bittenden Herzens zu Ihm auffchauen; oder daß fie
erleben werden, was Johannes in feiner Offenbarung vorher ver:
fündet: „Siehe, Er kommt mit den Wolfen, und ed werden Ihn
fehen alle Augen, und die Ihn zerftohen haben, und werden
wehflagen über Ihn alle Gefchlechter der Erde. Ja, Amen!“
Seht, Freunde, fo entdedt der tiefgründende Evangelift in Allem,
was auf Golgatha ſich begab, auch in dem Unfcheinbarften, eine finn-
volle göttliche Bilderfchrift, welche nur auf die Kenntlihmachung und
Verherrlichung Chriſti als des wahren verheißenen Meifias und
Welterlöfers abzwedte. Wem fann es aber auch entgehen, daß in
allen jenen Zügen die Hand des lebendigen Gottes waltet, und die
Fäden der reigniffe fo ſich verfählingen läßt, daß in ihnen ein
Prophetenſpruch nad) dem anderen zu feiner Erfüllung fommt? Wie
hoch der Evangelift das glaubensftärfende Element in jenen VBorgän-
gen anfchlägt, gibt er fehr nachdrucksvoll mit den Worten zu erkennen:
„Und der das gefehen bat, der hat es bezeuget, und fein Zeugniß ift
wahr; und derfelbige weiß, daß er Die Wahrheit fagt, auf daß auch
ihr glaubet.“ Uebrigens ift e8 nicht allein die Kreuzabnahme, der
Lanzenftich, und die Bewahrung des heiligen Organismus des Leibes
Chrifti vor der Verftümmlung, was Johannes bei den eben vernom-
menen Worten im Auge hat, fondern es ift zugleich, ja vorzugsweife,
der Waſſer- und Bluterguß aus Jeſu offener Seitenwunde,
worin er nichts Geringeres, ald ein tiefes göttliches Symbol der
Heilswirkfamfeit des bimmlifchen Zriedensfürften wahrnimmt.
2
„Der Kriegsknechte einer,” meldet die Gefchichte, „öffnete
feine Seite mit einem Speer, und alfobald ging Blut
und Waſſer heraus.” Man hat gemeint, Sohannes lege darum
ein fo großes Gewicht auf diefen Umftand, weil er geglaubt habe,
daß derfelbe gewiſſen Irrgeiftern feiner Zeit, die Chriſto nur einen
Scheinleib, und nicht eine wirfliche Körperlichkeit zufchreiben woll-
ten, zur Widerlegung dienen könne. Möglich iſt's, daß ihn bei feiner
Berichterftattung über die Sache allerdings auch eine foldye Neben-
rüdficht auf jene Schwärmer geleitet habe. In weit höherem Maße
636 Deb Yierfeilgfe
aber erreat fein Intereite zunächſt dae Wunderbare m dem Rer:
gang. An Zeriterkenen vilegt immer das Blut an ſtecken; aus der
Wunde dieies Todten dagegen floß es noch bel und reichlich, m?
obendrein unvermengt mit Dem WBuiler, welches neben dem Rute
aus dem Durditechenen Pericordium seines Herzens ſich ergeß, md
vom Arenze niederrmn. Es wur, ald ob der große Hrhbeprieiter ned
in einem Tode jagen wollte: „Sebet, frei vergieße ih mein Dim,
und in ganzer Zülle cpfere ich es für eure Sünden!“ Bas aber Ne
Seele Des Jobannes am tiefiten beweat, it Das göttlich Spmbe⸗
liſche, welches er binter der Wunderbegebenbeit wittert. In jenem
Waſſer und Blut fiebt er die meientlichiten Heilsgüter abgebildet, Die
die Belt Chriſto zu verdanfen bat. Wir wiflen fen, daß er in feiner
eriten Epiſtel als Die eigenite Signatur des Welterlölers das bezeich
net, Daß derſelbe komme „mit Waſſer md Blunt: umd wmaleid
mit Dem „beiligen Geifte;“ und wer fann es verfenmen, daß ibm kei
dieien feinen Werten das Wunderereigniß auf Golgatba ver Augen
geichweht kaben müſſe?
as bedeuten ibm aber jene Drei Clemente, und mas zunächit das
Waller? Etwa die Taufe? In einer entfernteren Veziehung
ungweifelbaft auch fie. Zmächit aber verfinnbildficht ihm Das Waller
im Einflange mit der Bilderſprache der ganzen beiligen Schrift Me
jittlih reinigende Kraft des Wortes Ebritti, ja Telbt
Ihen der Atmoſphäre feines Reichs. Ueberall, wohin dus
Evangelium drinat, änderts, abgeieben neh von Wiedergeburt und
Refehrung im engeren und ſpezifiſchen Zinne dieier Worte, Die me
raliihe Gertalt der Völker. Gefitung und Bilduna verdringen Me
Barburei. Zucht und Ordnung treten an die Stelle eines zügelleien
Sündendienſtes. Thieriſche Fleiichlichfeit findet an Der aufgebenden
Ahnung einer höheren Idealität Des Menſchenlebens mindeſtens ihre
Schranke: das Gewiſſen der Menſchenkinder ſchärft und verfeinert ſich,
und die Scham errichtet als Hüterin der Sitte unter ihnen ihren
Thron. Wie die Gerechtigkeit in Geſetzgebung und geſellſchaäft⸗
lichen Inſtitutionen, je macht auch die Liebe ihre Anferderımgen
geltend. Die Verpflichtung zu mechieljeitiger Handreihung und Huülfe
leitung tritt in's Bemußtjein. Die Armen= und Kranfenpflege errichtet
ihre Hoſpitäler, und öfmet den Verlaffenen ihre Zufluchtflätten. a,
was wire, Das nicht ſich einigte, veredelte und vwerflärte, ſobald nur
ein feiier Hauch des Chriſtenthums es berübrt! Haltet die chtiſt⸗
hi
Der Lanzenſich. 687
lichen Völkerſchaften, ſelbſt die verkommenſten unter ihnen, mit allen
heidniſchen, und ſelbſt auch mit den muhamedaniſchen zuſammen, und
jagt, ob fie in Vergleich mit dieſen nicht in einem aUgemeinern Sinn
des Wortes fhon „neugeborene” heißen dürfen? In diefen
Wirkungen aber bethätigt fi die Waſſerkraft Ehrifti und feines
Evangeliums. Gewiß waren e8 vorzugsweife Diefe Wirfungen, die
der allmächtige Gott im Auge hatte, als er durch den Propheten
Hefefiel Kap. 36, 25 verheißend ſprach: „Ich will rein Wafler über
euch fprengen, daß ihr rein werdet von aller eurer Unreinigkeit; und
von allen euren Gößen will ich euch reinigen!” An diefelben Wir-
fungen denkt unzweifelhaft der Apoftel, wenn er Hebr. 10, 22 von
einem „gewafchen Sein am Leibe mit reinem Waffer‘ redet; und
ebenfo meinte fie der Täufer Johannes, als er fprah: „Ich taufe
euch mit Waſſer;“ zugleich aber eine andre Taufe, nämlich die „mit
Feuer und Geift“, in Ausficht ftellte, welche derjenige allein voll:
ziehen Eönne, der nach ihm kommen werde.
Genug, Schon vermittelft feines Wortes und der Pflanzung feiner
Kirche geht von Chriſto eine fittliche Reinigung, Veredlung und Ver⸗
klärung des menfchlihen Gefchlechtes aus; und auf Diefe feine
Wirkſamkeit deutet fumbolifh Das Waffer, das aus Zen offner
Geite firömt.
Doch mit dem Waſſer allein wäre uns nicht geholfen gewefen.
Zief find wir vor Gott verfchuldet; und hörten wir auch von nun
an auf, neue Schulden auf die alten zu häufen, fo wären dadurch
doch) die alten weder ungefchehen gemacht, noch abgetragen. Ueberdies
bleiben wir bei aller durch das Wort allein Bewirften Säuberung
und Beredelung unfres Lebens, bemeffen nad) dem Ideale der yött-
lihen Forderungen, nad) wie vor arme Sünder, und als joldhe
dem Fluch verfallen. So that und denn vor der fittlichen Bef-
jerung, und viel dringender noch, als fie, Entbürdung von dem Ur:
theil der VBerdammniß noth, das auf uns Taftete, und Zurückverſetzuug
in den Stand der Gnade. Daß aber auch diefem Bedürfniß, dem
ichreiendften von allen, die gewünfchte Abhülfe befchafft worden ift,
dies prediget und das Blut, das wir der Seitenwunde des großen
Zodten entftrömen fehen. Es bezeichnet uns den Zahlpreis, mit wel:
chem vor Gott ein für allemal unfere Schuld entrichtet ward; fowie
die genugthuende Opfergabe, vermittelft deren die Verföhnung der
göttlichen Gerechtigkeit mit der Sünderliebe Gottes erzielt, und unſere
sss -_ SEE Wr Per WM;
Wiederannabme ebne Beeinträchtigumg der erfieren ermöglide werten
it. Tas Dur fließt geihieden von tem Waſſer: die Recht⸗
fertigung if mit der veriönlihen Beſſernug mit zu vermmiden,
geihmweige zu verwebieln. Was uns Der fiebe Gottes wieder am:
pieblt, in einzig Ghriiti Verdientt, ımd nimmer das Znicdrerf
unserer eigenen Tugend. Freilich bedarf es umiererieitö der Glaubens:
und Lebenseinigung mit Chriſto; aber n Ebrifti Gerechtigkeit
und in ibr allein, ergebt über uns die Freiſprechung von der verdienten
Strafe, fe wie wir allein um ihretwillen in die Rechte der göttlichen
Kindichaft wieder eingelegt werden. Der Seligkeit fübig macht uns Die
DBelebrung; der Scligfeit würdig allen Dad Blut des Lammes.
Tod wir wiffen: Waſſer und Blur itellen die Heilsthätigkeit Chriñi
feinesweges ſchon erihöpfend dar. „Drei“, jügt Johannes, „zeugen
von Ihm und für Ibn auf Erden: Tas Baier, (die jüttigende
Macht des Worts,) das Blur, (die jühnende, rechtfertigende umd
ſomit Zrieden vilanzende Wirkung jeines ftellvertretenden Berdien:
ftes,) und der „beilige Geiſt“, Der nicht bios befiert, jondemn
erneuert, dem Baum der Sünde nicht nur die Aeſte fappt, jondern
ihn entwurzelt, und das Reis eines weſentlich neuen Seins und Le
bens an defien Stelle pflanzt. Terjenige aber, der geſchmückt mit
den dreifachen Siegen ſolcher Machterweifungen die Belt durdhichreitet,
kann ja nicht anders, als von Chen gefommen, und muß der von
Sort verordnete Meſſias und Erlöfer fein. Johannes erachtet es
faum für möglich, daß Jemand dies verfennen könne; und faſt fhir:
miſch Dringt er mir der Aufforderung an unjer Herz, Daß wir doch
mit ihm zu feiner Zabne ſchwören möchten, indem er überaus bewegt
und nahdrudsvoll uns zuruft: „Und der Das geichen bat,
Der bat es bezeuget, und fein Jeugniß ift wahr; und
Derjelbige weiß, daß er die Wahrbeit jagt, auf das
auch ihr glaubet!“
Glauben denn auch wir, theure Freunde, auf daß wir auch den
Herrn der Herrlichkeit als ‚denjenigen erfahren, der da fommt mit
„Waſſer, Blut und Geiſt, d. i. reinigend, verföhnend und wieder:
gebärend! Geben wir uns rückhaltlos und ungetheilt Ihm bin, nad-
dem (Sr jich bis in den Zod für uns dahin gegeben hat; und machen
auch wir Die Worte des alten firhlichen Sängers zu den unfrigen:
„Das Waffer, welches auf den Stoß des Speerd aus Deiner Seite floß,
Das fei mein Bad und al’ Dein Blut erquide mir Herz, Sinn und Muth.
Das Begräbnih, 66g9
O Jeſu Chrift, erhöre mich! nimm und verbirg mich ganz in Dich,
Schließ mi in Deine Wunden ein, daß ich vor'm Feind kann ficher fein!“
Amen.
LVIII.
Das Begrabniß.
Zu den tiefiten Worten, die aus dem Munde des Herrn gegangen
find, gehört dasjenige, das wir Joh. 12, 24 leſen: „Wahrlich,
wahrlich, ich fage euch, e8 fei denn, daß das Weizenforn in die Erde
falle, und erfterbe, fonft bleibt es allein; wo es aber erjtirbt, fo bringt
e8 viele Frucht.” Unter dem Weizenkorn verfteht Chriſtus fich ſelbſt.
Wie jenes, wenn es nicht in Die Erde gelegt wird, ein vereins-
zeltes Körnlein bleibt, und ausgefäet nur fi) vervielfältigt,
fo wäre auch Chriftus, wenn er den Weg des Todes nicht gegangen
wäre, der einzige Gerechte, Gott Wohlgefällige, ımd zum Himmel
Berufene geblieben, und hätte, wenigftens unter den Sterblichen,
weder Genoffen feines Friedens, noch Miterben der zukünftigen Herr:
lichkeit gehabt. Nachdem Er aber jenen Weg gegangen, treibt Er
gleichſam ganze Erndten heifiger und von Gott geliebter Menfchen,
wie Er felbit iſt. Entſündigt Durch fein Blut, geſchmückt mit feinem
Gehorfam, erneuert durch feinen Geift, theilen fie mit Ihm das
MWohlgefallen des ewigen Vaters. Er aber macht fie je länger je
mehr, wie der Sonnenftrabl verborgen in die Pflanze dringt, feiner
göttlichen Natur theilhaftig, und freut fih der Vielen, Die aus
Ihm, dem Einen, erwachfen find, als der lebendigen Spiegelbilder
feiner eigenen Schöne,
Wir werden heute jenes Wort vom Weizenforn in einer fo buch-
ftäblichen Weife zur Verwirklichung kommen fehen, daß wir nicht
werden zweifeln können, es fei die Abficht Gottes gewefen, die Wahr:
heit, die daſſelbe ausfpricht, uns einmal in einem recht großartigen
thbatfählichen Symbole anfchaulich vor den Bli zu rüden. Das
himmlische Saatkorn, Chriftus, wird wirklich in den Schvoß der Erde
gefenft; und welch’ fchönes, grünes, feinem eigenen verwandteg,
Leben, das wir vor unfern Nugen aus feinem Zude erfprießen fehen!
44
6.
Metth. 71, 57 — 56. Mar 13. 2— Si. Su. 3, D— SH.
Jah. 19, 33 — 12.
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de Hehenprieet aut Phariiaet iammtlich zu Buiato uud irraden: Herr, wir babe
gedadi, das dicſer Verũhret inte, ba er ans iebie: It will xach dreien Says
auferkeben. Darum beñeb., das mar bad Gret rerwebe SE cr ben tritten Tae
auf dad wihı feixe Ienger femeien un> Beben ibm, war ter sum Reif: Er
aufertanden voz ten Tetfen: und werde ter iczie Beirug diger, dem der ent
Vilatus inrab :u ibmen: Da bat ibr bie Hüter: gebe bin, uud rermabter eb, wie
ihr wie. Sie gingen bin, az wermabrien das Grab mis Hütern, und nerfiegeiter
ben Stein
Wie wobl thur dem Herzen nach all’ den erihütteraden Zcenen,
deren wir bisher Zeugen waren, die feierlide Stille, die uns beute
auf (GGolgatha begegnet! Vor-Sabbath war's,“ hebt mie
Evangelium an; und auch uns geichiebt nicht anders, als hörten wir
von jabbatbliben Blodentönen uns ſanft umflungen. Ein ſtiller Friede
weht uns aus der Geichichte au. Weber ihrem Dunkel dämmert ſchon
ein vorgängiges leiſes Morgenrotb der nabenden Berflirung. Bertic-
jen wir uns in ihre einzelnen Züge. Drei Momiente nebmen vor:
zugsweiſe unjere Aufmerkſamkeit in Anſpruch: die Kreugabnabme
des Herrn, Die Grablegung, und die Verwahrung Des
@rabes.
Das Begräbniß. 691
Es ift der legte Paffionsbetrachtungsgang, geliebte Freunde, den
wir miteinander geben. Der „Friede Gottes, welcher höher ift ale
aller Menſchen Vernunft“, fei die föftliche Frucht, Die wir von dent
jelben mit zurüde bringen!
1.
Die Schädelftätte hat fid) geleert. Nur Die römiſche Wache blieb
noch zurüd. Ob auch Johannes? wird nicht gemeldet. Ziefes Schwei:
gen herrfcht rings um. Die beiden Schädher hat man eben von ihren
Kreuzen gelöft, und ift damit befchäftigt, ihnen die Beine zu brechen
und das.Grab zu graben. Der große Zodte fchwebt noch, einfam,
das Dorngefrönte Haupt auf Die Bruft herabgefenft, zwiichen Himmel
und Erde. Sept aber ift Er der Träger, der Mittelpunkt und der °
König einer neuen Welt. Wer follte dies glauben, der Ihm dort, eine
Beute des Todes, am Fluchholz bangen flieht? Doch nur Geduld!
Seine Gefchichte ift noch nicht zu Ende. Wie Vieles deutet prophetifch
ſchon darauf bin, daß fie es noch nicht it! Vernahmt ihr nicht das
donnernde Hoftanna, das im Momente feines Sterbens felbft die ver:
nunftlofe Ereatur, ja gar der Zod aus feinen Zwingern heraus Ihm
fingen mußten? Schlug an euer Ohr nicht, einfallend in das Eredo
der Schöpfung, das große Bekenntniß des römifchen Hauptmanns?
Fiel euch der Umftand nicht auf, Daß wider Vorfchrift und Gebraud)
der Leib des Herm Jeſu nicht veritümmelt werden durfte? Und ge
wahrt ihr nicht in dem Zodtenangeficht des einen der beiden Schächer
noch den Wiederjchein überirdijchen Friedens, welchen der große Mit:
gefreuzigte, an deſſen Seite er hing, mit einem einzigen Worte ihm
in die Sünderfeele ſprach? Und der gewaltige Bedräner aller Stürme
der Außen und Innenwelt könnte felbft in bleibender Weife dem
Sturme des Todes erlegen fein? Dies it unmöglich. Wie zerriffen
und blutig Er dort an feinem Kreuze hängt, Er ift noch nicht auf
der Höhe feiner Laufbahn angelangt. Vielmehr wartet auf Ihn noch
das ſchon lange für Ihn gefertigte Siegeslied: „Der Stein, den Die
Bauleute verworfen haben, it zum Edftein geworden, Vom Herrn
iſt's gefchehen, und ift ein Wunder vor unfern Augen!“
Was wird aber zunächit mit dem verblichenen Ehrenfönige geſche—
ben? — Bekümmert euch darum nicht, Geliebte. Der himmliſche
Bater hat ſchon für Alles gejorgt. Die Zodtengrüber find Ihm
bereits beftellt, fo wie auch die Ruhekammer Ihm ſchon bereitet
iſt. Wer Ihn zur Gruft beftatten werde? Den Geſetze nach läge
es den Henfern ob, Ihn, und zwar auf dem Richtplatz, wo Er flarh,
44*
692 Des Uberheiligße.
zu vericharren. Gert baue e& aber anders rerieben. Nachden er gre%
Hcberrieiter jeim verichnendes I rienwert vollbracht but, dat Ibm feine
Schmach mehr berühren, Rein, dies liefe wider die Cırimma Des ari:
gen Rechtes ın. Hut Er ebne Zabel ieine Sache zum Ziel gem̃brt, ie
gekübrt Ibm fortan nur Ehre neh und Herrlichkeit. So urtheilt ud
der allmächtige Gent. Es ſoll einem Sobne ein Begräbniß werden,
in deren Umitänden auch Der Blindeite Die multende Gun? der ewigen
Liebe nicht Toll verfennen können. Zwei angeſebene Männer, ange:
fehen nicht bei den Menſchen nur, ſendern auch rer Gott, merden
mit der Beñattung der entieelten Hülle Iumnanueld beauftragt, und
ein Hiunflein bewährter Jüngerinnen, Die einen Treit darin ſinden
werden, Den beiligen Leib noch in ihren Dankestbränen baden zu
dürfen, werden jenen beiden fi zugeſellen. Doch greifen wir der
Geſchichte nicht vor! — Bir verlafien den Hügel Golgatha auf einige
Augenblide, und nehmen mniern Standpunkt in der Stadt Jeruſalen.
Ber wandelt dort jo baftigen Schrittes Die Straße binauf, Die zum
Palafte des römiichen Precurators führt? Mit wichtigen Aufträ⸗
gen icheint der Mann betraut. In feinen Mienen ſteht's geichrie:
ben, und feine Eile verrätb es. Wer it dieier Geſchäftige? Ierm
falem fennt ibn, umd züblt ibn zu jemen bervorragenditen ımd
geachtetitien Bürgen. Joſepheiſts, nad feinem auf dem Gebirae
Ephraim gelegenen Geburtsorte der Arimatbäet zubenamnt: ein
Mann mit dem allgemeiniten Vertrauen feiner Stummesgenoffen beebrt,
und zugleich Mitglied Des höchſten jüdischen Gerichtshofs, Des Ho:
henrathes. In legterer Eigenichaft batte er der ganzen Gerichts:
verbandlung gegen Jeſum perſönlich mit angewohnt, und im Verlauf
derjelben eine lebendige Ueberzeugung nicht allein von der voll:
fommenen Unſchuld des Verflagten, iondem auch noch von ct
was Mehrerem gewonnen. Gr batte in den Rath Teiner Amtöge-
noflen „nicht gewilligt;“ aber freilich auch nicht Den Muth gebabt,
einen lauten und entjchiedenen Proteſt damider zu erheben. Tas
über den Gerechten gefüllte Biuturtbeil batte ibn in feinem In—
nern empört; aber eine Flägliche Menſchenfurcht es zu nichts Wei:
terem, als zu einem ſtummen Kopfichütteln bet ihm kommen laſſen.
Ehriftus wurde zum NRichtplag abgeführt, und Joſeph geiſtlicher
Weile infofem mit Ibm, ald er von jeinem Gewiſſen auf Das
fchürfite gerichtet und verdammt wurde. Die blutige Execution auf dem
Marterberge ging vor fih. Ob Joſeph ihr von ferne felbit mit zu-
gefehen, oder ihren Hergang nur durch Berichte Anderer erfahren
Das Begräbniß. 693
hatte, wifjen wir nicht. Genug, ehe er ſich's verfah, ſchlug, höchft
überrafchend für ihn, der, von großartigen Ahnungen bewegt, immer
noch einen andern Ausgang der Sache erwartet hatte, die Donner:
funde an fein Ohr, Daß der Nazarener an feinen Kreuze fo eben
jeinen Geift aufgegeben habe. Was diefer Kunde an erfchüttern-
der Macht noch fehlte, das verlieh ihr vollends das fchauerliche
Phänomen des Erdbebens, welches in demfelben Augenblide eintrat,
und auch dem Sofeph in Beftürzung erregender Weife fih fpürbar
machte. Bon diefem Momente an fehen wir zu Serufalem einen
Mann, einfam, das Haupt auf feine Hand geftüßt, in feiner Kammer
figen, und hören ihn, — menigftens ift mird, als Dränge der
Art etwas zu meinem Ohr, — in abgebrochenen Lauten fprechen:
„Alſo todt it er! — Die ihn mit taufend Liebesbanden an Die
Erde hätten fefleln follen, haben ihn ermürget! — Wehe, über
die Mörder! Den fchönften Stern, der je am Himmel der Welt
geleuchtet, Löfchten fle in feinem eigenen Blute aus! — Doch Joſeph!
wer bift du felbft? Sie wußten nit, was fie thaten, und du er-
fannteft ihn! Warum tratit du nicht zeugend für ihn auf? Warum
fchrieft du nicht: Den Fürſten des Lebens wollt ihr kreuzigen; auf!
freuziget auch mich zu feiner Seite: denn ich bin fein Jünger, und
ohne ihm ift die Welt mir öde, das Leben werthlos! — Aber
die Gunft der Menfchen war dein Götze, und galt Dir mehr, denn
Gottes Gunft! Um den nichtigften der Preife haft du den Herrn
der Herrlichkeit verleugnet! Nun erblaßte er, und fein Ohr hört das
Bekenntniß deiner Reue nicht mehr, noch vermag fein Mund mehr
ein Wort der Vergebung zu Dir zu fprechen! — Aber ftarb er auch
wirflih? und wenn er verblich, wird der Tod ihn halten kön⸗
nen? Als Iſaak ſchon auf dem Holzftoß lag, ſprach Abraham zuver:
fichtlich boffend noch fein „dennoh”! Sein „dennoch“! rief
Iſraels Glaube noch, als ſchon der Stamm des Haufes Davids,
aus den der Meſſias kommen follte, bis auf die Wurzel erftorben
und verrottet war! D, rufe denn, mein Herz, dein „Dennoch“! auch
du! Wenn der Anker der Hoffnung in Ihm nicht ficher ruhte, fo
findet er nirgends im Himmel und auf Erden den Grund, in dem er
bafte. Der Mann aus Nazareth war der Verheißene; oder die Ver:
heißung der Propheten ift verloren, und erfüllt fih nimmer! Und
doch haft du, Unglüdfeliger, ihm deine Kniee nicht gebeugt; ja, haft
ihn, ohne entfchloffenen Einfpruch einzulegen, erwürgen laſſen!“ — —
Dies, oder dem Aehnliches, murmelt der einfame Mann in ftürmifchem
DH Das Userheilige.
Ronologe ver fih bin, indem er thräͤnenſchweren Herzens iem Me:
gericht in fein Gewand rerbüll. Dann aber fährt er, fi ermmszt.
vlöglich mit dem Rute auf: „Tu, Dem ich im Leben Die Ehre Idafii:
blieb, laß dir denn neh im Zode meine Huldigung aefallen!‘ Und
wie er es geiprochen, bat er auch Kammer und Behawiuma fen rer:
laſſen, und in Das Gewoge der Straße fih bineingeftürt.
Ber it dieſer ſo mächtig uufgeregte Maun? Kein Anderer, as
der, den wir vorbin dem römiichen Präterium zueilen ſaben Je—
jeph von Arimatbia its. Was er im Schilde führe, Turaxt
mögt ihr ihn nur ielber fragen, und eine Luit wird ed ibm ſein, ee
euch rund heraus zu jagen. Und wenn ganı Jeruſalem ibn Turm
als einen Thoren verlacdhen, oder gar als einen Keßer ibn Hein
wollte, jo würde er fih nur freuen, Daß ibm dadurch Gelegenbei
geworden fei, in einer gewiſſen Weiſe wenigitens einen Theil der
Schuld abtragen zu können, die ibn mit ihrer Gentneridsmere zu er:
drüden droht. Ich vermag mid in jeine Stimmung binein zu deufrn.
(55 beieelt ihn jener Trog des Glaubens und der reumũtbigen Liebe,
in welchem man zur Ausgleihung einer Berleugnung, deren man Ad
gegen Jeſum ſchuldig machte, Die Schmach um ſeines Namens willen
bei den Haaren berbei ziebn, ja, mit dem Dornenkranze wm bie
Ctim, für Ihn fih brandmarken, ſelbſt fich freuzigen faflen möchte.
Gradeswegs zum Luandpfleger will ımier Joſeph, und fi Pie Gr:
laubniß von ihm erbitten, den großen Todten von leinerı Holze berab:
nehmen, und ibn in feiner eignen Zumilienaruft ebrenvoll beitatten
zu dürfen. Gr fange im röntichen Palaſte an, und mie er nad
geichebener Anmeldung vor feinem Gebieter ericeint, beginnt er feit
und unummunden: „Ich fomne, Dich um Gins zu bitten, nämlich,
Daß du den Leichnam Jeſu mir überlafleit, auf Daß ich ihm, wie ihm
gebührt, ein ehrlich (Grab bereite!” Pilatus tt nicht wenig überrascht,
ſolch Geſuch aus dem Munde eines jũdiſchen Rathsherrn zu verneb—
men; ſpricht jedoch, augenſcheinlich, um dadurch die wahren Empfin—
dungen, die in dieſem Momente in ſeinem Innern ſich regen, zu
verdecken, zunächſt nur ſeine Verwunderung darüber aus, daß der
Nazarener ſchon todt fein ſolle. Zugleich befieblt er, in gleicher Ab:
ſicht, daß man den Befehlshaber der Wache zu ihm beſcheide; und
nachdem derſelbe eingetreten iſt, erkundigt er ſich auf's ſorgfältigſte,
mie es um die Drei Gehenkten draußen ſtehe. Aber trotz der rubigen
Amtsmiene, die er ſich zu geben fucht, entgeht ed und nicht, da
ex fih, wenn auch in geringerem Grade der Tiefe und Kebendig-
*
Das Begraͤbniß. 695
feit, in einer gewiffen ſympathiſirenden Geiftesgemeinfchaft mit dem
von Jeſu fo mächtig ergriffenen Rathsherrn befindet. Auch er kann
ih das Bild des Hingemordeten nicht vergegenwärtigen, ohne fi
von Empfindungen einer entfchiedenen Ehrfurcht dDurchdrungen zu füh-
len. Ich meine fogar, fehon in dem Befremden, womit er die
Nachricht vernimmt, daß Jeſus ſchon todt fei, etwas von den groß:
- arfigen Ahnungen ſich Tpiegeln zu fehen, deren fich feine Seele beim
Gedanken an die Perfon des Gefreuzigten nicht zu erwehren vermag.
Zudem findet er fich felbft über das Verhalten, das er gegen den
Schuldloſen beobachtet hat, von feinem Gewiffen gerichtet, und daß
dem beifpieHlos Mißfannten noch im Tode eine ehrende Genugthuung
wiederfahren foll, wie fie ihm Joſeph zugedacht bat, entfpricht fo fehr
jeinem eigenen Wunjche und Bedürfniß, daß er, als ob ihm felbit
das Herz dadurch erleichtert würde, mit Freuden feine Genehmigung
dazu ertheilt. Joſeph bezeugt dem Procurator den herzlichiten Dan,
und eilt, beglüct, als wäre ihm der größte Schaß der Welt zu Theil
geworden, von dannen, um zuerft die feinfte Leinwand, die er finden
mag, und zugleich die foftbarften Salben und Spegereien anzufaufen.
Für wen? das mag jebt die ganze Welt von ihm erfahren. „Für
meinen König!” wird er überall laut bezeugen, wo er darnach
gefragt wird. Und will etwa der Hoherath warnend den Finger er-
beben, oder gar mit Amtsentfeßung, und noch Schlimmerem, drohen, fo
möge er's nur thun. Joſeph wird dann lauter noch bezeugen: „Für
meinen König, für meinen Herm, für meinen Friedensfürften.” —
„Er wagte es“, meldet die Gefchichte; aber ihm deucht es fein
Wagniß mehr. Mit Freuden hätte er Alles für den großen Todten
bingegeben, hätte er dadurch nachträglich erfeßen können, was er dem
Lebenden vorenthalten hatte. —
Wir laffen ihn, und kehren im Geifte zum Richtpfaß zunid, O
feht, wer hat dort mittlerweile fich eingeftellt? Erkennt ihr ihn wie
der, den Mann, der ſtumm und unbeweglich wie eine Bildfäule unter
dem Kreuze fteht, und mit andadıtsvollen, thränenfeuchtem Auge zu
dem erblaßten Dulder hinauffchaut? In ihm findet Yofeph fein gets
jtiges Gegenbild: denn diefer Mann hat daſſel be zu bereuen, was
er, und brennt, wie er, vor Verlangen, das, was er verfehlte, wieder
auszugleichen. Wer it dieſer befchaufiche Fremdling? Er ift uns fo
wenig ein Unbekannter, wie den Joſeph. Nikodemus iſt's, Joſephs
Amtögenoffe; jener Pharijäer, der einft lern- und heilöbegierig, jedoch
„bei der Nacht“, weil auch in ihm Die Furcht vor den Juden der
696 Das Alerheiligke.
Liebe zur Wahrheit wenigftens noch das Gleichgewicht hielt, zu Jeſu
kam. Jetzt hat audy er die ſchmähliche Feſſel abgeworfen. Fürwahr,
Wunderdinge find es, Die wir in der Umgebung des Kreuzes
heute erleben. Wollten wir zu Jemandem, der ed noch wicht wüßte,
fagen: „Gib Acht! Ein paar furchtiame Männer, den höchften Ge:
fellichaftskreifen angehörig, die, als Jeſus noch in der entfalteten
Majeftät überirdifcher Bethätigungen einherjchritt, aus Scheu vor dem
Urtheil der „örfentliden Meinung” nicht wagten, mit ihren günjtige-
ren Anfichten von Ihm ans Licht zu treten, werden jet, nachdem
der Ausgang feines Lebens Ihn zu einem beflagenswerthen Schwär:
mer geftempelt zu haben fcheint, vor allem Bolte Ihm als ihrem
Könige die Ehre geben, und mit aufgehobener Hand zu dem zerfeßten
Paniere feines zertrümmerten Reiches fchwören; würde er im Stunde
fein, dies zu glauben? Er möchte eher wohl alles Andere für wahr
halten wollen, als dies; und dennoch gefchicht es jo! Gerade jekt,
da bis auf einen einzigen fänmtliche Jünger, feine vertrauteften
nicht ausgenommen, ihn verlaffen baben; jet gerade, da Jeſus nicht
mehr Sturm und Meer bedräut, fondern felbft überwunden in feinem
Blute ſchwimmt; gerade jegt, da an Ihm nur Niederlage noch und
Untergang zu ſchauen ift, und nichts gewifler feheint, als daß Gott
ſelbſt Ihn zu Schanden babe machen wollen: in diefem Augenblide des
ſcheinbar entfchiedenften Schiffpruchs feiner Sache werfen die Beiden
ihre Schleier und Larven ab, und treten aus ibren Schlupfwinfeln frei
und offen mit dem unumwundenen Bekenntniß hervor, daß fie ed mit
den gehenkten Dann am Kreuzesitamme halten; und verdammen dur
dieſe That ftilljchweigend feine Hinrichtung als einen Juſtizmord, und
Hagen infonderheit den ganzen Hohenrath des hüunmeljchreienden Ber.
brechens an, mit dem unſchuldigen Blut des „Heiligen in Iſrael“ ihre
Hände befleckt zu haben. — „Aber find denn dieſe Leute”, fragt ihr
halb jtugend, halb Läfterlicy zweifelnd, „urplöglich zu Hellfebern gewor—
den?” — Wir antworten: Ja, Freude, jie find es; aber durch den
Geift des lebendigen Gottes, der ihnen die Augen geöffnet hat. Der
Keim der Glaubendzuverfidht, die jet mit einem Male fo herrlich und
ausgeboren an ihnen zu Tage fritt, lag fange ſchon, nur gebunden
und wie unter der Scholle, in ihren Herzen. Aus dem Wettergewölf
heraus, Das über Golgatha lagerte, hat die Gnade denfelben jegt be:
frugtet, und darum fehen wir ihm nun in jo freier und mächtiger
Entfaltung in die Erfcheinung treten.
Nachdem Nilodemus eine Weile im Auſchauen des Kreuges mit
Das Begräbnif. | 697
unausfprechlicher Bewegung ded Gemüths feinen Betrachtungen nach-
gehangen hat, betritt auch Joſeph die Schädelftätte; und wie herzinnig
begrüßt er feinen Sinnes- und Geiftesgenoffen! Nachdem die Beiden
dann einige traute Worte mit einander gewechjelt, und die Kriegs:
knechte von der Seitens des Landpflegers ihnen ertheilten Erlaubniß
in Kenntniß gejeßt haben, beginnen fie ihr trauriges, und doch fo
feliges Werk. Sie holen Leitern herbei, und lehnen fie an das Holz
des entfeelten Friedensfürften; und jo fteigen fie ehrerbietig zu dem
großen Zodten hinan; und ift ihnen nicht anders, als wären es ge-
weihte Zempelftufen, die fie überfchritten. Liebliche Scene Dies! Scene
voll tiefer Bedeutung! Angefichts ihrer fingt, die in fie verwobene
Bilderfchrift zart entziffernd, ein chriftlicher Dichter, und wir fingen’s
mit ihm:
„Wie Bienen um die Blumen ſchweben, und fanmeln füßen Nahrungdfaft:
So ſchwebt mein Geiſt um’d Kreuz, mein Leben! Aus deinem Blute faugt er Kraft!
Mas koͤnnt' ihm wach und ſtark erhalten, als beine offnen Wundenſpalten?“
Die beiden Freunde haben eben die durchbohrten Füße ihres er-
blichenen Meifters erreicht, da — o, Er it es werth! — neigen fie
andächtig Das Haupt, und bededen diefelben mit Küffen und Thränen,
den Zeichen ihrer abbittenden Reue. Dann fteigen fie höher. „O
Haupt voll Blut und Wunden, fei gegrüßt!“ — Nicht Zärtlichkeit tft
es nur, fondern ein Mehreres noch, womit fie Ihm in das biutbeflof-
jene Antliß ſchauen. Es entgeht ihnen nicht, wie auch noch auf dieſer
blaffen Stirn eine hohe Majeftät thront, und über den gefchloffenen
Augenlidern etwas wie Morgenroth der Auferftehung binfchwebt. „ Du
zerrifiner Mann ſtehſt noch nicht am Ziele deiner Laufbahn! * Sie
denken's mit tief ergriffenem Gemüthe, und beginnen dann zart und
Ihonend aus Händen und Füßen die Nägel Ihm zu ziehen. Der
theure Leichnam neigt fih auf ihre Schultern herab, und nachdem
fie ihn in Xeinewand gehüllt, tragen fie ihn fünft von der Kreuzeshöh
zur Erde nieder. — D, ihnen nach! theure Brüder! Mit dem Jeſus
auf dem Lehrſtuhl zu Nazareth, mit den Prediger auf dem
Berge der „Seligkeiten”, ja felbit mit dem Herrlichen in Tabors
Glorie reihen wir noch nicht aus. Der am Krenz muß unfre
Liebe werden. Darum zu Ihm hinan auf den geiftlichen Leiterfproffen
des Sündenjchmerzed, des Gnadendurſtes und des Glaubens! Dom
Holz des Fluches Ihn gelöit, und jo Ihn als unſern einigen Troft
im Leben und im Sterben in unjer Herz gebettet! Daß’ es die
wirkllich ſeligmachende Jejusliebe fei, Die in uns glimme, und
698 | Das Aterheitigfte.
nicht blos ein Afterbild von ihr, das können wir am ficherften daran
erfennen, daß diefe LXiebe zuerit an dem bfutigen Todten fich ent-
zündete, und dann erft den Lebendigen umſchlang. Wer Dagegen
von dem Todten fih abgewendet hat, und wähnt, der leben—
dige Ehriftus, wie Er wohlthuend, lehrend und Vorbild gebend im
Lande umberging, fei ihm genug, der verrechnet fih, und wird einft
am Tage Seiner Zufunft, troß des „Rabbi, Rabbi!“ womit er Ihn
begrüßte, Die erfchütternde Antwort aus feinem Munde hören: „Ich
weiß nicht, wo du ber bift! Ich zoo dich nie erkannt!”
Zurüd zu unfern beiden Sreunden! Dort ziehen fle ſchon ſchwei⸗
gend mit ihrer theuren Bürde den Berg hinab. Ein unfcheinbares
Leichenbegängniß; aber wie wird es herrlich durch die Zärtlichkeit
und den Befennermuth der beiden Zräger des Verblichenen! Kein
Zrauergeläute zwar begleitet den ftillen Zug; aber fpäter iſts um
fo reichlicher nachgefolgt. In wie vielen Zaufenden von Thürmen
fhlagen gegenwärtig über Jeſu Kreuz und Gruft die Feiergloden
an, fo oft alljährlich der heilige Gedenktag feines Todes und fei-
ner Beftattung vwiederfehrt! Kein Grabgefang tönt vor ihnen ber,
und feine Ehrenfadeln fieht man brennen. Aber was gibt es für
köftlichere Fackeln, als die unauslöfchlichen der Liebe und Verehrung,
die aus dem Himmel ftammen? Und horcht nur! an einer folennen
Sterbelitanei fehlt's auch nicht. Es fingt fie dem Hingetragenen ein
gottgeweihter Sänger aus einer faft taufendjührigen VBergangenbeit
heraus: der Prophet Jefaias; und zwar in den Worten der Weiſſa⸗
gung Kap. 53, 9: „Man beftimmte ihm (dem Mefftias) zwar fein
Grab bei den Gottlofen; aber er fand feinen Hügel bei den Reichen;
darum, daß er Niemandem Unrecht gethan hat, noch Betrug in feinem
Munde erfunden it.“
Wir find zur Stelle Ein friedliches, zum Theil von Felſen um:
ſchloſſenes Gelände nimmt uns auf. Joſephs Garten iſt's. Die
Sonne wirft eben ihre legten Strahlen in ihn hinein; der herein—
grauende Abend feine erften fühlen Schatten. In diefer jtillen Um—
hegung foll der Heilige feine legte irdifche Lageritätte finden. Ein
eigenes Grab befaß Er nicht, der überhaupt „nicht hatte, wo Er
fein Haupt hinlegte,“ und bedurfte alfo, Daß Ihm für fein kurzes
Uebernachten eins gaftlich geliehen wurde, Wie glüdlich aber ſchätzt
fih unfer Joſeph, der Ehre gewürdigt zu fein, dieſe legte Ruhe⸗
fatt Ihm bereiten zu Dürfen; und wie wohl thut ihm die Ansficht,
Das. Begräbniß. 699
einft, wenn auch Ihm das legte Stündlein flug, mit Dem wenig:
ftens die enafte Todesgemeinfchaft noch eingehen zu fünnen, den er
im Leben ad! fo fchnöde verleugnet hatte! Wie die Beiden nun mit
der geliebten Laſt bei der Felsgruft angekommen find, gewahren fie,
daß e8 ihnen auch an einem XLeichengefolge nicht gemangelt babe.
Die treuen Frauen: Maria Magdalena, und Maria Joſes, und der
tapferen Freundinnen noch manche andere, find ihnen in einiger Ent-
fernung ftille nachgegangen; denn auch fie wollten gerne fehen, wo
ihre ganze Hoffnung und ihre ganze Liebe bleibe. Joſeph und Niko:
demus heißen fle herzlichft willfommen, und nehmen ihre Dienfte bei
dem Werke der Beltattung gerne an. So wird dem der heilige
Leichnam erſt fanft auf den Boden niedergelegt, und während die
Frauen, faft mehr mit ihren Thränen, als mit dem herbeigetragenen
MWafler, die blutigen Fleden von Haupt und Bruft Ihm wafchen,
füllen die Männer das zarte biendend weiße Linnen, in Das er ge
wicelt werden fol, mit Myrrhen, Aloe und anderen der foftbarften
Spezereien, deren fie eine reiche Fülle, Nifodemus fogar „bei hundert
Pfunden,“ herbei gefchafft hatten. Nachdem fle dann mit den üblichen
Leinwandbinden den Leib ummidelt haben, ſchauen fie dem theuern
Entichlafenen noch einmal fchweigend in das hehre blaffe Königsan-
geficht, und tiberbreiten daſſelbe dann (vielleicht verrichtete Magdalena
diefen Tegten Zrauerdienft,) mit dem Zodtentüchlein. Das ganze
Geſchäft der Beftattung war indeß hiemit noch nicht beendet; aber
die Nähe des Sabbaths gebot, die eigentliche Balfamirung bis zum
Schluß des Feites zu vertagen, und für jeßt es Tediglich bei dieſem
vorläufigen Liebeswerfe bewenden zu laffen. War unter den beftat-
tenden Frauen aud) Marin Lazari, fo mußte Dieje fich erin-
nern, daß es überhaupt eines weiteren Bemühens mit dem Leichname
des Meifters nicht bedurfte, indem Er feiner eigenen ausdruͤcklichen
Berfiherung nah die „Salbung zum Zage feines Begräbniffes “
ichon in Bethanien durch ihre, der Maria, Hand, empfangen hatte.
Die Freunde nehmen nun den lieben Todten wieder auf, und tra-
gen ihn fanft und feierlich auf ihren Händen in die neue faubere
Felſenkluft, wo fie ihn facht und mit andächtigen Schweigen, als ob
er nur en Schlafender wäre, in eine weite, hochgewölbte Nifche
zur Ruhe beiten. Noch einmal ſchauen fie Ihn mit tief ergriffener
Seele an, dann reißen fie fich gewaltfan von Ihm log, verlaflen das
Gewölbe, wälzen einen großen Stein vor deffen Zhüre, und fehren,
weil ſchon die Sabbathlichter won fern herüber fhimmern, unendlid,
702 Das Aerheiligfe.
allein „geitorben,“ fondern auch „mit Ihm begraben worden“ ſeien.
Gleichwie wir aber „mitwepflanzt“ feien, zur „Aehnlichkeit
feines Zodes,” jo würden wir ed auch „zur Auferftehunga“
werden. Was will diefe geheimnißvolle Inſchrift? Sie bezeugt nichte
Geringered, als dies: Den Fluch der Sünde hat Chriſtus ftellver:
tretend für uns am Kreuz erduldet. Es üt ſomit „Leine Verdammniß
mehr an ung, jo wir in Chriſto find.” Wir tragen aber, auch als
Wiedergeborene, die Reſte der alten fündigen Natur noch an und in
und. Dies iſt unfer Kreuz und Kummer, und dringt und Die bange
Zrage ab: „Ich elender Menfch; wer wird mich erlöfen von Xeibe
dDiefes Todes?" Schon Mancher iſt auf den beunrubigenden Gedan-
fen gerathen, er möge ebenfowohl jenfeits des Grabes noch, wie hie:
nieden, mit der Sünde zu ſchaffen und zu ftreiten haben. Solche
Sorge aber wird uns beim Grabe Ehrifti auf immer abgenommen.
Einen „alten Menſchen,“ hatte Ehriftus freilich in Dem Sinne
nit, wie wir; Er war perfönlich fchlechthin ohne Sünde. Aber
die „Geſtalt des fündlidhen Fleiſches“ die Er annahm, ver:
trat an Ihm dasjenige, was bei uns der „alte Adam“ it; und fo
haben wir denn auf Das, was mit jener „Geſtalt“ vorgegangen iſt,
wohl acht zu geben, und darin eine große, jymbolifche Bedeutung für
und zu fuchen. Er nahm die „Knechtsgeſtalt“ mit ſich bis in
das Grab; aber aud nicht einen Fußbreit weiter. Am dritten Tage
jehen wir Ihn in nichts, als Verklärung und ftrahlende Herrlichkeit
gefleidet, wieder bervorgehn; und Er but Alles, was au Elend,
Schwachheit und Gebrechlichfeit erumerte, in dem dunkeln Todes:
zwinger zurück gelaſſen. Verſteht ihr dieſes gedanfenvolle Sinn;
bild? Es verfiindet uns, daß, was uns noch von ſittlichem Verderben
anflebt, alſo: der „alte Menjch, ebenfalls weiter nicht, als bie zum
Grabe, mit und gehe; dann aber auch an ung, in derfelben Ordnung,
wie es an unſerm erbabenen Vorläufer vor fih ging, Das Werk Der
Erledigung fi vollziehen werde. Sobald unſer Stündlein ge:
ihlagen hat, iſt der Widerftreit zwifchen Fleiſch und Geift in uns
beendet. Der Geiſt herrjcht allein; Die Klage: „Das Gute, Das ich
will, Das thue ich nicht”, verſtummt. Wir verrichten nun Die Werke,
die Gott gefallen, ohne Hemmung: denn unfre Heiligung it vollkom⸗
men. „Alle Thränen,“ alſo auch die Ichmerzlichften von allen, Die
wir bienieden noch über die Gebrechlichfeit nnjerer Natur zu weinen
hatten, werden „von unfern Mugen getrocknet.“ „Kein Leid noch
Geſchrei,“ wird danıı mehr fein; mithin auch feins mehr über erneuert
Das Begräbnis. 703
Untreuen, und Berirrungen, fei es in That und Wort, vder in
Negung und Gelüfte,
Seht, wie liebliche Zroftesftröme uns felbit nody aus dem Grabe
des großen Todten entgegenraufchen! Mit der erftarrten Hand
noch befreit Er uns aus fehweren Sorgenbanden, und fein gebro->
henes Auge ftrahlt uns nod Hoffnung und Himmelsfrieden in's
bange Herz. Da darf’s ja wohl gefchehen, daß wir mit dem Dichter
ſprechen:
„Seine ſel'ge Gartenruh fihert und den Garten zu,
Mo die Blumen ewig blühen, nuverbleicht die Farben glühen!“
Ja, da ziemt ſich's für uns wohl, anbetend mit einzuftinmen in
den tief bewegten Fetergefang Der Gemeine:
„So fhlummerft Du, o meine Ruh,
In Deines Grabes Höhle,
Und erwedel durch den Tod meine todte Seele!
O, Lebendfürit, ih weiß, Du wirft
Mich wieder aujerweden ;
Sollte denn mein gläubig's Herz vor der Gruft erihreden?
Sie wird mir fein ein Kämmerlein,
Da ih auf Rofen Tiege,
Weil ih num durch deinen Tod Grab und Tod beilege!«
3. "
Die erfte Nacht nad dem großen blutigen Zage ift vergangen.
Einfam durchfchlummerte fie der erblaßte Held in feinem Grabes-
zwinger. Da gramt der Morgen herauf, und alfobald beginnt fidy’s
um feine Zelfengruft wieder zu regen. Aber es find nicht mehr Die
lieben Geftalten feiner Freunde, Die wir fo frühe den Garten durch—
jhweben fehen. Diefe, gewohnt, allem Gebot fid) unterthänig zır
erzeigen, halten fich heute des großen Sabbaths wegen in ihren Hütten
fill zurüd. Die Feinde finds, die wir beim Grauen der erften
Dämmerung fohon wieder auf, und fo rührig und gefchäftig finden.
Ueber Nacht iſt Ddenfelben eine ſchwere Sorge auf's Herz aefullen.
Ihr aufgeregtes böfes Gewiſſen ſah Geſichte. Es fehrte ihnen die
Erinnerung an fo manche Ausfprüche des Nazareners wieder, mit
denen Er ganz unzweideutig ein Auferftehen angekündigt hatte, durch
das ihm Gott nach vollzogener Kreuzigung vor aller Welt verberrlichen
werde. Die Heuchler geben fid) zwar die Miene, als läge ihnen nichts
jo fern, wie der Glaube, daß folche ſchwärmeriſche Phantafieen des
jetzt vollends zu Schanden gewordenen Mannes ſich je verwirklichen
704 Das Allerheiligfte.
fönnten. Aber ihr Herz denft anders. Auch im Zode noch macht
der Gekreuzigte fi in ihrem Innern als König geltend. Noch
aus feinen Grabe her fchredt fie feine Majeftät: die Majeftat
der biutigen Leiche! Was hat ſich begeben? Denkt, fo eben
find die Hohenpriefter und Pharifäer, unbefümmert um Sabbath und
Baflahfeft, in feierlihem Zuge nach dem Palafte des Landpflegers
aufgebrochen, um Ddiefen zu Sicherungsmaßregeln für das Grab des
Gefreuzigten zu bewegen. Vorgelaſſen vor den durch fo frühen Be:
fuch der Notabilitäten Iſraels nicht wenig Aberrafchten Procurator,
beginnen fie: „Herr, wir haben gedacht, daß diefer Ber:
führer” (die Nichtswürdigen! den Heiligen Iſraels wider befferes
Willen und Gewiſſen im Grabe noch mit folhem Namen befchimpfen
zu-fönnen!) — „da er noch lebte, fprad: Sch will nad
dreien Tagen wieder auferitchen.” (Daß Er dies wirflic
bezeugt habe, conftatiren ſie alfo.) „Darum befiebl, daß man das
Grab bewahre, bis an den dritten Tag; auf Daß nicht feine
Jünger kommen, und fteblenihn, und ſagen zum Volke:
Er iſt auferſtanden von den Todten; und werde der
legte Betrug ärger Denn der erſte!“ Bemerkt, wie fein die
verſchmitzten Lügner ihre wahren Gedanken und Empfindungen zu
verbergen wiffen! Dean follte meinen, e8 bange ihnen nur vor einem
möglichen „Betruge.“ Aber wenn e8 nur Die Abwehr der armen
Jünger gegolten hätte, bedurfte e8 daun folcher Zurüſtungen, wie fic
fie in Anfpruch nehmen? Hätte dann nicht eine Handvoll beftochener
Helfershelfer, wie fie den Phariſäern zahlreich zu Gebote jtanden,
vollkommen bhingereicht, gegen jene Wehrlofen das Grab zu ſchirmen?
Aber Die gewaltigen Thaten, Die fie ihren Ermwürgten einjt verrichten
jaben, laffen fie Alles für möglich halten; und die erichredenden Er:
eigniſſe, die feinen Tod begleitet hatten, waren cben auch nicht dazu
geignet, ihre Sorgen zu zerftreuen, oder zu mildern. Cie wittern
Diteriuft. Sie fürchten fih in der That vor einer Auferftehung
des Beyrabenen. — Aber wenn folche erfolgen follte, was balf Da
eine Wache, und was der Mörtel und Kal, womit man den Stein
zu verfitten gedachte? So möchte man freilich fragen, und Zweifel
ichöpfen, ob wirklich ernſtliche Bejorgniffe vor einem Wiederaufleben
Jeſu die Feinde in Bewegung gefeßt haben könnten. Aber die Zurcht
it eben eine Thörin, und die Sünde bfind, und tappt, wie flug
fie fih dünfe, doch im Zinjtern. Pilatus, den unter Anhörung des
Vortrags der Häupter Iſraels felbft eigenthümliche Gefühle durdh-
»
Das Begräbuiß. 705
ſchauern mochten, willigt auch jeßt wieder gern in das neue Begehren
ein, und fpricht, hindeutend auf einen Zrupp gerüfteter Warfenmänner, ,
die er eben vor dem Schloffe aufgeftellt erblidte: „Da habt ihr
die Hüter! Gehet hin, und verwahret es, wie ihr wifs
ſet!“
Nicht wenig froh, ſo bald zu ihrem Zwecke gelangt zu ſein, ſind
die Abgeordneten fo eben ſammt der roͤmiſchen Wachtmannſchaft und
einigen in der Eile aufgebotnen Steinfegern und Mauren in den
Garten Joſephs zurttkgekehrt. Nachdem fie fid) vorab durch den
Augenſchein überzengt haben, daß der Leichnam wirklich noch an feiner
Stätte ruhe, wird der abgewälzte fchwere Stein in die Grabesöffnung
wieder eingefugt, und die Arbeit des Berfiegelnd und Verkittens nimmt
ihren Anfang. Eine merhvlirdige Scene dies! in Feldzug einzig
in feiner Art! Als gölte es nichts Geringeres, denn ein feindliches
Kriegsgefehwader in Joſephs Garten aus dem Felde zu fchlagen, fo
wird gerüftet. Bon einem deutfchen Kaifer der früheren Jahrhunderte
erzählt man, daß er im Tode noch, von feinen Rittern in voller Rüs
ftung auf feinen offnen Kriegeswagen gehoben, ein ganzes Feindesheer
in die Flucht gejagt babe. Fürwahr, in dem ftillen Gurten bier ift
mehr, denn dies! Freilich gebährden fi) die Widerfacher hier noch
als die Sieger; aber in ihrem Innern find fie gefchlagene Leute,
Der fohlummernde Held aus Zuda nahm: ihnen den Hamifch forglofer
Zuverficht, und erfüllte ihre Seelen mit einer Wolke ſchreckender und
beffemmmender Ahnungen. Es bewahrheitete ſich wenigften® theilweife
an ihnen das Dichkerwort:
„Von Nberglauben ift Unglauben ftet8 begleitet,
Und Aberglauben hat zum Glauben oft geleitet.“
Was wollen fie mit ihren weitläufigen Vorkehrungen? Sie ftreiten
fir die Sache des Todes wider das Leben, und möchten den
Thron des eriteren befeftigen umd ftügen, das Leben aber niederhals
ten und verkerkern. Laffen wir fie nur gewähren! Ueber ihrem Vor⸗
nehmen waltet der Alles Ienfende und regierende Gott. Allerdings
follen fie dem Tode feine Ketten noch fefter fehmieden helfen, Damit
die Sprengung derfelben in um fo glorreicherem Lichte erfcheine. Und
ebenfo follen fie dem Leben jeden Raum benehmen und alle Ausgänge
vermanern, auf Daß, wenn es nun dennoch durch Schloß und Riegel
bricht, e8 um fo unzweideutiger al8 ein Leben Gottes fid) erweife,
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®
206 Dad Allerheiligſte.
Wir fcheiden von dem Grabe unſeres Herm; aber nicht in Trauer
ud Wehmuth, fondern voll freudiger Erwartung der Dinge, die da
»'kommen werden. Wir fehen im Geifte fchon die erften Schimmer
der aufgehenden Diterfonne um die Felswand weben. Nur vier und
zwanzig Stunden noch, und die Poſaune Gottes ertönt, und der
. Garten Joſephs bietet uns ein anderes Schaufpiel. Wir finden alle
- „ Biegel dann gebrochen, und nicht von Jeſu Gruft allein, fondern zu:
gleich von dem Geheimmiß feiner ganzen Pafſton. ———
Amen aus der Höhe, das herrlichſte uud Fe. 8 unter Dein
Hünmiel je verlautet ift, verfündet dan der WEL, daß die Perſöͤhnung
zu Stand und Wefen fan, und der Fürft des Lchens, mit Preis und
Ehre gefrönt, entbeut als Ueberwinder aller -Schredensmächte, die uns
enigegenjlauden, von den Trümmern feines zerſprengten Grabes ber
der begluͤckten Menſchheit den erfteu Ofterfriedensgruß. Stim—
men wir ſchon unfre Harfen, und halten wir unfre Zeierfränze in
Bereitichaft, und fchreiten fo dem großen Moment entgegen, der ul:
lem Harm ımd Bangen des arınen Menfchenherzens ein ewiges Ende
macht! Der ftillen Felsgruft aber fügen wir damit Lebewohl, daß
wir mit den Feuerlettern der Dankbarkeit und Liebe auf ihren Stein
die Worte des alten Kirchendichters fehreiben :
„Der du, Herr Jeſu, Ruh und Raft
In deinem Grab gehalten haft,
Gib, dag wir in bir ruben al’,
Und unfer Leben dir gefall'!
Berleib, o Hort, und Stürf und Mu,
Die dur erfanit mit deinem Blut,
Und führ’ und in ded Himmel! Licht
Bor deines Baterd Angeficht!
Mir danfen dir, o Gottes Lamm,
Getödtet an des Kreuzesſtamm.
Laß ja uns Sindern deine Bein
Ein Eingang in dein Leben fein!« Amen.
—00 ES oe ——
Druck von Velbagen und Klaſing in Biclereld.
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